Kanalschwimmer - Ulrike Draesner - E-Book

Kanalschwimmer E-Book

Ulrike Draesner

5,0

Beschreibung

Dass er "zu sicher gelebt hat", begreift Charles mit Anfang 60, kurz vor seinem Ruhestand. Als seine Frau Maude ihm eröffnet, dass ein anderer Mann fortan das Haus mit ihnen teilen soll, setzt er ihrem Traum zunächst einen eigenen entgegen: einmal im Leben durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Das Wasser – stark, anziehend, gefahrvoll – verändert Charles' Sicht auf sein Leben: auf die drei Sommer der Liebe in den Siebzigern, menschliche Leidenschaften, gescheiterte Utopien. Mit beeindruckender poetischer und psychologischer Intensität, sinnlich und humorvoll erzählt Ulrike Draesner die Geschichte einer Kanalüberquerung, die äußere wie innere Grenzen testet. Ein Aufbruch im Alter, ist das möglich? Gelten die frühen Ideale noch – oder wieder? Der Kanal ist kalt, die Strömung mächtig. Am Ende wird Charles klar, dass er nicht über seinen Schatten springen muss. Er kann ihn durchschwimmen.

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InesRiege

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Wunderbares Buch und tolle Beschreibung des Projekts Kanalschwimnen.
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Ulrike Draesner

KANAL SCHWIMMER

Roman

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Autorin dankt dem Berliner Senat für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

© 2019 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung [M] mare, Foto: Jorge Lizana Photo / Getty Images

Typografie (Hardcover) mareverlag

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-371-2

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-288-3

www.mare.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Über das Buch

Mit mildem Gelb durchsetztes frisches Blattlicht fiel von der Böschung vor dem Küchenfenster auf Boden und Tisch. Durch die Decke klangen die Takte einer Chopin-Etüde. Freitagnachmittag, Klavierstunde Maude. Er war mit dem Zug von seinem Labor in Oxford nach Paddington gefahren, von dort dreißig Minuten weiter mit der Tube. Am Wochenende kam er nach Hause. So hatte seine Frau die Nummer 8, Portland Terrace, vom ersten Tag an genannt: Zuhause. Seit einem Jahr lebten sie hier.

Er brauchte einen Tee.

Irgendetwas in der Küche stimmte nicht.

Sie befand sich im Souterrain wie üblich bei viktorianischen Häusern. Als er seine Jacke – es war Juli, es herrschte die neue Hitze, aber ebenso herrschten die alten Wettergüsse und unberechenbaren Windschübe von der Nordsee die Themse herauf –, als er seine wasserdichte Jacke über den Stuhl an der Tür hängte, sah er, dass jemand den Magneten auf dem Kühlschrank, einen roten Doppeldeckerbus, umgedreht hatte. Der Bus lag auf dem Dach, die Räder ragten in die Luft. Statt der üblichen Einkaufsliste klemmte ein Brief darunter.

Oxford, 12. 11. 1978

Liebste Maude,

… kann nicht länger …

nie eine andere als Dich …

Abigail … unter Silas’ Bademantel … ich … mir … sicher

… diese Tage auf Sylt vergessen … Dir, wenigstens Dir …

Die Art …, wie sie endeten …

und wir wussten Dinge, die wir Stunden

zuvor nicht zu benennen …

Du sollst zwischen uns …, … frei …

ohne Lüge, … Dein Leben aufbauen … Ich musste es Dir

… Maude

Forever yours

Charles

Die waren verrückt.

Die: Seine Frau und ihr Liebhaber.

Seine Frau und sein bester Freund.

Maude und Silas.

Das Wasser in der Säulenanzeige des Kochers blubberte blau auf. Chopin Takt 1, 2, 3, 1, 2, 1, 2. Noch bevor er dazu kam, etwas zu denken, hatte seine Hand das Blatt in die Jackentasche gesteckt. Er sah sich in seinem Studentenzimmer sitzen, das Feuer im Kamin, zwei Drähte wie in einem Toaster, glühte rot, die Butter, die er auf dem Innenbrett des gotisch spitzbogigen Fensters aufbewahrte, blieb hart. Der Füllfederhalter hatte über das Papier gekratzt. Vierzig Jahre war der Brief alt.

Er rührte Milch in den Tee.

Er betrachtete den Plastiklöffel. Plastik wurde nicht heiß.

A bit crowded, his marriage.

Crowded, so zu dritt.

