Hell wie das Licht - Jutta Besser - E-Book
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Hell wie das Licht E-Book

Jutta Besser

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Beschreibung

„Was für ein schönes Fleckchen Erde!“ Anna blickte zu der über dreitausend Meter in den klaren Himmel aufsteigenden Erhebung hinüber. Eine grandiose Kulisse für den Beginn eines neuen Lebens. Annas Leben steht Kopf: Die Sehnsucht nach Cowboy Jeff treibt sie vom verregneten Hamburg in die endlosen weiten Wyomings. Auf einer einsamen Ranch, meilenweit von der nächsten Ortschaft entfernt, wird sie Jeff endlich wieder nahe sein. Doch schnell holt sie die erbarmungslose Realität wieder ein: Der eiskalte Winter, Blizzards und Raubtiere zerstören die anfängliche Romantik und zehren an Annas Kräften. War der Umzug in den rauen Nordwesten Amerikas wirklich die richtige Entscheidung? Ehrlich, packend und dabei immer überwältigend schön: Die Landschaft Wyomings und eine Liebe mit vielen Hindernissen.

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Über dieses Buch:

Annas Leben steht Kopf: Die Sehnsucht nach Cowboy Jeff treibt sie vom verregneten Hamburg in die endlosen weiten Wyomings. Auf einer einsamen Ranch, meilenweit von der nächsten Ortschaft entfernt, wird sie Jeff endlich wieder nahe sein. Doch schnell holt sie die erbarmungslose Realität wieder ein: Der eiskalte Winter, Blizzards und Raubtiere zerstören die anfängliche Romantik und zehren an Annas Kräften. War der Umzug in den rauen Nordwesten Amerikas wirklich die richtige Entscheidung?

Ehrlich, packend und dabei immer überwältigend schön: Die Landschaft Wyomings und eine Liebe mit vielen Hindernissen.

Über die Autorin:

Die Autorin, Fotografin und Grafikerin Jutta Besser, geboren 1955 in Essen, arbeitete für verschiedene Verlage und Fachzeitschriften. Beruflich wie privat gilt ihre größte Leidenschaft den Pferden. Sechs Jahre lang trainierte sie Rennpferde und veröffentlichte einen sehr erfolgreichen Bildband über Vollblutpferde. Sie hat zahlreiche Auslandsreisen unternommen, unter anderem auch nach Asien und in die USA. Dort hat sie dem Pferdeflüsterer Monty Roberts über die Schulter geschaut und Cowboys bei der Arbeit geholfen.

Von der Autorin sind bei dotbooks bereits erschienen: „Weit wie der Himmel“ und „Jenseits der Prärie“.

Die Website der Autorin: http://www.jutta-besser.de/

***

Neuausgabe Juli 2014

Copyright © der Originalausgabe 2003 Scherz Verlag, Bern

Copyright © Jutta Besser

Copyright © der  Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © konradbak / fotolia.com

ISBN 978-3-95520-051-0

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Jutta Besser

Hell wie das Licht

Roman

dotbooks.

Für meinen Mann Hans, der mit mir durch Wyoming reiste, der das Essen über dem Feuer zubereitete, während ich tippte, und der mit mir zusammen Rinder und Pferde durch die Prärie trieb.

»Ich wünschte, die Menschen würden verstehen, dass alle Dinge ein Ding sind. Egal, ob Mensch, Tier, Insekt oder Pflanze. Selbst unbelebte Objekte wie Felsen oder Staub – sie sind alle Teil eines großen Ganzen.«

Jim Jarmusch (Regisseur und Schauspieler)

1

Es gibt Momente im Leben, in denen es uns scheint, als ginge eine Epoche zu Ende und eine neue beginne, ohne dass irgendjemand außer uns Notiz davon nimmt. An einem solchen Punkt befand sich Anna, als sie in der letzten Woche des Monats April die Gardinen ihres Schlafzimmers zurückzog.

Es war noch dunkel, und die wenigen Autos, die vorbeifuhren, gaben ein Zischen auf dem nassen Asphalt ab. Es regnete. Nichts Besonderes für diese Jahreszeit im Norden Deutschlands und nichts Ungewöhnliches in Annas Ohren. Heute jedoch war das Geräusch klarer und bedeutsamer als sonst und ließ eigene Bilder entstehen.

Übermüdet und dennoch hellwach schlüpfte sie in ihre Badelatschen, strich ihr Haar hinter die Ohren und schlurfte in die Küche. Die Kaffeemaschine hatte sie bereits am Vorabend gefüllt. Sie musste nur den Schalter nach links schieben.

Beim rauen Gurgeln des aufkochenden Wassers dachte sie an den Hassayampa River, und der Geruch des stark gebrannten Kaffees ließ das deftige Cowboyfrühstück im Ranchhaus lebendig werden. Sie hatte ihn aus Arizona mitgebracht, um die Erinnerung wach zu halten.

Nachdenklich ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich erschöpft von den unruhigen Nächten in den Sessel fallen. Möbel, Bücher, Souvenirs und Poster, alles um sie herum, selbst die belanglosesten Gegenstände gewannen im Zuge des bevorstehenden Abschieds an Bedeutung. Sie dachte an ihre Freundin Lisa, die ihre Wohnung mit allen Möbeln übernehmen würde und die sie um ihr Glück beneidete. Dabei fiel ihr Blick auf die gepackten Koffer. Lediglich einigen Fotos, Büchern und Erinnerungsstücken hatte Anna einen Platz in ihren zwei großen Koffern eingeräumt, die sie ins Cowboyland Wyoming begleiten sollten. Der weitaus größte Teil war praktischer Kleidung vorbehalten: T-Shirts, Jeans, Flanellhemden, dicke Pullover, Stiefel und natürlich ihre langen Cowboychaps.

Sie beobachtete ihre pausenlosen Gedankensprünge und lauschte dem nicht enden wollenden inneren Geschwätz, das sie zwischen Vorfreude und Bedenken, Sehnsucht und Abschiedsschmerz wie ein Stück Papier im Wind hin und her flattern ließ.

Sie reiste in Sekunden von Hamburg nach Arizona und von dort nach Wyoming.

Schon eine ganze Weile war sie nicht mehr dort, wo sie ihre Füße aufsetzte. Ihr Geist war die meiste Zeit damit beschäftigt, Bilder einer Gegend zu entwerfen, die sie nicht kannte, über die sie jedoch so viel gehört hatte, dass ganze Filme vor ihrem inneren Auge abliefen. Und immer wieder dachte sie an Jeff, an die gemeinsamen Ritte, an seine stillen Umarmungen, seine zärtlichen, wissenden Hände. Nie zuvor hatte sie sich derart auf einen Mann eingelassen. Nun gab sie sogar ihr Zuhause und ihren Job auf und damit ihre Selbstständigkeit. Denn sollte sie enttäuscht zurückkehren, wäre nichts wie vorher. Das Leben, das sie aufgab, würde nicht einfach auf sie warten.

