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Weit wie der Himmel „In diesem Moment war sie nicht mehr die zupackende Tierärztin, der unerschrockene Kumpel in allen Lebenslagen. Sie war einfach eine Frau neben einem Mann, der ihr gefiel. Sie empfand einen stummen Gleichklang, einen Hauch von Nähe. Sie hörte den Fluss und ihr pochendes Herz.“ Annas größter Traum geht endlich in Erfüllung! Die junge Tierärztin tauscht weißen Kittel gegen Flanellhemd und reist auf eine Pferde-Ranch in Arizona. Ihr neuer Freund Michael ist davon weniger begeistert, kann die entschlossene Hamburgerin aber nicht von ihrem Plan abbringen. Kaum in der atemberaubenden Wüstenlandschaft Arizonas angekommen, lernt Anna den faszinierenden Cowboy Patrick kennen, der einen Wirbelsturm der Gefühle in ihr auslöst. Doch eines Tages dann taucht Michael auf der Farm auf … Eine Liebesgeschichte, so wild wie die Wüste Arizonas, in der Tradition von Nicholas Evans‘ Weltbestseller DER PFERDEFLÜSTERER. Hell wie das Licht „Was für ein schönes Fleckchen Erde!“ Anna blickte zu der über dreitausend Meter in den klaren Himmel aufsteigenden Erhebung hinüber. Eine grandiose Kulisse für den Beginn eines neuen Lebens. Annas Leben steht Kopf: Die Sehnsucht nach Cowboy Jeff treibt sie vom verregneten Hamburg in die endlosen weiten Wyomings. Auf einer einsamen Ranch, meilenweit von der nächsten Ortschaft entfernt, wird sie Jeff endlich wieder nahe sein. Doch schnell holt sie die erbarmungslose Realität wieder ein: Der eiskalte Winter, Blizzards und Raubtiere zerstören die anfängliche Romantik und zehren an Annas Kräften. War der Umzug in den rauen Nordwesten Amerikas wirklich die richtige Entscheidung? Ehrlich, packend und dabei immer überwältigend schön: Die Landschaft Wyomings und eine Liebe mit vielen Hindernissen.
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Seitenzahl: 1055
Über „Weit wie der Himmel“:
Annas größter Traum geht endlich in Erfüllung! Die junge Tierärztin tauscht weißen Kittel gegen Flanellhemd und reist auf eine Pferde-Ranch in Arizona. Ihr neuer Freund Michael ist davon weniger begeistert, kann die entschlossene Hamburgerin aber nicht von ihrem Plan abbringen. Kaum in der atemberaubenden Wüstenlandschaft Arizonas angekommen, lernt Anna den faszinierenden Cowboy Patrick kennen, der einen Wirbelsturm der Gefühle in ihr auslöst. Doch dann taucht Michael auf der Farm auf …
Eine Liebesgeschichte, so wild wie die Wüste Arizonas, in der Tradition von Nicholas Evans‘ Weltbestseller DER PFERDEFLÜSTERER.
Über „Hell wie das Licht“:
Annas Leben steht Kopf: Die Sehnsucht nach Cowboy Jeff treibt sie vom verregneten Hamburg in die endlosen weiten Wyomings. Auf einer einsamen Ranch, meilenweit von der nächsten Ortschaft entfernt, wird sie Jeff endlich wieder nahe sein. Doch schnell holt sie die erbarmungslose Realität wieder ein: Der eiskalte Winter, Blizzards und Raubtiere zerstören die anfängliche Romantik und zehren an Annas Kräften. War der Umzug in den rauen Nordwesten Amerikas wirklich die richtige Entscheidung?
Ehrlich, packend und dabei immer überwältigend schön: Die Landschaft Wyomings und eine Liebe mit vielen Hindernissen.
Über die Autorin:
Die Autorin, Fotografin und Grafikerin Jutta Besser, geboren 1955 in Essen, arbeitete für verschiedene Verlage und Fachzeitschriften. Beruflich wie privat gilt ihre größte Leidenschaft den Pferden. Sechs Jahre lang trainierte sie Rennpferde und veröffentlichte einen sehr erfolgreichen Bildband über Vollblutpferde. Sie hat zahlreiche Auslandsreisen unternommen, unter anderem auch nach Asien und in die USA. Dort hat sie dem Pferdeflüsterer Monty Roberts über die Schulter geschaut und Cowboys bei der Arbeit geholfen.
