Heimliche Helden - Ulrike Draesner - E-Book

Heimliche Helden E-Book

Ulrike Draesner

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Beschreibung

Präzise, überraschende und respektvoll perfide Porträts großer Autoren – aus weiblicher Sicht.

Die Klassiker der Literatur: In der erdrückenden Mehrzahl sind sie männlich. Eine Ödnis für Leserinnen? Keineswegs! Die virtuose Leserin Ulrike Draesner präsentiert uns ihre ganz eigene Ruhmeshalle männlicher Autoren: präzise, überraschende und respektvoll perfide Porträts von Helden wie Heinrich von Kleist, Thomas Mann, Karl Valentin und vielen anderen.

Männer haben es schwer. Denn sie müssen Helden sein. Nicht wenige der »klassisch« gewordenen Autoren haben sich in kriegerischen, heldischen Rollen versucht. Aber hat das Schreiben nicht per se etwas Unheroisches, ja Subversives? Ulrike Draesner spürt den Ursprüngen der Idee vom Helden nach, sie zeigt Schriftsteller in ihren heldischen und hinreißend unheldischen Posen und erzählt mit stupendem Wissen und großer Originalität von ihren Leseabenteuern. Und wie schon bei den Essays zu den »Schönen Frauen«, wo sich Flaubert unter die Autorinnen gemogelt hat, darf sich mit Tania Blixen auch eine Autorin zu den heimlichen Helden gesellen.

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Seitenzahl: 334

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Ulrike Draesner

Heimliche Helden

Über Heinrich von Kleist, Jean-Henri Fabre, James Joyce, Thomas Mann, Gottfried Benn,Karl Valentin u.v.a.

Essays

Luchterhand Literaturverlag

Inhalt

KRIEGE

HELDEN

TATEN

WESEN AUS MUSKEL, MAKEL UND MENSCH

Gedanken zum Helden mit Hilfe des Nibelungenliedes

WESEN AUS STURZ, ZEICHEN UND BLITZ

Gedanken zum Helden mit Hilfe Heinrich von Kleists

DER MANN

DER ANDERE

WILD LIFE

DER EICHENPROZESSIONSSPINNER UND DAS VERGEHEN DER ZEIT

Johann Peter Hebels Kalendergeschichten

HELDEN DES KAMPFES UND DER BRUT

Schreibversuch über Jean-Henri Fabres Schreibversuch über einen lebenslangen Feldversuch

SCHÖNEN, SCHREIBEN, SCHIESSEN

Tania Blixen: Das Ich und sein Ort – eine afrikanische Lektion

HELDEN UND IHRE VERSTECKE

GOTTFRIED BENN, GESPENSTERICH UND ICHGESPENST

DOPPELLEBEN: DER DICHTER, DIE POLITIK UND DER KRIEG

WENN ES AUCH TRÄUME SIND. BENN ALS LIEBESHELD

DAS VALENTIN

»LET MY COUNTRY DIE FOR ME!«

SINGATUR/SIGNATUR

James Joyce, eine Bewegung

REDEN NACH DEM KRIEG.

Hans Joachim Schädlichs Nichtroman Anders

WENN HELDEN BADEN GEHEN

Männerfreundschaften im Werk Gerd-Peter Eigners

SPRÜNGE INS UNBEKANNTE

Zu Gerhard Falkner

VOM HELDENMUT DES LESERS

GEDANKEN ZUM ALTERN ANLÄSSLICH DER WIEDERLEKTÜRE VON THOMAS MANNS LETZTEM ROMAN

MARSCHGEPÄCK

TEXTNACHWEIS

heimlich, mittelhochdeutsch heime-, heim-, heinlich:

einheimisch, vertraulich/vertraut,

geheim/heimlich, verborgen, zahm

KRIEGE

Autor des Nibelungenliedes

Lebenszeit: Zahllose feudale Konflikte, Kreuzzüge

Teilnahme an Kriegshandlungen: Unbekannt

Johann Peter Hebel

Lebenszeit: Napoleonische Kriege, Revolution von 1848 in Deutschland

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine (Theologe)

Heinrich von Kleist

Lebenszeit: Napoleonische Kriege

Teilnahme an Kriegshandlungen: Von Juni 1792 bis April 1799 Soldat der königlich-preußischen Armee. Kleist war, als er sich verpflichtete, 14 Jahre alt. Die Kriegsjahre 1792–1796 brachten Gefechte und Märsche quer durch den Westen Deutschlands, die folgenden Jahre fand Kleist sich im Wesentlichen zum Garnisonsdienst in Potsdam.