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und erhob sich. Jeff hat Recht, dachte sie, man spürt das Leben am intensivsten, wenn man nicht weiß, was der nächste Tag bringen wird. Er liebte dieses Gefühl, an das sie sich erst gewöhnen musste.

Sie goss den schwarzen Kaffee in den Becher mit dem aufgedruckten Foto eines Pferdes. Ja, dachte sie, Whistler, Jeffs damaliges Pferd, das sich bei einem Ritt in die Wildnis schwer verletzte. Die Bilder dieses Unfalls liefen bei jedem ihrer tierärztlichen Eingriffe ab und machten deren oftmalige Vermeidbarkeit noch deutlicher. Und immer wieder sah sie Jeff in dem Jeanshemd, dessen Ärmel sie abgeschnitten und um das aufgerissene Pferdebein gebunden hatte. Sie sah den Fluss, den Berglöwen, sie sah Jeff, wie er von seinem Ritt zum Hassayampa zurückkehrte, mit einem Lächeln unter seinem staubigen Hut, das ihr endlich die Gewissheit seiner Zuneigung gab. Dort, in der Wildnis Arizonas hatte sie alles über das Leben gelernt. Sie hatte die Wirklichkeit erfahren.

Als sie aus Arizona zurückgekehrt war, schienen die Tage stillzustehen. Die Sehnsucht nach Jeff machte jede einzelne Stunde zu einer Ewigkeit, und die arbeitsreichen Tage in den Reitställen schienen nicht enden zu wollen. Erst kurz vor dem Aufbruch nach Wyoming hatte das Leben eine ungeahnte Beschleunigung erhalten.

Anna trank ihren Kaffee aus und stellte den Becher in die Spüle. Sie blickte auf die Uhr. Kurz nach acht. Gegen drei Uhr sollte sie im Reitstall zur offiziellen Arbeitsübergabe erscheinen, und vorher musste sie alles gepackt haben. Sie würde ihrem Pferd ein letztes Mal den Hals streicheln und den Abend mit ihrer Mutter verbringen, die zu ihrer Verabschiedung aus Kassel gekommen war und bei einer Freundin wohnte.

Das Aufgeben all ihrer Bindungen dämpfte die überschwängliche Vorfreude auf alles Zukünftige. An diesem Tag schien ihr jeder Schritt nach vorn wie ein unfreiwilliger Tritt auf die Bremse. Es war der Tag der Zweifel und Ängste. In drei Tagen würde sie mit einem Mann Rinder und Pferde züchten, den sie vor gut einem halben Jahr auf der Jesus Canyon Ranch in Arizona kennen gelernt hatte. Und sie wusste, dass er ein unstetes Leben geführt hatte.

Sie ging ins Wohnzimmer zurück, suchte die Country-CD von Mary Chapin Carpenter heraus und legte sie in den Player ein. Die Erinnerungen an die wunderbare Nacht mit Jeff am Lagerfeuer hauchte ihr Zuversicht ein. Wie schön, dass man zwei Ohren hat und dass es Musik gibt, dachte Anna. Man glaubt den Boden unter den Füßen zu verlieren, und im nächsten Moment kehren die Klänge einer Gitarre und einer sanften Frauenstimme alles in einem um, weil man sie mit einem glücklichen Moment verbindet.

Sie ging ins Bad, machte sich fertig und packte ihre Sachen. Pünktlich um zwei Uhr nachmittags verließ sie die Wohnung in Richtung Reitstall.

2

Jeff strich sich das glatt frisierte Haar aus der Stirn. Eigentlich hatte er noch zum Friseur gewollt, aber die letzten Wochen in New York vergingen im gestreckten Galopp.

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass Ihre Entscheidung die richtige war, Mr Smith?«, fragte der Mann ihm gegenüber, der vor knapp einem Jahr seine Bewerbung bei der Allmedia entgegengenommen hatte. Er verschränkte die Hände vor dem untersten Knopf seines gespannten Sakkos. Aus seinem breiten Lächeln sprachen Mitleid und Verständnislosigkeit.

»Ganz sicher«, erwiderte Jeff und drehte sich gelangweilt zu einem jungen blonden Mädchen um, das hohe Champagnerkelche auf einem flachen Plexiglastablett balancierte. Er verspürte ein leichtes Prickeln beim Anblick ihrer schlanken, langen Beine und lächelte sie auffordernd an. Sie beeilte sich, Jeff und dem Personalchef der Allmedia die gefüllten Gläser zu reichen.

Jeff und sein breites Gegenüber bedienten sich, den Blick auf die rasanten Formen oberhalb des Tabletts gerichtet. Push-up oder echte volle Brüste, fragte sich Jeff und erinnerte sich im nächsten Augenblick daran, dass ihn diese Frage nicht mehr interessieren sollte.

»Man wird dort erwarten, dass Sie bald heiraten.« Der Personalchef nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. »Die Leute im Middle West sind sehr konservativ, um nicht zu sagen altmodisch. Und verdammt gläubig.«

»Bin ich auch«, gab Jeff zurück.

Erstauntes Lachen. »An wen glauben Sie denn, an einen von diesen asiatischen Göttern?«

»An mich«, erwiderte Jeff gelangweilt, während sein Blick magisch von dem Mädchen mit dem Tablett angezogen wurde. Eine Gruppe junger aalglatter Männer und Frauen in Designerkleidung nahm ihm schließlich die Sicht.

»Hi, Jeff, alter Cowboy!« Einer der Männer legte ihm seine schlaffe Hand mit betont kollegialer Geste auf die Schulter. »Schon aufgeregt?«

»Weswegen?«

»Cool wie immer, Mann.« Kurzes, steifes Lachen. »In Wyoming gibt's doch Grizzlys.«

»Richtig. Wölfe, Schwarzbären, Klapperschlangen, Kojoten, Berglöwen. Und Männer, die härter sind als ihre Gewehre!«

Der junge Typ ihm gegenüber pfiff durch die Zähne.

»Aber die Frauen, Jeff! Die sind von Männern nur durch ihre keifenden Stimmen zu unterscheiden«, warf der Lange mit den Clark-Gable-Koteletten ein.

»Ich habe doch eine, und die schlägt alles, was hier herumläuft«, erwiderte Jeff.

»Und du meinst, das reicht dir?«, zischte ihm eine junge Frau mit einem spitzen Lächeln ins Ohr.

Jeff atmete tief durch, die anderen lachten. Er steckte die Hände in die Taschen seines Seidenanzugs, den er vermutlich das letzte Mal trug. Er trauerte um die Zeit, die er hier vergeudete.

Der Agenturchef gesellte sich zu ihnen, goss ihnen höchstpersönlich mit gönnerhafter Miene Champagner nach.