Jutta Besser im Internet: http://www.jutta-besser.de/
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Originalausgabe März 2015
Copyright © der Originalausgaben Weit wie der Himmel und Hell wie das Licht 2003 Scherz Verlag, Bern
Copyright © Jutta Besser
Copyright © der Neuausgaben 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotives von shutterstock/Alexey Losevich
ISBN 978-3-95824-103-9
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Jutta Besser
Weit wie der Himmel & Hell wie das Licht
Zwei Romane in einem Band
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Für Caroll und Roy, die mir auf ihrer Ranch gezeigt haben, was ein Leben in der Wildnis bedeutet, und deren Herzlichkeit und Wärme mir immer in Erinnerung bleiben werden.
1
Jeff blickte in den Spiegel. Immerhin zwei Zentimeter, dachte er und strich prüfend über die dunkelbraunen Stoppeln auf seinem Kopf, zwischen denen sich nun vereinzelte graue Sprenkel breit machten. Bevor er seine Haare das erste Mal abrasiert hatte, ergaben sie noch einen einheitlichen dunkelbraunen Teppich. Seit zwei Monaten war er zurück in der Stadt der Städte. Hinter ihm lagen drei Jahre der Suche, drei Jahre der Askese. Wofür? War er der Erkenntnis näher gekommen?
Er schaute in den Spiegel an sich vorbei durch die geöffnete Tür hinüber auf sein Bett. Er sah einen Fuß, dann ein Bein, das sich ihm entgegenstreckte und ihm verführerisch winkte.
»Komm, Jeff, ich habe noch nicht genug von dir«, säuselte es unter der Decke.
Ohne zu antworten blieb Jeff vor dem Spiegel stehen, zog den Verschluss von der Sprayflasche und drückte den schneeweißen Schaum auf seine stopplige Wange. Ja, dachte er, genau das hatte ihn immer von den tibetischen Mönchen unterschieden. Ihm allein rasierten sie nicht nur Kopf und Kinn, sondern die gesamte untere Gesichtshälfte. Er betrachtete sein kräftiges Kinn und fuhr mit der Hand über seine schmalen Wangen. Sein Blick wanderte zu den feinen Fältchen um seine Augen herum, die auf seinen Schläfen ausliefen.
»Jeff, komm, sei kein Spielverderber. Wir haben immerhin noch eine Stunde Zeit, eine wunderbare Stunde, ganz für uns zwei.«
Er vernahm das Rascheln der frisch gestärkten Bettdecke. Als er sich umdrehte, blickte er auf den makellosen nackten Körper einer Frau in der vollen Blüte ihres Lebens. Wie Alabaster, dachte er, einfach perfekt. Kein Fettpolster an der falschen Stelle, kein Haar zu viel an ihrem kleinen flauschigen Dreieck. Und ihre Brüste, prall und fest.
Aber er schüttelte matt den Kopf, blieb an seinem Platz und rasierte sich unbeirrt zu Ende. Es war stumpf und still in seinem Innern. Mit langsamen Bewegungen zog er den Schaum mit den Stoppeln aus seinem Gesicht und sah aus dem Augenwinkel eine plötzliche Bewegung im Bett. Sie steht auf, das ist gut, dachte er und griff zum Handtuch. Als er angekleidet aus dem Bad trat, war das Mädchen verschwunden. Verdammt, das kannst du nicht machen. Er lief zur Tür und hörte, wie die Haustür drei Stockwerke tiefer ins Schloss fiel. Er rief ihr aus dem Fenster nach, aber sie reagierte nicht.
Zwischen Erleichterung und Abscheu seiner selbst wanderte er durchs Schlafzimmer, streifte die Uhr über, betrat das Wohnzimmer, nahm das Handy vom Ladegerät und ging in die Küche. Das heisere Röcheln der verkalkten Kaffeemaschine empfing ihn wohlwollend. Endlich, dachte er, zog genüsslich den bitter-würzigen Geruch ein und goss Kaffee in den Pott mit der Aufschrift »Die Natur ist es, die uns verzückt, das Pferd, was uns beglückt« – ein Geschenk von seinem besten Freund Robert.
