Heilen und Helfen mit der Kraft der Magie - Erich Renner - E-Book

Heilen und Helfen mit der Kraft der Magie E-Book

Erich Renner

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  • Herausgeber: AT Verlag
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Es gibt nicht bloss eine Art von Magie. Magie wächst aus verschiedenen Quellen und wird für unterschiedliche Zwecke eingesetzt. Mal entspringt sie Pflanzen oder Gesängen, mal einer rituellen Gemeinschaft, Träumen oder einer Trance. Welche Formen es gibt und in welchen Zusammenhängen und Kulturkreisen sie angewendet werden, das erzählt der Autor dieses Buches. Aus Sicht der Parapsychologie, der Anthropologie und der Ethnologie betrachtet er die »andere Wirklichkeit«. Übersinnliche Erscheinungen studiert er sowohl in der Literatur über Naturvölker wie auch in eigenen Forschungen vor Ort mit Sinti, norwegischen Samen und Navajo-Indigenen. Er wurde Augenzeuge vieler Zeremonien und hat Medizin-Sänger, eine Kräuterheilerin und Traditionalisten interviewt. Für den europäisch-westlichen Kulturbereich hat er sich intensiv mit der Biografie des Geistheilers Theo Bullinger und einem aufsehenerregenden Fall in Deutschland auseinandergesetzt. Eine Sammlung von faszinierenden Erzählungen über das magische Erbe der Menschheit.

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Heilen und Helfen mit der Kraft der Magie

Erich Renner

© 2021

AT Verlag AG, Aarau und München

Lektorat: Ralf Lay, Mönchengladbach

Abbildungen: Sofern nicht anders vermerkt,

vom Autor zur Verfügung gestellt

Grafische Gestaltung und Satz: AT Verlag

ISBN E-Book 978-3-03902-199-4

www.at-verlag.ch

Der AT Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

INHALT

Persönliche Annäherung

Wie wir die Nightway-Zeremonie erlebten

Einleitung: Eine andere Wirklichkeit – Das magische Erbe der Menschheit

Quellentexte über Magier und Magie

MAGIE AUS KRÄUTERN UND PFLANZEN

Navajo (Nordamerika)

Aymara (Anden)

Ewondo (Kamerun)

Ngarinyin (Aborigines, Australien)

Lakandonen (Mexiko)

MAGIE AUS RITUELLER GEMEINSCHAFT

Hopi (Nordamerika)

Mapuche (Chile)

Cokwe (Angola)

Navajo (Nordamerika)

MAGIE HEILIGER LIEDER UND GESÄNGE

Pygmäen (Afrika)

Navajo (Nordamerika)

Eskimo (Grönland)

Aborigines (Australien)

MAGIE AUS TRÄUMEN

Xhosa (Südafrika)

Lakota (Nordamerika)

Yurok (Nordamerika)

Karok (Nordamerika)

Mapuche (Chile)

MAGIE AUS TRANCE-ENERGIE

San (Kalahari/Afrika)

Tibetisches Orakel (Himalaya)

MAGIE AUS BRANNTWEIN

Samen (Lappland)

MAGIE DER GEFESSELTEN (YUWIPI)

Lakota (Nordamerika)

MAGIE DER SEHER

Ojibwa (Nordamerika)

Ottawa (Nordamerika)

Navajo (Nordamerika)

Owa Raha (Salomoninseln, Ozeanien)

Sherpa (Himalaya)

Maya (Yucatán, Mexiko)

Hunkpapa-Sioux (Nordamerika)

MAGIE ZEREMONIELLEN HEILENS

Maori (Neuseeland)

Apachen (Nordamerika)

Sherpa (Himalaya)

Lakota (Nordamerika)

Kenyah (Borneo-Malaysia)

Jakuten (Sibirien)

MAGIE DES WETTERMACHENS

Navajo (Nordamerika)

Bombu (Zentralafrika)

Pintubi (Aborigines, Australien)

Epilog: Das Rätsel um »eine andere Wirklichkeit«

Quellen- und Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

PERSÖNLICHE ANNÄHERUNG

»In Ihrem früheren Erdenleben waren Sie ein Indianer«, sagte Ende der 1960er-Jahre mein anthroposophisch geprägter Schulleiter im Brustton des Wissenden zu mir – basierend auf seiner Erfahrung, dass mir die Faszination des Fremden in Gestalt des Indianers, des Blickes über den kulturellen Zaun ein Lehr- und Lebensthema zu sein schien. Seine Erfahrungen mit mir in dieser Hinsicht bezogen sich auf mehrere Ereignisse: auf meine zweite Lehramtsprüfung, in der ich Hemingways Kurzgeschichte »Indianerlager« einem neunten Schülerjahrgang präsentierte, auf Ursula Wölfels Kinderbuch »Fliegender Stern«, mit dem ich in einer vierten Primarschulklasse Furore gemacht hatte, auf das Buch des Ethnologen Julius Lips »Zelte in der Wildnis« mit der darin geschilderten schamanistischen Exekution eines Pelztierfallen-Betrügers, die mein Thema im gemeinsamen privaten Literaturzirkel gewesen war. Mein Interesse an kulturell Fremdem hatte mein damaliger Rektor als Reinkarnation vorgängigen Lebens gedeutet. Meine erste Verblüffung hielt sich in Grenzen, denn ich kannte die Grundlinien des anthroposophischen Weltbildes mit dem Merkmal der Wiedergeburt. Nicht unbekannt war mir auch, mit welcher Selbstsicherheit die Anhänger Rudolf Steiners seine Thesen auslegten.