In seinem, Charles’, neuem Londoner Haus.

Please touch, der Raum schwirrt von Menschengeräusch. Zwei von Gerüsten gestützte Saurierskelette schwanken im Luftzug, den Unterkiefer eines Wals hat man gegen eine Säule gelehnt.

Er fährt so oft hin und her zwischen der großen und kleinen Stadt an der Themse, dass er um jeden Tag dankbar ist, an dem er nicht in einem der zockelnden Züge sitzt, nicht auf dem holprigen Oxforder Bahnsteig ankommt und mit hundert anderen über die aus dünnstem Metall zusammengestückte Fußgängerbrücke klettern muss. Und ist doch erneut Zug gefahren, gestern Abend noch.

Die Nacht hat er in seinem pied-à-terre verbracht. Es liegt nahe einer mehrere Hektar großen wilden Wiese, auf der Kühe und Pferde grasen. Seit viertausend Jahren, heißt es, wird hier nicht mehr gepflügt, Jogger und Hunde jagen über die Sandwege. Jetzt, im Sommer, riecht es nach Kuhdung, er fasst kaum, wo er lebt. Wie kann etwas so ländlich sein – grasig, dampfig warm, voller Insekten –, und dann läuft er zehn Minuten und steht in seinem Labor oder einem Museum wie diesem.

Fünf Wale, der kleinste ein Vorläufer des Tümmlers, der größte ein Entenwal, hängen von den silbergrauen Rippen der Decke. Oxfords Heimstätte der Naturgeschichte ist warm, hallt, mächtige Stahlbalken tragen das Glasdach, ein durch die Luft fliegendes Schiff der göttlichen Schöpfung, ein Traum von Unendlichkeit im Reifrock viktorianischer Ingenieurskunst. In dreißig Metern lichter Höhe ragen beinerne Köpfe aus sesselgroßen Halswirbeln, überdimensionierte, spitz zulaufende Unterkieferschlitten fahren auf scharfen Knochenkufen durch die Luft, während die Füße der 65 Millionen Jahre alten Dinosaurier dort, wo auch er steht, kräftig, zehig, breit die Erde berühren.

Cavity, sagt die andere Sprache, »Höhle«. Seine Faust passt in die cavity des Zahns, der im Unterkiefer des Wals fehlt. Don’t touch, fragile.

Er hat im College gelebt, zur Miete in den USA, später mit Maude in Deutschland. Das terraced house mit der edel schwarz lackierten Haustür ist ihr erstes eigenes englisches Heim. Er hat es der Küche wegen gekauft, wegen des böschigen Unterwasserlichts. Maude hingegen aus guten Gründen für die Bank. In seinem Beruf zählt er Zellen, »dem Geheimnis des Lebens auf der Spur«, so der Banner über dem Department am Open Day. Fünf Jahre hat er noch auf seiner Stelle, ein Wunder, dass man ihn zurückhaben wollte.

Er streift durch die Gänge der seltenen und ausgestorbenen Tiere, an Charles Darwin und Doppelhelix-Watson vorbei. Wesen klettern hin und her zwischen Wasser und Stein. Kriechen an Land. Blicken ihn aus übergroßen Augen an. Flugsaurier, zart wie Eidechsen, schade, dass sie nicht mehr auf dem Planeten umherstaken (ob sie ihre eckigen Beine auf Chamäleonweise gesetzt haben, bedächtig platschend – er muss dabei an kalte Makkaroni denken). Es wäre seltsam, ihnen beim nächsten Spaziergang in den Cotswolds, wenn ein Kaninchen aus der Hecke springt oder Rehe zu einer Waldinsel wechseln, in der Dämmerung zu begegnen. Saurier gehören zu den Vögeln, sagt das Schild, ursprünglich eher zart gebaut, und für Sekunden scheint ihm die Wirklichkeit eben das, ein hübscher, wendiger Springsaurier, gebaut aus Gewohnheiten und Halbwissen, immer schon vorbei, wenn du ihn zu greifen glaubst. Seinen Brief, als wäre er eine Einkaufsliste, mit dem umgestürzten Doppeldecker an die Kühlschranktür geklippt.

Oxford, November 1978: Liebste Maude.

Tinte, sein alter Montblanc.

In Dinosaurierzeit sind vierzig Jahre nichts, in Oxfordzeit fast nichts, in Lebenszeit viel, in Charles’ Zeit mit Maude alles.