Jean-Henri Fabre

Lebenszeit: Julirevolution 1830, 1830–1847 Eroberung Algeriens, Auseinandersetzungen in den französischen Kolonien, Deutsch-Französischer Krieg 1870/71, Erster Weltkrieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine

Thomas Mann

Lebenszeit: Erster und Zweiter Weltkrieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine. Den Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger im Münchner Leibregiment des bayerischen Königs beendet Mann 1900 nach drei Monaten. Er wird für untauglich erklärt. 1914: Befürwortung des Krieges. 1933–1955: Exil in Frankreich, den USA und der Schweiz.

James Joyce

Lebenszeit: Erster und Zweiter Weltkrieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine. Ab 1904 lebt Joyce in Pola und Triest (K.u.k.-Monarchie), 1915 darf er in die Schweiz nach Zürich ausreisen. 1919 kehrt er nach Triest (Italien) zurück, wohnt ab 1920 in Paris, flieht 1940 erneut in die Schweiz. In Zürich während des Ersten Weltkrieges wird er sowohl vom österreichischen als auch vom britischen Geheimdienst beobachtet.

Karl Valentin

Lebenszeit: Erster und Zweiter Weltkrieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine (Asthma)

Tania Blixen

Lebenszeit: Erster und Zweiter Weltkrieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Fährt im Ersten Weltkrieg immer wieder mit Lebensmitteln und Medikamenten an die britisch-deutsche Front in Tanganjika (nach dem Ersten Weltkrieg von den Briten eingeführte Bezeichnung für das Festland von Tansania ohne Sansibar und Pemba. Vormals, in Teilen: Deutsch-Ostafrika). Weiß mit Gewehren umzugehen, liebt die Löwenjagd.

Gottfried Benn

Lebenszeit: Erster und Zweiter Weltkrieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Mit Beginn des Ersten Weltkrieges Einsatz als Sanitätsoffizier an der Westfront, Teilnahme am Sturm auf Antwerpen und Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse. Ab Oktober 1914 Militärarzt in Brüssel, im Spätsommer 1917 Demobilisierung aus unbekannten Gründen. 1935 tritt Benn in die Wehrmacht ein, er dient als Oberstabsarzt in der Wehrersatz-Inspektion in Hannover. Ab 1937 militärischer Versorgungsarzt in Berlin und in Landsberg an der Warthe.

Hans Joachim Schädlich

Lebenszeit: Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine

Gerd-Peter Eigner

Lebenszeit: Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Aktiv keine. Halbaktiv: 1960/61 Kurier- und Schreibdienste für die algerische FLN (Fédération de la Libération Nationale) in Paris. Passiv: Der Vater wird in Schlesien im Januar 1945 von Rotarmisten erschossen. Früheste Erinnerung: das brennende Dresden im Februar des gleichen Jahres.

Gerhard Falkner

Lebenszeit: Kalter Krieg

Teilnahme an Kriegshandlungen: Keine (Wehrdienstverweigerung 1970, Ersatzdienst)

HELDEN

Autor des Nibelungenliedes

(geboren vermutlich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts)

