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Hildegard von Bingen (1098 - 1179) gilt als eine der herausragenden Frauengestalten des deutschen Mittelalters. Sie war die erste Naturforscherin und Ärztin. Und: Ihr Heilwissen von damals ist nach wie vor aktuell! Ein ausführliches Kapitel beschäftigt sich mit den vier Säulen der Hildegard-Heilkunde: Ernährung - Entgiften - Heilmittel - Fasten. Der Schwerpunkt liegt auf den 28 ausführlichen Heilpflanzen-Porträts von A bis Z mit Indikationen und Anwendungen. Dazu liefert das Buch über 50 wohltuende Rezepte sowie eine Anleitung zu einer Heilfasten-Woche. Das Extra: Eine Systematik der Edelsteine und Metalle nach Hildegard von Bingen.
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Seitenzahl: 154
Petra Hirscher studierte Germanistik, Englische Literaturwissenschaft und Didaktik der Kunsterziehung und ist Autorin zahlreicher Fachbücher und Ratgeber. Sie hat sich seit vielen Jahren aus persönlichem Interesse heraus mit dem Heilwissen der heiligen Hildegard von Bingen befasst und hier die Essenz zu den Heilpflanzen und Lebensmitteln zusammengetragen.
Altabt Odilo Lechner stand bis 2003 den Klöstern St. Bonifaz und Andechs in der Erzdiözese München und Freising vor, ist aber auch im sogenannten Ruhestand weiterhin vielseitig aktiv – nicht zuletzt mit dem Verfassen von Büchern.
Der englische Dichter Wystan Hugh Auden, lange Zeit den Sommer auf einem Bauernhof in Niederösterreich verbringend, veröffentlichte 1972 ein Gedicht »Moon Landing«. Die Mondlandung veranlasste ihn zu Reflexionen über den Wert unserer technischen Eroberungen, unsere Apparate und dunklen Geschäfte. Das Gedicht endet:
»Alles, worum wir beten können, ist, dass Künstler, Meisterköche und Heilige uns lang noch das Leben erheitern.«
Was brauchen wir, dass unser Leben licht wird, glücklich, gelingend? Fitnessstudios und Wellnessfarmen stehen hoch in Kurs. Aber wir brauchen mehr: gute, gesunde Nahrung, Arzneien für Leib und Seele, Kunst, die das Schöne, den Glanz des Wahren und Guten aufleuchten lässt, und Heiligkeit. Dies alles – und noch mehr – vereinte Hildegard von Bingen in sich, die faszinierende Gestalt des 12. Jahrhunderts, die prophetissa teutonica, die deutsche Prophetin, der Papst Eugen III. schrieb:
»Du bist für viele ein Duft des Lebens geworden.«
Sie dichtete und komponierte, schrieb naturkundliche, hagiographische, theologische Werke, heilte Kranke, leitete Klöster, stand im Briefwechsel mit den Großen der Zeit, redete in öffentlichen Predigten dem Klerus, dem Adel, dem Volke mahnend ins Gewissen. Heute ist sie vor allem bekannt wegen ihrer medizinischen Ratschläge und der Arzneien, die sie herzustellen und anzuwenden wusste. Freilich sind ihre naturkundlichen und medizinischen Erkenntnisse nur schlecht überliefert.
Ihre großen Werke entstanden vielmehr aus einer inneren Schau. Schon als Kind sah sie ein großes Licht, das ihre Seele erbeben machte, über das sie sich aber nicht näher äußern konnte. Im vierzigsten Lebensjahr aber vernimmt sie den inneren Befehl:
»Schreibe auf, was du siehst, und sage, was du hörst!«
Auf der Synode zu Trier (1147/48) hatte Papst Eugen III. selbst aus Hildegards Schriften vorgelesen und forderte sie auf, ihre Visionen aller Welt kundzutun. So schrieb sie zunächst das Buch »Wisse die Wege des Herrn (Scivias)«, ein Werk, das Gotteslehre, Weltlehre und Menschenlehre aufs Engste verknüpft. Weitere Werke handeln von der wahren Fitness des Menschen, den Tüchtigkeiten, den Tugenden und von der wahren Wellness, dem wahren Wohl und Glück, der Seligkeit der Vollendung. Was sie in ihrer Schau sieht, die große Einheit, drückt sie in ihrem Leben aus, in der Leitung des Klosters, in der Beratung vieler Menschen, in der Sorge für die Kranken, in den Mahnungen an alle, die in der Welt Verantwortung haben.
