Heart Of Ivy - Geliebter Feind - Amy Engel - E-Book

Heart Of Ivy - Geliebter Feind E-Book

Amy Engel

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Beschreibung

Nach einem verheerenden Krieg hat sich das Leben aller verändert: Die Mädchen der Verlierer sind auf ewig dazu verdammt, die Söhne der Gewinner zu heiraten. Nur eine kann für Gerechtigkeit sorgen: Ivy Westfall. Doch dazu muss sie Bishop Lattimer töten, Sohn des Präsidenten – und ihr Bräutigam … Bishop ist jedoch nicht wie gedacht, sondern der einzige Mensch, dem sie wirklich vertrauen kann. Prompt verliebt sich Ivy und steht vor einer folgenschweren Entscheidung.

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Seitenzahl: 435

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Foto: © Amy Engel

DIE AUTORIN

Amy Engel wurde in Kansas geboren und verbrachte ihre Kindheit im Iran und Taiwan, Kansas, Kalifornien, Missouri und Washington D.C. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in Kansas City, Missouri. Sie arbeitete als Anwältin, ein Job, der nicht ganz so aufregend ist, wie er im Fernsehen immer dargestellt wird, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit Lesen oder Joggen.

Amy Engel

Heart of Ivy

Geliebter Feind

Aus dem Englischenvon Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

Deutsche Erstausgabe Juli 2016

Copyright © 2014 by Amy Engel

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Book of Ivy« bei Entangled Publishing, LLC, Fort Collins, CO 80525

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Michaela Link

Lektorat: Bernd Stratthaus

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

Umschlagillustration: © Shutterstock

(HTeam, RODINA OLENA)

mg ∙ Herstellung: MH/Ang

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16359-4V001www.cbt-buecher.de

Für meinen Vater, der immer an mich geglaubt hat

1

Heute heiratet niemand mehr in Weiß. An weißen Stoff ist kaum heranzukommen – von den Kosten und Mühen, genug für einige Dutzend Kleider oder mehr zu beschaffen, ganz zu schweigen. Nicht einmal für einen Tag wie heute, an dem der Sohn des Anführers unter den Bräutigamen sein wird. Selbst er ist nicht so besonders, dass man ihm gestatten würde, ein Mädchen in Weiß zu heiraten.

»Halt still«, befiehlt meine Schwester hinter mir. Ihre Finger auf meiner Haut fühlen sich eiskalt an; sie versucht mit Gewalt, den Reißverschluss an der Rückseite des hellblauen Kleides hochzuziehen. Es wurde eigentlich für ihren Hochzeitstag genäht, und da ich größer bin als sie, passt es nicht richtig. »So.« Sie zerrt ein letztes Mal an dem Reißverschluss. »Dreh dich um.«

Ich drehe mich langsam um und streiche über den weichen Stoff. Ich bin es nicht gewohnt, Kleider zu tragen. Es gefällt mir nicht, wie nackt ich mich darin fühle, und ich sehne mich jetzt schon nach Hosen und einem Atemzug, der nicht von einem zu engen Korsett eingeschnürt wird. Als läse sie meine Gedanken, schaut Callie an mir herunter. »Du hast mehr Busen als ich«, bemerkt sie mit einem Grinsen. »Aber ich bezweifle, dass er sich darüber beschweren wird.«

»Halt den Mund«, gebe ich zurück, aber ich verleihe meinen Worten keinen Nachdruck. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so nervös sein würde. Dieser Tag ist schließlich keine Überraschung. Ich habe mein Leben lang gewusst, dass er kommt, habe jede Minute der letzten zwei Jahre damit zugebracht, mich auf ihn vorzubereiten. Aber jetzt, da er gekommen ist, kann ich weder das Zittern meiner Hände noch die Übelkeit in meinem Magen unterdrücken. Ich weiß nicht, ob ich es hinkriege, aber ich weiß auch, dass ich keine Wahl habe.

Callie hebt die Hand und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus meiner Frisur gelöst hat. »Du schaffst das schon«, sagt sie mit fester, ruhiger Stimme. »Nicht wahr? Du weißt, was du zu tun hast.«

»Ja«, entgegne ich und ziehe den Kopf zurück. Ihre Worte führen dazu, dass ich mich stärker fühle; man braucht mich nicht zu verhätscheln.

Sie sieht mich einen Moment lang an, ihr Mund ist eine dünne Linie. Ist sie zornig, dass ich den Platz einnehme, der von Rechts wegen ihrer hätte sein sollen? Oder ist sie dankbar, ihn an mich abtreten zu dürfen und nicht länger die Last der Tochter tragen zu müssen, auf deren Schultern so viel Hoffnung ruht?

»Mädchen«, ruft mein Vater von unten, »es ist so weit.«

»Geh schon mal vor«, sage ich zu Callie. »Ich komme gleich nach.« Ich brauche eine letzte stille Minute, noch einmal die Gelegenheit, mich in diesem Raum umzusehen, der nie wieder mein Zuhause sein wird. Callie lässt die Tür einen Spaltbreit offen stehen, und ich kann von unten die ungeduldige Stimme meines Vaters hören und dann Callie, die etwas murmelt, um ihn zu beruhigen.