Dass sie den Brief aufgehoben hat, hätte ihn unter anderen Umständen gefreut. Er weiß natürlich, warum sie die Zeilen hervorkramen musste, jetzt, wo Silas bei ihr ist. Silas, der alte englische Freund, der sie schon in Düsseldorf regelmäßig zwischen seinen Reisen besucht hat, Silas scheint mit einem Mal nicht mehr viel unterwegs zu sein. Hat er überhaupt noch seine Wohnung in Bloomsbury, oder wohnt er schon bei ihnen? Bei Maude?

Die Scham brennt nicht im Gesicht. Nicht im Nacken.

Er ist ja nicht dort. Er ist weggerannt. Als wäre er ein Eheanfänger. Ein Krisenanfänger. Dabei ist vierzig Jahre lang alles gut gegangen, aus seiner Sicht.

Die Scham brennt nicht, sie ist ein Klumpen, der wie ein Ball zwischen seinen Rippen rollt.

Der Baumeister hat die Seitenschiffe des Museums in die Mitte geklappt und das gesamte Gebäude auf spitze, glasige Weise zusammengeschoben, sodass das Licht bester technischer Laune farblos und kristallen auf die versammelten Tiere fällt, unter denen einzig die Hominiden sich noch regen. Selbst samstags werden Kinder in dunkelblauen Pullovern mit lila Bordüre am Ausschnitt, die Mädchen in blauen kurzen Röcken und Kniestrümpfen, immer ein Stück Haut zu sehen, durch die Gänge geführt, auf und ab, als fädelte man sie in einen Stoff. »Was finden wir auf der Welt?« »Wo kommst du her?« »Was ist normal?«

Wieder erstaunt ihn, dass die Umgebung der Stadt in diesem Maß voller Fossilien steckt: erstarrte Sauriertritte, gigantische Hüften, die zugehörigen Schädel wie aus Hühnerknochen gefügt, vergleichsweise zerbrechlich und fein. In beeindruckender Front schoben die farnfressenden und panzerknackenden Schönheiten, die Erfindungen aus Urschleim, die Kleinhirne und Erst-Lungenträger, die Wahnsinnigen des Wassers, die Revolutionäre der Luft, die schwer schaukelnden Pioniere des Gehens, die ersten und tiefsten Urtümer des Planeten sich aus ihrer Heimat, dem Schlamm.

Für dich finden wir auch ein Zuhause, hatte Maude gesagt, als sie von Düsseldorf nach England zurückgekehrt waren, nach drei Jahrzehnten auf dem Kontinent, zurück in das nicht wiedererkennbare Land, in dem er, Charles, aufgewachsen war, in das sie, Maude, gehörte. Ganz, sagte sie. Und er, Charles, doch ebenfalls!

Halb, sagte er.

Ein Zuhause für Maude. Maudes englisches Ich.

Als er im Museumsladen steht, der offen an die königliche, in Analogie zu einem Gewächshaus gedachte Knochenhalle anschließt, und aus Gewohnheit etwas für sie kaufen will, schielt der weiße Hase aus Alice im Wunderland ihn an.

Mitbringsel verschenkt man, um Zeit zu teilen, die man nicht miteinander geteilt hat. Was macht man mit Mitbringseln, wenn man die Zeit ohnehin nicht mehr teilt?

Er starrt auf den Hasen und sucht nach dem englischen Wort für »ausgestopft«.

Aus der Scheibe blickt ihm ein entschlossen wirkender Mann entgegen, der etwas von einem Vogel an sich hat, irgendein Haarschopf ragt immer nach oben, und die Augen, rund, hinter der halbhohen Lesebrille versteckt, glitzern. Er findet, dass er aussieht wie eine Krähe, der man einen Drahtkleiderbügel überlassen hat. Nun mach daraus ein Nest! Maude liebte Tierdokus, sie hatte ihm den Clip vorgespielt, jüngst.

Etwas in ihm ist verloren, er hat das Musikhören aufgegeben, vielleicht, weil seine Frau Klavier unterrichtet. Leider nimmt er sich das selbst keine Sekunde ab. Sie haben eine Auszeit vereinbart, vorerst; er vermisst Maude, weiß wieder, was das ist. Licht fällt durch die Halle, das Glas eines vergangenen Jahrhunderts, erdacht am Ende des vorletzten, ein Traum von Einheit und Harmonie, als die Welt, umsponnen von dem Glauben an sicheres Menschenwissen über die Natur, auffunkeln wollte. Ein Wissen, das man einfing, indem man Tiere tötete und geschmolzenen, mit Farben vermischten Quarzsand auf ihre Schädelknochen klebte, als Auge. Er zählt nun chemische Elemente und den Ablauf von Zeit in Zellprozessen, die mit der Verarbeitung visueller Reize vor dem Bildschirm zu tun haben. Wie schnell wird auf Ja oder Nein oder einfach auf Weiter geklickt?

