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„In diesem Moment war sie nicht mehr die zupackende Tierärztin, der unerschrockene Kumpel in allen Lebenslagen. Sie war einfach eine Frau neben einem Mann, der ihr gefiel. Sie empfand einen stummen Gleichklang, einen Hauch von Nähe. Sie hörte den Fluss und ihr pochendes Herz.“ Annas größter Traum geht endlich in Erfüllung! Die junge Tierärztin tauscht weißen Kittel gegen Flanellhemd und reist auf eine Pferde-Ranch in Arizona. Ihr neuer Freund Michael ist davon weniger begeistert, kann die entschlossene Hamburgerin aber nicht von ihrem Plan abbringen. Kaum in der atemberaubenden Wüstenlandschaft Arizonas angekommen, lernt Anna den faszinierenden Cowboy Patrick kennen, der einen Wirbelsturm der Gefühle in ihr auslöst. Doch eines Tages dann taucht Michael auf der Farm auf … Eine Liebesgeschichte, so wild wie die Wüste Arizonas, in der Tradition von Nicholas Evans‘ Weltbestseller DER PFERDEFLÜSTERER.
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Seitenzahl: 482
Über dieses Buch:
Annas größter Traum geht endlich in Erfüllung! Die junge Tierärztin tauscht weißen Kittel gegen Flanellhemd und reist auf eine Pferde-Ranch in Arizona. Ihr neuer Freund Michael ist davon weniger begeistert, kann die entschlossene Hamburgerin aber nicht von ihrem Plan abbringen. Kaum in der atemberaubenden Wüstenlandschaft Arizonas angekommen, lernt Anna den faszinierenden Cowboy Patrick kennen, der einen Wirbelsturm der Gefühle in ihr auslöst. Doch dann taucht Michael auf der Farm auf …
Eine Liebesgeschichte, so wild wie die Wüste Arizonas, in der Tradition von Nicholas Evans‘ Weltbestseller DER PFERDEFLÜSTERER.
Über die Autorin:
Die Autorin, Fotografin und Grafikerin Jutta Besser, geboren 1955 in Essen, arbeitete für verschiedene Verlage und Fachzeitschriften. Beruflich wie privat gilt ihre größte Leidenschaft den Pferden. Sechs Jahre lang trainierte sie Rennpferde und veröffentlichte einen sehr erfolgreichen Bildband über Vollblutpferde. Sie hat zahlreiche Auslandsreisen unternommen, unter anderem auch nach Asien und in die USA. Dort hat sie dem Pferdeflüsterer Monty Roberts über die Schulter geschaut und Cowboys bei der Arbeit geholfen.
Von der Autorin erschien bei dotbooks bereits „Hell wie das Licht“. Weitere Titel sind in Arbeit.
Jutta Besser im Internet: http://www.jutta-besser.de/
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Neuausgabe Juli 2014
Copyright © der Originalausgabe 2003 Scherz Verlag
Copyright © Jutta Besser
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
Titelbildabbildung: © konradbak / fotolia.com
ISBN 978-3-95520-318-4
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Jutta Besser
Weit wie der Himmel
Roman
dotbooks.
Für Caroll und Roy, die mir auf ihrer Ranch gezeigt haben, was ein Leben in der Wildnis bedeutet, und deren Herzlichkeit und Wärme mir immer in Erinnerung bleiben werden.
Jeff blickte in den Spiegel. Immerhin zwei Zentimeter, dachte er und strich prüfend über die dunkelbraunen Stoppeln auf seinem Kopf, zwischen denen sich nun vereinzelte graue Sprenkel breit machten. Bevor er seine Haare das erste Mal abrasiert hatte, ergaben sie noch einen einheitlichen dunkelbraunen Teppich. Seit zwei Monaten war er zurück in der Stadt der Städte. Hinter ihm lagen drei Jahre der Suche, drei Jahre der Askese. Wofür? War er der Erkenntnis näher gekommen?
Er schaute in den Spiegel an sich vorbei durch die geöffnete Tür hinüber auf sein Bett. Er sah einen Fuß, dann ein Bein, das sich ihm entgegenstreckte und ihm verführerisch winkte.
»Komm, Jeff, ich habe noch nicht genug von dir«, säuselte es unter der Decke.
Ohne zu antworten blieb Jeff vor dem Spiegel stehen, zog den Verschluss von der Sprayflasche und drückte den schneeweißen Schaum auf seine stopplige Wange. Ja, dachte er, genau das hatte ihn immer von den tibetischen Mönchen unterschieden. Ihm allein rasierten sie nicht nur Kopf und Kinn, sondern die gesamte untere Gesichtshälfte. Er betrachtete sein kräftiges Kinn und fuhr mit der Hand über seine schmalen Wangen. Sein Blick wanderte zu den feinen Fältchen um seine Augen herum, die auf seinen Schläfen ausliefen.