Auf meinem Bett liegt ein abgenutzter Koffer, dessen Räder schon vor langer Zeit abgebrochen sind, sodass ich ihn werde tragen müssen. Ich hieve ihn von der Matratze und drehe mich langsam um mich selbst. Ich weiß, dass ich nie wieder in diesem schmalen Bett schlafen, mir nie wieder vor dem Spiegel über meiner Frisierkommode das Haar kämmen und nie wieder beim Einschlafen dem Trommeln des Regens auf meiner Fensterscheibe lauschen werde. Ich schließe die Augen gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen und hole tief Luft. Als ich die Augen wieder öffne, sind sie trocken. Ich verlasse mein Zimmer und schaue nicht zurück.

Die Hochzeiten finden immer am zweiten Samstag im Mai statt. In manchen Jahren regnet es, und mit dem Regen kommt dann ein schwacher, beißender Brandgeruch, selbst nach so vielen Jahren. Aber heute ist das Wetter klar, der Himmel ein gleißendes Blau mit duftigen Wolken, die in einer leichten Brise dahinziehen. Ein wunderschöner Tag, um zu heiraten, aber ich kann mich nur auf das starke Klopfen meines Herzens konzentrieren und auf den Schweiß, der sich zwischen meinen Schulterblättern sammelt, während wir zum Rathaus gehen.

Mein Vater und Callie gehen rechts und links neben mir her, beinahe so, als wollten sie mich daran hindern wegzurennen. Ich spare mir die Mühe, ihnen zu sagen, dass ich das nicht vorhabe. Ich streife die Hand meines Vaters, und seine Finger schließen sich um meine. Seit ich ein kleines Mädchen war, hat er meine Hand nicht mehr gehalten, und die Geste überrumpelt mich derart, dass ich über meine eigenen Füße stolpere. Der Druck seiner Hand verhindert im letzten Moment, dass ich das Gleichgewicht verliere. Ich bin dankbar für seine Berührung, obwohl er kein Mann ist, der andere oft oder leichtfertig anfasst. Er ist kein Tröster. Wenn das Schicksal schon feststeht, hat man nichts von Verzärtelung. Die Aufgabe meines Vaters war es, mich stark zu machen, und ich gehe davon aus, dass er seine Sache gut gemacht hat. Aber vielleicht ist das ja nur Wunschdenken.

»Wir sind stolz auf dich«, erklärt er. Er drückt einmal kurz meine Hand, so fest, dass es fast wehtut, dann lässt er sie los. »Du schaffst das.«

»Ich weiß«, antworte ich, den Blick nach vorn gerichtet. Die Kalksteinfassade des Rathauses ist jetzt nicht einmal mehr einen Häuserblock entfernt. Mehrere andere Mädchen gehen mit ihren Eltern die Stufen hinauf. Sie sind bestimmt nervös, erfüllt von der bangen Frage, ob sie den heutigen Tag als Ehefrau beenden oder wieder nach Hause gehen und unter ihre eigene Bettdecke schlüpfen werden. Ich habe vor etwas anderem Angst. Ich weiß, wo ich heute Nacht schlafe, und es wird nicht in meinem eigenen Bett sein.

Als wir den Gehweg vor dem Rathaus erreichen, drehen die Leute sich um. Sie grinsen meinen Vater an, wollen ihm die Hand schütteln und klopfen ihm auf den Rücken. Ein paar Frauen lächeln mir beruhigend zu und sagen mir, wie hübsch ich aussehe.

»Lächle«, flüstert Callie mir ins Ohr. »Hör auf, alle so finster anzusehen.«

»Wenn das so leicht ist, warum versuchst du es dann nicht selbst?«, zische ich zurück, aber ich gehorche und setze ein Lächeln auf.

»Das hätte ich ja, schon vergessen?«, erwidert sie. »Aber man hat mir keine Gelegenheit dazu gegeben. Jetzt musst du das für mich machen.«

Also ist sie doch eifersüchtig auf mich und ungehalten darüber, dass man ihr ihr Geburtsrecht gestohlen hat. Ich erwarte, dass ihre Augen kalt sind, aber als ich den Kopf drehe, sieht sie mich mit einer Sanftheit an, die ich bisher selten bei ihr wahrgenommen habe. Sie ist die weibliche Ausgabe unseres Vaters, mit seinen schokoladenfarbenen Augen und dem dunklen haselnussbraunen Haar. Ich habe mir immer sehnlichst gewünscht, wie sie auszusehen, statt die Außenseiterin zu sein mit meinem nicht ganz blonden, nicht ganz braunen Haar und den grauen Augen, beides Geschenke meiner lange verstorbenen Mutter. Aber so wenig wir einander ähneln, hatte ich, wenn ich Callie anschaute, doch immer das Gefühl, eine strengere und diszipliniertere Version von mir selbst anzublicken. Wenn ich sie ansehe, werde ich daran erinnert, was für ein Mensch ich werden soll.

Wir folgen der langen Reihe von Bräuten ins Rathaus. Überall um mich herum stehen Mädchen in hellen Kleidern. Einige umklammern kleine Blumensträuße, andere, wie ich, sind mit leeren Händen gekommen. Man führt uns in die Hauptrotunde, an deren einem Ende eine Bühne aufgebaut worden ist. Im hinteren Teil hängt ein dunkler Vorhang, und ich weiß, dass sich in diesem Moment die Jungen dahinter in einer Reihe aufstellen, bevor der Vorhang sich öffnet und sie erfahren, wen zu heiraten ihnen bestimmt ist.