Er hob den Becher an den Mund und sah ihn vor sich, sein dichtes schneeweißes Haar, das immer platt an seinem Kopf klebte, weil er nur im Haus den Stetson abnahm, und seine verschmitzten blauen Augen, die auch im Alter nicht ihr Strahlen verloren hatten. Robert war siebenundzwanzig Jahre älter als er und eigentlich ein Freund seiner Mutter, aber mental war er der jüngste von ihnen allen. Er war zeitlos wie der Hut, den er trug. Wie ein romantischer Film aus fernen Tagen zogen die Bilder an ihm vorbei. Der Ausritt in die Wüste Arizonas, das Lagerfeuer, ihre erste große Aussprache, während sie das sechste lauwarme Bier aus ihren Blechbechern hinunterkippten. Und das kleine Ritual – die Box, die Uhren, ihr Lachen. Jeff erschrak. Die Uhren, die verfluchte Zeit. Sein Blick löste sich blitzartig aus der Vergangenheit und fiel auf die Zeiger seiner Armbanduhr. Noch zwei Stunden und er würde vor einem stämmigen Mittfünfziger stehen, Personalchef der Allmedia-Werbeagentur im Herzen von Manhattan, die Mappe mit den Unterlagen zu seiner Person unter dem Arm. Ein Lächeln, ein Händedruck, anschließend das Gespräch. Würden sie ihn nach der langen Pause nehmen?
Dann fiel ihm wieder das Mädchen ein, das gerade seine Wohnung verlassen hatte. Nachdenklich klopfte er eine Marlboro aus der halb leeren Packung und zündete sie an. Er sah ihr glattes vollwangiges Gesicht, die langen blonden Haare und den runden Mund, dessen einzige Bestimmung das Küssen zu sein schien. Nett war das nicht, wie er sie abgefertigt hatte, auch wenn sie einer zu schnell gereiften Frucht glich, die unter der verlockenden Schale unreif und fade schmeckte. Wo war sein Gewissen geblieben, seine innere moralische Instanz, sein Gefühl für andere Menschen? War es auf dem Weg zur Loslösung von allem Irdischen auf der Strecke geblieben, ausgelöscht anstelle von Begierde, Erfolgsstreben und der Sucht nach Anerkennung? Aber was hätte er ihr sagen können. Sie war nur eine von vielen. Und er war doch gerade nur seinem Gewissen hinterhergelaufen, nicht ihr. Das würde ihr auch nichts nützen. Er hörte noch einmal wie sie seinen Namen rief – Jeff –, ein kurzer, harter Name. Vor wenigen Monaten wurde er noch Arong genannt – das klang weicher, einnehmender. Aber was sind schon Namen. Er blickte erneut auf die Uhr. Viertel vor neun. Er musste los.
Ein fades Licht fiel in den dumpf-dunklen Raum des Bürogebäudes in der Fifth Avenue. Eine unscheinbare Frau in grauem Kostüm stellte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser neben die Whiskeyflasche auf dem niedrigen Beistelltisch. Das kalte Klirren der Eiswürfel in den Gläsern zerschnitt die erwartungsvolle Stille. Jeff spähte über die endlose Platte des Mahagonischreibtisches auf die dicken Finger des dicken Mannes, der prüfend ein Blatt nach dem anderen überflog. Hin und wieder zuckten seine Augenbrauen, ab und zu ein stummes Nicken.
»Interessant«, sagte er schließlich, »Sie waren bei Mason and Partner in Seattle Konzeptredakteur. Hervorragende Agentur, wirklich.« Seine kleinen listigen Augen wanderten abwärts. Er legte das nächste Blatt über das Gelesene und fixierte Jeff. Sein Blick enthielt die ganze Ablehnung alles Ungewöhnlichen.
»Warum sind Sie dort weggegangen?«
Jeff holte tief Luft und atmete ruhig aus, aber es half nichts. Die Anspannung wollte nicht aus seinem Körper weichen. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Auch dieser Mann macht nur seinen Job.
»Ich war ausgebrannt, wissen Sie, einfach fertig«, antwortete er mit gepresster Stimme. »Ich habe jahrelang vierzehn Stunden und mehr am Tag gearbeitet. Nichts ging mehr. Ich musste da raus.« Jeff zuckte mit den Schultern und ließ sie dann sinken. Es war gesagt. Er atmete kräftig durch.
Mit einem kurzen Räuspern zog der Mann ihm gegenüber eine Schachtel Davidoff aus der Tasche seines Jacketts. »Rauchen Sie?«
»Ja, danke.«
Er beugte sich zu ihm über den Schreibtisch und Jeff nahm eine Zigarette. Er gab ihnen beiden Feuer.
»Was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?«
»Ich bin gereist.«
«Aha.« Kurzes Schweigen. Graue Rauchschwaden rollten über den Schreibtisch.
Ganz ruhig bleiben, dachte Jeff. Wenn es ihn stört, ist es auch gut. Dann soll es eben nicht sein. Der Stuhl ihm gegenüber knarrte. Der Mann erhob sich schwerfällig.