Er mag Silas. Er kennt ihn. Silas, sein härtester Konkurrent, sein Trainingspartner im Schwimmclub von Camden, sein Ansporn, sein Trost.

Noch einmal geht er los, an dem kleinsten der Saurier vorbei, fragil und schutzbedürftig wie eine vorweltliche Pflanze, die, reduziert auf ihr Skelett, zu ihrem eigenen Muster geworden ist.

Bis etwas sein Auge fängt. Yes, it catches his eye. Ihre Schönheit nimmt ihn gefangen, und eine Idee nimmt Gestalt an in seinem Körper, während er vor dem Plakat verweilt, auf dem sie an Land kriechen. Tropfend, fest, mit erstauntem Blick.

Er steht unter dem kleinsten, sieht, von hinten, tief in all ihre Brustkästen hinein. Gehalten von unsichtbaren Drähten, schweben die fünf Walskelette unter der Decke, als wollten sie, der Größe nach geordnet, einander durch die Lüfte verfolgen. Kopf an Schwanz jagen sie dahin, die knöcherne Spur eines unsichtbaren Plans. Ein wenig scheint in der vom Boden aufsteigenden Körperwärme der Besucher der gelbbeige, wie eine Stimmgabel gebogene Unterkiefer des mittleren zu vibrieren. Charles möchte meinen, selbst halb Gespenst, verborgen, vom Grund eines eisigen Ozeans den geheimen Flug einiger Meergeister zu beobachten; für selige Sekunden glaubt er, in der Kristallklarheit des Mittagslichtes ihre Stimmen zu hören: Mit ihren langen, scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen davon, was es heißt, nicht der zu sein, der man scheint.

1

Weiße Pferde: Wind exakt gegen die Tidenrichtung, merklicher Wellengang, die Kämme hell geschlagener Schaum.

Hinter dem Dunst zeigte die aufziehende Sonne sich als Strahlenumriss. Silbern geränderte, flockige Wolken hingen weit unter dem Zenit, wenn auch hoch über dem Kanal, der grün und grau, körnig bestäubt, das fallende Licht zurückwarf in die sich allmählich hellblau färbende Himmelswölbung. Gelassen hob sich vor dem Cliff, auf dem Charles die Muskeln dehnte, die Welt in den Tag.

Seegang, Grundform eins: Der Wind blies in die Richtung, in die die Tide das Wasser drückte, lang flossen die Wellen dahin. Brendan, Schiffsführer, Lebensversicherung, offiziell anerkannter Erklärer der Glitzerplatte, nannte dieses Wunschwetter »Unwahrscheinlichkeit«. Wirklichkeit war Form drei: chaotische See. Der Wind wehte seitwärts gegen die Gezeitenströmung, Welle, Kaventsmann, Übelkeit. Gern auch für den Schwimmer. Für den besonders. Do you mind?

Halb sieben Uhr morgens. Das Cliff-Top-Restaurant servierte Nescafé zu halb kaltem Labbertoast. Britannien. Hier fing es an, hier hörte es auf.

»I don’t think you should take whitener«, sagte der alte Mann zu der älteren seiner Begleiterinnen. Alle drei saßen an dem Holztisch Charles schräg gegenüber. Lila Pullover, Stock, Blick auf den wässrigen Ärmel, sagte: »Meine Zähne sind exzellent«, und tunkte den Haferkeks ins Heißgetränk: »Weiße Pferde heute, die See!«

Wach waren zu dieser Morgenzeit nur Möwen, Alte und Schwimmer. Die Vögel, Wesen, durch deren Adern Blut floss statt Tee, hatten sich in Felsnischen versteckt, aber lieferten das übliche Geschrei. Hauchdünne Schleier hingen zwischen Wasser und Himmel, eine Einsamkeit, durch die Rinnsale zogen.