Die potenziellen Bräute sitzen in den vorderen Stuhlreihen, die Familien sowohl der Bräute als auch der Bräutigame hinter ihnen. Präsident Lattimer und seine Frau jedoch haben auf der Bühne Platz genommen, wie sie das jedes Jahr tun. Selbst heute, da ihr Sohn hinter dem Vorhang steht, ändert sich ihr Status nicht. Mein Vater drückt mir ein letztes Mal die Hand, bevor er geht. Callie haucht mir einen schnellen, trockenen Kuss auf die Wange. »Viel Glück«, sagt sie. Wenn meine Mutter noch lebte, würde sie mich vielleicht umarmen und mir statt einer Plattitüde ein paar letzte Ratschläge mit auf den Weg geben, mit denen ich tatsächlich etwas anfangen könnte.

Ich lasse mich auf einen leeren Stuhl in der ersten Reihe sinken. Dabei vermeide ich den Blickkontakt mit Präsident Lattimer und den Mädchen links und rechts neben mir. Ich schaue starr geradeaus und konzentriere mich auf einen kleinen Riss im dunklen Bühnenvorhang, bis das Mädchen, das neben mir sitzt, mir etwas in die Hand drückt. »Hier«, sagt sie. »Nimm dir eins und gib den Rest weiter.«

Ich tue wie geheißen und reiche dem Mädchen zu meiner Linken den Stapel mit Programmen. Es ist das gleiche Programm, das jedes Jahr verteilt wird. Nur die Farbe des Papiers und die Namen darauf ändern sich. Es scheint kaum der Mühe wert. Ich bin mir sicher, dass wir alle das Programm inzwischen auswendig kennen. Dieses Jahr hat es eine ausgewaschene Rosafärbung, und am oberen Rand steht in schnörkeliger, leicht verwischter Schrift das Wort HOCHZEITSZEREMONIE. Die ersten beiden Seiten sind eine Geschichte unserer »Nation«. Ich persönlich finde es lächerlich, eine Stadt mit weniger als zehntausend Einwohnern als Nation zu bezeichnen, aber niemand hat mich je nach meiner Meinung gefragt.

Die Geschichte erzählt vom Krieg, der der Welt ein Ende gesetzt hat, von den Überschwemmungen und Dürrekatastrophen, die folgten, den Krankheiten, die uns beinahe ausgelöscht hätten. Aber natürlich haben wir uns aus der Asche erhoben – zerlumpte, kriegsmüde Überlebende, die es geschafft haben, in einer gewaltigen, unfruchtbaren Landschaft zusammenzufinden und einen Ort für einen Neuanfang zu formen. Bla, bla, bla. Doch unsere Wiedergeburt ereignete sich nicht ohne Konflikte und noch mehr Tote, weil zwei Seiten darum gekämpft haben zu bestimmen, wie es mit unserer winzigen Nation weitergehen sollte. Die Gewinnerseite, die Seite, die von Präsident Lattimers Vater angeführt wurde, hat sich durchgesetzt. Aber der Unterlegene, mein Großvater Samuel Westfall, und seine Anhänger wurden im Schoß der Nation willkommen geheißen. Man versprach ihnen Vergebung und gewährte ihnen Absolution für ihre Sünden.

Ich könnte kotzen, wenn ich das lese.

Und aus diesem Grund gibt es den Hochzeitstag. Die Verliererseite bietet den Söhnen der Sieger ihre sechzehnjährigen Töchter an. Es gibt einen zweiten Hochzeitstag im November, an dem die Söhne der Verlierer die Töchter der Sieger heiraten. Aber dieser Hochzeitstag ist ernster, denn die wertvollsten Töchter der Nation werden gezwungen, unter einem trostlosen Winterhimmel minderwertige Jungen zu heiraten.

Die Theorie hinter der Praxis der arrangierten Ehen ist eine doppelte. Das Ganze dient einem praktischen Zweck: Die Menschen werden nicht mehr so alt wie vor dem Krieg. Und die Zeugung gesunder Nachkommen ist ein viel heikleres Unterfangen als in der Vergangenheit. Es ist wichtig, dass wir uns fortpflanzen, und zwar je früher, desto besser. Der zweite Grund für die arrangierten Ehen ist noch pragmatischer. Präsident Lattimer war klug genug zu wissen, dass Frieden nur von Dauer sein kann, wenn die unglückliche Seite immer noch etwas zu verlieren hat. Indem er unsere Töchter mit Männern von seiner Seite verheiratet, hat er dafür gesorgt, dass wir es uns gut überlegen, ob wir uns gegen sie erheben. Es ist eine Sache, deinen Feind zu erschlagen; eine ganz andere ist es, wenn dieser Feind das Gesicht deiner Tochter trägt, wenn der Mann, den du niedermetzelst, dein eigener Enkelsohn ist. Bisher hat diese Strategie funktioniert; wir leben seit zwei Generationen in Frieden.

Es ist heiß in der Rotunde, selbst bei geöffneten Türen und trotz der kühlen Kalksteinmauern. Eine kleine Schweißperle rinnt an meinem Hals herunter. Ich wische sie weg und schiebe mir dabei das Haar wieder hoch. Callie hat ihr Bestes getan, um es zu bändigen, aber mein Haar ist dick und widerspenstig, und ich fürchte, es hat nicht so kooperiert, wie sie es gern wollte. Das Mädchen zu meiner Rechten schenkt mir ein Lächeln. »Es sieht gut aus«, bemerkt sie. »Hübsch.«

»Danke«, sage ich. Sie hat auf ihrem roten Haar eine Krone aus traurigen gelben Rosen, deren Blütenblätter in der Hitze bereits verwelken.

