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"Ich hatte nie das Gefühl, nicht deutsch zu sein. Erst als ich im Fernsehen auftauchte, begann man, mir meine Heimat abzusprechen. Heute frage ich mich: In welchem Deutschland möchte ich und wollen wir eigentlich leben?" Dunja Hayali geht den Fragen auf den Grund, die unsere Nation unter Spannung setzen: Wie wird "Heimat" definiert? Was wird aus Deutschland, wenn selbsternannte Heimatschützer diesen Begriff als Chiffre für Ausgrenzung missbrauchen? Und wie lässt sich dem Hass der Nationalisten begegnen und die liberale Gesellschaft erhalten? "Dunja Hayali, in deutscher wie irakischer Kultur verwurzelt, erzählt überzeugend und authentisch, was (unsere) Heimat ist." Claus Kleber
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Seitenzahl: 182
Das Buch
»Ich hatte nie das Gefühl, nicht deutsch zu sein. Erst als ich im Fernsehen auftauchte, begann man, mir meine Heimat abzusprechen. Heute frage ich mich: In welchem Deutschland möchte ich und wollen wir eigentlich leben?«
Dunja Hayali geht den Fragen auf den Grund, die unsere Nation unter Spannung setzen: Wie wird »Heimat« definiert? Was wird aus Deutschland, wenn selbsternannte Heimatschützer diesen Begriff als Chiffre für Ausgrenzung missbrauchen? Und wie lässt sich dem Hass der Nationalisten begegnen und die liberale Gesellschaft erhalten?
Die Autorin
Dunja Hayali, geboren 1974 in Datteln als Tochter irakischer Eltern, studierte an der Deutschen Sporthochschule. Zwischen 2007 und 2010 übernahm sie die Moderation der ZDF-heute-Nachrichten sowie die Ko-Moderation des heute journals. Seit Oktober 2007 moderiert sie das ZDF-Morgenmagazin, seit 2015 dunja hayali sowie seit 2018 das ZDF-Sportstudio. Sie unterstützt »Gesicht zeigen. Für ein weltoffenes Deutschland«, ist Mitglied im Aufsichtsrat von »Save the Children« und engagiert sich für VITA Assistenzhunde e.V. Als Jurymitglied für den Julius-Hirsch-Preis setzt sie sich gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ein. 2016 wurde sie mit der Goldenen Kamera in der Kategorie »Beste Information« ausgezeichnet, 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement gegen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und für ihre journalistische Arbeit.
Dunja Hayali
Haymatland
Wie wollen wir zusammenleben?
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2014-4
© 2018 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Carla SwiderskiUmschlaggestaltung: Rudolf Linn, KölnUmschlagfoto: © Jennifer Fey
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Vertrauen, Ehrlichkeit und Loyalität sind die Grundsteine einer Freundschaft. Egal, wo man zu Hause ist. Und weil ihr meine Heimat seid, widme ich dieses Buch meiner Familie, meinen Freunden und der unsterblichen Emma.
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Widmung
Intro
1 Heimat
Die neue Fremdheit
Heimat zwischen Definition und Identität
Heimat – was ist das eigentlich genau?
Heimat und Nomaden
Anmerkungen zum Kapitel
2 Hass
Auf der Suche nach dem verlorenen Dialog
Viel Lärm um eine Minderheit
Erosion der Sicherheit
Gehirnwäsche
Pöbeln ist in – nicht nur im Netz
»Überfremdung« – eine künstlich erzeugte Aufregung
Politiker als Brandbeschleuniger
Worte als Waffen
Anmerkungen zum Kapitel
3 Tatsachen
Was Migration uns abverlangt
Anmerkungen zum Kapitel
4 Hoffnung
Wohlstand mehren durch Migration
Es läuft in Deutschland – und wird weiter laufen
Chance und Pflicht der Medien
Mitmachen statt Jammern – denn wir sind der Staat!