»Jeff, komm, sei kein Spielverderber. Wir haben immerhin noch eine Stunde Zeit, eine wunderbare Stunde, ganz für uns zwei.«
Er vernahm das Rascheln der frisch gestärkten Bettdecke. Als er sich umdrehte, blickte er auf den makellosen nackten Körper einer Frau in der vollen Blüte ihres Lebens. Wie Alabaster, dachte er, einfach perfekt. Kein Fettpolster an der falschen Stelle, kein Haar zu viel an ihrem kleinen flauschigen Dreieck. Und ihre Brüste, prall und fest.
Aber er schüttelte matt den Kopf, blieb an seinem Platz und rasierte sich unbeirrt zu Ende. Es war stumpf und still in seinem Innern. Mit langsamen Bewegungen zog er den Schaum mit den Stoppeln aus seinem Gesicht und sah aus dem Augenwinkel eine plötzliche Bewegung im Bett. Sie steht auf, das ist gut, dachte er und griff zum Handtuch. Als er angekleidet aus dem Bad trat, war das Mädchen verschwunden. Verdammt, das kannst du nicht machen. Er lief zur Tür und hörte, wie die Haustür drei Stockwerke tiefer ins Schloss fiel. Er rief ihr aus dem Fenster nach, aber sie reagierte nicht.
Zwischen Erleichterung und Abscheu seiner selbst wanderte er durchs Schlafzimmer, streifte die Uhr über, betrat das Wohnzimmer, nahm das Handy vom Ladegerät und ging in die Küche. Das heisere Röcheln der verkalkten Kaffeemaschine empfing ihn wohlwollend. Endlich, dachte er, zog genüsslich den bitter-würzigen Geruch ein und goss Kaffee in den Pott mit der Aufschrift »Die Natur ist es, die uns verzückt, das Pferd, was uns beglückt« – ein Geschenk von seinem besten Freund Robert.
Er hob den Becher an den Mund und sah ihn vor sich, sein dichtes schneeweißes Haar, das immer platt an seinem Kopf klebte, weil er nur im Haus den Stetson abnahm, und seine verschmitzten blauen Augen, die auch im Alter nicht ihr Strahlen verloren hatten. Robert war siebenundzwanzig Jahre älter als er und eigentlich ein Freund seiner Mutter, aber mental war er der jüngste von ihnen allen. Er war zeitlos wie der Hut, den er trug. Wie ein romantischer Film aus fernen Tagen zogen die Bilder an ihm vorbei. Der Ausritt in die Wüste Arizonas, das Lagerfeuer, ihre erste große Aussprache, während sie das sechste lauwarme Bier aus ihren Blechbechern hinunterkippten. Und das kleine Ritual – die Box, die Uhren, ihr Lachen. Jeff erschrak. Die Uhren, die verfluchte Zeit. Sein Blick löste sich blitzartig aus der Vergangenheit und fiel auf die Zeiger seiner Armbanduhr. Noch zwei Stunden und er würde vor einem stämmigen Mittfünfziger stehen, Personalchef der Allmedia-Werbeagentur im Herzen von Manhattan, die Mappe mit den Unterlagen zu seiner Person unter dem Arm. Ein Lächeln, ein Händedruck, anschließend das Gespräch. Würden sie ihn nach der langen Pause nehmen?
Dann fiel ihm wieder das Mädchen ein, das gerade seine Wohnung verlassen hatte. Nachdenklich klopfte er eine Marlboro aus der halb leeren Packung und zündete sie an. Er sah ihr glattes vollwangiges Gesicht, die langen blonden Haare und den runden Mund, dessen einzige Bestimmung das Küssen zu sein schien. Nett war das nicht, wie er sie abgefertigt hatte, auch wenn sie einer zu schnell gereiften Frucht glich, die unter der verlockenden Schale unreif und fade schmeckte. Wo war sein Gewissen geblieben, seine innere moralische Instanz, sein Gefühl für andere Menschen? War es auf dem Weg zur Loslösung von allem Irdischen auf der Strecke geblieben, ausgelöscht anstelle von Begierde, Erfolgsstreben und der Sucht nach Anerkennung? Aber was hätte er ihr sagen können. Sie war nur eine von vielen. Und er war doch gerade nur seinem Gewissen hinterhergelaufen, nicht ihr. Das würde ihr auch nichts nützen. Er hörte noch einmal wie sie seinen Namen rief – Jeff –, ein kurzer, harter Name. Vor wenigen Monaten wurde er noch Arong genannt – das klang weicher, einnehmender. Aber was sind schon Namen. Er blickte erneut auf die Uhr. Viertel vor neun. Er musste los.
Ein fades Licht fiel in den dumpf-dunklen Raum des Bürogebäudes in der Fifth Avenue. Eine unscheinbare Frau in grauem Kostüm stellte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser neben die Whiskeyflasche auf dem niedrigen Beistelltisch. Das kalte Klirren der Eiswürfel in den Gläsern zerschnitt die erwartungsvolle Stille. Jeff spähte über die endlose Platte des Mahagonischreibtisches auf die dicken Finger des dicken Mannes, der prüfend ein Blatt nach dem anderen überflog. Hin und wieder zuckten seine Augenbrauen, ab und zu ein stummes Nicken.