»Das hier ist mein zweites Jahr«, flüstert das Mädchen. »Meine letzte Chance.«

Wenn man in seinem sechzehnten Lebensjahr keinen Partner zugewiesen bekommt, kommt man für das nächste Jahr noch einmal an die Reihe. Das geschieht auch in den Jahren, in denen es nicht genug Mädchen gibt, um alle verfügbaren Jungen zu versorgen, oder umgekehrt. Auf diese Weise sollen alle die Chance bekommen, einen Partner zu finden. Wenn man nach zwei Versuchen immer noch keinen Erfolg hatte, steht es einem frei, eine Person seiner Wahl zu heiraten, jemanden, der selbst nicht erwählt worden ist. Oder aber man kann sich als Frau um eine Stelle als Krankenschwester oder Lehrerin bewerben. Männer – verheiratete genauso wie unverheiratete – arbeiten. Sobald eine Frau verheiratet ist, erwartet man von ihr, dass sie zu Hause bleibt und Kinder bekommt, deshalb werden die traditionellen »Frauenarbeiten« mit Unverheirateten besetzt.

»Viel Glück«, sage ich zu dem Mädchen, obwohl ich persönlich nicht finde, dass es so ein schreckliches Schicksal wäre, keinen Partner zu finden. Aber ich weiß, dass das nicht mein Schicksal sein wird. Mein Name befindet sich in einem Umschlag, seit Callies herausgenommen wurde. Für mich gibt es keine Spannung. Die anderen Mädchen, die heute hier sind, haben den Vorteil, dass durch Persönlichkeitstests und endlose Gespräche zumindest die Möglichkeit besteht, dass sie zu ihren zukünftigen Ehemännern passen. Bei mir zählt nur der Nachname.

»Danke«, erwidert das Mädchen. »Ich weiß, wer du bist. Mein Dad hat mir vorhin deinen Dad gezeigt.«

Ich antworte nicht, sondern richte den Blick wieder auf die Bühne, wo der Vorhang sich jetzt bewegt. Tief atme ich durch die Nase ein und lasse den Atem langsam durch den Mund wieder ausströmen.

Ein Mann nähert sich dem Podium am Bühnenrand. Er wirkt nervös und seine Augen wandern zwischen dem Publikum und Präsident Lattimer hin und her. »Meine Damen und Herren«, ruft er. Seine Stimme bricht bei der letzten Silbe, und hier und da hört man Gelächter im Raum. Er räuspert sich und versucht es noch einmal. »Meine Damen und Herren, wir sind heute hier, um die Eheschließung der heiratsfähigen jungen Männer aus Eastglen mit den entzückenden Damen aus Westside zu feiern. Ihre Vereinigung repräsentiert das Beste, was unsere kleine Nation zu bieten hat, und symbolisiert den Frieden, für den wir gekämpft und den wir gemeinsam aufgebaut haben.« Es ist nicht immer derselbe Mann, aber es ist immer dieselbe Ansprache, so traurig und lächerlich, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll.

Das rothaarige Mädchen neben mir faltet krampfhaft die Hände, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten, während ihre Zehen einen nervösen Rhythmus auf den Boden klopfen. Der Mann auf dem Podium gibt jemandem hinter der Bühne, den ich nicht sehen kann, ein Zeichen, und langsam gleitet der Vorhang an seiner Metallschiene zur Seite – mit einem lang gezogenen hohen Quietschen, das mir durch Mark und Bein fährt. Die ersten Jungen, die sichtbar werden, zappeln unruhig, stecken die Hände in die Hosentaschen und ziehen sie wieder heraus, wippen auf den Fersen. Ein kleiner dunkelhaariger Junge, der eher wie zwölf als wie sechzehn aussieht, bekommt einen Lachanfall und drückt das Kinn auf die Brust, während seine Schultern zucken. Zumindest kann ich mich freuen, dass das nicht mein Bräutigam ist.

Sie haben den Jungen, der für mich bestimmt ist, in der Mitte der Reihe platziert, und er ist so viel größer als die anderen, dass sie von ihm wegzufließen scheinen wie Wasser von einem Felsen. Verglichen mit den anderen sieht er nicht einmal wie ein Junge aus, was angesichts seines Alters verständlich ist. Er ist achtzehn und damit zwei Jahre älter als alle anderen, aber es ist mehr als nur sein Alter. Ich glaube kaum, dass er jemals etwas Jungenhaftes an sich hatte. Er strahlt einen Ernst aus, den keiner der anderen besitzt. Er zappelt nicht rum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er kichert. Sein Blick – kühl, leidenschaftslos und leicht amüsiert – ist auf einen Punkt in der Ferne geheftet. Er schaut nicht einmal in meine Richtung.

Er hätte vor zwei Jahren auf dieser Bühne stehen sollen, denn er war von Anfang an für Callie bestimmt gewesen. Aber am Tag vor der Zeremonie hat man uns verständigt, dass er nicht teilnehmen werde. Er werde erst mit achtzehn heiraten, und anstelle meiner Schwester sei ich diejenige, die an diesem Tag neben ihm stehen werde. Ich schätze, solche Launen werden geduldet, wenn man der Sohn des Präsidenten ist. Als Trostpreis bekam Callie die Option, ihren Namen als potenzielle Braut bei der Heiratszeremonie entfernen zu lassen. Eine Option, die sie gewählt hat, und von der ich wünschte, ich hätte sie ebenfalls.