Heimat, die ich meine
Anmerkungen zum Kapitel
Epilog
Anmerkungen zum Kapitel
Danksagung
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Ich lebe gerne! Und ich lebe wirklich gerne hier in Deutschland, in meinem Geburtsland. Und zwar nicht zuletzt, weil mir so vieles an unserer Gesellschaft sehr am Herzen liegt. Es gibt hier so viel Offenheit, so viel Toleranz, Respekt, Empathie, Solidarität und gelebte Menschlichkeit– das ist alles gar nicht selbstverständlich.
Aber leider ziehen dunkle Wolken über dieses Land. Heute erfüllt mich mehr denn je die Sorge, ob wir es schaffen werden, dieses Land so lebenswert zu erhalten, wie es ist– und zwar für jeden. Diese Sorge entsteht, weil Menschen angegriffen werden und ausgegrenzt werden sollen– nicht, weil sie etwas verbrochen hätten, sondern einfach wegen ihrer familiären Wurzeln, ihres Glaubens, ihres Aussehens. Wachsende Extreme an den politischen Rändern, dumpfe Parolen und sogar Gewalt gewinnen sichtbar an Terrain.
Dieses Buch soll aufrütteln. Und Mut machen. Es richtet sich an jene, die die Mitte dieser tollen Gesellschaft bilden. Wir brauchen Mut, um uns nicht kopfschüttelnd und schweigend abzuwenden, sondern gemeinsam das Heft des Handelns für den Erhalt dieser Demokratie und ihrer Werte in die Hand zu nehmen. Ich bin dabei, denn: Es geht jetzt um was!
Heimat
Mein Vater war nie heimatlos. Als junger Mann hat er sich Anfang der Fünfzigerjahre auf den Weg gemacht. Der Achtzehnjährige wollte zum Studieren ins Ausland, um dann mit Stolz und Titel wieder in den Irak zurückzukehren.
Seine Eltern hatten allerdings nicht viel Geld. Dafür aber sein Bruder. Mit dessen Hilfe sollte es in die USA gehen; genau wie er sollte mein Vater Architekt werden. Das war das Ziel.
Auf dem Weg in das Land, in dem man, wie die Legende besagt, vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann, besuchte er allerdings noch einige Freunde in Wien– und blieb dann dort hängen. Er fühlte sich in der Stadt wohl, geradezu heimisch. Damals lebten bereits viele Araber in Wien, wie auch heute. Zu ihnen zählte meine Mutter. Es war also kein Zufall, dass die beiden sich in der österreichischen Hauptstadt kennen- und lieben lernten– und dass, obwohl sie beide aus Mossul stammen. Die Welt ist halt klein.
1956 wurde geheiratet. Wien sollte für die beiden sozusagen das neue Mossul werden, eine neue Heimat. Doch schon bald mussten sie die Stadt, nein, sogar das Land verlassen. Was war geschehen? Zu der Zeit studierten insbesondere viele Iraker in Wien. Das schien weder der irakischen noch der österreichischen Regierung zu gefallen. Man unterstellte den Studenten, Teil einer kommunistischen Vereinigung zu sein, und so mussten meine Eltern und einige ihrer Freunde ausreisen. So jedenfalls erzählte es mir mein Papa immer und immer wieder. Und ebenso immer wieder fiel er an dieser Stelle in lautes Gelächter. Meine Eltern, die beide liberal-konservativ waren und Kommunisten? Ein schlechter Scherz. Aber dieser Scherz war angeblich der Grund, warum beide, nicht ganz freiwillig, in Deutschland landeten.
Dass sie auch dort schnell Fuß gefasst haben, lag an ihrer Offenheit und Willenskraft. Damals gab es hier keine Diskurse über Integration oder Assimilation– so etwas wurde einfach praktiziert. Jedenfalls bei uns. Denn meine Eltern waren offen, interessiert, kontaktfreudig, wissbegierig. Sie wollten zügig die Sprache lernen, Freunde finden, ein Leben haben– wenn auch nur auf Zeit, denn der Plan war ja, irgendwann wieder in den Irak zurückzukehren.