© fotolia.com/jameschipper

Heute nimmt man an, dass es ihn gegeben hat: Sein Erzählton unterscheidet sich von dem der anderen Epen des beginnenden 13. Jahrhunderts; zu deutlich ist sein Lied über die Not der Nibelungen von diesem Ton getragen, als dass es sich bloß um eine Aneinanderreihung mündlich überlieferter Versatzstücke handeln könnte. Dennoch: die Handschriften variieren stark, die Rückbindung des Erzählten an Mythen und historischen Stoff tritt deutlich zutage. Um 1200 beginnt für uns fassbar die deutschsprachige Versprosa: Handlungsprall und dramatisch werden Rittertaten um König Artus, die Liebe zwischen Tristan und Isolde und unterschiedlichste Legenden erzählt. Wir blicken in eine Epoche, in der Autorschaft entsteht; dass wir den Verfasser des Nibelungenliedes nicht kennen, passt zu einer Epoche, in der erst die Anbindung an Traditionen und überliefertes Wissen das Recht verleihen, die Stimme zu erheben. Entstanden ist das Lied vermutlich zwischen 1190 und 1210; die vorausgesetzten höfischen Strukturen sowie die Hervorhebung Passaus legen ein Datum knapp vor 1204 nahe. Vom Hof des Passauer Bischofs Wolfger von Erla stammt das einzige Dokument, das die Existenz eines anderen Autors der Zeit belegt: Am 12.11.1203 notiert der Bischof in seinen Reiserechnungen, dem cantor (Spielmann) Walter (von der Vogelweide) Geld für einen Pelzmantel ausgehändigt zu haben. Da ist es verlockend, sich den Kirchenmann auch als Mäzen anderer Autoren vorzustellen. Doch »nix genaues weiß man nicht«. Auch aus den detaillierten Kampfbeschreibungen des Nibelungen-Autors lässt sich keineswegs schließen, dass er selbst Erfahrungen in kriegerischen Auseinandersetzungen gesammelt hatte – die gesamte Literatur der Zeit ist voller Ausstattungs- und Schlachtbeschreibungen, die höchst kunstvoll aus antiken Texten oder von französischen Autoren übernommen und ausgeschmückt wurden. Man wollte sich gegenseitig überbieten und das Publikum unterhalten. Das gelang.

Weiterführende Lektüre:

Wolfram von Eschenbach, Parzival

Hartmann von Aue, Iwein, Erec

Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter

Johann Peter Hebel

(1760–1826)

© Historisches Museum Basel

Sein sehnlichster Lebenswunsch erfüllte sich nicht: Landpfarrer wollte er werden, den Menschen nahe sein. Aber er erwies sich als zu intelligent. Hebel stammte aus einfachsten Verhältnissen, der Vater war Weber in einem alemannischen Dorf. Dort verbrachte die Familie den Winter, im Sommer arbeiteten beide Eltern in einem Patrizierhaus in Basel. Hebels Leben spaltete sich früh in Stadt und Land, arm und reich, Freude und Trauer. Als 13-Jähriger musste er, bereits Halbwaise, zusehen, wie die schwer erkrankte Mutter neben ihm auf dem Heimweg von Basel nach Hausen starb. Was solch ein Erlebnis bedeutet? Vielleicht sind das die »Kriege« dieser Kinder: früh die Eltern verlieren, dem Tod begegnen. Förderer ermöglichten Hebel den Besuch des Gymnasiums in Karlsruhe. Er studierte Theologie, führte vier Leben zugleich: Lehrer, Akademiker, Prediger, Dichter. Hebel lehrte, glaubte, unterhielt und zweifelte. Man machte ihn zum Direktor des Karlsruher Gymnasiums sowie zum Prälaten der lutherischen Landeskirche und über diese Funktion zum Mitglied der Badischen Ständeversammlung. Sozial-, Kirchen- und Bildungspolitik beschäftigten ihn. Er lebte in einer Zeit wissenschaftlichen Aufbruchs: Experiment und Analyse bestimmten die »Lektüre« des Buches der Natur, man reiste und forschte, die Welt wuchs. Hebel verfasste seine Gedichte auf alemannisch und interessierte sich ein Leben lang für Flora und Fauna; der Botaniker Karl Christian Gmelin nahm ihm zu Ehren in seine Flora badensis alsatica die Gewöhnliche Simsenlilie unter dem Namen Hebelia allemannica auf.

© Imagebroker/f1 online

Weiterführende Lektüre:

Johann Peter Hebel, Alemannische Gedichte

Patrick Roth, Johann Peter Hebels Hollywood oder Freeway ins Tal von Balzac (Essay)

Oskar Pastior, Anagrammgedichte (erzeugt aus Überschriften des Rheinländischen Hausfreundes)

Heinrich von Kleist

(1777–1811)