»Oh mein Gott«, haucht die Rothaarige und sieht mich an. »Du hast ja so ein Glück!«

Ich weiß, sie meint es gut, und ich versuche zu lächeln, aber meine Lippen wollen nicht mitmachen. Der Mann auf dem Podium übergibt an Mrs Erin Lattimer, die Frau des Präsidenten. Sie hat kastanienbraunes Haar und eine üppige Figur, die die Blicke der Männer auf sich zieht, wo immer sie hingeht. Aber ihre Stimme ist scharf, kalt sogar. Sie erinnert mich an den ersten Biss in einen sauren grünen Apfel.

»Wie Sie alle wissen«, beginnt sie, »verlese ich jeweils den Namen eines Jungen, der daraufhin vortritt. Dann öffne ich den Umschlag und verlese den Namen des Mädchens, das seine Ehefrau wird.« Sie schaut auf uns herunter. »Kommen Sie bitte auf die Bühne, wenn Ihr Name aufgerufen wird. Sollte Ihr Name am Ende nicht aufgerufen worden sein, hat das Komitee entschieden, dass Sie keine passende Partnerin für einen der Jungen in diesem Jahr sind.« Sie bedenkt uns mit einem raschen Lächeln. »Das ist selbstverständlich keine Schande«, fährt sie fort. Aber natürlich ist es beschämend, nicht ausgewählt zu werden; das weiß jeder. Keiner spricht es laut aus, doch es ist immer die Schuld des Mädchens, wenn sich niemand für sie findet. Es ist immer etwas an ihr, das man für mangelhaft befunden hat, niemals anders herum.

Als Erster wird Luke Allen aufgerufen. Er ist blond und hat Sommersprossen auf der Nase, die wie brauner Zucker aussehen. Seine Augen weiten sich kurz, als Mrs Lattimer den Umschlag aufreißt, auf dem sein Name geschrieben steht, und die cremefarbene Karte herausnimmt. »Emily Thorne«, ruft sie. Hinter mir hört man Rascheln und aufgeregtes Flüstern, und ich drehe den Kopf. Ein zierliches Mädchen mit karamellfarbenem Haar schiebt sich an den anderen Mädchen in ihrer Reihe vorbei. Auf der Treppe zur Bühne stolpert sie, und Luke eilt herbei, um ihre Hand zu nehmen. Einige der Mädchen hinter mir seufzen, als wäre dies die romantischste Geste, die sie je gesehen haben, und ich muss mich zwingen, nicht mit den Augen zu rollen. Luke und Emily stehen verlegen da und schauen einander von der Seite an, bis sie an den Bühnenrand gescheucht werden, damit das nächste Paar angekündigt werden kann.

Mir kommt es vor, als würde es Stunden dauern, den dicken Stapel mit Umschlägen durchzugehen. Und selbst dann sitzen immer noch jede Menge Mädchen in den Stuhlreihen, einschließlich der Rothaarigen neben mir. Tränen laufen ihr über die Wangen, als Mrs Lattimer den letzten Umschlag hochhält. Ich würde dem Mädchen gern sagen, dass sie froh sein soll, glücklich darüber, heute Abend nach Hause gehen und sich überlegen zu dürfen, was sie mit ihrem Leben anfangen will, statt zu heiraten. Aber ich weiß, dass meine Worte nur ein schwacher Trost wären. Denn alles, woran sich die Leute je erinnern, ist dies: Sie ist unverheiratet nach Hause gekommen; letzten Endes ist sie unerwählt geblieben.

Mrs Lattimer schaut zu ihrem Mann hinüber. Der Präsident steht auf und nähert sich dem Podium. Er ist ein hochgewachsener Mann, und es ist leicht zu erkennen, von wem sein Sohn seine Körpergröße geerbt hat. Lattimers dunkles Haar ist an den Schläfen mit frühem Grau gesprenkelt, sein Kinn mit dem Grübchen in der Mitte stark ausgeprägt. Er lässt den Blick seiner hellblauen Augen über die Menge wandern, bis er bei mir innehält. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, aber ich halte seinem Blick stand.

»Heute ist ein ganz besonderer Tag«, hebt er an. »Noch mehr als gewöhnlich. Vor Jahren, nach dem Krieg, herrschte Uneinigkeit darüber, wie wir den Wiederaufbau gestalten sollten. Am Ende haben beide Seiten es geschafft, eine Übereinkunft zu treffen.«

Ich finde es interessant, dass er aus einer Schlacht eine Uneinigkeit macht, aus einer erzwungenen Unterwerfung eine Übereinkunft. Er hat sich schon immer meisterhaft darauf verstanden, Wörter so zu verdrehen, dass sie zu seinen Geschichten passen.

»Wie Sie alle wissen, hat Alexander Lattimer, mein Vater, die Gruppe angeführt, die zu guter Letzt die Kontrolle übernommen hat. Und es war Samuel Westfall, der sich ihm in den Weg stellte, der sich aber mit der Zeit den Zukunftsvisionen meines Vaters anschloss.«

Das ist eine Lüge. Mein Großvater hat sich nie Lattimers Plänen für Westfall angeschlossen. Er wollte eine Demokratie, wollte, dass die Menschen eine Stimme und ein Mitspracherecht bekommen, was ihr eigenes Leben betrifft. Er hat Jahre damit zugebracht, unsere stetig wachsende Schar von Menschen am Leben und in Bewegung zu halten, bis sie diesen Ort fanden, an dem sie sich niederlassen konnten. Dann hat Alexander Lattimer ihm all das entrissen, Alexander Lattimer, der eine Dynastie für sich und seine Nachfahren gründen wollte.