Bei der Exekution des Pelztierfallen-Betrügers hatte ein Naskapi-Schamane aus Labrador (Kanada) ein Stammesmitglied gefunden und bestraft, das eine ausgelegte fremde Fallen-Linie ausgeraubt und den Eigentümer in Existenznot gebracht hatte. Der Schamane praktizierte das Ritual »Bebendes Zelt« (shaking tent), um den Übeltäter zu finden und zu bestrafen. Dazu wird ein konisches Zelt aufgebaut, in dem der Schamane die Geister ruft. Wenn sie erscheinen, beginnt das Zelt heftig zu schwanken. Betroffene und Stammesangehörige können von außerhalb zuschauen. Es gibt viele qualifizierte Zeugnisse über den rituellen Ablauf, wie ihn auch der Ethnologe Julius Lips schildert. Der Schamane erkennt den Übeltäter, tötet ihn aus der Ferne. Vier Tage später kam die Ehefrau des Diebes und erklärte, ihr kräftiger und starker Ehemann sei in der Nacht plötzlich unter großen Qualen gestorben. Sie brachte alles Gestohlene zurück, dazu einen großen Braten von Bärenfleisch.

Dieses magische Ritual hat mich schon damals überzeugt, im Übrigen auch die anderen Teilnehmer jener Literaturrunde, niemand hatte Zweifel daran, dass so etwas möglich sein könnte.

Als ich ein paar Jahre später in den Hochschuldienst wechselte und in Heidelberg Ethnologie studierte, verlor ich mich immer wieder in fremdkulturellen Studienfeldern. Zunächst faszinierte mich die Welt der Sinti in der pfälzischen Region. Mit Boko Winterstein ließ ich einen Musiker und Geigenbauer in einem Buch zu Wort kommen.1 Damit wollte ich ein Zeichen gegen diejenigen setzen, die es nicht lassen konnten, unseriöse Urteile über seine Volksgruppe zu verbreiten. In seiner Lebensgeschichte zeigte sich immer wieder, dass man den Sinti magische Fähigkeiten zuschrieb: »Sie können doch wahrsagen, können mir etwas sagen«, forderte man seine Mutter oft auf. Boko kommentiert das so: »Früher waren die dämonischen Sachen schlimmer.« Heute, mit den christlichen Gebeten, sei das vorbei, meint er.

Auf die Arbeiten des Arztes und Ethnologen Ludwig Kohl-Larsen2 bin ich eher zufällig gestoßen, entdeckte dann unsere gemeinsame Herkunft aus derselben Region. In der Folge wurde ich Verwalter seines Nachlasses im Stadtarchiv Landau in der Pfalz. Bekannt geworden ist Kohl-Larsen vor allem auch als Sammler von mündlichem Erzählgut afrikanischer Stämme in Tansania und der norwegischen Samen. Das Besondere an seiner Arbeit war, dass er Autobiografien wichtiger Erzähler aufgezeichnet hat. Das afrikanische Beispiel des Simbo Janira3 wurde zum Bestseller. Dass er auch von seinem samischen Gewährsmann eine Selbstbiografie erarbeitet hat, war in Vergessenheit geraten, bis ich Hinweise im Nachlass fand. Das Manuskript ruhte nicht weniger als 48 Jahre im Archiv des Röth-Verlags in Kassel. Dort habe ich es aufgestöbert und bei Campus in Frankfurt veröffentlicht. Darin habe ich das schier unglaubliche Ritual »Magie aus Branntwein« entdeckt.

Florian und Joe

Während meiner universitären Aufbauarbeit in Erfurt und Jena bekam unser ältester Sohn Andreas ein Austauschstipendium in der Universitätsstadt Chico nördlich von Sacramento, Kalifornien. So unternahmen wir endlich mal eine Reise in die USA. Es folgte eine Rundreise durch Kalifornien bis zur Grenze nach Oregon, dann hinunter bis San Diego, schließlich in östlicher Richtung nach Arizona. Diese Erfahrungen habe ich in einem Reisebericht »Auf den Spuren indigener Völker« niedergelegt.

In Arizona führte uns unsere Route nach Norden bis Monument Valley ins Grenzgebiet zu Utah. Dort ließen wir uns von einem jungen Navajo durch das spektakuläre Tal chauffieren. »My father is becoming a medicine man, right now«, sagte unser 22-jähriger Navajo-Guide eher beiläufig zu mir, als er meine Frau, Florian und mich in einem alten Pick-up durch Monument Valley chauffierte. Er war ein Bild von einem Indianer mit dunklem Teint und langem schwarzem Haar. Auf meine Nachfragen ergänzte er seine Bemerkung. Joe (Hubert) Atene war traditionell aufgewachsen, hatte mit fünf Jahren Englisch als Fremdsprache gelernt, seine Eltern sprachen nur Navajo, und der Vater hatte, wie gesagt, einen Großteil des für einen Medizinmann notwendigen Wissens bereits erlangt. Hier schien plötzlich der Blick über den kulturellen Zaun (indianischer Version) möglich zu sein und das Indianersein mehr als eine touristische Attraktion. Sollte fünfhundert Jahre nach der von Kolumbus gesetzten Stunde null traditionelles Indianersein hier, in diesem Teil Nordamerikas, überlebt haben, umgeben und bedrängt vom American Way of Life?