»Also, trinken wir auf Ihre Zukunft, Mr Smith.« Er hob sein Glas. »Vor nicht mal einem Jahr hab ich Sie eingestellt. Da kamen Sie aus Nepal. Und nun verschwinden Sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie sind wirklich ein komischer Kauz.« Er kniff die Lippen zusammen. »Schade eigentlich. Ihren Witz und Einfallsreichtum werden wir vermissen. Vor allem die Kampagne für ...«

»Erinnern Sie mich nicht mehr daran«, unterbrach Jeff den Agenturchef. Ihm war das alles zuwider. Die immer gleichen unerträglichen Zoten, das Gerangel um die spektakulärsten Ideen und die coolsten Spots, die immer direkter, brutaler und verunglimpfender wurden. Er hatte seinen Beitrag geleistet, hatte tausende Menschen davon überzeugt, dass sie genau das Produkt brauchten, das sein Auftraggeber ihnen verkaufen wollte. Er hatte längst mit alldem abgeschlossen. Er verspürte ein quälendes Verlangen nach Anna, ihrem ungekünstelten Lachen, ihrem seidigen rotbraunen Haar, das manchmal in seiner Nase kitzelte, wenn sie ihn küsste, nach ihren starken Händen und ihrem festen, runden Jeanshintern. Und er sehnte sich nach dem Geruch von Pferdeschweiß und frischem Heu.

Beim Anblick der Champagner schlürfenden Werbe-Elite vor der geschniegelten Agentur-Empfangsgarnitur aus cremefarbenem Leder überkam ihn das Bedürfnis, allen zu sagen, wie Leid sie ihm täten. Aber das würden sie ohnehin nicht verstehen. Sie empfanden einen so ungebrochenen Stolz auf ihre kreativen Ergüsse, dass sie vor lauter Arroganz den Blick für die Wirklichkeit verloren hatten. Die meisten würden beim Betreten der menschenleeren Prärie eine Panikattacke bekommen und umgehend vor der eigenen Leere in die nächste Stadt flüchten.

Jeff hob mit seinen Kollegen gemeinsam das Glas. Alle lächelten, alle wünschten ihm viel Glück, und alle tranken gleichzeitig auf sein Wohl. Aber er nahm es ihnen nicht ab.

3

Anna betrat den Reitstall und grüßte mehr Leute, als nötig gewesen wäre. Sie versuchte sich von sich selbst abzulenken. In ihrem Kopf rotierten die Gedanken an ihr neues Zuhause, und ihr Magen war in Aufruhr. Sie ging zu ihrer Stute, die morgen ihrer Freundin gehören würde.

Was ist, wenn Sabine nicht mit ihr klarkommt?, fragte sich Anna. Rubi war so sensibel, so leicht erregbar und scheu.

Loslassen, einfach loslassen und nach vorne schauen, wiederholte sie Jeffs Worte, aber es wollte ihr noch nicht so ganz gelingen. Mit bleiernen Füßen näherte sie sich der Box. Sie vernahm Rubis leises Brummen, und als sie die Hand durch das Gitter der Boxentür schob, spürte sie ihren warmen Atem auf ihrer Haut.

War es Verrat, sie zurückzulassen? Hatte sie die Stute nicht von der Rennbahn geholt, um ihr für immer ein ruhiges Zuhause zu geben? Sie öffnete die Box, trat neben das Pferd und klopfte seinen Hals.

Ihre Freundin erschien, und Anna bekämpfte ihre Trauer mit praktischen Anweisungen für das Reiten, die Fütterung und den Auslauf.

»Anna, ich weiß doch«, erwiderte Sabine und seufzte. »Wie oft willst du mir das noch erzählen?«

»Entschuldige. Es macht mich einfach völlig fertig, sie zurückzulassen. Das hat mit dir nichts zu tun. Sie ist nur so speziell mit vielen Dingen ...«

»Ich weiß, sie ist ein Vollblut.« Sabine atmete tief durch. »Du hättest sie besser mitnehmen sollen.«

Anna zuckte die Schultern. »Geht leider nicht«, sagte sie leise. Denn was hätte sie dort mit einer zarten, nervösen Vollblutstute anfangen sollen? Ein letztes Mal fuhr sie mit der flachen Hand über Rubis schmale Stirn. »Ihr werdet schon miteinander klarkommen«, sagte sie wie zu sich selbst.

Langsam schloss sie die Boxentür, übergab Sabine den Pferdepass und nahm sie kurz in den Arm. »Komm uns mal besuchen!«

»Klar, gerne.«

Alles war bereits gesagt. Sie gingen auseinander, und Anna spürte die ganze Tragweite ihres Entschlusses. Der Gewinn war gleichzeitig Verlust, die neue Beziehung bedeutete das Aufgeben gewachsener Verbindungen. Glück und Schmerz trafen hart aufeinander.

Energisch wischte sie die Feuchtigkeit aus ihren Augen und zog einen kleinen Notizzettel aus der Hosentasche. Sie blickte über eine Reihe von Pferdenamen mit den dazugehörigen Vermerken über Behandlungen, Medikamente, Charaktereigenschaften und öffnete die Tür zur Reiterstube. Ihr Nachfolger, ein junger Tierarzt aus Buxtehude, erwartete sie schon.

4

»Robert, alter Junge! Schön, dich zu sehen!«, rief Jeff, als er die Tür seiner New Yorker Wohnung öffnete.

»Jeff. Mein Gott, endlich!«

Sie umarmten sich, und Jeff spürte Roberts Wärme, dann seine festen, zupackenden Hände an seinen Unterarmen. Robert trat ein wenig zurück und sah ihn prüfend an. »Du bist schmal geworden, Jeff«, sagte er mit einem Klaps auf seine Wange.

»So einen Umzug macht man nicht mal so nebenbei.«

Robert nickte. Jeff nahm ihm die Tasche ab und schloss die Wohnungstür.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, Jeff. Ich kann es noch gar nicht glauben.«

»Ich auch nicht.«

Robert lächelte geheimnisvoll. »Und es gibt große Neuigkeiten!«

»Komm, setz dich!« Jeff schüttelte das eingedrückte Kissen auf dem thailändischen Rattansessel auf. Er war das einzige Sitzmöbel, das noch im Wohnzimmer stand. Er selbst hockte sich auf sein Meditationskissen.