Unsere Welt zerfällt immer mehr in verschiedene Bereiche, für die jeweils eine Spezialwissenschaft zuständig ist. Unser Leben zerfällt immer mehr in verschiedene Phasen und Bereiche: berufiche Tätigkeit, Freizeitkonsum, persönlicher und gesellschaftlicher Raum. Auch in Krankheiten sind wir immer mehr auf Spezialisten angewiesen. Und doch sehnen wir uns nach einer Einheit des Lebens, nach einem großen Zusammenhang von Welt und Geschichte. Und eben darin besteht die Faszination Hildegards, dass sie uns eine Schau auf das Ganze ermöglicht, dass sie die Zusammenhänge aufscheinen lässt zwischen Leib und Seele, zwischen den verschiedenen Bereichen und Kräften des Kosmos. Immer wieder blickt sie auf den Menschen, der ausgerichtet ist auf den Makrokosmos, der ihn in vielfältigen Kreisen umgibt und auf ihn einwirkt.
Diese Einwirkungen sind segensreich und zerstörerisch, aber der ganze Kosmos ist umfasst von der Frauengestalt der Liebe – über ihr das Antlitz des göttlichen Vaters. Die Liebe ist es, die alles zusammenhält. So werden wir zur Ganzheit gerufen. Wer an Gott glaubt, nimmt ehrfürchtig die ganze Schöpfung wahr und alles, was in ihr ist. Dem Abt von Elostat schreibt sie:
»Nur wer den Acker seines Leibes mit Diskretion umpflügt, dem wird das plötzliche Hereinbrechen des Endes nicht schaden, weil die Musik des Heiligen Geistes und ein Leben in Freude ihn aufnehmen werden. Hüten aber soll sich der Mensch davor, dass er durch zu viel Arbeiten seinen Leib zugrunde richtet.«
In der Erklärung der Benediktusregel gibt sie einen allgemeinen Leitfaden der Lebensführung. Unterscheidung und Maßhaltung sollen den Tages- und Jahreslauf ordnen, Wachen und Schlafen, Arbeit und Muße, Atmen, Essen und Trinken.
So können uns auch die Betrachtung der Heilpflanzen, der sorgfältige Umgang mit unseren Lebensmitteln, die kundige Bereitung von Speisen und Arzneien dazu verhelfen, unser Leben zu ordnen, in allem Leibhaftigen das Ganze der Welt und das Wirken Gottes zu erspüren. Alle Sorge um das leibliche Wohlergehen und unsere Gesundheit bliebe leer ohne die Pflege der Seele, ohne Verlangen nach dem umfassenden Heil. Darum ist für Hildegard das vornehmste und wirksamste Heilmittel die Medizin der Reue. In ihr, in Zerknirschung und Erschütterung, gerät der Mensch als Ganzes in Bewegung, kommt zur Einsicht und zur Umkehr, zur Wende der Not. So wird die Herzenshärte aufgebrochen, die mit großen schwarzen Augen ins Leere starrt. Der versteinerten Selbstsucht antwortet die Barmherzigkeit:
»Die Kräuter schenken einander den Duft ihrer Blüten; ein Stein strahlt seinen Glanz auf den anderen, und alles, was lebt, hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung … Übervoll ist mein Herz, jedwedem Hilfe zu schenken. Ich nehme Rücksicht auf alle Not. Den Gebrechlichen helfe ich auf und führe sie zur Genesung. Salbe bin ich für jedes Weh, und meine Worte tun wohl.«
Darum blickt sie in den Visionen immer wieder auf die Vollendung, auf das Erscheinen des kosmischen Christus. In dem, was wir für unsere Gesundheit tun und für das Wohl anderer Menschen, in allem, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, mit unseren Händen tun, zielen wir auf das Ganze, auf das Heilwerden der Welt. Kochen und Heilen können teilhaben am guten Anfang der Schöpfung und an der Hoffnung auf ihre Vollendung.