Dass die beiden so schnell in ihr neues Leben in Deutschland hineingefunden haben, lag aber auch an der Frau, die sie aufgenommen hatte: »Tante« Josefa, genannt Sefa, vermietete Wohnungen an Studenten und hatte offensichtlich kein Problem damit, auch »Ausländer« einziehen zu lassen, selbst welche, die ihr erstes Kind erwarteten und eine ungewisse Zukunft vor sich hatten.
Sefa, ihr Mann Fritz und ihre Tochter Elke wurden schließlich zu einer Art Ersatzfamilie für meine Eltern. Sefa und Fritz haben meine Eltern aufgenommen, als seien sie ihre eigenen Kinder. Und als mein Bruder Nahed 1957 in Mainz geboren wurde, behandelten sie ihn wie einen Enkel. Sie haben auf ihn aufgepasst und sich um ihn gekümmert. So konnte mein Vater sorglos weiter studieren und meine Mutter zwischenzeitlich bei der Post arbeiten, damit ein bisschen Geld ins Haus kam.
Dass selbst ich die beiden bis heute Tante Sefa und Onkel Fritz nenne, obwohl wir, als ich geboren wurde, nicht mehr bei ihnen gelebt haben und wir in keiner Weise verwandt waren, zeigt, wie eng und wichtig diese Verbindung, diese Erfahrung auch für mich war. Und welchen Einfluss dieses »Kümmern« auf unser weiteres Leben in Deutschland hatte. Denn Tante Sefa und Onkel Fritz, zwei robuste, manchmal sogar ruppige Menschen, die das Herz und den Verstand am rechten Fleck hatten, haben meinen Eltern das Gefühl von Heimat gegeben. Von Ankommen. Von Dazugehören.
Dieses Gefühl hat sich zuletzt bei mir leider etwas verflüchtigt. Und so kommt es, dass ich mir über meine Heimat heute ganz andere Gedanken und auch Sorgen mache als vor Jahren.
Ich mache es mal einfach: Ich bin 44 Jahre jung, in Datteln in NRW geboren, ich bin weder links noch rechts, auch nicht »versifft«, wie es mir diejenigen unterstellen, die solche Begriffe gebrauchen. Ich habe einen Bruder und eine Schwester, zwei Nichten und einen Hund. Meine Familie ist mir heilig, danach kommt lange erst mal nichts. Ich bin weder ganz unten noch ganz oben, weder Gutmensch noch Schlechtmensch. Ich bin einfach eine Frau, die stolz auf ihre Eltern ist und dankbar und demütig für die Möglichkeiten, Freiheiten und Rechte, die mir unser Land einräumt und die mir meine Eltern ermöglicht haben. Im Wechselspiel dieser beiden Prägungen konnte ich die werden, die ich bin: eine Journalistin, eine öffentliche Person, die, trotz bisweilen harter Anfeindungen, weiß, dass ihr ein gutes, ja ein privilegiertes Leben gelingen konnte.
Anfang 2018 wurde ich gebeten, eine Rede im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Dresdner Reden« im Schauspielhaus Dresden zu halten. Als ich die Einladung erhielt, habe ich mich sehr gefreut. Sie ist eine Ehre, zudem stehen die »Dresdner Reden« für Offenheit, Toleranz und vor allem für etwas, das mir sehr am Herzen liegt: das Verständnis von Diskurs als Austausch von Meinungen und Standpunkten. Nicht zuletzt das Echo auf meine dortigen Worte hat mich inspiriert, mir vertiefende Gedanken zum Thema Heimat zu machen.
Ich finde Dresden einfach wunderschön. Jedes Mal, wenn ich dorthin komme, bin ich fasziniert: Die Elbe. Die Altstadt. Die Elbhänge. Und das Kopfsteinpflaster.