Genau eine solche Konfrontation interessierte mich, ich war ihr seit den 1970er-Jahren auf der Spur. Die Faszination des Fremden, der Versuch eines Blicks über den Zaun, hatte sich mir unter dem Druck der pädagogischen Profession in die Frage verwandelt, ob und in welcher Weise traditionelle Lebenserfahrungen sich mit modernen – was auch immer das sein mochte – verbinden könnten. Und welche Chance hatte dabei Überkommenes? Gesetzt, traditionelle Lebenserfahrungen seien nur in der Kindheit zu erwerben, so handelt es sich hierbei um ein genuin pädagogisches Grundproblem, um die Frage nach der Relevanz kultureller Prägung in der Kindheit im Verhältnis zum Erwachsensein. Die Kultur- und Persönlichkeitsforschung hatte diese Thematik als Frage nach der basic bzw. modal personality (Verhaltens- und Denkmuster einer bestimmten kulturellen Gruppe) fast ausschließlich im Sinn, an Antworten dazu auch lange und vielschichtig laboriert, aber Endgültiges dann vertagen müssen.

Unterwegs nach Page zum Lake Powell ließ mich der Gedanke an unseren Navajo-Guide Joe nicht mehr los. Seine Lebensgeschichte schien mir modellhaft für vergangene und zukünftige Forschungsarbeit. Hatte ich nicht genügend Forschungsmittel, um ein solches Projekt zu realisieren? Und ich ließ auch nicht davon ab. Hatte ich doch auf der Quittung die Anschrift dieses Navajo-Tour-Guides. Der Gedanke, dem jungen Mann ein Angebot zu machen, nach Deutschland zu kommen, nahm Formen an. Auch im Wissen, dass ein solches Projekt, vorausgesetzt, es funktionierte, die klassische Feldforschungsmethode der Ethnologie ins Gegenteil verkehrte, ließ mich nicht zögern. Statt Feld- käme eben Heimforschung dabei heraus. Und ich habe jenen gedanklichen Entwurf tatsächlich umgesetzt – mit nicht absehbaren Folgen, wie man noch sehen wird.

Zwischen 1993 und 2002 habe ich sieben Forschungsreisen in die USA unternommen, eine begleitet von unserem US-Studenten, vier weitere von meiner Frau, die letzte mit unserem jüngsten Sohn. Zwischenzeitlich waren Joe und sein siebzehn Jahre älterer Stiefbruder Vergil bei uns zu Hause in der Pfalz. Wie man sieht, alles in allem eine Art Familienunternehmen. Auf diese Weise öffneten sich für mich viele Türen, vor allem die Teilnahme an Heilzeremonien durch den Traditionalisten Vergil Bedoni aus Monument Valley. Er vermittelte auch Kontakte zu Medizinmann Irvin Tso und der Heilerfamilie Tso/Nez aus Tuba City im Nordwesten des Reservats. Die bei ihnen aufgezeichneten Selbstzeugnisse ergaben seltene Einblicke in die Magie der Navajo-Heilzeremonien. Es finden sich hierzu Beispiele in den Kapiteln über Kräuter und Pflanzen, rituelle Gemeinschaft sowie heilige Lieder und Gesänge.

Der renommierte Medizinmann

(hataalii)

Norris Nez mit seiner Frau Lena und dem Verfasser in Tuba City

Wie wir die Nightway-Zeremonie erlebten

Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich magische Wirkungen, als ich mit meiner Frau an der Navajo-Zeremonie Nightway oder Yeibichei-Zeremonie in Shiprock, New Mexico, teilnahm. Erstaunlich ist: Obwohl sie meist für eine einzige Person ausgerichtet wird, nehmen sehr viele daran teil. Sie dauert neun Tage und Nächte, wobei es auch eine zehntägige Version gibt. Zuletzt nehmen Hunderte, ja Tausende daran teil. Die dafür verantwortlichen Medizinmänner müssen eine komplexe Partitur beherrschen: Dazu gehören umfangreiche Liedkomplexe, heilende Sandpaintings, die detailreich die Schöpfungsgeschichte rekonstruieren, Kräutermedizin, Tänze personifizierter Götter. Den jeweiligen Hauptpatienten können sich weitere anschließen, wenn sie dem Veranstalter einen Obolus entrichten.