Der Weg zum Strand begann zwischen den Sitzbänken. Charles steckte sich das Telefon in die Jackentasche, um besser ausschreiten zu können. Die Henry, Brendans Schiff, war, so die Real-life-Crossing App, nach dem gelungenen swim dieser Nacht auf dem Weg zurück in den Hafen von Dover. Der nächste Kandidat auf der Liste: er. Sich übergeben, zittern, weiterkraulen: Schwimmer sein. Schwimmer zwischen Riesentankern, Fähren, Jachten, Kreuzfahrern in der befahrensten Wasserstraße der Welt. Schwimmer, der nichts trug als eine kurze Hose, Brille und Kappe, ein nach Luft schnappender Kopf, von einem Begleitboot aus dirigiert und gefüttert auf seinem vierzehn oder siebzehn oder fünfundzwanzig Stunden andauernden Weg durch die Straße, den Ärmel, den Jet.

Links und rechts von ihm stiegen die senkrechten Felsen gegen die Atmosphäre, gigantische Kreiden, zu Tafeln zusammengeschoben. Englands Ende, Englands Anfang. Dir auch noch ein Zuhause, hatte Maude gesagt. Sicheren Schrittes joggte er über den Schotter zwischen den leeren Flächen. Sollte er seiner Frau ein Stück Kreide schicken, bevor er losschwamm? Schwarze Adern aus Flint zwischen weiß bröckelnden Höckern, sein letzter Brief! So schön pathetisch. Das Stück, das sich löste, als er mit der Handkante ein paarmal gegen den Felsen schlug, glich der Schnauze eines Maulwurfes. Blind in all seinem Weiß.

Der Kreidebruch kollerte den schottrig-steilen Weg hinab, blieb liegen. Auf den beiden Webseiten der Crossing Clubs, die ihre Kanaldienste anboten, poppten eine um die andere die Überquerungen des Morgens auf. Mithilfe einer Stange würden sie ihn füttern wie ein Tier im Zoo. Am Greifer hinge eine bereits geöffnete Tüte Energy-Gel, Geschmacksrichtung Ananas oder Zitrone. Ananas schmierte gleich noch die Lippen. Unverdrossen hatte sich letztes Jahr einer das Zeug Stunde um Stunde mit einer überdimensionierten Spritze in die Kehle gejagt. Das war so harmlos aufregend, dass es am Strand unter den Schwimmkandidaten dieses Sommers dauererzählt wurde. Mit jeder Wiederholung wuchs die Spritze, wozu war man an der See.

Schließlich.

Endlich. Oder was immer dieser Kanal war.

Unter keinen Umständen durfte der Kandidat die Fütterstange berühren.

Charles hatte sich Erdbeer, Pfirsich, Vanille besorgt.

Strömung gegen Mannkraft plus Wind plus your mind, sagte Brendan: »Geisteskraft«, gleiches Recht.

Schließlich oder endlich oder letztendlich: das Meer. Fische, schon gefangen, wuchsen noch in der Hand, Wasser und Firmament füllten sich wie von selbst mit flüchtigen Figuren, die Luft rauschte, schade, dass man ihr Gemurmel nicht verstand. In der mit Sand aufgefüllten Bucht des Kieselstrandes saß trotz der frühen Morgenstunde bereits eine Familie. Zwei Erwachsene in Hoodies und Decken, die spürten die kurze Nacht. Ihre beiden wackelig laufenden Kinder, halb nackt und noch so klein, dass sie nicht wussten, was Schwimmen war, weil sie es noch nicht vergessen hatten, spürten und hörten Gott weiß was.

Morgen wollte er um diese Sonnenzeit unterwegs sein, morgen, spätestens übermorgen, am liebsten sogleich. Über ein Jahr lang hatte er sich vorbereitet, den Winter hindurch nach striktem Plan zur Kälteabhärtung im Fluss und ab Mai jedes Wochenende im Hafen von Dover trainiert. Jetzt, Mitte August, war der Kanal maximal warm, 17,2 Grad.

Der Ärmel, die Brühe, der Dreck.

Fast wäre er über den Jungen in einem Bärenanzug gestolpert, der in einem Tangnest wühlte und »Osterei« juchzte, beide Hände fest um ein Stück Plastik gekrallt. Feistes Gesicht, verschmierter Mund. Charles fiel in Trab. Kein Kind suchte mehr Muscheln. Styropor wollten die kratzen, Folien kauen. Die Wolken baumelten vom Zenit wie aus dem Meer gerissener, lachender Pelz. Kunstpelz, Schaum. In Sekunden wechselte, was wirklich war.