Altabt Odilo Lechner OSB
O wahrer Gott, welch große Geheimnisse hast du in deinen Geschöpfen gestaltet und dem Menschen, deinem großen Kunstwerk, untergeordnet.
Du hast die Kräfte deiner Allmacht schöpferisch entsandt; du hast das herrliche Dach mit seinen Fenstern, das Firmament mit seinen Leuchten, geschaffen.
An ihm hast du die Sonne festgemacht, die mit ihrem Licht alles über der Erde und unter der Erde erleuchtet.
Ihr sind die übrigen Leuchten verbunden, und wie diese durch die Sonne leuchten, so gehorchen dir alle Geschöpfe.
In dir und durch dich leben sie alle. Durch deine Liebe ist alles geschaffen;
Visionärin, geistige Ratgeberin, Schriftstellerin, Prophetin, Predigerin, Heilige und Künstlerin: Hildegard ist bis heute die bedeutendste Frau des Mittelalters.
»Dem König aber gefiel es, eine kleine Feder zu berühren, dass sie sich in Wundern bewege. Und ein starker Wind trug sie, dass sie nicht sinke …«
Als kleine Feder sah sich Hildegard, die sensible Nonne von zarter Konstitution, in diesem Selbstbildnis, das sie in einem Brief an Papst Eugen III. von sich zeichnete. Tatsächlich ist Hildegard von Bingen eine der faszinierendsten und vielseitigsten deutschen Frauengestalten – als Dichterin, Komponistin, Mystikerin und Seherin. Nicht zuletzt wird sie auch als Heilige verehrt, obwohl sie offiziell nicht heiliggesprochen ist.
Ob ihre Eltern, Graf Hildebert und seine Frau Mechthild, geahnt hatten, welche charismatische Persönlichkeit ihr zehntes Kind werden würde? Jedenfalls nannten sie sie Hildegard, was »Heldin« oder besser »rettende, beschirmende Heldenjungfrau« bedeutet. Als Hildegard 1098 in Bermersheim/Alzey in Rheinfranken zur Welt kam, wurde sie in die dynamische Zeit des europäischen Hochmittelalters geboren. Das war die Zeit der Kreuzzüge, der geistigen Neuerungen, der wachsenden Wirtschaft und Gesellschaft, der neuen Entwicklungen in Religion, Wissenschaft, Literatur und Kunst. Schon im Alter von drei Jahren soll an Hildegard eine visionäre Begabung aufgefallen sein. Diese Kraft der Vision nennt sie später das »lebendige Licht« und meint:
»Bei meiner ersten Gestaltung, als Gott mich im Schoß meiner Mutter durch den Hauch des Lebens erweckte, prägte er meiner Seele dieses Schauen ein.«
Viele Jahre erzählte sie niemandem von ihren Erfahrungen. Doch das Erscheinen dieses Lichtes in ihrem Leben hat sie stets als Zeichen der Erwählung von Anfang an ausgelegt.
Als Hildegard acht oder neun war, übergaben ihre Eltern sie der Klausnerin Jutta von Spanheim zur Erziehung. Das klingt für heutige Ohren befremdlich, war aber damals keineswegs unüblich, sondern entsprach den Gepflogenheiten des Hochadels. Klöster stellten schon seit Generationen die anerkannten Zentren klassischer Bildung und Wissenschaft dar, was ihre große Anziehungskraft erklärt.
Jutta war eine nur wenig ältere Verwandte, die sich mit anderen Frauen 1106 in einer Klause niederließ: Juttas Vater Graf Stephan hatte diese an die Benediktinerabtei auf dem Disibodenberg anbauen lassen.
Wie sah der Klosteralltag Hildegards aus? Der typische Lebensrhythmus nach der Regel des heiligen Benedikt von Nursia prägte die Tage. Entsprechend der Jahreszeit und begangener Feierlichkeiten gab es eine Gebetsperiode von vier bis acht Stunden täglich sowie sieben bis acht Stunden für den Schlaf. Die übrige Zeit wurde zu gleichen Teilen auf die Arbeit und auf religiöse Lektüre und Studien verwendet. Im klösterlichen Dreischritt von »Lectio«, »Meditatio« und »Oratio«, im Wechsel von Gebet und Arbeit, Studium und geistlicher Lesung, Gemeinschaftsleben und Einsamkeit lernte sie Lesen, Schreiben, Lateinisch, Psalmengesang, die damals übliche Notenschrift und verschiedene freie Künste. Mit etwa 15 Jahren beschloss Hildegard, das Ordensgelübde abzulegen, und trat in den Orden der Benediktinerinnen ein. Sie galt als herausragende Persönlichkeit, die umfangreiche biblische, theologische, philosophische und naturkundliche Kenntnisse besaß. So vollzog sich Hildegards Leben als Nonne über Jahrzehnte im schlichten benediktinischen Gleichmaß.