»Interessant«, sagte er schließlich, »Sie waren bei Mason and Partner in Seattle Konzeptredakteur. Hervorragende Agentur, wirklich.« Seine kleinen listigen Augen wanderten abwärts. Er legte das nächste Blatt über das Gelesene und fixierte Jeff. Sein Blick enthielt die ganze Ablehnung alles Ungewöhnlichen.
»Warum sind Sie dort weggegangen?«
Jeff holte tief Luft und atmete ruhig aus, aber es half nichts. Die Anspannung wollte nicht aus seinem Körper weichen. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Auch dieser Mann macht nur seinen Job.
»Ich war ausgebrannt, wissen Sie, einfach fertig«, antwortete er mit gepresster Stimme. »Ich habe jahrelang vierzehn Stunden und mehr am Tag gearbeitet. Nichts ging mehr. Ich musste da raus.« Jeff zuckte mit den Schultern und ließ sie dann sinken. Es war gesagt. Er atmete kräftig durch.
Mit einem kurzen Räuspern zog der Mann ihm gegenüber eine Schachtel Davidoff aus der Tasche seines Jacketts. »Rauchen Sie?«
»Ja, danke.«
Er beugte sich zu ihm über den Schreibtisch und Jeff nahm eine Zigarette. Er gab ihnen beiden Feuer.
»Was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?«
»Ich bin gereist.«
«Aha.« Kurzes Schweigen. Graue Rauchschwaden rollten über den Schreibtisch.
Ganz ruhig bleiben, dachte Jeff. Wenn es ihn stört, ist es auch gut. Dann soll es eben nicht sein. Der Stuhl ihm gegenüber knarrte. Der Mann erhob sich schwerfällig.
»Mr Smith, Ihr Vater war Manager bei GB-Oel, nicht wahr?«
Jeff zuckte zusammen. Er hasste es, auf seinen Vater angesprochen zu werden.
»Ja, das ist richtig.«
Die dicken Finger des Personalchefs schoben die Blätter mit Jeffs Daten zusammen. Wieder ein kurzes Räuspern, dann Stille. Jeff senkte den Blick auf seine gefalteten Hände. Er erinnerte sich an das erste Gespräch am Telefon, an diese genau vorsortierte Abfrage seiner Daten. Das Hirn dieses Menschen funktionierte wie ein Tabellenprogramm. Was würde jetzt folgen? All seine Sinne waren geschärft.
»Okay, Sie haben den Posten«, hörte er sein Gegenüber sagen.
Die Worte drangen wie ein Donner in Jeffs Ohren. Hatte er nicht eben noch so sehr auf diesen Job gehofft? Jetzt erschrak er, als würde das erreichte Ziel wie ein dunkles Loch klaffen.
Anna nahm den Huf der braunen Hannoveranerstute auf und tastete ihn ab. Sie seufzte. Wahrscheinlich wieder ein Fall von Hufrollenentzündung, der typischen Verschleißerscheinung überstrapazierter und unsachgemäß gehaltener Pferde. Von der engen Box in die Halle, zwei Schrittrunden und dann los. Runter mit der Schnauze, untertreten, Trab verstärken, Versammlung und bloß nicht aufmucken. Anschließend zurück in die Box. Wie satt sie das hatte. Etwas musste sich in ihrem Leben ändern. Nachdenklich zog sie die Spritze mit der Hyaluronsäure auf. Immerhin, dachte sie, werde ich vielleicht im Herbst nach Arizona auf eine echte Ranch reisen, wo die Pferde noch auf der Weide und die Menschen mit ihnen im Rhythmus der Natur leben. Ein leichtes Kribbeln ging durch ihren Magen. Ganz allein in die Wildnis, zu unbekannten Menschen, die ein so völlig anderes Leben führten als sie. Würde sie während der geplanten vier Wochen nicht das Heimweh plagen?
»Hallo, Anna.«
Michaels freundliche Stimme holte sie aus dem Grübeln heraus. Sie drehte sich um, zuckte ein wenig zusammen und setzte den Huf des Pferdes auf den Boden der Stallgasse. Michael und Julia standen vor ihr.
Unauffällig musterte Anna seine schlaksige Figur in den Designer-Jeans und stellte wie jedes Mal fest, dass er ihr gefiel.
»Hallo, ihr zwei!« Sie strich sich eine Strähne ihres halblangen dunkelroten Haars aus dem Gesicht und wendete sich wieder dem Pferd zu.
»Ein lahmes Bein?«, fragte Michael.
»Ja, so was Ähnliches. Hufrollenentzündung. Ich glaube, der vierte Fall innerhalb von zwei Monaten.
»Und woran liegt das?«
»Zu viel Arbeit, zu wenig Entspannung.«
»Dann werden Sie mich wohl auch bald behandeln müssen.«
Er grinste.
»Dafür bin ich nicht zuständig. Leider.« Annas Mund verzog sich leicht nach links, wie immer, wenn ihr ein Wort entwischte, das sie lieber nicht gesagt hätte.