Bericht vom neunten Tag: Kurz nach sechs Uhr morgens beginnen die Schlusszeremonien. Die Tanzgruppen aus verschiedenen Regionen haben ihre Aufgabe erfüllt. Noch einmal Sprechender Gott (Talking God) und die Donnervogel-Tänzer. Patient und Medizinmann kommen vor den Hogan (Medizinhütte). Medizinmann Roy Lester segnet den Kranken und betet mit ihm gen Osten, wo die Dämmerung beginnt und die Sonne den Himmelsrand grau erscheinen lässt. Der Patient segnet die Tänzer mit Maismehl vor dem letzten Tanzritual. Ein junger, intellektuell aussehender Navajo, Teil der Sängergruppe aus dem Hogan, wendet sich an mich, sichtlich erfreut, dass Bleichgesichter diese lange Nacht im Sinne des Wortes durchgestanden haben. Er erläutert und kommentiert die noch laufenden Ereignisse. Der beginnende Tag sei das unabdingbare Symbol für einen Neuanfang – für den Patienten, für die Beteiligten, für die Navajos überhaupt. Wir gehen mit ihm in den Hogan, sitzen in der Hocke am Boden und erleben die faszinierenden Schlussgesänge des Yeibichei, des Großen Nachtgesangs: »In Schönheit sei es vollendet!«

Fasziniert von der Intensität der Tänze, dem Gesang der Tänzer und den aus dem Hogan schallenden Liedsequenzen spüren wir einen regelrechten Sog, sodass wir stundenlang aushalten, keine Müdigkeit verspüren. Das Kapitel »Magie aus ritueller Gemeinschaft« versammelt weitere Beispiele aus anderen Kulturen.

Magische Ereignisse begegneten mir unerwarteterweise auch in unserer Lebenswelt. Als ich wegen wiederkehrender Nackenprobleme einen Physiotherapeuten in der Region aufsuchte, fiel mir am gleichen Gebäude ein Hinweisschild »Parapsychologische Praxis Theo Bullinger« auf. Therapeut Achim Bullinger erklärte mir, sein Vater heile mit den Händen, habe damit sehr großen Erfolg. Durch Vermittlung des Sohnes lernte ich ihn kennen. Von seinen Fähigkeiten überzeugten mich einige Experimente mit und bei mir. Er beseitigte zum Beispiel mehrtägige starke Schmerzen in der linken Hüfte unmittelbar durch Auflegen und Bewegen seiner Hände. Die Schmerzen kehrten nie wieder. So kam es dazu, dass ich schließlich mit Theo Bullinger seine Biografie erarbeitete, mit vielen Beispielen seiner Heilerfolge. Das Buch hat es im AT Verlag zu sechs Auflagen gebracht.

Mit solchen Erfahrungen entwickelte sich bei mir die Einsicht, dass Magie, dass magische Konstellationen Teil des kulturellen Erbes der Menschheit sind. Deshalb versuche ich in diesem Buch einen authentischen Nachweis der Vielfalt magischer Fähigkeiten und Ereignisse, wie sie weltweit anzutreffen sind.

EINLEITUNG: EINE ANDERE WIRKLICHKEIT – DAS MAGISCHE ERBE DER MENSCHHEIT

Nachdem ihm der Geist seines Vaters begegnet war, sagt der Titelheld in Shakespeares Drama Hamlet zu seinem Freund Horatio: »There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy.« Im Deutschen hat sich daraus jenes Sprichwort entwickelt, das wir alle kennen: Es gäbe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Nun kann man sicher darüber rätseln, inwieweit der damalige englische Begriff »philosophy« und die spätere deutsche Version »Schulweisheit« überhaupt deckungsgleich sein können. Dennoch glauben sicher alle, die jenes Zitat kennen, eine Ahnung davon zu haben, was gemeint ist.

Immerhin dürften jene poetischen Vorgaben mit der landläufigen Vorstellung kompatibel sein, dass Vertreter eines rein naturwissenschaftlichen Weltbildes sich schwer damit tun, Phänomene als existent zu akzeptieren, die sich nicht einfach mit Fakten belegen lassen. Dazu gehört alles, was mit psychisch-geistigen Energien zu tun hat, ganz egal, in welcher Weise diese präsent sind. Und es ist auch unabhängig davon, ob sie etwa angeboren sind und deshalb als Begabung in Erscheinung treten oder ob sie durch Lernprozesse, Ausbildung/Training oder durch Meditation und Trancetechniken generiert werden. Für unsere weiteren Überlegungen wollen wir daher der Einfachheit halber alle diese Varianten mit dem Begriff »spirituell-geistige« bzw. »paranormale Phänomene« zusammenfassen.

Die Grundsatzfrage, ob man energetisch-spirituelle Wirkungen messen kann, beschäftigt die Parapsychologie seit Langem. Auf meine Frage, welche Bedeutung wissenschaftliche Tests bei der Qualifizierung von spirituellen Heilern oder auch Geistheilern haben, antwortet mir Walter von Lucadou, studierter Physiker und Psychologe: »Die Untersuchungen, die ich gemacht habe, sind nicht spezifisch zugeschnitten auf Geistheiler. Es geht darin generell um die Frage, ob es so etwas wie paranormale Phänomene im Zusammenhang mit dem Menschen gibt. Kurz gesagt, habe ich mit sehr vielen Menschen ein Experiment durchgeführt, um herauszufinden, ob der betreffende Mensch mit seiner Umgebung noch auf eine zusätzliche, andere Art in Verbindung steht, als man bisher angenommen hat. Oder anders, im Fachjargon ausgedrückt, ob der Mensch mit seiner Umgebung Wechselbeziehungen, sogenannte Verschränkungskorrelationen, eingehen kann. Das kann sich auf ein materielles Objekt beziehen wie zum Beispiel einen Zufallsgenerator, aber ebenso auch auf einen anderen Menschen. Und das ist genau das, was Heiler tun.