»Verdammt leer die Bude. Du bist schon startklar, wie ich sehe.«

»Hab ich auch gedacht, aber es gibt Probleme im Büro. Mein Nachfolger braucht noch Nachhilfe.«

»Ist das dein Problem?«

»Nicht wirklich. Ich finde trotzdem, dass ich ihn nicht einfach untergehen lassen sollte.«

»Und was heißt das für uns?«

»Dass es sein kann, dass ich ein paar Tage später auf der Ranch eintreffen werde.«

»Und Anna?«

»Könntest du sie abholen, falls ich es nicht schaffe?«

Robert nickte. »Wäre eigentlich dein Job. Sie wird enttäuscht sein.«

»Ich versuche es zu schaffen.«

Eine Weile herrschte Schweigen, und Jeff spürte, dass Robert etwas sagen wollte, was über die praktischen Dinge hinausging. Er holte Whiskey, Eiswürfel, Sodawasser und Gläser aus der Küche und setzte sich wieder zu ihm. Während er ausschenkte, spürte er Roberts Blick. Ihm war klar, was in seinem Kopf vorging. Er wusste, dass ihre Gedanken in diesem Moment untrennbar miteinander verwoben waren. Sein Blick flog suchend über Roberts Gesicht. Das schneeweiße Haar war immer noch voll, aber seine Züge schienen markanter. Die Falten in seiner sonnengebräunten Haut hatten sich tiefer gegraben.

Jeff versuchte sich zu erinnern, wie er im Alter von vierzig Jahren aussah, aber es gelang ihm nicht mehr.

»Lass uns auf die Ranch anstoßen!«, unterbrach Robert das gespannte Schweigen.

Jeff nickte. Sie hoben die Gläser und tranken. »Und auf dich, Robert. Ich danke dir so sehr für alles, ich weiß gar nicht ...«

»Nun hör auf damit. Mir war schon lange klar, dass du die Ranch bekommst und nicht diese Stadtneurotiker in Chicago. Und außerdem ...« Er hob sein Glas. »Nun lass uns erst mal auf Anna trinken. Ich bin so froh, dass du endlich den Blick über die Bettkante hinaus wirfst und eine Frau als Lebenspartnerin anerkennst. Ich bin verdammt neugierig auf sie.«

Jeff lächelte. Er dachte an den Brief, den ihm Robert auf die Ranch in Arizona geschickt hatte. Es war der Brief, der ihm eine neue Zukunft eröffnet hatte und in dem Robert mit ihm sprach wie mit einem Sohn.

»Und?«, fragte Jeff vorsichtig. »Kommen die Neuigkeiten von meiner Mutter?«

Robert wurde ernst, senkte den Blick und schaute dann entschlossen auf. Ein sanftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Jeff versuchte darin zu lesen, zu deuten und etwas zu erkennen, das er lange vermutet hatte.

»Deine Mutter ...« Robert lehnte sich zurück und machte sich gerade. »Deine Mutter hat mir nach mehr als vierzig Jahren endlich eröffnet, dass du mein Sohn bist. Das heißt, sie vermutet es.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Also sie ist sich ziemlich sicher.«

Jeff blieb stumm. Es dauerte eine Weile, bis er das Gehörte erfassen konnte. Es war also tatsächlich so. Es war keine Vermutung mehr, es war die Wirklichkeit.

Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und nickte nur. Wie sehr hatte er sich als Junge einen Vater wie Robert gewünscht. Mit sechs Jahren war seine Mutter zum ersten Mal mit ihm zu »Onkel Robert« auf die Ranch gefahren. Heute, nach vierunddreißig Jahren, erfuhr er, dass Robert sein Vater war – jetzt, wo er eigentlich keinen Vater mehr brauchte, jetzt, wo Robert längst sein bester Freund geworden war.

Er starrte auf seine gekreuzten Beine und versank in seinen Erinnerungen. Er sah die Rowly Ranch, dachte an die abenteuerlichen Ferientage, die er dort zwischen Pferden und Rindern verbracht hatte, an die Jungs der Cowboys, die ihm hart zugesetzt hatten, um seinen Mut und seine Ausdauer zu testen.

»Du sagst ja gar nichts mehr, Jeff. Ist das ein Schock für dich?«, fragte Robert mit gedämpfter Stimme.

Jeff schüttelte den Kopf. »Nein, nur eine traurige Erkenntnis. Eine Kindheit mit einem Vater verbracht zu haben, den ich nie geliebt und manchmal gehasst habe, um in der Mitte meines Lebens zu erfahren, dass er gar nicht mein Erzeuger ist, das erschüttert mich.« Er stand auf, ging durch den Raum, setzte sich wieder und nahm einen Schluck Whiskey. »Ich habe mir immer gewünscht, einen Vater wie dich zu haben. Ich habe dich immer bewundert, wollte so sein wie du. Ich hätte eine glückliche Kindheit haben können, wenn Mutter ...«

»Hatten wir nicht verdammt viel Spaß miteinander?«

»Es waren kurze Lichtblicke in meinem kleinen engen Leben.«

»Vielleicht spürt ein Kind, wer sein Vater ist, so wie ein Pferd.«

Jeff zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, es fühlte sich einfach nur gut an mit dir.«

Jeff kam langsam wieder zu sich, erhob sich, stand unschlüssig in dem leeren Raum, bis auch Robert aufstand und ihn in die Arme nahm.

»Mein Sohn«, sagte er nur, »verdammt, ich hab es immer geahnt.«

»Warum hat sie es dir erst jetzt gesagt?«

»Sie wollte Paul nicht verlieren. Sie hatte sich doch für ein Leben mit ihm entschieden, auch wenn sie mich vielleicht noch geliebt hat.«

»Und wie bin ich dann zustande gekommen?«

»Ich habe einen alten Freund in Denver besucht. Ich hielt es nicht aus und rief deine Mutter an. Wir sind dann zusammen essen gegangen und ...« Robert brach ab. Seine Finger hatten sich fest ineinander verhakt.

»Und dann?«

»Wir sind in ein Hotel gegangen.«

Jeff nickte. Wie banal! So wie es Millionen von verheirateten Leuten trieben, hinter der Tür eines mittelmäßigen Hotels, heimlich, versteckt, hastig, so war er gezeugt worden, er, Jefferson Patrick Smith, ja, Smith, obwohl eigentlich Wilson.

Und warum glaubt sie, dass du es warst? Sie muss es doch – wissen?«

»Ich bin am nächsten Tag abgereist. Als ich sie anrief, weinte sie und erzählte mir, dass Paul sie bei ihrer Rückkehr erst misstrauisch, dann wütend angesehen und sie regelrecht vergewaltigt habe, als sie sich ihm verweigerte.«

Jeff erstarrte. Ihm wurde übel, und er kippte einen gewaltigen Schluck Whiskey hinunter. Das Brennen in seiner Kehle war wie Medizin. Und mit dem zweiten Schluck spülte er die Vergangenheit hinunter, stellte das leere Glas mit den Eiswürfeln hart auf das Parkett zu seinen Füßen und atmete tief durch.

»Tut mir Leid, Jeff«, sagte Robert, »aber das ist nun mal die Wahrheit.«

Jeff blickte vor sich auf den Boden.

»Ich glaube, wir sprechen morgen über die Ranch, was? Lass das alles erst mal sacken, mein Junge.«

Jeff lächelte. Mein Junge, wiederholte er im Stillen. Robert sagte das nicht zum ersten Mal, aber jetzt hatte es eine andere Qualität. »Es gibt sicher viel zu besprechen ...« Er wollte Dad sagen, doch es kam nicht über die Lippen. Zu fremd war ihm dieses Gefühl, obwohl nicht unangenehm.