Ich wage es nicht, den Kopf zu drehen und in der Menge nach meinem Vater oder Callie Ausschau zu halten. Nach all den Jahren sind sie sehr geschickt darin geworden, ihre Gefühle zu verbergen, aber ich würde den Zorn in ihren Augen erkennen und darf nicht zulassen, dass er sich auch in meinen spiegelt.

»Und heute feiern wir zum ersten Mal eine Hochzeit eines Lattimer mit einer Westfall«, fährt der Präsident mit einem Lächeln fort. Das Lächeln wirkt aufrichtig und vielleicht ist es das ja sogar. Aber ich weiß auch, was diese Heirat für ihn bedeutet. Es ist ein weiterer Schritt hin zur Zementierung seiner Macht, und das ist es, was ihn wirklich glücklich macht. Nach meinem Vater wird es keine weiteren Westfalls mehr geben. Es reicht Präsident Lattimer nicht, dass die Familie Westfall ausstirbt – er muss auch noch meine Kinder zu Lattimers machen.

»Bis jetzt war keine unserer Familien sehr gut darin, Töchter hervorzubringen«, fährt Präsident Lattimer fort. Das Publikum bricht in dröhnendes Gelächter aus, aber ich kann mich nicht dazu bringen, mit einzustimmen, obwohl ich weiß, dass ich das tun sollte. Als sich das Gekicher legt, hält Präsident Lattimer den Umschlag hoch, damit ihn alle sehen können. »Der Sohn des Präsidenten und die Tochter des Gründers«, ruft er.

Mein Vater war natürlich nicht der Gründer. Es war sein Vater, der diese Stadt gegründet hat und dann von Alexander Lattimer und seinen Anhängern verdrängt wurde. Aber man hat früh festgelegt, dass der Nachkomme des eigentlichen Gründers den Titel des Gründers führen würde, genauso wie Alexander Lattimers Nachfahre Präsident genannt wird. Es ist ein bedeutungsloser Titel. Der Gründer hat kein Mitspracherecht bei der Führung der Nation. Er ist nur eine Galionsfigur, vorgeführt, um zu beweisen, wie friedlich wir sind. Wie gut unser Regierungssystem funktioniert. Der Titel des Gründers ist wie ein wunderschön verpacktes Geschenk ohne Inhalt. Man hofft, uns mit seinem glänzenden Äußeren abzulenken, damit wir nicht merken, dass die Schachtel leer ist.

»Bishop Lattimer«, ruft der Präsident mit klarer, durchdringender Stimme. Das Geräusch des aufreißenden Umschlags, das in meinen Ohren so laut wie ein Schrei klingt. Ich kann Hunderte von Blicken auf mir spüren und halte den Kopf hoch. Präsident Lattimer zieht das Papier mit einer schwungvollen Geste aus dem Umschlag und lächelt in meine Richtung. Er formt mit den Lippen meinen Namen, Ivy Westfall, aber ich kann ihn wegen des Klingelns in meinen Ohren und des Hämmerns meines Herzens nicht hören.

Ich atme ein letztes Mal tief ein und versuche, mir Mut sowie Luft in die Lungen zu ziehen. Versuche, den Zorn niederzukämpfen, der wie Gift durch meine Adern braust. Dann stehe ich auf, und meine Beine tragen mich sicherer, als ich es erwartet hätte. Auf dem Weg zur Treppe klappern meine Absätze über den gefliesten Boden. Hinter mir applaudiert und johlt die Menge, auch einige respektlose Pfiffe sind inmitten des Chaos zu hören. Als ich die Treppe hinaufgehe, beugt Präsident Lattimer sich vor und fasst mich am Ellbogen.

»Ivy«, sagt er. »Wir freuen uns, dass du ab jetzt zu unserer Familie gehörst.« Seine Augen blicken warm. Ich fühle mich von ihnen verraten. Sie sollten eisig und gleichgültig sein, um zu dem Rest von ihm zu passen.

»Danke«, antworte ich mit einer festen Stimme, die nicht wie meine eigene klingt. »Darüber freue ich mich auch.«

Sobald ich auf der Bühne stehe, rücken die anderen Paare noch näher an den Rand, damit ich in die Mitte der Reihe treten kann, wo Bishop Lattimer auf mich wartet. Ich halte seinem unverwandten Blick stand. Er ist noch größer, als ich dachte, aber ich bin ebenfalls groß, und ausnahmsweise einmal ist das ein Segen. Ich würde nicht wollen, dass dieser Junge mich überragt. Ich fühle mich auch so schon machtlos genug.

Er hat dunkles Haar wie sein Vater, obwohl ich aus der Nähe zwischen den kaffeebraunen Strähnen auch hellere sehen kann, als hätte er viel Zeit im Freien in der Sonne verbracht. Das passt zu den Gerüchten, die ich im Laufe der Jahre über ihn gehört habe: dass er sich lieber draußen als im Haus aufhalte, sein Vater ihn zwingen müsse, an den Ratssitzungen teilzunehmen, und man ihn überhaupt häufiger in einem Wildwasserkanu auf dem Fluss finde als im Rathaus.