Aber Dresden hat auch eine verschlossene Seite. Wer hier nicht geboren ist, hat es schwer, wirklich dazuzugehören. Die Stadt erscheint als eine Art geschlossene Gesellschaft, die jedem Neuling seine schönen Seiten zeigt und sich weltoffen gibt, aber in ihren »Inner Circle« kommt man als Außenstehende dann doch nicht. Sicher, das ist auch in manch einem Kuhdorf so, aber gerade bei solch einer Großstadt, die ja auch eine Kulturstadt ist, fühlt es sich schroff an– wie ein System, das niemanden von außen braucht, das nur für sich besteht.
Dresden ist eine Stadt, die ihr im Zweiten Weltkrieg zerstörtes Wahrzeichen, die Frauenkirche, und ihre Identität nach dem Ende der DDR Stein für Stein wieder aufgebaut hat und damit zeigt: Es gibt in dieser Stadt eine Standhaftigkeit, die Kriege und politische Systeme überdauert hat, die Überschwemmungen und andere Katastrophen überdauert– Dresden wirkt einfach unzerstörbar. Das Beharrungsvermögen dieser Stadt ist derartig beeindruckend, dass man davon zwangsläufig Rückschlüsse auf ihre Bewohner zieht. Die Dresdner Bevölkerung erscheint einem in ihrer Gesamtheit ein wenig zäh. Immer, wenn ich in Dresden bin, ist es, als raune die Stadt mir zu: »Komme, was wolle, wir machen hier unser Ding, und wir brauchen niemanden, der uns sagt, wie es zu laufen hat.«
So sieht das eine Frau wie ich, die von außen kommt und im Staatsschauspiel den Dresdnern etwas über ihre Stadt erzählte, wohl wissend, dass manche der Einheimischen über mich denken mochten: Mensch, die hat ja überhaupt keinen Schimmer und gerade mal ein Zehntel von dem verstanden, was diese Stadt und uns hier ausmacht. Wie kann sie nur so ein Pauschalurteil fällen, wo sie doch sonst immer zum Differenzieren auffordert.
Mag sein, dass das an der so anderen Mentalität in meiner Heimatregion liegt. Im Ruhrgebiet, im »Pott« fühlt sich das für mich alles ein bisschen anders an. Das ist eine Gegend, die früher einmal für jeden Arbeit bot. Wenn auch harte Arbeit. Das führte dazu, dass Menschen aus anderen Gegenden der Welt– zunächst überwiegend aus Polen, nach dem Zweiten Weltkrieg dann aus ganz Europa, besonders Süd- und Südosteuropa– in Scharen ins Ruhrgebiet kamen, um dort Geld zu verdienen. Im Ruhrgebiet kam es somit irgendwann nicht mehr so drauf an, wer du bist, wo du herkommst, wo du geboren wurdest. Hauptsache, man war Kumpel, konnte zupacken und war ehrlich im Umgang. Dann passte alles. Oder wurde mal eben einvernehmlich passend gemacht.
Das hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Wer ins Ruhrgebiet zieht, braucht nicht lange, bis er dazugehört. Man muss sich nur für dieselben Sachen begeistern– am besten Fußball, da findet man schnell Anschluss.
Natürlich ist es hilfreich, wenn man in ein Gemeinwesen hineingeboren wird und dort, zumindest fürs Erste, bleibt, weil man so in seinen Teil der jeweiligen Gesellschaft und in dessen Gewohnheiten– nennen Sie sie gerne auch Rituale– organisch hineinwächst. Aber nur dazugehören dürfen, wenn und weil man hineingeboren wurde, und zwar am besten über Generationen: Darf und kann so etwas die Teilhabe eines Menschen an einer Gemeinschaft wirklich umfassend definieren?