Die vielen Menschen, die bei meinen Experimenten mitgewirkt haben – es sind bisher insgesamt mehrere tausend –, haben eindeutig gezeigt, dass der Mensch mit seiner Umgebung solche Wechselbeziehungen eingehen kann. Und dies ist etwas, was man bisher nicht für möglich gehalten hat. Früher hat man es mit Begriffen wie Psychokinese oder außersinnliche Wahrnehmungen bezeichnet. Gleichzeitig haben andere Untersuchungen (Nach-Analysen) die Geistheiler in dem, was sie erleben und was sie machen, in einer gewissen Weise auch gerechtfertigt. Ich glaube deshalb, dass ich damit der Sache nähergekommen bin. Man kann diese Phänomene heute nicht mehr einfach als bloßen Placeboeffekt oder als Einbildung abtun.«4

Mit dieser grundsätzlichen Vorgabe, die zunächst wenig spektakulär erscheint, weil mögliche Dimensionen außer Acht bleiben müssen, wollen wir einen Blick über kulturelle Grenzen wagen. Es ist bekannt, dass in vielen nichtwestlichen Kulturen paranormale Phänomene zur anerkannten gesellschaftlichen Wirklichkeit gehören, die aus unserer Sicht zwar aufsehenerregend sind, aber häufig angezweifelt werden. Zwei Fragen leiten wir daraus ab: Wie haben sich Anthropologen bzw. Ethnologen bisher zu solchen Phänomenen verhalten und geäußert, da diese Teil ihres ureigenen Forschungsgebietes sind? Wie plausibel sind uns heute Augenzeugenberichte über paranormale Phänomene, dokumentiert in Berichten von Reisenden und Forschern?

Die Ethnologin Barbara Tedlock spricht am Beispiel des Wahrsagens (Hellsehen, Gedankenlesen, Orakel, Telepathie) von einer irrationalen Ablehnung, Verachtung und Ambivalenz zahlreicher Ethnographen gegenüber der Wahrsagerei, was einer kolonialen Unterdrückung ähnele, aber dazu geführt habe, dass zuverlässige transkulturelle Informationen über Äußerungen und Schlussfolgerungen während eines Orakels fehlten.5

Der schwedische Ethnologe Åke Hultkrantz, Spezialist für Schamanismus in Nordamerika, schreibt in seiner Abhandlung »Ritual und Geheimnis«, dass ihn Medizinmänner während seiner Feldforschungen immer wieder aus der Fassung gebracht hätten, ohne dass er selbst Erklärungen für paranormale Ereignisse habe. In der Folge beschreibt er viele Beispiele, die diese Erfahrung dokumentieren, und kommt zu dem Ergebnis, er sei geneigt zu akzeptieren, dass es sogenannte paranormale Phänomene gibt, die Teil unserer Realität sind. Vielleicht müsse man deshalb einen neuen Realitätsbegriff einführen.6 Diese eher zögerliche Anerkennung der Existenz paranormaler Phänomene verweist auf die Mutlosigkeit anerkannter Wissenschaftler gegenüber einer ablehnenden Phalanx von Kollegen.

In einem Sammelwerk »Magic, Faith, and Healing«7 diskutieren neunzehn Anthropologen, Psychologen und Psychiater Heilverfahren in nichtindustrialisierten Gesellschaften. Im Mittelpunkt stehen Krankheiten, die als »mental illness« charakterisiert sind. Die vorgestellten Ergebnisse sind erwartungsgemäß uneinheitlich und werden hier nur in ausgewählten Beispielen kurz referiert.

Am Beispiel der St.-Lawrence-Eskimos zeigt sich laut Jane M. Murphy, schamanistisches Heilen sei eine außerordentlich wirkungsvolle Kombination psychotherapeutischer Techniken, solange die Gruppe intakt sei, in der sie praktiziert werden. In dieser Weise seien solche Heilverfahren generell und fundamental vergleichbar mit denen in allen Gesellschaften, unabhängig von deren kultureller Grundlage.

Eine Studie bei den Yoruba in Nigeria konzentriert sich auf die Behandlung von »mental illness« durch traditionelle Heiler und Heilerzentren. Man schlägt vor, dieses indigene System mit der etablierten westlichen Heilpraxis zu verbinden, um eine gewisse Kontrolle zu ermöglichen, denn diese sei universell anwendbar, weil nicht kulturell gebunden. J. Robin Fox findet im Cochiti-Pueblo in New Mexico, dass dessen Bewohner weiterhin an traditionellen Krankheiten leiden, doch den Nutzen traditioneller Heilverfahren entbehren, verursacht durch moderne Einflüsse.