»Ich weiß. Nur Pferde. Immer nur Pferde.« Er blickte sich um. Julia war schon in der Box ihres Ponys verschwunden. »Warum sind Frauen eigentlich so verrückt nach Pferden?«
»Ein unerschöpfliches Thema. Pferde sind eben groß, stark, temperamentvoll ... sanft und intuitiv.«
»Aha, interessant.« Michael grinste wieder. »Also Eigenschaften, die nur Pferde in sich bergen?«
Sie lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Doch ... sie sind eben einfach nur so, wie sie sind, ohne Wenn und Aber, im Hier und Jetzt. Keine komplizierten Gedanken, kein Verdrängen, keine Falschheit. Pferde sind so herrlich direkt und schlicht gestrickt.«
»Papa, komm doch bitte mal!«, schallte Julias schrille Stimme durch den Stall.
»Wir sehen uns.« Michael drehte sich um und eilte die Stallgasse hinunter zu seiner Tochter.
Anna hielt die Spritze gegen das Licht, sprühte Desinfektionsspray auf einen Tupfer und rieb ein paar Mal kräftig damit über die kahl rasierte Stelle an der Fessel des Pferdes. Dann stach sie zu, locker und sicher aus dem Handgelenk. Ein leichtes Zucken im Bein und mit den Ohren, aber das Pferd stand ruhig und angstfrei.
»Feines Pferd, gut gemacht.« Sie klopfte sanft auf den Hals der Stute, löste den Strick und führte sie in ihre Box zurück. Als die schwer gehende Gittertür mit einem lauten Ruck ins Schloss fiel, stand Michael wieder hinter ihr.
»So, Julia sitzt auf ihrem Pony und ist selig. Zwei Wochen nicht reiten ist für sie so wie für mich zwei Jahre kein Urlaub.«
»Ja, das verstehe ich.«
»Wissen Sie denn, wie das ist, zwei Jahre kein Urlaub?«
»Nein, den lasse ich mir nie nehmen.«
»Ich beneide Sie.«
»Wieso? Sie können es sich doch sicher leisten. Und wegen Julia ...«
»Nein, nein, das ist nicht das Problem. Die Arbeit. Ich komme einfach nicht raus aus dem Laden.«
»Sie arbeiten in einer Werbeagentur, nicht?«
»Richtig. Immer Stress, immer Hektik. Aber ich will mich nicht beklagen. Ist schon ein interessanter Job.«
Anna nickte. Michael warf einen unruhigen Blick auf seine Uhr.
»So, ich muss noch mal in die Agentur.«
»Auch am Wochenende?« Anna überlegte, wie sie ihn noch ein bisschen aufhalten konnte.
»Ja, leider. Ich würde jetzt auch lieber mit Ihnen in der Reiterstube einen Kaffee trinken.«
Sie lächelte.
»Das nächste Mal.« Michael drehte sich auf einem Fuß um, hob kurz die Hand und ließ sie dann in der Hosentasche verschwinden.
Nett, dachte sie. Wie alt mag er sein? Etwas älter als ich vielleicht. Wahrscheinlich Mitte, Ende dreißig. Wie immer würde er in einer knappen Stunde zurückkommen und seine Tochter abholen. Sie würde ihm um den Hals fallen und begeistert von ihrer Reitstunde berichten.
Anna ging die Stallgasse hinunter zu ihrem Pferd. Die zierliche schwarzbraune Vollblutstute streckte ihr den schmalen kleinen Kopf entgegen und schnaubte leise.
»Du kommst jetzt raus, Rubi, kannst dich austoben.« Sie nahm das Halfter von der Tür, zog es behutsam über den Kopf des sensiblen Pferdes und führte es hinaus auf die Koppel. Sie konnte gerade noch den Strick lösen, als die Stute mit einem gewaltigen Satz losstürmte. Tiefe Spuren blieben im feuchten Sand zurück.
In ihrem Herzen wird sie immer ein Rennpferd sein, dachte Anna, während Rubi über die Koppel raste und immer wieder hart vor dem Zaun abbremste.
Sie ging in den Stall zurück und hielt abrupt inne. In der Mitte des langen Gangs stand Julia – weinend. Sie wirkte so winzig und hilflos, mit ihrem Helm in der Hand.
Anna trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »He, was ist los, Julia?«
»Er hat mich gebissen!«, rief sie schluchzend aus. Ihre Stimme war voller Empörung.
»Henry hat dich gebissen? Beim Reiten?«
»Nein, nicht beim Reiten.« Sie zog den Rotz hoch und wischte sich die verheulten Augen. »Wir mussten absteigen und nachgurten und als ich am Gurt gezogen habe, hat er nach mir geschnappt.«
Wieder rollten dicke Tränen über ihre Wangen.
»Das darfst du nicht so persönlich nehmen ...«
»Tu ich aber«, zischte sie und warf einen zornigen Blick in die Box ihres Ponys. »Es tut so weh.«
»Zeig mal, wo hat er dich denn erwischt?«
Julia schob den Ärmel ihrer Bluse hoch.
»O verdammt, das sieht aber bös aus!« Anna nahm ihren dünnen Arm und tastete vorsichtig über die dunkelroten Abdrücke der Pferdezähne oberhalb des Ellbogens.