Er war zweiundsechzig, er arbeitete an seinem letzten großen Forschungsprojekt, er musste langfristig daran denken, sich ersetzbar zu machen. Die Tage außerhalb des Labors zerliefen ohnehin wie Brei, seit er nicht mehr in der Unterwasserlichtküche wohnte. Dreizehn Monate war sein Auszug aus Portland Terrace inzwischen her. Er hatte dort ein paarmal, nach Anmeldung, Sachen geholt. Irgendwann im Herbst hatte Silas eine Nachricht geschickt, sie sollten sich auf ein Bier treffen. Fünfundfünfzig Jahre Silas, siebenunddreißig Jahre Ehe mit Maude, ein Bier.

The Channel hatte ihn gerettet. Trainingsschema, messbare Fortschritte nicht in Versuchsreihen, nicht in den Karrieren seiner Studierenden, sondern an ihm. Dort, wo er unfraglich er selbst war: in Muskeln, Pulsschlag und Fett.

Brendan hatte ihm beigebracht, Seekarten zu lesen. Aus fünf Rinnen bestand The Channel – La Manche: Hoheitsgebiet England, Fahrrinne Südwest, Trennstreifen (= Zone), Fahrrinne Nordost, Hoheitsgebiet Frankreich. Die »Autobahnen« links und rechts des Niemandslandes Z nahmen jeweils fast zehn Kilometer ein. Containerschiffe, Riesenkreuzfahrer, Frachter und Fähren. Rinne Südwest führte an der englischen Küste entlang in den Atlantik hinaus, ihr Gegenstück vor dem französischen Landstreifen leitete ins nördliche Meer. Quallen blähten sich überall, in Haufen, einzeln, quer, das nannte sich Recht der Natur. Für die Quallen, insbesondere jene mit Nesseln, war es ein ausnehmend erfreuliches Jahr.

Er schleuderte einen Kiesel Richtung Wasser. Die Route musste der starken Gezeitenströmungen wegen in zwei Bögen angelegt werden, meist kam während der Überquerung ein dritter hinzu; an der grauen Nase, Cap Griz-Nez, wo das französische Land dem englischen Schwimmer entgegenzukommen schien, wo jeder anlanden wollte, traf kaum einer der Kaltwasserhelden ein. Wolken hatten die Klippen mit stumpfem Grau überzogen, flach wie in einem Videoclip mit Zeitraffer fetzten die Ballungen dahin, bösartig, lächerlich.

20,7 Meilen, engste Stelle, größte Nähe zwischen Insel und continent. Er würde sich einreiben dürfen. Kaufen Sie den Maxibecher am Varne Ridge Caravan Park. Fünfzig Prozent Lanolin, fünfzig Vaseline.

Schwimmhose, Schwimmbrille, Kappe.

Schultern nackt, so das Reglement.

So you really … don’t mind?

Die Jüngeren unter den Kanalüberquerern sorgten sich darum, dass ihr Pilot alle fünfzehn Minuten ein Foto postete und die eingehenden Kommentare der Freunde für Wassermann wie Wasserfrau aufs Whiteboard kritzelte. Charles würde sein bisschen Wasserechtheit nicht ins Netz füttern. Er brauchte es selbst.

Maude: You don’t mind, do you?

Silas: C’mon, old chap. The three of us.

Ruhig hatte er sich den Ruhestand gedacht: Buch schreiben, zu Vorträgen reisen, mehr Zeit verbringen mit Maude.

Da hatte sie ihm die Kontrolle entwunden, mit einem Lächeln. Es war so leicht. Und nicht einmal das Lächeln galt ihm.

Wann brach eine Zukunft zusammen?

Lautlos jedenfalls.

Der nächste Stein, er warf ihn nach einer Möwe, blitzte auf. Für einen Augenblick hatte also die Sonne geleuchtet? Mitunter bemerkte man das in England erst, wenn der drizzle genannte Regen von Neuem einsetzte. Das war so lächerlich wie seine Lebenssituation.