Kaplan und Johnson diskutieren die Effektivität der Navajo-Heilzeremonien und kommen zu dem Schluss, in bestimmter Hinsicht sei diese Art der Behandlung Psychotherapie. Selbst aufgeklärte Navajos teilen diese Einschätzung, wie mir ein Gesprächspartner versicherte, den ich im Herbst 1993 bei einer neuntägigen Yeibichei-Zeremonie in Shiprock/New Mexico traf. Ich zitiere aus meinem Reisetagebuch: »Welchen Nutzen, welche Erfahrungen wir (mein Sohn Andreas und ich) aus unserem Besuch der Zeremonie gezogen hätten, will er wissen. Wir können es ihm sagen: Die komplexen und intensiven Zeremonien und Heilgesänge erzeugen eine Art spirituellen Sog, dessen Heilwirkungen die Patienten spüren, dem sich auch fremdkulturelle Teilnehmer wie wir nicht entziehen können. Unser Bekannter kritisiert vor allem den Einfluss der Kirchen und Sekten, die die eigenständige Kultur und Religion der Navajos immer bekämpft haben. Er bezeichnet die Navajo-Religion als ein hoch wirkungsvolles Heilungs- und Orientierungssystem, vergleicht es mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud.«8

Gerade in Standardwerken über Schamanismus, in denen es nicht an Phänomenen fehlt, die man eigentlich nur als paranormal verstehen kann, scheuen sich die Autoren, dies beim Namen zu nennen. Ein typisches Beispiel stammt aus Untersuchungen bei den Eskimos, wo es darum geht, dass der Schamane während seiner Geistreise gefesselt am Boden liegt. Dass dieser sich auf nicht nachvollziehbare Weise daraus lösen kann, kommentiert Mircea Eliade mit einem Zitat von Franz Boas: »Wie sich der Schamane von den Fesseln befreit, die ihn festgebunden halten, bildet eines von vielen parapsychologischen Problemen, welche wir hier nicht anschneiden können. Von unserem Standpunkt aus, welcher der Standpunkt der Religionsgeschichte ist, kennzeichnet die Selbstbefreiung von den Stricken ebenso wie viele andere schamanische ›Wunder‹ die ›geistermäßige‹ Verfassung, die man dem Schamanen kraft seiner Initiation zuschreibt.«9 An anderer Stelle, in der es um Forschungen bei den sibirischen Tschuktschen geht, werden die Stimmen bei einer Séance, der kritischen Analyse wegen, per Phonograph aufgenommen. Es zeigt sich »ein sehr deutlicher Unterschied zwischen der Stimme des Schamanen, die in einem Abstand ertönte, und den Stimmen der ›Geister‹, die direkt in den Trichter des Apparates hineinzusprechen schienen. Dazu gehören weitere Proben der magischen Fähigkeiten der Tschuktschen-Schamanen. Doch wie gesagt, übersteigt das Problem der ›Echtheit‹ all dieser schamanischen Phänomene den Rahmen dieses Werkes.« Wie soll man die Formulierung »geistermäßige Verfassung« verstehen, als paranormale Kompetenz? Auf jeden Fall scheut man sich davor, den allgemeinen Realitätsbegriff zu erweitern, wie Hultkrantz es vorschlägt. Oder ist es nicht einfach so, dass alles, was unserer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise widerspricht, mit Begriffen wie archaisch, primitiv, wild, irrational von ernsthaften Erwägungen ausgeschlossen bleibt?

Der Ethnologe Bernhard Streck diskutiert das Thema »Magie« in einem Handbuchartikel und verweist auf ein für die aufgeklärte Wissenschaft, relativ frühes »Bekenntnis zur Faktizität magischer Kraft«, wie es C. A. Schmitz in einem Artikel »Todeszauber in Nordost-Neuguinea« (1959) entwickelt.10

Der Ethnologe Gary Witherspoon behandelt in dem genannten Sammelwerk von H. P. Duerr den »Relativismus in der ethnographischen Theorie und Praxis«. Er befürchtet, dass die klassische Anthropologie (Ethnologie) sämtliche Kulturen auf die Kategorien einer einzigen, nämlich der westlichen, reduziert. »Statt unsere Sicht der Welt zu erweitern, verkleinern und verbiegen wir die Welt, bis sie unserer engen Auffassung von ihr entspricht. (…) Für die Festschreibung einer absoluten Wahrheit oder Erkenntnis ist die Wissenschaft untauglich, und deshalb kann sie auch nicht als Deckmantel für überhebliche Äußerungen über eine unterlegene oder pathologische Realitätswahrnehmung anderer Menschen und Kulturen herhalten.«11 Am ethnographischen Beispiel der Hopi im Südwesten der USA spricht Witherspoon von einer anderen »Spielart der Rationalität«, die wir akzeptieren sollten.