Egal wohin man kommt, man ist zuerst einmal fremd. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Schultag? Ihren ersten Tag bei der Arbeit? Das erste Mal im Verein? In der Stammkneipe? Sie waren der Eindringling, der oder die Neue unter all den für Sie fremden Menschen. Sie haben sich tatsächlich oder zumindest gedanklich erst einmal unsicher in die Ecke gesetzt und gehofft, nicht zu stören, und mussten nach den einfachsten Dingen fragen. Jeder konnte bemerken, dass Sie zum ersten Mal hier waren. Und Sie ahnten, dass mancher sich instinktiv fragte, ob Sie hier überhaupt hingehören. Wären die Freunde von heute damals nicht offen für den oder die Neue gewesen, wo wären Sie heute? Wie würden Sie leben? Wo würden Sie dazugehören?
Viele werden meiner Familie nun unterstellen: Die waren sicher Wirtschaftsflüchtlinge. Mit bestem Gruß an alle Deutschen, die ausgewandert sind, weil auch sie ihr Glück woanders suchten: Selbst wenn– wer hat darüber zu richten?
Es sind übrigens nicht gerade wenige Deutsche, die sich dafür entschieden haben. Einige Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger leben irgendwo auf der Welt statt in Deutschland. Sicher sind nicht wenige von ihnen weggegangen, weil sie dachten, woanders besser leben zu können oder woanders eine größere wirtschaftliche Chance zu haben. Vielleicht haben sie sich auch verliebt. Oder sie bauen sich aus ganz privaten Gründen woanders etwas auf, weil sie es anderswo nun einmal schöner oder das Klima angenehmer finden. Ob als Überlebenskünstler in Texas oder Betreiber hochwertiger Ferienunterkünfte in Südfrankreich, ob mit einer deutschen Kneipe oder Bäckerei in Costa Rica. Das Land der Verheißung für die meisten Deutschen sind übrigens die USA. Das Land, dessen Präsident jetzt eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen möchte, um zu verhindern, dass weitere Menschen ins Land kommen, die das Land geprägt und seinen Mythos erschaffen haben: Migrantinnen und Migranten.
Das heißt, die eigene Erfolgsgeschichte überschreiben zu wollen. Denn abgesehen von den Ureinwohnern der USA hat die Bevölkerung der USA mehrheitlich ihren Ursprung in Vorfahren, die dorthin gegangen sind, weil sie es wollten oder mussten– waren doch die Versprechungen der Neuen Welt so viel verheißungsvoller als jene der alten Heimat. Nur die Sklaven kamen nicht mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, die zahlreichen Tschechen, Iren, Italiener, Engländer, Franzosen, Niederländer, Polen, Russen sehr wohl. Sie kamen, weil ihnen das Land Reichtum, die Chance auf ein menschenwürdiges Leben und Schutz vor Verfolgung versprach. Ebenso jede Menge Deutsche. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 etwa gab es eine große, politisch motivierte Flüchtlingswelle aus Deutschland.
Womit wir beim knallharten Verfechter des »America first« wären: genau, Donald Trump. Sein Großvater, Friedrich Trump, wanderte nämlich 1885 aus Kallstadt in der Pfalz in die USA aus. Er war Friseur (bitte fügen Sie hier einen Gedanken Ihrer Wahl ein) und hatte in der Heimat keine wirtschaftliche Perspektive. Im Nordwesten der USA und im kanadischen Yukon-Territorium häufte er mit einfachen Restaurants, die unter anderem Pferdefleisch verkauften, vor allem in den Jahren des Goldrauschs die Grundlage seines Wohlstands an.1 Davon zehrt sein Enkel heute noch.
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Friedrich Trump gern in die Heimat zurückkehren wollte, dies aber aufgrund typisch deutscher bürokratischer Kleinlichkeit nicht durfte: Er hatte sich erstens vor seiner Migration nicht ordnungsgemäß abgemeldet und zweitens seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren, als er die der USA annahm.
Die traurige Pointe liegt darin, dass Friedrich Trump etwas wollte, was viele Migranten sich wünschen: zirkuläre Migration. Auf gut Deutsch: genügend Geld verdienen, um anschließend in der Heimat ein eigenes Geschäft aufbauen oder sich zur Ruhe setzen zu können. Möglich machen dies durchlässige Grenzen, wie es etwa die mexikanische Grenze ist– noch zumindest. Täglich verkehren hier Tausende Menschen, die in Mexiko wohnen, aber ihren Lebensunterhalt in den USA als Hausangestellte oder als was auch immer verdienen.