Seine Augen sind von einem kühlen, klaren Grün, und sie mustern mich mit einer Intensität, bei der sich mir der Magen zusammenkrampft. Sein Blick ist weder feindselig noch herzlich, vielmehr taxiert er mich, als wäre ich eine Rechenaufgabe, an deren Lösung er arbeitet. Er kommt nicht auf mich zu, aber als ich nah genug bei ihm bin, um die Hand auszustrecken, wie man es mir beigebracht hat, ergreift er sie. Seine Finger sind warm und stark, als sie sich um meine schließen. Er drückt mir kurz die Hand, und mir stockt der Atem. Hat er versucht, freundlich zu sein? Mich zu beruhigen? Ich weiß es nicht, denn als ich ihn anschaue, ruht sein Blick auf dem Pfarrer, der auf seinen Einsatz wartet.

»Lassen Sie uns beginnen«, sagt Präsident Lattimer. Alle auf der Bühne beziehen ihre Position und stellen sich ihren zukünftigen Eheleuten gegenüber auf, Bishop und ich in der Mitte, dort, wo das ganze Publikum uns sehen kann. Bishop nimmt jetzt auch meine andere Hand, sodass unsere Hände eine Brücke zwischen uns schaffen.

Am liebsten würde ich herausschreien, dass das hier falsch ist. Dass ich den Jungen mir gegenüber nicht kenne. In meinem ganzen Leben kein einziges Wort mit ihm gewechselt habe. Er weiß nicht, dass meine Lieblingsfarbe Lila ist oder ich immer noch meine Mutter vermisse, an die ich mich gar nicht erinnern kann, oder dass ich in diesem Augenblick Angst habe. Ich werfe einen panischen Blick auf das Publikum, sehe aber nur lächelnde Gesichter. Dass die Menschen im Saal bei dieser Scharade mitspielen, macht alles irgendwie noch schlimmer. Dass niemand aufschreit oder versucht zu verhindern, dass sein Kind einen wildfremden Menschen heiratet.

Unsere Fügsamkeit ist die stärkste Waffe, die Präsident Lattimer zu seiner Verfügung hat.

Und am Ende bin ich genauso schlimm wie die anderen. Ich öffne den Mund, als alle anderen es tun, und wiederhole die Worte, die ich in dem lauten Stimmengewirr um mich herum nicht einmal hören kann. Ich sage mir, dass das alles keine Rolle spielt. Ich muss einfach diesen Teil der Zeremonie hinter mich bringen, also mache ich mit. Schließlich streife ich einen schlichten Goldring, der meinem Vater gehört hat, auf Bishops Finger, und auch er hat einen Ring für mich. Er fühlt sich fremd an meiner Hand an, einengend, obwohl er die richtige Größe hat.

Als der Pfarrer uns zu Mann und Frau erklärt, versucht Bishop nicht, mich zu küssen, nicht einmal auf die Wange, und dafür bin ich dankbar. Ich glaube nicht, dass ich einen Kuss hätte ertragen können. Es wäre genauso, als würde irgendjemand auf der Straße mich packen und seinen Mund auf meinen pressen. Ein Übergriff, kein Zeichen der Zuneigung. Aber überall um uns herum umarmen sich Paare und brechen in Jubel aus, und die meisten haben kein Problem damit, sich zu küssen, als würden sie sich schon viel länger kennen als eine Stunde. Werden diese Mädchen in einigen Monaten immer noch so glücklich sein, wenn ihre Bäuche schwer von Babys sind und sie begreifen, dass sie jetzt für immer neben einem Jungen schlafen müssen, den sie kaum kennen?

Für sie geht es bei dieser Zeremonie darum, den Frieden zu bewahren, einer Tradition zu folgen, die dafür gesorgt hat, unsere Gesellschaft seit mehr als zwei Generationen zu stabilisieren. Aber im Gegensatz zu ihnen weiß ich, wie zerbrechlich dieser Friede ist, dass er an wenigen dünnen Fäden hängt, an denen selbst jetzt gesäbelt wird. Ich bin anders als all die anderen Mädchen, denn durch die Hochzeit mit Bishop Lattimer hat sich mein Schicksal noch nicht erfüllt. Meine Mission ist es nicht, ihn glücklich zu machen, ihm Kinder zu gebären und seine Ehefrau zu sein.

Meine Mission ist es, ihn zu töten.

2

Nach der Zeremonie begeben sich alle in den Keller des Rathauses, wo an den Wänden lange Tische aufgestellt worden sind. Becher mit knallrosa Punsch sind neben einem einzigen großen Hochzeitskuchen aufgereiht. Der Kuchen reicht nur für die Bräute und Bräutigame, und auch sie werden nur ein oder zwei Bissen abbekommen, aber der bloße Gedanke daran, wie die süße Glasur an meinen Zähnen klebt, bereitet mir Übelkeit.

Bishops Eltern begrüßen uns, kaum dass wir eintreten. Sein Vater umarmt mich und küsst mich auf die Wange. Ich versuche, nicht zusammenzuzucken, aber mein Lächeln ist steinern. Bishops Mutter ist nicht so aufdringlich. Sie legt mir kurz eine Hand auf den Oberarm und zieht sie dann schnell wieder weg. Es ist eher die Idee einer Berührung. »Sei gut zu ihm«, sagt sie, und ich brauche mich nicht anzustrengen, um die Warnung in ihrer Stimme zu hören.