»Übersinnliche Erscheinungen bei Naturvölkern« heißt eine beachtliche Materialsammlung von Ernesto Bozzano über spirituell-geistige Phänomene bei Naturvölkern.12 Die darin präsentierten Beispiele sind parapsychologischen Kategorien zugeordnet. So vielfältig und interessant die Exempel auch sind, so sehr der Verfasser deren Relevanz betont, hinterlässt das Werk dennoch einen Nachgeschmack. Der Autor kommt über die aus heutiger Sicht höchst unangebrachten Begriffe wie »Wilde«, »Primitive«, »niedere Menschenrassen« nicht hinaus. Eine derartige Begrifflichkeit impliziert, dass den vorgestellten Völkern und Individuen grundlegende humane Qualitäten in Abrede gestellt werden, als seien wir, die angeblich Aufgeklärten, »zahm« und zivilisiert und deshalb psychisch-geistig weiter entwickelt. Dass Bozzano wirklich dieser Geisteshaltung frönt, zeigt uns ein Beispiel »erstaunlicher Manifestationen«, weil der Informant Long Lance, »ein intelligenter Indianer«, Universitäten und sogar West Point absolviert habe. Als Hauptmann im kanadischen Heer sei er mit Tapferkeitsorden aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Die von ihm geschilderten indianischen Kindheits- und Jugenderinnerungen sind für Bozzano gerade deshalb so überzeugend. Long Lance berichtet darin von mediumistischen Experimenten, die er erlebt und beobachtet habe: einen Medizinmann, der, zu einem Bündel geschnürt, Geister rief, Kranke heilte und sich selbst befreite und so weiter. Indem Bozzano die Bildung/Ausbildung jenes Informanten als Beleg für die Echtheit seiner Schilderungen ansieht, tappt er in eine Falle gefälschter Authentizität, wie sie Long Lance in der Öffentlichkeit verbreitet hat. Long Lance war niemand anderes als der Farbige Sylvester Long aus Winston-Salem, North Carolina. Seine zugegebenermaßen eindringlichen Schilderungen sind nichts anderes als die erfundene und angeeignete Identität eines Blackfoot-Indianerhäuptlings. Als sein Betrug öffentlich zu werden drohte, nahm sich Sylvester Long 1932 in Los Angeles das Leben. Seine Lebensgeschichte als echter Indianerhäuptling gilt in Europa bis heute als authentisch.13 Dieses Beispiel sollte eigentlich lehren, dass Bildung/Ausbildung/Zivilisierung nicht als Garantie für Authentizität gelten kann, wie wir Westler häufig zu glauben geneigt sind.

Eine Darstellung und kritische Diskussion übersinnlicher Fähigkeiten bei Naturvölkern hat Werner F. Bonin vorgelegt. Darin reflektiert er, von Kontinent zu Kontinent fortschreitend, bekannte und neue Beispiele parapsychologischer Ereignisse. In einem Kapitel »Übersinnliches auf dem Prüfstand« kritisiert Bonin, »die Vernachlässigung der Dokumentation und qualitativen Untersuchung des Spontanfalles« erschwere den Dialog zwischen Völkerkunde und Parapsychologie.14

Die Anthropologin Joan Halifax hat weltweit Erfahrungsberichte von Magiern, Medizinmännern und Visionären gesammelt, in denen es um das magische Erbe der erfassten Völker geht.15 Außergewöhnlich sind Beispiele, in denen kulturfremde Weiße, freiwillig oder unfreiwillig, traditionelle Einweihungen absolvieren, dann aber aus jeweils unterschiedlichen Gründen ihrer erreichten neuen Identität wieder entfliehen. Ein anderes Beispiel belegt, wie traditionell erworbene Heilerkompetenz der Christianisierung zum Opfer fällt.

Mit den »Lehren des Don Juan. Der Yaqui-Weg des Wissens«16 sorgte Carlos Castaneda weltweit für großes Aufsehen und hohe Auflagen. Erwartungen wurden geweckt, als könne sich jeder anhand jener literarisch dokumentierten Erfahrungen als Zauberlehrling des indianischen Schamanen Don Juan seines/unseres magischen Erbes versichern. Es bestehe in der Fähigkeit, sich über den Körper hinaus auszudehnen. Diese Ausdehnung setze voraus, all jene Beschreibungen der Wirklichkeit aufzulösen, die unser Denken und Handeln bestimmen, solange wir über das eine Zentrum der Person, den Verstand, organisiert sind. Das zweite Zentrum, der Wille, sei Ausgangsbasis für Exkursionen ins Nagual, das heißt, von hier aus könnten wir das magische Erbe antreten. Die Welt anders wahrzunehmen, könne sich innerhalb oder außerhalb des Individuums zutragen. In Castanedas großer Erzählung muss der Zauberer auf Machtpflanzen zurückgreifen, weil beim Schüler anfangs die Kraft des Willens noch nicht ausgebildet ist. Die wichtigste Machtpflanze für Don Juan ist Peyotl, der Peyote-Kaktus, den er Mescalito nannte. Er sei der »wohlwollende Lehrer und Beschützer der Menschen«.