Nach dem Tode ihrer Mentorin Jutta von Spanheim wählen die Nonnen Hildegard 1136 zur Äbtissin ihrer Gemeinschaft. Fünf Jahre später, 1141, nimmt ihr Leben eine dramatische Entwicklung, aus der sie als verehrte Heilige, als deutsche Prophetin »prophetissa teutonica«, als »Posaune Gottes« – so ihre Selbstbezeichnung –, hervorgehen sollte. Dazu berichtet Hildegard:
»Im Jahre 1141 … kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom Himmel hernieder. Und plötzlich erschloss sich mir der Sinn der Schriften … Und ich vernahm eine Stimme vom Himmel, die zu mir sprach: Schreibe auf, was du siehst und hörst!«
Hildegard versteht sich von da an als Werkzeug und Sprachrohr Gottes. Unterstützt vom einflussreichsten Denker und Prediger der Zeit, dem Gründer des Zisterzienserordens, Bernhard von Clairvaux, beginnt Hildegard, ihre Visionen und auch ihre eigenen theologischen Vorstellungen in lateinischer Sprache niederzuschreiben.
Nun setzt ein enormer Schaffensprozess ein, der bis zu Hildegards Tod andauern wird. Sie verfasst die drei Visionenbücher »Scivias«, »Liber vitae meritorum« und »Liber divinorum operum«. Sie schreibt Kompositionen geistlicher Gesänge und das Spiel vom »Ordo virtutum«, das den Kampf des Menschen zwischen Gut und Böse darstellt. Außerdem führt sie eine äußerst umfangreiche Korrespondenz, verfasst eine Reihe kleinerer christlicher Abhandlungen und Schriften zur Medizin und Naturkunde.
»Scivias« – Wisse die Wege – heißt ihr theologisch-visionäres Erstlingswerk. Diese Glaubenskunde besteht aus drei Teilen und spannt den Bogen von der Schöpfung der Welt und des Menschen über das Werden und Sein der Kirche bis zur Erlösung und Vollendung der Welt am Ende der Zeiten.
Hildegard arbeitet zehn mühevolle Jahre daran. Am Ende ist mit »Scivias« eines der imponierendsten Weltpanoramen des Mittelalters entstanden, aus dem Papst Eugen III. während der Reformsynode in Trier 1147 den dort versammelten Bischöfen vorliest – ein Vorgang, der bis dahin undenkbar war! Jetzt war der Inhalt von Hildegards Schrift bestätigt und ihre »Visio« von höchster kirchlicher Autorität beglaubigt.
Parallel zu diesen Ereignissen verfolgt Hildegard das Ziel, gemeinsam mit ihren 20 Mitschwestern den Disibodenberg zu verlassen. 1150 ziehen sie dann gegen den Widerstand der Mönche in das noch nicht fertig gebaute Kloster auf den Rupertsberg. Dieser Ort war ihr in einer Vision erschienen. Damit es auch nicht adeligen Frauen möglich wurde, ins Kloster zu gehen, gründete Hildegard ihr zweites Kloster. 1165 war es so weit: Der Konvent von Eibingen mit 30 Nonnen wurde eingeweiht.
Papst Eugen III. hatte Hildegard in aufsehenerregender Weise in die Weltöffentlichkeit gestellt. Von nun an äußert sie sich immer öfter zu den religiösen, politischen und gesellschaftlichen Fragen ihrer Zeit. Weit über 300 Briefe sind überliefert und bezeugen, dass Hildegard eine anerkannte Autorität gewesen ist, die von Männern und Frauen aller Stände um Rat gebeten wurde. Dazu gehörten Päpste, Kaiser, Fürsten und Äbte ebenso wie einfache Bauern, Priester und Ordensleute. Nicht immer schmeichelhaft, oft unbequem: Hildegards Meinung war gefragt und hatte Gewicht.