»Verdammt viel, wie du dir denken kannst. Die rechtlichen Formalitäten, Wyomings Gesetze, die dich als Rancher betreffen, den ganzen Mist mit den Weiderechten, die Arbeit ... Aber wir haben ja noch den morgigen Tag.«

»Wenn du meinst. Willst du nicht doch hier übernachten?«

»Nein, Jeff, du weißt doch, ich brauche viel Platz.«

Sie saßen noch eine Weile zusammen und sprachen über Anna und über den Winter. Dann verabschiedeten sie sich mit einem gemeinsamen Blick in den Spiegel. Sie lächelten, versuchten die Reste ihrer Vergangenheit abzuschütteln und verabredeten sich zum gemeinsamen Frühstück am folgenden Tag.

5

»Möchten Sie Huhn oder Rind?«

Anna fuhr zusammen und blickte in das glatte Lächeln der Stewardess.

»Rind«, antwortete sie, ohne zu überlegen. Sie war aus tiefsten Träumen erwacht, und Rinder waren das, was sie gerade vor Augen hatte. Sie richtete sich auf, und während ihr die junge Frau das in Alufolie verpackte Abendessen auf den ausgeklappten Tisch stellte, dachte sie, dass es eigentlich etwas völlig Unromantisches sei, Rinder über Weiden zu treiben, um sie am Ende zu Steaks zu verarbeiten. Es waren eben die Pferde, die Wildheit der Natur, die vom Roping gestählten Männer in Jeans und Lederchaps und ihre Geschichten, die aus dem schnöden Bauernleben ein Cowboyabenteuer machten. Sie und wir alle, dachte Anna, haben das Glück, den unschönen Tod dieser Tiere nicht miterleben zu müssen. Unsere Hände bleiben sauber.

Anna richtete ihre Lehne auf, packte ihr Essen aus und aß mit gebremstem Appetit. Sie war zu nervös, um auch nur die Hälfte davon hinunterzubekommen.

Eine Woche vor der Abreise hatte Jeff angerufen, um ihr zu sagen, dass er später komme. Danach hatte sie ihn nicht mehr erreicht.

Noch am selben Abend landete sie in Denver, Jeffs Geburtsort. Die Zeitverschiebung schluckte die verstrichenen Stunden und machte daraus wieder einen Morgen. Als sie durch die Ankunftshalle ging, kam ihr der Song »Rocky Mountains High« von John Denver in den Kopf. Die felsigen, wilden Berge lagen zu ihren Füßen und mit ihnen ihre Geschichten. Jim Bridger, Pecos Bill, Billy the Kid, Butch Cassidy und vor allem Buffalo Bill, der große Büffelschlächter und Haudegen. Sie alle hatten zum Mythos dieser Berge beigetragen, die wirklichen Helden so wie die, die sich eher mit Blut als mit Ruhm bekleckert hatten.

Der Flieger hatte Verspätung, und Anna verpasste ihren Anschlussflug nach Sheridan. Die einzige Möglichkeit, weiterzukommen, war ein Flug nach Buffalo. Sie erreichte Robert über Handy. Er war bereits in Sheridan, aber es sei kein Problem für ihn, sie ihn Buffalo abzuholen. Sie würden etwa zeitgleich dort eintreffen. Anna beschrieb ihm ihre Kleidung – nagelneue Wrangler, einen naturfarbenen Rollkragenpullover, eine dunkelblaue Steppweste und graue Cowboystiefel. Robert würde mit seinem hellen Stetson winken.

Vorfreude und Angst mischten sich, als sie ihre beiden Koffer vom Laufband auf einen Kuli hievte und zum Ausgang ging. Ihr Blick wanderte über die Wartenden und blieb schließlich an einem gut aussehenden, hoch gewachsenen Mann mit schneeweißem Haar hängen. Er hob seinen sandfarbenen Stetson, und sie gab ihm ein Handzeichen. Er hatte den gleichen Gesichtsschnitt und die ebenso leuchtend blauen Augen wie Jeff. Er war zweifelsfrei Robert und vermutlich Jeffs Vater.

»Willkommen in Wyoming!«, begrüßte er sie mit einem warmen Lächeln und legte seinen Arm um ihre Schulter.

»Hi! Ich darf Robert sagen?«

»Was für eine Frage!«

Er nahm ihr den Kuli ab, steuerte ihn zu einem blank geputzten monströsen Chevi-Pick-up mit hochgestellten Reifen und wuchtete ihre beiden Koffer mit den Resten ihres bisherigen Lebens auf die Ladefläche.

»Wie schön, Anna, dass du Jeff hier zur Seite stehen willst. Es gibt wenige Frauen, die sich freiwillig dazu entschließen, auf eine entlegene Rinderranch zu gehen«, sagte er ernst, und Anna dachte an Jeffs Mutter, die vor diesem Schritt zurückgewichen war.

»Ich habe mir schon immer so ein Leben gewünscht«, erwiderte Anna mit einem scheuen Lächeln.

»Es tut mir Leid, dass ich es bin, der dich in dein neues Zuhause bringt«, sagte Robert. Seine Stimme war so rau wie das Land, das vor ihnen lag.

»Das ist schon okay«, erwiderte Anna. Sie blickte in sein freundliches Gesicht. Seine Stirn war fast weiß, alles, was darunter kam, von der Sonne gebräunt. Er schien nur selten seinen Hut abzunehmen.

»Wäre eigentlich Jeffs Aufgabe gewesen, aber er musste seinem Nachfolger noch ein bisschen auf die Sprünge helfen.«

»Oder er konnte noch nicht so recht loslassen.«

Robert schüttelte abwehrend den Kopf. »Das glaube ich nicht. Der ist froh, dass er da rauskommt!«

Anna schwieg, dachte darüber nach, versuchte sich Jeff in seinem New Yorker Büro vorzustellen. Es fiel ihr schwer, und so schweiften ihre Gedanken wieder voraus zur Rowly Ranch.

Robert steuerte den schweren Wagen durch die Dreieinhalbtausend-Seelen-Gemeinde Buffalo und in Richtung Sheridan hinaus. Vor Annas Augen liefen Szenen aus Westernfilmen ab. In dieser Gegend wurde im 19. Jahrhundert wahrscheinlich mehr Pulver und Blei in die Luft geschleudert als Abgase im Zeitalter des Autos. Das Land zwischen den roten Felsen und der weiten Prärie war Schauplatz des erbitterten Kampfes zwischen Großranchern und kleinen Farmern, die schon damals das Freiheitsgefühl dieser mächtigen Viehbarone bedrohten.