Bei Dennis Timm17 heißt es dazu, das Buch sei ein Schock für die auf Wissenschaftlichkeit ausgerichtete Anthropologie, die peinlichst darauf bedacht gewesen sei, die Abgrenzung zur Magie aufrechtzuerhalten. Doch Zweifel an der Yaqui-Identität des Don Juan ließen nicht lange auf sich warten. In einer frühen Rezension des bekannten Yaqui-Forschers Edward H. Spicer heißt es: »Es scheint völlig überflüssig wie im Untertitel zu betonen, es gäbe irgendeine Verbindung zwischen den Inhalten des Buches und der kulturellen Tradition der Yaquis.« Es sei deshalb eine Irreführung, den Inhalt der Studie als »Yaqui-Weg des Wissens« zu bezeichnen. Auch gehörten halluzinogene Pflanzen nicht zur kulturellen Tradition der Yaquis. Soweit der Leser Informationen in diesem Buch finde, hänge er kulturell damit in der Luft. Trotzdem hielt der Rezensent es für ein literarisch exzellentes Werk.18 In weiteren fünf Werken konnte Castaneda seinen ursprünglichen Erfolg fortschreiben. Jahrzehnte danach ist die kritische Rezeption der Werke Castanedas nicht verstummt. Inzwischen ist es höchst wahrscheinlich, dass Don Juan eine Erfindung seines Autors ist, nachempfunden einem Huichol-Schamanen namens Ramon Medina Silva. Castaneda beute so die gut dokumentierte traditionelle Peyote-Kultur der mexikanischen Huichol aus, heißt es.19

Über die andere Wirklichkeit und ihre Manifestationen bei den Huichol, wie sie sich in den Aussagen des Ramon Medina Silva spiegeln, hat die Ethnologin Barbara G. Myerhoff gearbeitet.20 »Die Mythen der Huichol stellen einen Aspekt der Wissenschaft dieser Kultur dar. Sie sind eine Kartographie, die dem Leben der Menschen Zusammenhalt und Richtung gibt. Sie lehren den Mann, jede Frau und jedes Kind, ›wie man geht und Huichol ist‹. In den Mythen ist die heilige Geschichte der Kultur enthalten, und somit gehören sie zum Bereich des Wirklichen. Sie sind mythische Tatsache. (…) Ins heilige Land des Peyote, der Paradiesstätte, kamen die Götter und Göttinnen, Unsere Mütter und Unsere Väter zuerst hin, wo sie noch immer anzutreffen sind. (…) Die gefährliche heilige Reise dorthin vollzieht die Peyotejagd der Erwachsenen in ihren wichtigsten Teilen nach, (…) eine beeindruckende und feinfühlige Verschmelzung des Tatsächlichen, des Magischen, des Symbolischen und des Vorausschauens.« Weitere Belege für die andere Wirklichkeit der Huichol finden sich bei Peter T. Furst21 sowie in dem oben skizzierten Band von Joan Halifax.

Wahrnehmen, Verstehen, Akzeptieren und Praktizieren anderer Realitäten, eigentlich optimales Fremdverstehen, sei »etwas ganz anderes als Übersetzen, es wäre nicht die Zurückführung des Fremden auf ein Bekanntes, vielmehr das Ergebnis der Initiation in eine fremde Lebensform (…), ein Übergang von einer Lebensform zur anderen, (…) es hieße, eine langwierige, dramatische und vor allem gefährliche Initiation durchzumachen, aus der ein abendländischer Ethnologe wohl kaum mehr als derselbe zurückkehren dürfte«. Eine solche Entwicklung vorausgesetzt, muss ein Protagonist die meist geschlossene Kritik der »scientific community« aushalten, wobei er mit dem heutzutage verächtlich gebrauchten Begriff »going native« noch eher glimpflich davonkommen dürfte, wenn man ihn nicht überhaupt mit Ignoranz bestraft. Immerhin gibt es Beispiele, deren Plausibilität man sich nicht ohne Weiteres verschließen kann.

Eine Ehrenrettung all jener, die sich auf die andere Wirklichkeit naturnah lebender Völker eingelassen haben, formuliert der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seiner Schrift »Das Wilde Denken«22 »… dass es nämlich zwei verschiedene Arten wissenschaftlichen Denkens gibt, die beide Funktion nicht etwa ungleicher Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern zweier strategischer Ebenen sind, auf denen die Natur mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse angegangen werden kann, wobei die eine, grob gesagt, der Sphäre der Wahrnehmung und der Einbildungskraft angepasst, die andere von ihr losgelöst wäre (…) der Hauptwert der Mythen und Riten liegt darin, Beobachtungs- und Denkweisen, wenn auch nur als Restbestände, bis heute zu erhalten, die einer bestimmten Art von Entdeckungen angemessen waren und es ohne Zweifel bleiben werden. (…) Diese Wissenschaft vom Konkreten musste ihrem Wesen nach auf andere Ergebnisse begrenzt sein als die, die den exakten Naturwissenschaften vorbehalten blieben; aber sie war nicht weniger wissenschaftlich, und ihre Ergebnisse nicht weniger wirklich. Zehntausende Jahre vor den anderen erworben und gesichert, sind sie noch immer die Grundlage unserer Zivilisation.« Und damit nicht genug, Lévi-Strauss belegt seine Einordnung des sogenannten »wilden Denkens« durch umfangreiche und detaillierte strukturalistische Analysen.

Frank Hamilton Cushing, Mitglied einer Expedition des American Bureau of Ethnology, reiste 1879 in den Südwesten der USA, um die Lebensweise der Zuñi zu studieren. Er zeigte sich von deren Lebensweise so fasziniert, dass er die Expedition verließ und blieb. »Er erlernte die Sprache der Zuñi, zeichnete ihre Mythen auf, ließ sich in ihre geheimen religiösen Riten initiieren und übernahm selbst das Priesteramt eines Hüters des heiligen Bogens.«23