Aber wir müssen gar nicht bis in das sogenannte Land der unbegrenzten Möglichkeiten gehen, um diese Grenzvariante vorzufinden. Auch die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz ist so eine. Sie wird hauptsächlich von Deutschen überschritten, schlicht, weil in der Schweiz höhere Gehälter gezahlt werden. Die Schweiz hat Ende 2016 rund 61 000 Grenzgänger aus Deutschland gezählt.2 Das sind aber nur die, die in Grenznähe leben. Wochenpendler, etwa aus Berlin, sind hier nicht enthalten. Zudem hat die Schweiz in bestimmten Berufszweigen einen Fachkräftemangel, da kommen ihnen die Deutschen ganz gelegen. An der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland herrscht ebenfalls ein reges Kommen und Gehen– was sich leider garantiert ändern wird, sobald der Brexit tatsächlich vollzogen ist.
Das erzähle ich, weil damit klarer wird, dass loswandern und dann eventuell irgendwo bleiben einfach in der Natur der Menschen liegt– manchmal eben erzwungen, manchmal freiwillig. Wegzugehen, vielleicht sogar alles hinter sich zu lassen, ist offenbar genauso eine menschliche Sehnsucht, wie in der vertrauten Umgebung bleiben zu wollen.
Das Zurückkehren-Wollen gehört ebenfalls zu diesen Überlegungen. Meine Eltern etwa waren sich vollkommen sicher, dass sie nach ihrem Medizinstudium nach Mossul oder Bagdad zurückkehren würden, wo ein Großteil der Familie mittlerweile lebte, um dann dort zu arbeiten. Deswegen schickten sie meinen älteren Bruder dorthin vor, zu Verwandten. Er sollte in Bagdad zur Schule gehen, bevor die Eltern später als fertige Ärzte bzw. als Pharmazeutin nachkommen würden. Ihr damit verbundener Wunsch, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren und ganz am Ende in Heimaterde begraben zu werden, dort also, wo die Vorfahren liegen, ist ein sehr menschlicher Zug.
Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Sehr früh schon war es ihr Wunsch, in Datteln begraben zu werden. Wäre es ihr Wunsch gewesen, in Bagdad oder Mossul zu liegen, wie hätte ich den erfüllen sollen? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie gefährlich es vor rund zwölf Jahren war, meine Oma in Bagdad auf einem christlichen Friedhof zu begraben. Es war nicht ohne Risiko in der aufgeheizten Stimmung gegen Christen. Der Leichnam meiner Oma wurde einfach in ein normales Auto gelegt und zum Friedhof gefahren– man wollte bloß nicht auffallen und auch ja keine christlichen Symbole zeigen. Genau dieser Unterdrückung der christlichen Minderheit wegen sind ja nicht wenige Menschen, auch ein Großteil meiner Familie, überhaupt aus dem Irak geflohen.
Auch auf Grund der Umstände stand eine Beerdigung im Irak also nicht zur Diskussion. Zudem fühlte sich meine Mutter in Datteln auch wirklich zu Hause. Diese Stadt in Westfalen war ihre Heimat geworden, ihr Wohnzimmer, wenn man so will. Meine Mutter war es dann auch, die verhindert hat, dass wir in den Siebzigern in den Irak zurückgingen. Einer der wenigen Kämpfe, die sie gegen meinen Vater gewonnen hat. Gott sei Dank.