Im Übrigen war es laut. Er hatte Dovers Hafen erreicht. Ein Himmel voller Flugzeuge im Sinkflug spannte sich knapp über Wasser und Städtchen. Flaute seit Jahrzehnten. Schiffsführer, Crews und Schwimmer starrten aufs Meer; Hoteliers, B&B-Betreiber und Pubeigentümer starrten auf die Starrenden. Jede Gruppe redete über das Wetter und erhoffte sich das Gegenteil dessen, was die andere wünschte. Geschirr klapperte, der Wind rüttelte an den Fenstern. Statt mit den Zähnen zu klappern, stapfte man, dass die Kiesel nur so klickerten, über den Swimmers’ Beach am Ende der Marina und klatschte sich Vaseline auf jedes nackte Stück Haut, das man erwischte. Mittags wie abends trafen sich Kandidaten, Kandidatenanwärter und Veteranen im White Horse, wo die Wände, als wären sie Kreidefelsen, Ritzzeichen trugen: Datum der Überquerung, Name, Spruch.

»Mister Charles!« Der Stimme von Mr. Prim schwebte lautlos Mr. Prim hinterher, ein kleiner Mann mit einer riesigen Nase, so knollig und rot, als kochte er sie jeden Morgen in seinem Teewasser mit. Charles nahm einen Becher mit Extrazucker, weil er ein Mann war, seinetwegen auch nur ein Mensch, also Süßes brauchte. Prim rieselte ihm zwei Löffel ein. For you, love!

Love! Charles war love, Kandidat, Maus. Man nannte sich hier beim Vornamen, mehr wusste man voneinander nicht.

Man zeigte sich. Als Körper.

Alles andere versteckte man.

Auf »Leben und Tod«. »An einer Grenze« etc. Das wurde heruntergerattert für die Presse, für das Netz. Im Denken herrschte Flaute vor dem swim; gern auch in der Woche, ach was, in den Jahren danach, feixten die Alten. Das Gefühl trafen die Floskeln ohnehin nicht.

Charles schlürfte. Das durfte man nicht am Tisch mit Maude (= ohrenempfindlich), wohl aber hier. Der erste Schluck Tee des Tages. Als er die Lider wieder hob, war der Strand weich, gluckernd blau der Kanal. Insektenbeindünne Sonnenstrahlen wärmten seine Arme. Ja, das war der Morgen: Die Verbindung zwischen Wasser und Firmament löste sich, es entstand Platz für Menschen und Tee und teesüchtige Möwen. Schaumweiß, der Schnabel von plastikhaft leuchtendem Gelb, landete eine neben seinem Fuß. Mr. Prim füllte ihm die Tasse nach, die Möwe schaute aufmerksam zu, da knallte es.

Man war taub oder hasste sie; noch mehr wurde sie geliebt. Freda, the Queen! Sie war mythisch und historisch. Stadt, Strand, Ruhm war sie obendrein. Und praktisch: ein Viereck, das zu rollen verstand, umwickelt von lilagrauem Vlies, umhüllt von Zigarettengeruch. In gebührendem Abstand folgte ihre Trainingsgruppe, kurz FORCE (Freda’s Organ of Robust Coercive Exercise). Zwangsübung! Ihr Gesicht schwamm zu den Rändern hin breit auf, während Augen und Nase aufeinander zusteuerten. Der Mund machte beide Bewegungen mit, in der Mitte geschürzt, außen fischweit, den zerriss es bald.

Fredas Mund war Fredas Design. Er war neu. Laut zählte er, sprich sie, die Trainierenden in die See hinein. Und später, sehr viel später, wieder heraus. Das war englisch gedacht und ausgedrückt, und ebenso wurde es auch getan. Die Königin des Strandes, ehrenamtliche, selbst ernannte Schwimmhelferin, Mutter des Querens, klappte den Elektrokocher auf, füllte in null Komma nichts Tee in Thermosflaschen, brüllte cup a pound über den windigen Sand und vernichtete Mr. Prim mit einem Seitenblick. Handtücher verlieh sie ebenfalls. Kommerztrieb, Schäfchenimpuls, Charity, hier waren sie eins. Und das Weiße dort rechts, hinter der Hafenmauer, war die Henry V? Fredas Tochter hatte 1990 die Wasserader in drei unmittelbar aufeinanderfolgenden Runden durchquert: nach Frankreich kraulen, umdrehen, nach England kraulen, umdrehen, zurück nach Calais. Kraulen, kriechen, kotzen, vierunddreißig Stunden, vierzig Minuten, your Mum’s so proud of you.