»Au!« Julia zuckte zusammen.
»Warte, ich habe Heparin-Salbe. Das lindert.«
Anna holte die Tube aus ihrem Arztkoffer und schmierte Julia eine dünne Schicht Salbe auf den Arm.
»Wo bleibt denn mein Vater? Ich will nach Hause«, sagte Julia mit zittriger Stimme und wischte sich die Tränen ab.
Anna sah sich um und dann auf die Uhr. »Der Unterricht ist ja erst in einer halben Stunde zu Ende. Das wird wohl noch dauern.«
Julia stand mit hängenden Schultern vor ihr, ein Häufchen Elend, enttäuscht, gekränkt, in ihrem Stolz verletzt.
»Soll ich dich zu deiner Mutter nach Hause bringen?«
»Die ist nicht da. Ich bin übers Wochenende bei meinem Vater.«
»Ach so.« Anna nickte nachdenklich.
»Ich habe einen Schlüssel. Kannst du mich fahren?«, fragte Julia mit traurigem Blick.
»In die Wohnung deines Vaters?«
»Ja.«
Anna überlegte kurz. War vielleicht eine gute Gelegenheit, um sich näher zu kommen. »Okay, ich bringe dich hin.« Sie sagte dem Reitlehrer Bescheid und heftete einen Zettel, den Julia für Michael geschrieben hatte, an die Boxentür von Julias Pony.
»Wir sind bei dir. Alles okay. Anna und Julia.«
Wenig später saß Julia neben Anna im Auto. Ihr kurzes blondes Haar war völlig zerzaust und die Tränen hatten sich mit dem Staub auf ihrem Gesicht zu bräunlichen Schlieren vermischt.
»Hier ist es«, rief Julia, als sie um die Ecke bogen. Sie stiegen vor einem modernen Klinkerhaus aus.
»Kommst du noch mit rauf?«
»Soll ich?«
»Ja, bitte.«
Der Fahrstuhl brachte sie in die oberste Etage des Mietshauses. Julia schloss auf und sie betraten einen weitläufigen, spärlich eingerichteten Raum mit zwei sich gegenüberliegenden Schiebetüren und Balkons. Anna war beeindruckt – ein Penthouse in Alsternähe.
Julia wirkte sofort entspannter in der Wohnung ihres Vaters. »Fühl dich wie zu Hause«, sagte sie plötzlich mit Stolz in der Stimme, schloss die Tür und ließ sich lässig in den schwarzen Ledersessel fallen. Anna setzte sich ihr gegenüber auf die helle Leinencouch.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Danke, nein. Ich muss gleich wieder los«, antwortete Anna. Sie beobachtete, wie Julia auf die Uhr blickte, genau wie ihr Vater, dabei mit dem Zeigefinger über das Glas fuhr und einige Krümel vor Anna vom Glastisch wischte. In wenigen Minuten war aus dem kleinen Mädchen die Hausherrin geworden.
»Tut's noch weh?«, fragte Anna sanft.
»Ja, es brennt.« Julia fasste an ihren Arm. »Hat dich dein Pferd auch schon mal gebissen?«
»Nein, mein Pferd nicht, aber diverse andere. Das ist nichts Besonderes.«
»Ich finde schon. Ich hasse Henry. Er kann mir gestohlen bleiben.«
»Julia, das darfst du nicht sagen. Henry ist doch sonst ein liebes Pony. Weißt du, Pferde beißen sich oft mal untereinander und sie können nicht wissen, dass deine Haut viel dünner ist als ihre. Sie mögen bestimmte Berührungen nicht, vor allem am Bauch, und dann wehren sie sich. Nachgurten ist besonders unangenehm für sie.«
»Aber das ist doch kein Grund zu beißen.«
»Das sagst du. Pferde können nicht sprechen. Sie äußern ihren Unmut eben anders. Und sie wissen sozusagen nicht, was sie tun. Sie haben kein Bewusstsein. Dein Henry wollte dir auf jeden Fall nicht wehtun.«
Julia senkte den Kopf und schwieg.
»Wasch dir erst mal das Gesicht, Julia. Es ist ganz dreckig.«
Sie verschwand im Badezimmer.
Annas Augen wanderten durch den Raum, über die Plakate und Modeaufnahmen an den Wänden, vorbei an dem Bett, das auf einem dreieckigen Podest in der Ecke thronte, hin zu der transparent-grauen Verschalung eines Rechners und eines riesigen Bildschirms mit dem Emblem eines Apfels.
»Ist dein Vater Grafiker?«, fragte Anna mit einem Blick auf den Apple-Computer, als Julia wieder vor ihr saß.
»Er ist Artdirector«, antwortete Julia, als wäre sie aus einem Dämmerzustand erwacht. Ihre Augen leuchteten und die roten Ränder waren verschwunden. »Er macht Seiten für das Internet. Das nennt sich Webdesign.«
»Aha.« Anna nickte.
Einen Augenblick wussten sie sich nichts zu sagen.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Anna schließlich.