»Du bist also Tierärztin«, sagte Robert, nachdem er einen gigantischen pinkfarbenen Truck überholt hatte. »Ein schöner. Beruf!« Er blickte kurz zu ihr hinüber. »Und ein großes Glück für die Ranch.«

Anna lächelte. »Ich habe mich allerdings schon sehr früh auf Pferde spezialisiert. Im Umgang mit Kühen habe ich wenig Erfahrung.«

»Das wirst du schon lernen.«

Er trat auf die Bremse, schwenkte den Wagen scharf nach links an einem Rind vorbei und gab wieder Gas. Anna sah dem verirrten Tier hinterher, bis sich ihr Blick in der Weite verlor. Der Himmel offenbarte hier seine Unendlichkeit.

»Es ist unglaublich«, sagte Anna. »So viel Platz, so viel Land, einfach nur leer. Keine Häuser, keine Menschen, nur diese eine schnurgerade Straße bis zum Horizont!«

Robert lachte. »Ja, in Europa gibt es viel Kultur, aber wenig Land. Ich weiß das nur vom Fernsehen und vom Lesen. Ich war noch nie dort.«

»Es ist ein kleinteiliges Patchwork aus Zehnhektarweiden, Äckern und schrecklich vielen Dörfern und Städten. Keine zehn Meilen bis zum nächsten Haus.«

Robert nickte, und Anna beobachtete einige Pferde, die nahe der Straße auf einem Hügel grasten. Sie dachte an Rubi, an den Reitstall und an ihre Arbeit zurück. »In Arizona habe ich das Leben kennen gelernt«, sagte sie nachdenklich. »Ich freue mich darauf, es hier verwirklichen zu können.«

»Ich hoffe, es wird dir tatsächlich gefallen«, erwiderte Robert. »Das hier ist nicht Arizona, das ist Wyoming. Hier herrschen andere Gesetze – die des Winters. Der Sommer ist verdammt kurz, oder es kommt einem nur so vor. Ab September jedenfalls ist man bereits damit beschäftigt, sich auf den Winter vorzubereiten, und erst wer den überstanden hat, kann sagen, dass er bleiben will.«

»Mit Kälte habe ich keine Probleme.« Auch Jeff hatte sie vor dem harten Winter mit den beißenden Blizzards gewarnt. Aber mit ihm stellte sie es sich sogar romantisch vor. An seiner Seite am prasselnden Feuer – was sollte ihr da passieren.

Als sie über einen Hügel hinweg in ein karges Tal hinabfuhren, das eher an eine Mondlandschaft als an Weideland erinnerte, überkam Anna ein Gefühl der Verlorenheit. Würde auch auf der Rowly Ranch der nächste Nachbar eine halbe Autostunde entfernt leben? Und wie würde sich ein Schneesturm auf diesem ungeschützten Land anfühlen?

In Ranchaster bogen sie auf den Highway 14 ab, ließen Dayton hinter sich und folgten den scharfen Serpentinen in die Bighorn Mountains hinauf. Annas Ängste lösten sich in Begeisterung auf. Das Morgenlicht legte einen goldenen Schimmer über die Prärie und die schneebedeckten Berge. Keine Siedlung, nicht mal ein dieser typischen Zweihundert-Seelen-Dörfer Wyomings stellte sich hier der Natur entgegen. Der Wind pfiff ungehindert über die Anhöhe und drückte das lange Gras platt auf den Boden nieder.

Als sie an der Burgess Junction nach Südwesten abgebogen waren und den Granite Pass erklommen, fuhren sie durch Schnee. Robert zeigte über sie hinweg aus dem Fenster. »Da hinten ist der Hunt Mountain. An seinem Fuß liegen unsere Sommerweiden.«

»Was für ein schönes Fleckchen Erde!« Anna blickte zu der über dreitausend Meter in den klaren Himmel aufsteigenden Erhebung hinüber. Eine grandiose Kulisse für den Beginn eines neuen Lebens.

Als sich das Land dem Horizont öffnete und sich der Highway ins Bighorn Basin senkte, sagte Robert, dass die Ranch nicht mehr weit sei. Sie bogen in ein lang gezogenes, hügeliges Tal ab, im Osten von den Bergen mit ihren hohen Kiefern- und Fichtenwäldern gesäumt, im Westen von einem Bachlauf mit Cottonwoodbäumen und Weidenbüschen, im Süden von einem lang gezogenen roten Felssockel begrenzt, der sich scharfkantig vom Himmel absetzte. Auf dem krausen ockerfarbenen Präriegras schimmerte der feine grüne Flaum des beginnenden Frühlings. Alles wirkte so klar und unverdorben, als wäre dieser Teil der Erde gerade erst erschaffen worden.

»Was für ein schönes Fleckchen Erde!« Anna blickte zu der über dreitausend Meter in den klaren Himmel aufsteigenden Erhebung hinüber. Eine grandiose Kulisse für den Beginn eines neuen Lebens.

Robert hielt den Wagen vor der Einfahrt zu einem Schotterweg an. Über dem hohen Tor aus zwei langen Pfählen und einem Querbalken prangte ein großes ovales Holzschild mit kantigen Lettern. Anna las ROWLY RANCH. Sie stand vor ihrem neuen Zuhause.

Robert lächelte, setzte seinen Stetson auf und stieg aus dem Wagen. Anna musterte ihn, suchte Jeff in ihm, meinte ihn in seinen Augen, in seinen Bewegungen zu finden. Sie sah ihn zu einem der drei röhrenförmigen Briefkästen gehen. Ohne Eile zog er einige Umschläge und Zeitungen heraus und kam zurück. Seine langen, hageren Beine steckten in klassischen Wrangler-Nietenhosen, und natürlich trug er ein kariertes Hemd dazu. In seinem Gang lag die zeitlose Ruhe dieser Landschaft. Hätte sie nicht sein Alter gewusst, sie hätte es nicht erraten.

Er lächelte ihr zu und stieg wieder in den Wagen. Er brachte die klare Kälte eines trockenen Maitages mit herein.

»Du bist angekommen, Anna«, sagte er bedeutungsvoll.

»Ja«, erwiderte Anna versonnen. »Es ist alles noch so unwirklich.« Ihr war, als geriete sie ins Wanken. Ihre Gefühle schlugen Kapriolen. Freude und Aufregung, Angst und Bedenken, mal siegte das eine, mal das andere.

Ihr Blick wurde von einer kleinen Gruppe kräftiger Pferde angezogen, die ihre Nüstern neugierig in ihre Richtung streckten. Sie schienen alle Freiheit der Welt zu besitzen – endlose Weiden und einen unverstellten Blick in die Ferne. Ihre langen Mähnen flatterten im Wind. Ihr Fell war dick und sandig und voller Schubberstellen.

»Das sind einige unserer Arbeitspferde, die wir in den nächsten Tagen wieder in den Corral holen«, erklärte Robert.

»Sie sind den ganzen Winter über draußen?«, fragte Anna erstaunt.