Einer ihrer bekanntesten Briefwechsel ist der mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa, den seine Zeitgenossen als Erneuerer des Reiches und als Verkörperung der ritterlichen Ideale bewunderten. Diesen Mächtigen ermahnte Hildegard unerschütterlich:
»Möge der Heilige Geist dich also belehren, dass du gemäß seiner Gerechtigkeit lebst und wirkst.«
Aus ihrem regen Schriftwechsel ergeben sich Reisen in verschiedene Städte wie Mainz, Würzburg, Köln, Trier und Metz. Trotz ihrer anfälligen Gesundheit absolviert sie sie mit viel Engagement und Hingabe,
»vom göttlichen Geist nicht nur angetrieben, sondern genötigt«.
Hildegard predigt öffentlich vor Klerus und Volk oder besucht ihre Korrespondenten.
Hildegards zweites theologisches Hauptwerk, das Buch der Lebensverdienste »Liber vitae meritorum«, entsteht zwischen 1158 und 1163. In diesem Lehrbuch der Ethik schildert sie am Beispiel von 35 Gegensatzpaaren aus Tugenden und Lastern den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse im Herzen des Menschen und überall in der Welt. Ihr drittes Visionswerk beginnt Hildegard etwa 1168 mit 70 Jahren – einem für die damalige Zeit schon biblischen Alter. Das »Liber divinorum operum« – das Buch vom Wirken Gottes – zeigt in zehn Visionen die Weltentstehung und -erhaltung und wie Gott als absoluter Herr der Schöpfung Weltall und Mensch mit seiner Liebe trägt. Hildegard notiert:
»So wie der Künstler seine Formen hat, nach denen er seine Gefäße macht, so bildet Gott die Gestalt des Menschen nach dem Bauwerk des Weltgefüges, nach dem ganzen Kosmos.«
Hildegard besitzt aber nicht nur eine schöpferische Fähigkeit für das Wort, sondern auch für Ton und Klang. Zwischen 1151 und 1158 komponiert sie über 70 geistliche Lieder, die »Symphonia«. Sie werden beim liturgischen Gotteslob im Kloster Rupertsberg gesungen, aber auch zur privaten Erbauung. Hildegard selbst bezeichnet sie als »Symphonia harmoniae caelestium revelationem« – frei übersetzt: musikalische Umsetzungen der Harmonie des Himmels. Ihr Singspiel »Ordo virtutum« – Spiel der Kräfte – wird 1152 zur Einweihung der neuen Abteikirche uraufgeführt.
Mit ihren Kräutergärten und Apotheken waren Klöster im Mittelalter die Heilstätten schlechthin. Von einer Klostergeneration zur nächsten gaben Mönche und Nonnen ihr Heilwissen weiter, so dass Patienten von nah und fern kamen, in der Hoffnung, im Kloster werde ihnen geholfen. Speziell die Benediktinerklöster machten es sich zur Aufgabe, sich um erkrankte Mitbrüder und -schwestern ebenso wie um Hilfesuchende von außerhalb der Klöster zu kümmern. In dieser Tradition steht auch Hildegard, die sich intensiv der Naturkunde und der Heilkunde zuwendet.