Schon allein also, um der Erfahrung des Menschen gerecht zu werden, der sich seine Heimat schafft, statt diese zugewiesen zu bekommen, sollten wir uns dafür einsetzen, dass Hürden beseitigt werden und den Menschen erlaubt wird, »Heimat-Building« zu betreiben. Stattdessen formieren und etablieren sich jedoch Gruppen, die glauben, unsere Heimat müsse gegen Invasoren von außen verteidigt werden. »Heimat« ist für sie eine mehr oder weniger eng zugeschnittene Region, eine vorgegebene Kultur und die eigene, natürlich oftmals dialektgefärbte Sprache. Das heißt: Wer hier nicht geboren wurde, gehört nicht dazu. Ob er, wie meine Mutter und übrigens auch meine ganze Familie, dieses Datteln und damit auch dieses Deutschland lieben gelernt und zu seiner Heimat gemacht hat oder nicht, spielt für diese Leute keine Rolle.
Und so frage ich mich: Wird es wirklich dazu kommen, dass jemand für mich entscheidet, was ich Heimat nennen darf, egal ob ein Minister oder selbsternannter Abendlandsverteidiger? Entscheiden die, wo ich leben darf? Grölen bald deutlich mehr Menschen als der kleine Haufen am Aschermittwoch 2018 im sächsischen Nentmannsdorf »Abschieben!«? Abschieben, weil zum Beispiel meine Familie und ich wie viele Millionen andere in deren Augen nicht hierhergehören, die uns als »Kameltreiber« oder »Asyltouristen« diffamieren?
Allgemeingültig und für mich unstrittig zielt der Begriff »Heimat« meist auf eine Beziehung zwischen einem Menschen und einem Ort. So sehe ich das auch. Dabei kann das der Ort sein, an dem ein Mensch geboren wurde, wo er seine frühen Erlebnisse hat, die Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und schließlich auch Weltauffassung prägen. Oftmals wird der Begriff »Heimat« daher mit der Kindheit verbunden. Er kann sich aber auch auf ein ganz persönliches Geborgenheitsempfinden beziehen; das entsteht am Geburtsort, in einem Dorf, einer Straße, einer bestimmten Landschaft, einem Kanalknotenpunkt– wo auch immer. Für den einen sind es die Berge, für den anderen die Felder, für den nächsten vielleicht sogar der Fußballverein. Das alles kann heimatstiftend wirken.
Eines aber ist Heimat auf keinen Fall: per se durch die Geburt und über die Herkunft der Eltern festgelegt. Denn Heimat ist eben mehr als nur ein (Geburts-)Ort. Heimat gibt Sicherheit, Stabilität und Stärke. Sie bedeutet Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft, Solidarität, Nachbarschaft und Freundschaft. Sie wird zum Paradies der Erinnerung, aus dem man zumindest gedanklich nicht vertrieben werden kann. Heimat ist jedoch auch der Ort, den man verlassen muss, um in der Welt etwas zu werden, der Ort des Abschieds– und vielleicht irgendwann der Heimkehr.
»Heimat« ist ein intimes Wort, das so in anderen Sprachen kaum vorkommt. Es klingt gemütlich und kuschelig. Aber wir sollten wachsam bei der Verwendung sein, denn der Begriff ist auch mit dem Gefühl der Homogenität verklebt, wie wir es in diesen Tagen allzu oft durchaus brutal erfahren müssen. In gewissen Kreisen fungiert Heimat als Symbol für eine geschlossene Gesellschaft, in der Pluralität unerwünscht ist. Dort bedeutet das Wort: Wir gegen die anderen. Es weckt wenig belastbare Erinnerungen an die »gute alte Zeit«, in der man sich noch nicht »fremd im eigenen Land« gefühlt hat, in der man noch keinen »Heimatschutz« brauchte oder gar ein »Heimatministerium«.
Meine Heimat ist Datteln, dort bin ich geboren. Meine Heimat ist Köln, dort bin ich im Studium flügge geworden. Meine Heimat ist Berlin, dort lebe und arbeite ich. Meine Heimat ist immer da, wo meine Familie und meine Freunde sind. Das Schöne an diesem Wort ist für mich seine Anpassungsfähigkeit an die Wechselfälle der Biographie.
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