»Ja. Sie haben Unterstände, aber vor allem eine dicke Haut und ein wetterfestes Fell.«

»Werden sie satt von dem bisschen Gras?«

»Im Winter füttern wir Heu dazu. Als mein Vater noch die Ranch bewirtschaftet hat, reichte das Weideland bis an den Bighorn River heran. Da brauchten wir kein Heu.«

Anna nickte.

Sie folgten der schmalen Straße, die kein Ende zu nehmen schien. Der Wagen schaukelte über das Geröll, und sie dachte wieder an den Winter. Wie wäre es wohl, hier eingeschneit und abgeschnitten vom Rest der Welt im Ranchhaus zu sitzen?

Denk nicht immer so viel an morgen, hätte Jeff gesagt, und Anna sah den Gedanken hinterher, die im orangefarbenen Sonnenlicht dahinschwanden. Sie blickte über die kiefernbestandenen Bergkämme in der Ferne und die sanft gewellten Sandsteinhügel, die das weite Tal umfassten. Die Cottonwoodbäume zeigten den tief liegenden, sich schlängelnden Verlauf des Rowly Creek an.

»Das ist alles Ranchland?«, fragte Anna staunend.

»Fast vierzigtausend Acres«, erklärte Robert.

Sie holte tief Luft. »Es ist unglaublich!«

In Roberts Lächeln lag bescheidener Stolz. Er zog seinen Hut nach hinten und legte die breiten Hände um das Steuer. Der Wagen rollte langsam an einem Labyrinth von Holzzäunen und Eisengattern mit langen Gängen und einer Verladerampe vorbei. Auf den Weiden dahinter grasten rote und schwarze Anguskühe. Die leeren sattgrünen Flächen schienen Heuwiesen zu sein. Riesige Bewässerungsanlagen standen am Rande des Zaunes.

Dann wurde die Schotterstraße zu einem Sandweg, gesäumt von Pappeln und Lavendelbüschen und eine Ansammlung von dunkelrot gestrichenen Holzhäusern, Ställen, Schuppen und Corrals tauchte vor ihnen auf. Auf dem zentralen Stallgebäude mit dem klassisch in Stufen zweikantig abfallenden Dach prangte in weißer Farbe das Brandzeichen der Ranch: ein großes R mit einem Dreieck darüber und einem Kreis drumherum.

Robert hielt vor einem weißen zweistöckigen Holzhaus mit einer weit vorgezogenen Veranda. Eine alte Hollywoodschaukel aus grobem Kiefernholz hing an einer dicken Kette von dem Vordach herab. Ein Hund bellte im Hintergrund.

»Das Ranchhaus«, sagte Robert.

Anna nickte und lächelte. Sie dachte an Jeff, und die Sehnsucht packte sie wie eine Windböe und ließ sie nicht mehr los.

6

Jeff nahm Anlauf. In letzter Sekunde sprang er in den randvollen Wagon der New Yorker Untergrundbahn. Die Menschen hinter ihm drückten sich weiter zusammen, drängten sich an seinen Rücken. Die Türen knallten wenige Zentimeter vor seinen Füßen ineinander, der Zug setzte sich in Bewegung.

Eigentlich hielt Jeff ein Auto in der Stadt für überflüssig, aber heute sehnte er sich nach seinem Jeep Cherokee. Vor einer Woche hatte er den Asphaltjeep verkauft, ohne mit der Wimper zu zucken. Auf den Schotterwegen der Rowly Ranch würde dieser Wagen spätestens im Winter hoffnungslos stecken bleiben. Dort gab es andere Kaliber von Geländewagen. Und eigentlich wollte er schon längst in Wyoming sein, bei Anna, bei Robert, zwischen Pferden und Rindern.

Er starrte aus dem Fenster, auf die vorbeifliegenden Häuserfronten, auf das kleine Stückchen Himmel. Der Blick nach draußen war das Einzige, was ihn die Enge ertragen ließ. Er versuchte flach zu atmen, aber das Geruchsgemisch aus Rasierwasser, Parfüm, Schweiß und Zahnbelag kroch unaufhaltsam in seine feine Nase. Er hatte sich gegen ein Taxi und für die U-Bahn entschieden. Es gab kein Entrinnen.

Noch vier Stationen musste er durchhalten, eingepfercht zwischen Menschen, mit denen er nichts gemein zu haben schien. Die klare Sicht des Einsseins mit allem und allen war hier schwer aufrechtzuerhalten. Die Enge erzeugte eine solche Abwehr gegen alles Menschliche in ihm, dass er nur noch hoffte, möglichst bald in der Einsamkeit der Wälder und Prärien abtauchen zu können.

Die Ankunft im Büro war unspektakulär. Man war busy, eilig, im Stress wie immer, vielleicht noch mehr als sonst, denn Jeff hatte tatsächlich ein Loch in die Mannschaft gerissen. Sein kurzer Auftritt war so erfolgreich, dass sein Nachfolger allein deshalb schon zum Scheitern verurteilt war.

Nun setzte sich Jeff das letzte Mal mit ihm zusammen, gab ihm Tipps, machte Vorschläge für die geplanten Werbekampagnen, schüttelte einen – wie Harry meinte – mega-coolen Slogan aus dem Ärmel und trank becherweise dünnen Milchkaffee.

»Mit den Leuten von Walkstar musst du vorsichtig umgehen. Die glauben fest, sie seien der Nabel der Welt. Sag ihnen immer wieder, dass du ihre Laufschuhe mit Begeisterung trägst und dass du ihnen den genialsten Spot präsentieren wirst, den sie je gesehen haben.«

»Klar, Jeff. Hab mir schon was überlegt. Würd ich dir gern morgen zeigen. Wir haben 'nen Probestreifen in Nevada gedreht. Hast du Zeit?«

»Morgen? Harry, das ist mein letzter Tag! Glaubst du wirklich, dass ich mir da noch 'nen verdammten Film über Wunderlatschen an wulstigen Joggerbeinen ansehen will? Mann, da bin ich längst damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich 'ne Vierzigtausend-Acres-Ranch gewinnbringend durch die nächsten Jahre bekomme.«

»Okay, Jeff, hab schon verstanden. Das alles geht dich natürlich nichts mehr an. Ich dachte nur ...«

Jeff nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er blickte in Harrys Milchbrötchengesicht. Er tat ihm Leid.

»Gut, Harry, weil ich dich irgendwie mag. Morgen um zehn, eine Stunde und keine Minute länger.«

»Ich kann dir meinen Wagen leihen. Dann musst du nicht erst auf ein Taxi warten.«

»Das ist nett, Harry. Ich fahre nicht noch mal mit der U-Bahn. Wenn ich noch einmal in diese stinkige Blechbüchse muss, ersticke ich, und du sitzt alleine hier.«

Jeff nahm den Autoschlüssel entgegen, während ihm Harry die Funktionsweise seines nagelneuen Chevrolet Cavalier Convertible erklärte.