»Elf. Ich werde bald zwölf. Am 28. Juli.«
»Willst du auch mal Grafikerin werden?«
»Nein, lieber Tierärztin, so wie du.«
Anna lächelte. »Aber dann wirst du öfter mal Bisse und Tritte einstecken müssen.«
»Ist ja nicht so schlimm. Ich liebe Tiere, vor allem Pferde.«
Anna hörte Schritte vor der Tür.
»Ich glaube, dein Vater kommt.« Sie drehte sich gespannt um.
Michael betrat, einen Stapel Bücher balancierend, die Wohnung.
»Julia, was ist passiert, Liebes?« Er warf Anna einen fragenden Blick zu, während er die Bücher auf den Stuhl legte. Dann ging er zu Julia und nahm sie in den Arm.
»Ist schon okay, Paps.« Sie zog den Ärmel hoch und Michael zuckte zusammen.
»Oje, das sieht ja schlimm aus. Meine arme Kleine.« Er nahm Julia erneut in den Arm und blickte zu Anna. »Ist nett von Ihnen, dass Sie Julia hergefahren haben.«
»Kein Problem.«
Während Julia ihm erzählte, was passiert war, stand Anna zögernd auf.
»Sie wollen doch nicht etwa schon gehen? Einen Schluck trinken Sie doch noch mit uns auf den Schreck.« Michael ließ Anna los, holte etwas zu trinken und goss ihnen ein.
»Mein Pferd steht noch auf der Koppel.«
»Gibt es nicht jemanden, der es reinholen kann? Dann könnten Sie mit uns essen.«
»O ja«, rief Julia.
Anna tat so, als müsste sie überlegen, strich nachdenklich die Haare hinter die Ohren und nickte schließlich. »Im Prinzip ja, aber ich muss auch noch zwei Pferde Impfen.«
»Kannst du das nicht morgen machen?«, fragte Julia.
»Ja, ich glaube schon. Aber ich bin gar nicht auf ein Abendessen vorbereitet. Ich rieche bestimmt nach Stall.«
»Das stört uns nicht. Und außerdem«, Michael deutete auf die Tür neben dem Eingang, »haben wir so etwas wie ein Bad. Ich kann Ihnen auch ein T-Shirt anbieten.«
»Okay, danke.«
Michael reichte ihr den Hörer mit einem Lächeln, das sie nicht unberührt ließ. Es war das erste Mal seit langem, dass sie sich wieder von einem Mann angezogen fühlte. Sie kam gut alleine klar, konnte sich bestens mit sich selbst beschäftigen. Aber, dachte sie, nicht verheiratet oder geschieden mit fünfunddreißig – wirkte das nicht ein bisschen wie übrig geblieben? Die Aussicht auf einen Flirt hob ihre Stimmung. Endlich passierte mal wieder etwas. Sie berichtigte sich – hoffentlich. Es könnte auch eine bloße Nettigkeit sein, als Dank für ihre Hilfe. Wie dem auch sei, sie organisierte alles im Reitstall und blieb zum Essen bei Michael.
Eine Stunde später saßen sie zusammen am Tisch. Anna rollte die klebrigen Spaghetti mit der undefinierbaren Tomatensoße um die Gabel und schob sie bedächtig in den Mund.
»Sie sind leider nicht al dente«, entschuldigte sich Michael. »Meine Kochkünste sind bescheiden. Nächstes Mal gehen wir zum Italiener.«
Anna schluckte. »Ist schon okay. Sie haben das Glück, dass ich völlig ausgehungert bin.«
»Also ich mag Papas Spaghetti. Ist mein Leibgericht.«
»Wollen wir nicht dieses steife Sie durch ein nettes Du ersetzen?« Michael lächelte.
»Cool«, warf Julia ein. »Endlich!«
»Ja, gerne«, sagte Anna und erwiderte Michaels langen, eindringlichen Blick. Er ist der Typ von Mann, der auch mit fünfzig noch jungenhaft aussehen wird, dachte sie. Sein Haar könnte etwas länger und dunkler sein und die Koteletten etwas kürzer, aber als Werbemensch muss man natürlich im Trend sein. Er hat wirklich einen interessanten Kopf und intelligente Augen, schloss sie die Musterung ab und sah zu seiner Tochter hinüber. Sie schien eher der Mutter nachzukommen. Ihr etwas spitzes, altkluges Gesicht hatte nichts mit dem von Michael gemein.
Julia legte das Besteck auf ihren Teller. Ihr Blick schweifte ein paar Mal aufmerksam zwischen ihrem Vater und Anna hin und her.
»Julia, du gehst jetzt ins Bett. Es ist schon neun«, sagte Michael mit weichem, aber bestimmtem Ton.
»Nein, bitte Papa, noch nicht.«
»Deine Mutter würde ...«
»Nun fang nicht wieder mit Mama an. Du musst doch selbst wissen, was richtig ist.«
Michael sah hilflos zu Anna hinüber, dann wieder zu Julia.
»Komm, Liebes, auch wenn es dich heute hart getroffen hat. Geh jetzt bitte. Morgen ist Schule.«
»Ja, ich weiß.« Sie schob den Stuhl gelangweilt nach hinten, erhob sich im Zeitlupentempo und schlurfte in Richtung Bad. »Ich komme noch mal wieder«, rief sie Anna zu und verschwand.