Eine Jungmöwe hackte mit dem Schnabel in Fredas Cremetopf. Ergebnis: panisches Flattern, Möwe im Kopfstand, Beine und Schwanz in der Luft, Schnabel festgeklebt. Gelächter sprang von Mund zu Mund, kollerte über den Strand. Freda packte das senkrecht in die Luft stehende, wie im Sturz gefangene Tier am Bauch, zog es heraus, opferte ein Handtuch und wischte der völlig perplexen Möwe den Schnabel ab.

»Das macht selbst die dümmste Möwe nur einmal.«

»Das ist Darwin, live!«

Die Force klatschte, der Vogel torkelte davon. Charles fühlte sich mit jeder Minute besser. Fredas neue Lippen waren aus Silikon, leicht rosa »von Natur«. Selbstverständlich kaufte er ihr einen Becher Tee ab; als Gegenleistung stülpte sie ihre Unterlippe um, damit er die Naht sah.

Die alten Lippen hatte die Seebrise weggefressen. So über die Jahre hin. Weil alles hier sein Bestes gab.

Auf Bestleistung würde der Motor der Henry V tuckern, der Wind pfeifen, das Meer klatschen, branden, brausen, what have you.

Und was wollte er?

Fredas Hände fuchtelten vor seiner Nase: Keine Ahnung habe er, Charly, von nix. Wie sie ihre polierten Krällchen nach ihm spreizen und ihm den mit Vaseline eingeschmierten Hals verdrehen würden.

»Wer?«

Oh, wie reizend er war!

Sie? Die Stimmen, sagte sie, die Halluzinationen, die untergegangenen Ichs! Oder?, meinte Freda, Große Mutter von Spuk und Gespinst, nur dass das mit Nixen, Jungfrauen, Frauen bekanntlich so eine Sache war. Wie mit der See.

Klein sah der Kanal auf Karten aus, nicht mehr als ein Sträßchen, ein Äderchen, ein silberner Wurm. Am Strand indes wusste man Bescheid: Hier kraulst du den Mount Everest hinauf. Nur länger (= Darwin live).

Den Achttausender erklommen inzwischen mehr als drei Menschen am Tag; den Channel überquerten in solo swims maximal achtzig pro Jahr. Fast in jeder Saison kam es zu Todesfällen, auch wenn das Reglement streng gehandhabt wurde und man nur in Begleitung eines Bootes überhaupt aufbrechen durfte. Wie die Kreiden nun glänzten! Das Gewirr aus dem Lot geratener Felsen drückte den Morgenhimmel über dem Städtchen zu einer Beule auf.

Do you mind?

Er hatte die Schuhe auf den Abtreter gestellt, Sampo, den Setter, gestreichelt. Durch den Türspalt sah er sie auf dem Sofa, eng beieinander hinter einem Notebook. Im Verhältnis zu Nase und Mund fielen Maudes Stirn und Kinn klein aus. Dass es hübsch wirkte, war ihrem welligen Haaransatz zu verdanken. Er spürte noch, wie gebückt er dagestanden hatte, die Klinke in der rechten Hand, ein halber Körper, der halbe Körper sah. Maude hatte ihre nackten Füße (sie trug nie Strümpfe zu Hause) unter Silas’ Schenkel geschoben. Die beiden übten, hieß es, für ein Konzert, sie hörten Musik, unterhielten sich. Charles stand die meiste Zeit im Labor und roch, wenn er nach Hause kam, nach Chemie. So Maude. Lange hatte er geglaubt, sie verstecke hinter ihrer Fröhlichkeit, dass sie Hazel vermisste, die in Deutschland geblieben war. Maude saß die Woche über, während er in Oxford arbeitete, allein im Haus. Leeres Nest. Das hatte er sich schön zurechtgelegt. Nichts hatte sie vermisst!

Silas’ Oboe lag auf dem Klavier. Ein Körper für Finger, ein Körper mit Klappen und Zügen. Maude war in London aufgeblüht. Silas’ Freunde nahmen sie und die Musik umgehend in ihre Kreise auf. Mit Handkuss. Das hatte sie ihm mehrfach erzählt. Die Abkoppelung der Briten von Europa störte sie nicht. Sie hatte ihre Zeit auf dem Kontinent gehabt, sagte sie. Charles hatte widersprochen, wie konnte man nur so egoistisch sein. Irgendwann müsse man damit anfangen, sie sei sechzig, hatte seine Frau erwidert, »ich bin jetzt dran«.

Damals, in der Tür, bemerkte sie ihn nicht. Nur Silas’ Augen folgten ihm, als er sich zurückzog.