© picture-alliance / akg-images

Da steht er, ist knapp über 20 und weiß nicht, was aus ihm werden soll. Die erste Karriere als Soldat der königlich-preußischen Armee – Sturmangriffe, lange Märsche, Drill, Gehorsam, Lebensgefahr – hat er abgebrochen, hat gebrochen mit der Offizierstradition der Familie. 1788 starb der Vater, 1793 die Mutter, als Waise kehrte Kleist sechs Jahre später in das Elternhaus in Frankfurt an der Oder zurück. Er sucht, phantasiert, verlobt sich mit dem Nachbarsmädchen Wilhelmine von Zenge, beschäftigt sich mit Mathematik und Philosophie, bricht in Begleitung des Freundes Ludwig von Brockes nach Würzburg auf. In einem offenen Wagen fahren die beiden jungen Männer unter den Sternen dahin, bei Regen kriechen sie unter die Plane, die Zukunftsphantasien steigern sich. Als Kleist 1802 beschließt, Bauer zu werden, zerbricht die Verlobung. Kleist siedelt sich an in Thun in der Schweiz, mietet von April bis Juni ein Häuschen auf einer Insel inmitten der Aare – und beginnt, »recht eingeschlossen von Alpen«, sein erstes Drama zu schreiben.

Weiterführende Lektüre:

Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie

Christa Wolf, Kein Ort, nirgends

Jean-Henri Fabre

(1823–1915)

© Falk Nordmann

Insekten waren seine große Liebe, mit 55 Jahren endlich konnte er es sich leisten, sich vom Schul- und Lehrdienst zu verabschieden, um sich allein ihnen zuzuwenden. Anders als die Wissenschaft seiner Zeit widmete er sich dem lebendigen Tier. Stundenlang harrte er in Sonne, Staub und Wind aus, immer wieder ließ er sich überraschen und verlachen.

Und der Krieg? Zwei Rekruten nähern sich dem schmalen Weg, auf dem Fabre liegt, um das Brutverhalten der gelbflügeligen Grabwespe zu beobachten. Der Forscher beschließt, den Platz zu räumen: Er will sich nicht dazu befragen lassen, was er hier macht (die Soldaten würden nur eine Falle im Sandweg vermuten), er will auf sein Glück vertrauen.

Für seine Beobachtungen war er angewiesen auf dieses Glück, die Gunst der Stunde und seine schier unerschöpfliche Geduld. Die Möglichkeit, dieses Verhalten in Natur zu beobachten, kehrte vielleicht nie wieder. Das Glück verließ ihn durchaus – die Rekruten zertraten die Bruthöhle der Wespe –, nicht aber verließ ihn seine Schreibbegabung. Anschaulich, mitreißend, geschult an den griechischen Klassikern erzeugen seine Schriften bis heute Furcht, Mitleid und Identifikation. Ja, sie handeln von Helden: Die sind gepanzert, mit Stacheln bewehrt, Künstler des Fluges, des Angriffs und der kurzen Zeit. Fabres Familie unterstützte den Forscher, mit Darwin stritt er, der Nobelpreis für Literatur wurde ihm 1912 knapp nicht verliehen. Und er? Ließ ein Volk Bienen auf seinem Kopf sitzen und lächelte glücklich darunter hervor.

Weiterführende Lektüre:

Alle Bände der Erinnerungen eines Insektenforschers von Jean-Henri Fabre, in der Neuausgabe bei Matthes & Seitz, begleitet von Federzeichnungen Christian Thanhäusers

Maria Sibylla Merian, Metamorphosis insectorum Surinamensium, Kupferstiche und Texte, Erstausgabe 1705

Thomas Mann

(1875–1955)