Michael seufzte. »Sie ist eigentlich sehr umgänglich, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren.«
»Wo das wohl herkommt?«, entwischte es Anna und ihr Mund verzog sich leicht nach links.
»Natürlich von ihrer Mutter«, gab Michael zurück und fixierte Anna mit seinen aufmerksamen graublauen Augen.
»In welcher Agentur arbeitest du eigentlich?«, fragte sie in das knisternde Schweigen.
»Bei Rummert und Johnson.«
»Große Agentur?«
»Eine der größten in Deutschland, die auf Internet spezialisiert sind.«
»Und was hast du studiert? Ich vermute, dass du auch noch vor dem Internetboom in die Ausbildung eingestiegen bist.«
Sie grinste.
»Richtig erkannt.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe an der Kunsthochschule Grafikdesign studiert und noch Layouts geklebt.«
»Macht dir dein Beruf am Computer Spaß?«
»Ich liebe ihn, bin ein richtiger Fanatiker.« Michael hob die Arme und lächelte. »Und du? Dir macht's doch sicher auch Spaß, kranken Tieren wieder auf die Beine zu helfen.«
»Es geht so. Nicht mehr so wie früher.«
Michael zerknüllte seine Serviette, warf sie auf den Teller, erhob sich und legte seine Hand auf Annas Schulter. »Komm, ich zeig dir was.«
Sie folgte ihm durch das riesige Zimmer, vorbei an seinem Bett, dessen Inneres sich unter einer Decke mit einem aufgedruckten Warhol-Plakat verbarg. Ihre Absätze klackten auf dem Parkett, so sanft sie auch aufzutreten versuchte. Die Leere des Raums verstärkte jedes Geräusch und jedes Wort.
Sie blieben vor einem Computer stehen. Michael drückte auf eine der Tasten und der Apple-Macintosh erwachte mit einem satten Klang aus seinem Schlaf. Ein leises Rattern signalisierte das Laden mehrerer Systemzusätze. Dann wechselte das Schwarz auf dem Bildschirm in einen türkis gemusterten Hintergrund, auf dem diverse Icons erschienen.
»Das ist mein Mac«, sagte Michael mit einem stolzen Lächeln. »Klingt wie 'ne Harley-Davidson, nicht?«
»Und sieht aus wie eine Kühltasche«, erwiderte Anna.
Michael lächelte verständnislos. »Okay, das Design ist sicher nicht jedermanns Sache, aber ist schon ein cooles Gerät. G-4, hundert Gigabyte-Festplatte, ein Gigabyte Arbeitsspeicher und sage und schreibe 733 Megahertz getaktet. Superschnelle Maschine. So schnell kannst du gar nicht denken, wie der rechnet.«
»Und trotzdem bist du immer im Stress?«
»Ja. Eigentlich verrückt. Aber der Arbeitsrhythmus passt sich nun mal gleich der fortschreitenden Technik an. Das ist ein fataler Kreislauf.«
»Der Fortschritt ist eben überhaupt kein Fortschritt, er ist nur eine Veränderung.«
»Na ja, das würde ich so nicht sagen. Ich möchte jedenfalls keine Klebelayouts mehr machen.«
»Nein, sicher nicht. Aber jetzt klebst du wahrscheinlich an deinem Computer.« Anna zwinkerte ihm von der Seite zu.
»So wie du an den Pferden. Jedem das seine«, erwiderte Michael, während sie vor dem leise summenden Apple-Computer standen.
»Ja, Hauptsache, man ist glücklich dabei und vergisst nicht zu leben.«
»Genau.« Er blickte sie an und strich kurz mit der Hand über ihren Arm. »Lebst du eigentlich allein?«
»Ja.« Anna lächelte verlegen. Warum, fragte sie sich, ist mir das immer so peinlich? Wir befinden uns doch im 21. Jahrhundert!
»Und? Fühlst du dich gut dabei?«, fragte Michael und blickte auffordernd in ihre großen braunen Augen.
»Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Aber es ist nun mal so. Beziehungen sind eben das Schwierigste im Leben.«
»Stimmt.« Er lächelte und presste kurz die Lippen zusammen. »Ich bin geschieden, doch das weißt du ja sicher bereits.«
Anna nickte.
»Du hast immerhin einen sinnvollen Beruf.«
»Na ja, was ist schon sinnvoll? Ich fange an das Leben zu durchschauen, seinen Nichtsinn zu begreifen.«
Michael sah sie erstaunt an. »Und? Wohin führt dich das?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich befinde mich auf der Suche.«
Die Badezimmertür öffnete sich und Julia flatterte im seidenen Bademantel auf ihren Vater zu. Sie drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Tschau, ihr beiden. Viel Spaß noch!« Mit einem gönnerhaften Zwinkern verschwand sie hinter einer Tür mit einem aufgeklebten Pferdeplakat. Dann öffnete sich diese noch einmal. »Vielen Dank, Anna, fürs Herfahren.«
Anna lächelte ihr zu und die Tür schloss sich wieder.