Sie befasst sich genau mit der sie umgebenden Natur und hält ihre Erkenntnisse schriftlich fest. Nach 1150 entsteht so die »Physica«, in der sie bestimmte Arznei- und Heilmittel beschreibt. In ihrer Heilkunde »Causae et curae« beschreibt sie Heil- und Behandlungsmethoden verschiedener Krankheiten. Hier kann sie viele persönliche Erfahrungen aus ihrer stets schwachen Gesundheit einbringen. Schon in ihrer 1181 von Theoderich von Echternach vollendeten Lebensbeschreibung heißt es: »Hildegard hatte beinahe von Kindheit an fast ständig an schmerzlichen Krankheiten zu leiden.«
Ihre medizinischen Nachschlagewerke, ihre Intuition und das besondere Einfühlungsvermögen in die Sorgen und Nöte der Menschen brachten ihr den Ruf einer »ersten deutschen Ärztin«. In ihrem Bemühen um die Heilung des Menschen geht Hildegard mit ihren Maßnahmen ganzheitlich vor. Nicht nur das kranke Organ soll geheilt werden, sondern auch Leib und Seele. Sie beginnt und begleitet die Behandlung mit einer angemessenen Ernährungstherapie, die mit einem vernünftigen Lebensstil und einer ausgewogenen Lebensordnung einhergehen soll. Erst dann greift sie auf Arzneien zurück und als letztes Mittel auf die Chirurgie mit Schröpfen und Aderlass. Die ursprüngliche Harmonie von Gott, den Menschen und dem ganzen Kosmos, so wie sie bei der Erschaffung der Welt bestand, ist für sie der Heilszustand schlechthin. Durch den Sündenfall verliert der Mensch einige seiner göttlichen Widerstandskräfte. Krankheiten sind diesem Bild entsprechend Prüfungen des Himmels an den menschlichen Willen, ein würdiges Leben zu führen. Der Heilkunst kommt in Hildegards Weltsicht die Aufgabe zu, dem Menschen den Weg zurück zu ermöglichen.
Am 17. September 1179 geht Hildegards überreiches 81-jähriges Leben zu Ende. Man erzählt, dass bei ihrem Tod ein helles Licht am Himmel aufgestrahlt sei. Was sie einst im Buch vom Wirken Gottes schrieb, liest sich fast wie ein Vermächtnis:
»O Mensch, schau dir den Menschen an: Er hat Himmel und Erde und die ganze übrige Kreatur in sich. O wie herrlich ist Gott, der schöpferisch wirkt und seine eigene Herrlichkeit durch die Geschöpfe offenbart. Wenn du zu deinem Schöpfer aufblickst und sagst ›Mein Gott bist du‹, dann entzündet sich in dir das Feuer der Liebe, aus der alles Leben entsteht und alles Gute hervorgeht. Du hast also die Wahl, denn du kannst nicht zwei Herren dienen. Darum, o Mensch, schau auf zu deinem Gott – und die Erde wird neu werden!«
»Und so sind also in allen Geschöpfen des Herrn wundersame Werke verborgen, in den Tieren, den Fischen und den Vögeln, in den Kräutern, Blumen, Bäumen, verborgene Geheimnisse Gottes …«
Die Basis der Hildegard-Medizin bildet die Naturlehre »Physica« mit dem Heilwissen aus »Causae et curae«. In ihrer Naturlehre untersucht Hildegard die Heilkräfte von Pflanzen, Elementen, Steinen, Tieren und Metallen. Ihre Erkenntnisse über Krankheiten und Therapiemöglichkeiten beschrieb sie in »Causae et curae«. Von Kopf bis Fuß spürt sie den Erkrankungen nach, befasst sich mit Ernährung und Verdauung, Gemütsbewegungen und Stoffwechselstörungen und mit einer gesunden Lebensführung.
Für die Benediktinerin Hildegard steht das ewige Heil im Vordergrund, das irdische Heil – die Gesundheit – an zweiter Stelle. Das göttliche Wirken beeinflusst den Menschen direkt. Zwischen den Krankheiten des Geistes und des Körpers besteht kein wesentlicher Unterschied. Ihrer Meinung nach können Krankheiten nur dann wirksam behandelt werden, wenn der Patient seine Lebenseinstellung ändert.
Wie kommt es nach Hildegard zu körperlichen und seelischen Krankheiten? Wie eng waren Krankheitsursache und Verantwortlichkeit dafür verknüpft?
»Wenn Adam im Paradies geblieben wäre, würde er die vorzüglichste Gesundheit … haben … Aber der Mensch hat jetzt … in sich das Gift, das Phlegma und verschiedene Krankheiten.«
Erst der Sündenfall hat den Krankheiten Tür und Tor geöffnet. Krankheit erscheint bei ihr als Bild des Mangels und der Trockenheit, begründet in der Mischung der körpereigenen »Säfte«. Stimmt deren Mischung nicht oder fehlt ein wichtiges Element, wird der Betreffende unweigerlich krank:
»Vier Säfte gibt es. Die beiden wichtigsten von ihnen werden Phlegma genannt, die beiden anderen heißen Schleim …«