»Mom«, sagt Bishop. Er wirft ihr einen scharfen Blick zu, und ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Bishop legt mir die Hand auf den Rücken und führt mich weg.

»Wo ist deine Familie?«, fragt er und neigt den Kopf zu mir, damit ich ihn in dem Getöse von Glückwünschen um uns herum verstehen kann. Es sind die ersten Worte, die er abgesehen von unserem Gelübde zu mir gesprochen hat, und das Gelübde zählt nicht wirklich, obwohl es unter anderen Umständen am meisten zählen würde.

Ich deute in die andere Ecke des Raumes, wo mein Vater steif dasteht und Callie neben ihm an der Wand lehnt.

»Lass uns Hallo sagen«, schlägt Bishop vor, und ich schaue ihn überrascht an. Unsere Familien tun nur so, als kämen sie gut miteinander aus. Wir lächeln falsch und schütteln einander die Hände, und die ganze Zeit über schäumen wir innerlich vor Wut. Aber er klingt unbefangen, und sein Blick wirkt aufrichtig. Er ist ein guter Schauspieler. Ich werde in seiner Nähe vorsichtig sein müssen, noch vorsichtiger, als ich es erwartet habe.

Callie stößt sich von der Wand ab, als wir uns nähern, und nimmt mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht den Platz neben meinem Vater ein. Mein Vater lächelt ebenfalls, aber sein Lächeln ist reservierter und weit davon entfernt, bis in die dunklen Tiefen seiner Augen zu reichen.

»Dad«, sage ich, »ich nehme an, ihr kennt euch.« Ich kann mich nicht dazu überwinden, Bishop förmlich vorzustellen, ihn meinen Ehemann zu nennen. »Das ist mein Vater, Justin Westfall.«

Sie schütteln einander die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen, Sir«, sagt Bishop. »Unsere letzte Begegnung liegt schon eine Weile zurück.« Er hält dem Blick meines Vaters stand ohne zu blinzeln. Mein Vater schüchtert Bishop nicht so ein wie die meisten Menschen.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Bishop«, antwortet mein Vater und klopft ihm mit der freien Hand auf die Schulter. »Und das hier ist Callie, meine ältere Tochter.«

»Ich bin mir sicher, dass er weiß, wer ich bin, Dad«, bemerkt Callie mit einem Lachen. Sie schaut unter ihren dunklen Wimpern zu Bishop hoch. »Ich bin diejenige, die du vor zwei Jahren beinahe geheiratet hättest.«

Ich habe keine Ahnung, was sie da macht, ob sie mit ihm flirtet oder nur versucht, ihn an die Tatsache zu erinnern, dass er ursprünglich ihr versprochen war. Ganz sicher weiß ich nur, dass sie diejenige sein wollte, die ihn tötet, und jetzt ist ihr diese Chance geraubt worden. Noch etwas, das sie ihm nie verzeihen wird. Ich schaue zu Boden und hoffe, dass Bishop die Spannung um uns herum nicht spürt, die so stark ist, dass ich sie praktisch auf der Zunge schmecken kann.

Doch er sagt nur: »Ich erinnere mich.« Sein Lächeln offenbart gleichmäßige weiße Zähne. Es ist das Lächeln eines zukünftigen Präsidenten. »Aber es freut mich, dass wir einander nun offiziell vorgestellt werden.«

Wir machen die Runde durch den Raum und nehmen Glückwünsche von Freunden und Fremden entgegen. Ich beobachte die anderen Bräute, von denen die meisten glänzende Augen haben und ein strahlendes Lächeln zur Schau tragen. Sie entfernen sich nie weit von ihren neuen Ehemännern, stolz, mit ihnen anzugeben, und stolz, dass mit ihnen angegeben wird. Machen sie sich Sorgen darüber, was später kommt? Heute Nacht und in all den folgenden Nächten, den endlosen Stunden, die sie mit diesen unbekannten Jungen verbringen müssen? Die Kinder der ursprünglichen Gruppe meines Großvaters besuchen Schulen auf der anderen Seite der Stadt, in Westside. Eine Vermischung ist nicht ausdrücklich verboten, aber sie wird auch nicht gefördert. Erwachsene begleiten die jungen Leute unter sechzehn auf Schritt und Tritt, nur um dafür zu sorgen, dass sie sich nicht verlieben oder Romanzen beginnen, die ihnen die arrangierten Ehen nur erschweren würden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Mehrheit dieser Mädchen ihre Ehemänner vor dem heutigen Tag noch nie gesehen hat. Wie können sie so strahlend lächeln? Wie können sie so überzeugt von ihrem eigenen Glück sein?

»Bist du bereit zu gehen?«, fragt Bishop mich. »Ich glaube nicht, dass ich noch einen einzigen Händedruck ertrage.«

Ich bin so bereit, wie ich es je sein werde. Am liebsten würde ich Bishop gleich hier und jetzt töten. Mir das Messer vom Kuchentisch schnappen, alle nötigen Schritte dazwischen überspringen und mich direkt auf das Endergebnis stürzen. »Ja«, antworte ich. »Ich muss mich nur noch von meiner Familie verabschieden.«

Bishop nickt, und ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als er mir nicht folgt. Ich will ungestört Auf Wiedersehen sagen.