© argum / Christian Lehsten

1893 zog dieser tote Bär mit der Familie Mann von Lübeck nach München, verlangte gehorsam in den verschiedensten Wohnungen der Familie dem Besucher die Visitenkarte ab und musste doch in dem letzten Münchner Domizil des Schriftstellers, einer Villa am Herzogpark, zurückbleiben, um heute, ganz sibirischer Braunbär mit trauriger Schnauze, im Münchner Literaturhaus den Zugang zum großen Veranstaltungssaal zu bewachen. Im Februar 1933 waren Katia und Thomas Mann zu einer Reise durch Europa aufgebrochen, von der sie auf Drängen ihrer Kinder nicht mehr nach Deutschland zurückkehrten. 1938 führte ihr Weg sie in die USA. Dort verkörperte der Schriftsteller, so Susan Sontag, den guten Deutschen, der das absolut Böse des Hitlerregimes geißelte und der Demokratie den Sieg prophezeite. Als sie den bewunderten Autor des Zauberbergs als 14-Jährige in seinem Haus 1550 San Remo Drive, Pacific Palisades, Los Angeles, besuchte, nahm sie zunächst nichts wahr als ihn: »Er trug eine Fliege und einen hellen Anzug wie auf dem Titelbild von Essay of Three Decades – und das war der erste Schock, dass er der förmlichen Pose des Fotos so ähnlich war. […] Aber auf dem Foto, das ihn in seiner gesamten Gestalt zeigte, hatte er nicht so schmächtig ausgesehen; das Foto hatte mich die Spärlichkeit des Oberlippenbärtchens nicht sehen lassen, das Weiß der Haut, die altersfleckigen Hände, die unschön hervortretenden Venen, die Kleinheit und die Bernsteinfarbe seiner Augen hinter seiner Brille.« Das Gespräch empfindet Sontag als schwierig, ein Gefühl der Scham begleitet sie. Mann äußert sich auffallend langsam und ohne Eingebung. Sie ist erleichtert, als Katia Mann Tee serviert und tröstet sich mit Keksen über die Enttäuschung hinweg.

Mann nimmt Sontag und ihren Begleiter als repräsentativ für die »junge Generation«; er kann sich nicht vorstellen, wie ungewöhnlich es für pubertierende kalifornische Schüler ist, sich mit der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs auszukennen.

Und dass er seinem Foto so sehr gleicht, steif, würdevoll, bis die Besucherin fast glaubt, er spiele sich selbst?

Die Begegnung fand im Sommer 1947 statt, erst Jahrzehnte später sprach Sontag von ihr. Eine unsichtbare Linie war übertreten worden, eine Lektion wurde gelernt: Das Nicht-Schreibleben eines Autors ist für den Leser seiner Romane letztendlich ohne Belang.

Weiterführende Lektüre:

Susan Sontag, »Wallfahrt«, in: Akzente 6/1988, S. 523–546

Vladimir Nabokov, Interviews und Briefe (reichlich Spott über Thomas Mann), aber auch die Erzählung Der Kartoffelelf, die Manns Erzählung Der kleine Herr Friedemann folgt

James Joyce

(1882–1941)

© ullstein bild – TopFoto

Es war bestimmt nicht einfach, James Augustine Aloysius Joyce zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, sich ein Leben lang in den Initialen JA:AJ selbst zu umklammern. Es war bestimmt nicht einfach, Stephen Dedalus zu werden. Es war bestimmt nicht einfach, ein Stück Dubliner Strand zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, Kirke zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, Irland zu verlassen. Es war bestimmt nicht einfach, Triest zu verlassen. Es war bestimmt nicht einfach, den Ulysses zu schreiben. Es war bestimmt ein teuflisches Vergnügen, den Ulysses zu schreiben und mit Finnegan’s Wake weiterzumachen. Es war bestimmt nicht einfach, Studenten Englisch beizubringen. Es war bestimmt nicht einfach, klüger als ein Lexikon zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, mit den eigenen Gedichten nie zufrieden zu sein. Es war bestimmt nicht einfach, sich ständig Sorgen um die Familie zu machen. Es war bestimmt nicht einfach, halb blind weiterzulesen. Es war bestimmt nicht einfach, die Wortfolge »three Quarks for Muster mark« für die Quantenphysik zu erfinden. Es war bestimmt nicht einfach, Jacques Lacan zu seinem Sinthom (anstelle von Symptom) zu inspirieren. Es war bestimmt nicht einfach, James Joyce zu sein. Es war bestimmt zweifach: höllisch und schön.