Als er das Büro verließ, summte sein Handy. Er blickte auf das Display und erkannte die Nummer der Ranch. Robert oder Anna?

Erstaunt stellte er fest, dass sich sein Puls beschleunigte. Er drückte auf die grüne Taste und antwortete wie immer mit einem knappen »Ja«.

»Jeff?«, hörte er Anna sagen, und sein Herz pochte spürbar in seiner Brust. Er fühlte sich wie in seiner Jugend vor dem ersten Treffen mit seiner Auserwählten. »Anna! Wo bist du?«, fragte er.

»Auf der Ranch.«

»Schön«, sagte er, und eine plötzliche Spannung durchzog seinen Körper. Ihre Worte machten ihm in Sekunden die ganze Tragweite dessen bewusst, was er ganz aus dem Bauch heraus ins Rollen gebracht hatte. Er versuchte sich zu entspannen, wartete, bis das Rauschen aus der Leitung war. »Und? Wie gefällt es dir?«, fragte er.

»Es ist wunderschön, Jeff. Aber irgendwie fehlt etwas.«

»Was denn?«, fragte Jeff, obwohl er ziemlich sicher war, was sie damit sagen wollte.

»Du.«

Wieder störte ein Rauschen den Empfang. »Es ging nicht anders. Ich wäre auch lieber schon in Wyoming.«

»Na ja, dein Vater sorgt rührend für mich. Er ist einfach klasse.«

»Ja«, erwiderte Jeff nachdenklich, »mein Vater.«

»Und wann kommst du denn nun. Ich möchte mich einfach nur drauf einstellen können.«

»Mein Flieger geht übermorgen, über Denver. Ich werde meine Eltern ...« er stockte, »meine Mutter noch kurz besuchen. Ich komme am Samstag.«

»Ich hab mit Robert gesprochen. Ich werde dich abholen.«

»Mit seinem neuen Chevi?«

»Ja. Warum nicht?«

»Wundert mich nur.« Jeff brach ab. Er zögerte, überlegte und ärgerte sich über sich selbst. Seine Redegewandtheit versagte, wenn es um Herzensangelegenheiten ging, und er blieb stumm wie ein Fisch.

»Jeff, bist du noch dran?«, fragte Anna.

»Ja. Ich wollte nur sagen ... Ich vermisse dich ganz schrecklich.« Der Satz hatte ihn mehr Kraft gekostet als das Schleppen eines Zentners Hafer.

»Ich dich auch«, erwiderte Anna. »Ich würde die nächsten Tage am liebsten halbieren.«

»Ja, das wünschte ich mir auch.«

»Du meldest dich also noch mal wegen der Ankunftszeit?«

»Ja, mach ich.«

»Gut. Dann denk noch ein bisschen an mich.«

»Bis dann. Kuss.«

Jeff drückte die Aus-Taste. Er blickte noch eine Weile auf das Handy, so als würde er Anna darin sehen. Und ihn erfasste ein flaues Gefühl. Das, was ihm aus der Ferne wie die Erfüllung aller nur denkbaren Träume erschienen war, hatte sich nun in unumstößliche Realität verwandelt. Annas und sein Leben hatten sich zu einem einzigen Strang verwoben, und er übernahm nun die Verantwortung für ihr Glück, weil er sie auf die Ranch geholt hatte.

Am nächsten Tag saß er vor einem riesigen Bildschirm in einem leicht abgedunkelten Raum. Vor ihm versuchte sich Harry an den Knöpfen einer gigantischen Video- und Musikanlage.

»Vielleicht probierst du's mal mit Strom«, sagte Jeff, schob seinen Kaugummi vor die Zähne und ließ eine Blase zerplatzen.

Harry zupfte an seiner grauen Seidenhose und kniete nieder. Er steckte ein Kabel in die Steckdose. »Hab's gleich«, presste er aus der gebeugten Stellung hervor.

Jeff blickte schweigend auf das Schwarz des Bildschirms. Seine Gedanken waren auf der Rowly Ranch, bei Anna und Robert, als sich das Schwarz in Ocker verwandelte – in das Ocker einer steinigen Wüste. Dazu spielte »These boots are made for walking«. Eine Gruppe Frauen in hellblauen Burkas lief ins Bild. Die Musik wurde vom Knattern mehrerer Hubschrauber abgelöst, die Sekunden später über den Frauen hinwegflogen. Die Burkas der Frauen hoben sich im Wind bis über die Knie, und gelbe Päckchen regneten vom Himmel. Dazu setzte der Song »Freedom is another word for something else to wear« ein, dann ein harter Schnitt, die Musik verstummte, und eine Frau öffnete eins der Päckchen. Sie entrollte ein T-Shirt mit der Aufschrift »Think american, put on Walkstar-Shoes« und ein Paar Joggingschuhe.

Jeff sank tief in den weichen Ledersessel.

»Da bist du platt, was? Jetzt, wo ich's mir noch mal angesehen habe, denk ich wirklich, dass es einschlägt wie 'ne Bombe.«

»Wie 'ne Bombe, ja klar.« Jeff fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.

»Cool, nicht?«, setzte Harry ungeduldig nach, seine ängstlichen, ehrgeizigen Augen lauernd auf Jeff gerichtet.

»Das ist nicht dein Ernst, Harry«, erwiderte Jeff.

»Na klar. Man muss halt noch feilen, und da dachte ich ...«

Jeff stand auf, nahm sein Sakko und hob den Arm. »Mach's gut, Harry. Ich wünsch dir, dass du in dem verdammten Wüstensand stecken bleibst.«

Noch ehe Harry etwas erwidern konnte, war Jeff aus der Tür. Er winkte ein Taxi heran, ließ sich vor seiner Haustür absetzen und ging zu Fuß die acht Stockwerke hinauf. Er warf das Sakko in die Ecke des Flurs, zog sich aus und stieg unter die Dusche, wo er so lange unter dem warmen Wasser stand, bis seine Haut an den Fingerkuppen faltig wurde. Es war wie eine Reinigung.

7

Anna betrat das geräumige Wohnzimmer des Ranchhauses. Robert hatte sie dort nach einer kurzen Begehung allein gelassen, damit sie sich einrichten konnte. Aber viel Platz für Veränderungen blieb nicht. Alles schien seinen Sinn zu haben, jedes Ding dort verwachsen zu sein, wo es stand, hing oder lag. Robert hatte lediglich seinen selbst gezimmerten Schaukelstuhl, einige Fotos und Bücher und die ausgestopfte Büste eines Gabelbocks in sein neues Haus mitgenommen. Er hatte sich für seinen Ruhestand in ein kleines Blockhaus zurückgezogen, gerade groß genug für eine Person, die keine Ansprüche stellte. Er war mit wenig zufrieden, obwohl er mehr hätte haben können. Das war es, was Anna sofort an ihm gefiel seine Bescheidenheit.

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