Einen Augenblick herrschte unschlüssiges Schweigen.
»Nun zeig mir mal, was deine Luxusmaschine kann«, sagte Anna heiter.
»Gut. Du wirst sehen, diese Kiste ist wirklich eine Schatztruhe.« Er verschränkte die Arme und warf Anna einen gewichtigen Blick zu. »Vorausgesetzt, man versteht sie entsprechend zu füllen.«
Michael ließ sich auf den Bürostuhl nieder und drehte sich darauf einmal um sich selbst.
Anna stand hinter ihm, die Augen auf seine Hände gerichtet. Mit virtuoser Leichtigkeit sausten seine schlanken Finger über die elegante schwarze Tastatur. Dann legte sich die Rechte auf die halb türkisfarbene, halb durchsichtige Maus und brachte sie klickend zum Laufen. Anna hob den Blick auf den Bildschirm und beobachtete fasziniert den Wechsel diverser Seiten. Farben flossen ineinander, rotierende Icons schnellten ihr entgegen, Schriften tauchten aus dem Nichts auf und gewannen langsam an Schärfe und Größe. Ein Zeichen und ein Schriftzug drehten sich auf sie zu, Pinselstriche sausten über die virtuelle Fläche und formten sich zu einem Logo. Kleine Musik- und Geräuscheinlagen untermalten die optische Wirkung. Sie sahen stumm auf den Bildschirm. Kein Wort kam über Michaels Lippen, kein Blick zu Anna. Er schien in dieser virtuellen Welt zu verschwinden.
»Wow!«, unterbrach Anna schließlich das Schweigen. »Das sieht ja toll aus. Wirklich beeindruckend, wie du dieser toten Kiste Leben einhauchst.« Annas Erfahrung mit dem Internet beschränkte sich auf Bestellungen von Medikamenten und den Abruf von Informationen. Aber derart gestaltete Seiten sah sie zum ersten Mal.
»Das habe ich mit Flash erstellt, einem Programm, mit dem man vektorisierte Filme machen kann«, erklärte Michael und sah zu ihr auf. Er konnte seinen Stolz nicht verbergen. Seine Augen leuchteten und Annas blieben fragend. Sie hatte nichts von dem verstanden, was er gesagt hatte.
»Schluss der Vorstellung.« Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Oder ... warte ... das muss ich dir doch noch zeigen.« Er tippte etwas ein und auf dem Bildschirm erschien eine rote Fläche, die sich mehr und mehr auflöste, bis nur noch ein gezeichnetes Herz zurückblieb.
Anna lächelte und erwiderte seinen Händedruck. Sie dachte kurz über einen Kuss nach, hielt sich dann aber doch zurück und ging langsam zur Tür.
Michael folgte ihr, drehte sie zu sich und küsste sie. Sein Kuss war zunächst flüchtig, dann drängender. Zögernd sanken seine Arme von ihren Schultern hinab auf ihre Hüften.
»Wenn Julia nicht hier wäre, hätte ich dich gebeten zu bleiben.«
»Wenn Julia nicht hier wäre, würde ich auch nicht bleiben«, entgegnete Anna sanft und küsste ihn noch einmal auf den Mund. »Noch nicht.«
Sie betrat den Fahrstuhl. Die Glastür fiel zu und Michael stand lächelnd dahinter. Dann senkte sich die kleine Kabine in die Tiefe und sein Bild verschwand. Ein fast vergessenes Gefühl machte sich in ihr breit. Es tat ihr gut, brachte Bewegung in ihr Inneres. Hatte sie sich tatsächlich in einen Grafiker, einen Internet-Fanatiker verliebt? Verrückt, sagte sie sich. Das passiert mir, die ich mich immer mehr von der Technik abwende. Man ist sich selbst das größte Rätsel im Leben, dachte sie und trat in die frische Abendluft hinaus.
Ein Schwarm Krähen wirbelte aus den Bäumen empor, zog einen Kreis und senkte sich mit unbeirrbarer Selbstverständlichkeit dorthin zurück, von wo er aufgescheucht wurde. Wie unerschütterlich, dachte Jeff, während sein Blick aus dem vierzehnten Stockwerk des Bürohauses in der Fifth Avenue über das grüne Loch zwischen den Wolkenkratzern schweifte. Wieder und wieder erhoben sich die Vögel und kehrten an ihren Platz zurück, nachdem die Jogger verschwunden waren.
Da liefen sie, die bewegungshungrigen Sklaven der Computergesellschaft, die ewig Gehetzten, die Stadtneurotiker. Gehöre ich nun auch wieder dazu?, fragte er sich und lehnte sich zurück. Er tastete über seine Schulter, fühlte das korrekt sitzende Polster seines sündhaft teuren Armani-Anzugs und warf den Computer an. Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon.
»Jeff! Hier ist Robert. Gratuliere! Habe es gestern von deinem Cousin erfahren. Wie fühlst du dich?«
»Okay. Könnte besser sein. Aber die Aussicht ist fantastisch.«
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