Weiterführende Lektüre:

Gertrude Stein, Tender Buttons und andere kurze Prosa

Italo Svevo,Zeno Cosini(oder:Zenos Gewissen)

Slavoj Žižek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst

Karl Valentin (Valentin Ludwig Fey)

(1882–1948)

© Valentin-Karlstadt-Musäum München / Münchner Stadtmuseum

Er kommt aus München, alles außerhalb der Stadt gilt ihm als Ausland. Dennoch reist er 1936 nach Berlin, wo er »dummerweise« einen halben Tag zu spät für die Olympischen Spiele eintrifft. Da sitzt er, mutterseelenallein, im weiten Rund des neuen nationalsozialistischen Stadions und hat alle Triumphe verpasst! Einen Sketch ist das mindestens wert. Seit über 20 Jahren entwickelt er seine Karriere als Komiker und Filmpionier, Liesl Karlstadt hilft ihm als Bühnenpartnerin dabei kräftig auf die Sprünge. Im Leben heißen beide anders, sind aber ebenfalls ein Paar. Valentins Familienverhältnisse (Ehefrau, Töchter) neigen dazu, sich zu verkomplizieren; die politischen Verhältnisse ebenfalls. Auftritte im Dienst der Nazipropaganda schlägt er aus, Späße über Hitler werden ihm zugeschrieben, er streitet die Urheberschaft ab. Der Krieg zwingt ihn, München zu verlassen, Valentin versucht, sich als Scherenschleifer durchzubringen, sehnt sich an die Isar zurück. 1947, befragt zu seiner Haltung zum Nationalsozialismus, gibt der bemerkenswerte Mann, der den deutschen Groteskfilm begründen wollte, Charlie Chaplin bewunderte und sich intensiv mit Psychologie auseinandersetzte, ein bemerkenswertes Interview. So wird es kolportiert:

Ein Münchner oder Schweizer Journalist fragt: »Mitglied der Nazipartei waren Sie natürlich nie, Herr Valentin, oder?«

»Nein«, sagt Valentin, »aber wissen S’, zu mir sind’s gar nie gekommen.«

»Und wenn sie gekommen wären, Sie wären natürlich sicherlich nie Mitglied geworden.«

»Ja, dann schon, wissen S’. Dann schon! Aber die sind gar nie gekommen.«

Sprachlosigkeit seitens des Journalisten, verständnisloses, verlegenes Lächeln, Wut:

»Was? Sie? … Ah, machen S’ doch keinen Witz! Sie wären doch nie Mitglied dieser Verbrecherpartei geworden.«

»Ja, doch! Wenn’s sein müssen hätt natürlich, weil ich eben Angst gehabt hätt, wissen S’, Angst!«

Weiterführende Lektüre:

Georg Ringsgwandl, Lieder, Texte, Filme

Harold Pinter, Dramen (Dialoge)

Tania Blixen

(1885–1962)

© picture-alliance/Polfoto

Sie trug Hüte, zumindest wenn sie fotografiert wurde, wusste sich in feiner Gesellschaft zu bewegen, eine schlanke Gestalt, Kind aus gutem dänischem Haus, Zigaretten und Hunden zugetan.

Als Karen Christence Dinesen kam sie zur Welt, ihre Texte veröffentlichte sie unter zahlreichen Pseudonymen, auf dem deutschen Buchmarkt kennt man sie als Tania Blixen, im angloamerikanischen Sprachraum als Karen Blixen oder Isak Dinesen. Sie liebte Hans von Blixen-Finecke, Sohn einer Cousine ihres Vaters, doch wanderte der 1913 mit seinem Zwillingsbruder Bror nach Britisch-Ostafrika (Kenia) aus. Tanja und Bror heirateten. Offensichtlich neigten beide zu Verwechslungen: In der Nähe Nairobis kaufte Bror vom Geld der Dinesens eine Milchfarm, die sich als Kaffeefarm entpuppte; bald tauschte der Baron auch seine Frau gegen andere aus. Großwildjagd, Safari, Charme. 1915 steckte er Karen mit Syphilis an, sie wurde mit Quecksilber behandelt, später in Dänemark mit Arsen, und litt für den Rest ihres Lebens an den schmerzlichen Folgen dieser »Heilungen«.

Im Ersten Weltkrieg kämpfte Bror auf britischer Seite an der Grenze zu Tanganjika gegen die Deutschen; Karen brachte mehrfach Lebensmittel und Medikamente an die Front. Sie betrieb die Farm, wechselte die Vor- und Zunamen, malte und schrieb. Mit Hilfe der Familie Dinesen konnte sie das Kaffeeabenteuer selbst nach einem Brand der Farm weitertreiben, immer wieder hielt sie sich auch für längere Zeit im Familienhaus in Rungstedlund bei Kopenhagen auf.

1931 kehrte sie endgültig dorthin zurück. Den Zweiten Weltkrieg erlebte sie unter deutscher Besatzung in Dänemark. Als Hitler sich 1940 ihre Bücher signieren lassen wollte – sie war nach Berlin gereist –, schützte sie, immerhin, eine Erkältung vor.

Im Übrigen kochte sie gern und legte auch in Afrika Wert auf ausgesuchtes Tafelservice. Clara Selborn, langjährige Freundin Blixens, betont im Gegenzug, dass das angeblich handbemalte Porzellan (stets habe man sich in Dänemark über Blixens Reichtum ereifert) beim Kaufmann nebenan erstanden worden sei. Billige deutsche Ware!

Wenn man trank, erschien am Boden der Tasse – ein Schaf.

Weiterführende Lektüre:

Tania Blixen, Babettes Fest und andere Erzählungen

Tania Blixen, Briefe aus Afrika

Clara Selborn,Die Herrin von Rungstedlund. Erinnerungen an meine Zeit mit Tania Blixen

Marie NDiaye, Drei starke Frauen

Gottfried Benn

(1886–1956)

© DLA-Marbach

1905 durfte der Pfarrerssohn aus dem ländlichen Ost-Elbien, der das Gymnasium in Frankfurt an der Oder besucht hatte, endlich tun, was der Vater bislang verhindert hatte: Gottfried Benn begann in Berlin Medizin zu studieren. Aufgenommen hatte ihn die Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen; das Studium kostete fast nichts, im Gegenzug musste man sich verpflichten, für jedes Studienjahr ein Jahr als Militärarzt zu dienen. Benn war als diensttauglich eingestuft und wies knapp das nötige Körpermaß auf (170 cm). Ab Sommer 1912 diente er als Arzt bei einem Infanterie-Regiment in Berlin-Spandau, allerdings wurde er schon im März 1913 aus dem Dienst entlassen. Er war bei einem Ritt kollabiert. Der angebliche Grund: Wanderniere. Ein diffuser medizinischer Befund. Benn betont die Freiwilligkeit seines Ausscheidens; als Dichter ist er dank der 1912 veröffentlichten Morgue-Gedichte inzwischen (berüchtigt-)berühmt.

1914 zieht er in den Ersten Weltkrieg. Er hat Glück, wird schon im Oktober als Arzt in Brüssel stationiert und kehrt 1917 nach Berlin zurück, um seine erste Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten zu eröffnen. Das Muster wiederholt sich: Fast 20 Jahre später, 1935, flüchtet Benn sich in die Wehrmacht. Er selbst bezeichnet den Schritt als »eine aristokratische Form des Exils«. In dem Kapitel »Block II, Zimmer 66« seines biographischen Werkes Doppelleben berichtet er über seine Arbeit in der Rekrutenkaserne von Landsberg an der Warthe. Frisch Eingezogene, ganz Junge und ganz Alte, werden hier drei Wochen lang ausgebildet. »Dann, eines Nachts, wird angetreten mit Tornister, zusammengerolltem Mantel, Zelttuch, Gasmaske, Maschinenpistole, Gewehr – fast ein Zentner Gewicht – und fort geht es zur Verladung, ins Dunkle. Eine Kapelle, die man nicht sieht, führt vorneweg, spielt Märsche, flotte Rhythmen, hinter ihr der lautlose Zug, der für immer ins Vergessen zieht.«

Insbesondere auf späten Fotos blickt Benn melancholisch nachdenklich in die Welt. Zu diesem »dichterischen« Ausdruck trägt nicht unwesentlich das immer etwas hängende linke untere Augenlid bei. Bruder Theodor berichtet, dass Benn zu Weihnachten 1908 mit einer frischen Mensur im Elternhaus erschien. Ein Kommilitone hatte einen »vortrefflichen Durchzieher gelandet«, der den Knochen links vom Auge traf, die Nase halb durchschlug, das Lid verletzte. Der fromme Vater war bestürzt (wie sieht das in der Gemeinde aus); Gottfried erfand eine Lüge; der Gesichtsausdruck blieb.

Weiterführende Lektüre:

Holger Hof, Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie, Stuttgart 2011

Jahrbuch der Lyrik, hg. von Christoph Buchwald u.a., alle Jahrgänge seit 1979

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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