»Mr Smith, Ihr Vater war Manager bei GB-Oel, nicht wahr?«
Jeff zuckte zusammen. Er hasste es, auf seinen Vater angesprochen zu werden.
»Ja, das ist richtig.«
Die dicken Finger des Personalchefs schoben die Blätter mit Jeffs Daten zusammen. Wieder ein kurzes Räuspern, dann Stille. Jeff senkte den Blick auf seine gefalteten Hände. Er erinnerte sich an das erste Gespräch am Telefon, an diese genau vorsortierte Abfrage seiner Daten. Das Hirn dieses Menschen funktionierte wie ein Tabellenprogramm. Was würde jetzt folgen? All seine Sinne waren geschärft.
»Okay, Sie haben den Posten«, hörte er sein Gegenüber sagen.
Die Worte drangen wie ein Donner in Jeffs Ohren. Hatte er nicht eben noch so sehr auf diesen Job gehofft? Jetzt erschrak er, als würde das erreichte Ziel wie ein dunkles Loch klaffen.
2
Anna nahm den Huf der braunen Hannoveranerstute auf und tastete ihn ab. Sie seufzte. Wahrscheinlich wieder ein Fall von Hufrollenentzündung, der typischen Verschleißerscheinung überstrapazierter und unsachgemäß gehaltener Pferde. Von der engen Box in die Halle, zwei Schrittrunden und dann los. Runter mit der Schnauze, untertreten, Trab verstärken, Versammlung und bloß nicht aufmucken. Anschließend zurück in die Box. Wie satt sie das hatte. Etwas musste sich in ihrem Leben ändern. Nachdenklich zog sie die Spritze mit der Hyaluronsäure auf. Immerhin, dachte sie, werde ich vielleicht im Herbst nach Arizona auf eine echte Ranch reisen, wo die Pferde noch auf der Weide und die Menschen mit ihnen im Rhythmus der Natur leben. Ein leichtes Kribbeln ging durch ihren Magen. Ganz allein in die Wildnis, zu unbekannten Menschen, die ein so völlig anderes Leben führten als sie. Würde sie während der geplanten vier Wochen nicht das Heimweh plagen?
»Hallo, Anna.«
Michaels freundliche Stimme holte sie aus dem Grübeln heraus. Sie drehte sich um, zuckte ein wenig zusammen und setzte den Huf des Pferdes auf den Boden der Stallgasse. Michael und Julia standen vor ihr.
Unauffällig musterte Anna seine schlaksige Figur in den Designer-Jeans und stellte wie jedes Mal fest, dass er ihr gefiel.
»Hallo, ihr zwei!« Sie strich sich eine Strähne ihres halblangen dunkelroten Haars aus dem Gesicht und wendete sich wieder dem Pferd zu.
»Ein lahmes Bein?«, fragte Michael.
»Ja, so was Ähnliches. Hufrollenentzündung. Ich glaube, der vierte Fall innerhalb von zwei Monaten.
»Und woran liegt das?«
»Zu viel Arbeit, zu wenig Entspannung.«
»Dann werden Sie mich wohl auch bald behandeln müssen.«
Er grinste.
»Dafür bin ich nicht zuständig. Leider.« Annas Mund verzog sich leicht nach links, wie immer, wenn ihr ein Wort entwischte, das sie lieber nicht gesagt hätte.
»Ich weiß. Nur Pferde. Immer nur Pferde.« Er blickte sich um. Julia war schon in der Box ihres Ponys verschwunden. »Warum sind Frauen eigentlich so verrückt nach Pferden?«
»Ein unerschöpfliches Thema. Pferde sind eben groß, stark, temperamentvoll ... sanft und intuitiv.«
»Aha, interessant.« Michael grinste wieder. »Also Eigenschaften, die nur Pferde in sich bergen?«
Sie lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Doch ... sie sind eben einfach nur so, wie sie sind, ohne Wenn und Aber, im Hier und Jetzt. Keine komplizierten Gedanken, kein Verdrängen, keine Falschheit. Pferde sind so herrlich direkt und schlicht gestrickt.«
»Papa, komm doch bitte mal!«, schallte Julias schrille Stimme durch den Stall.
»Wir sehen uns.« Michael drehte sich um und eilte die Stallgasse hinunter zu seiner Tochter.
Anna hielt die Spritze gegen das Licht, sprühte Desinfektionsspray auf einen Tupfer und rieb ein paar Mal kräftig damit über die kahl rasierte Stelle an der Fessel des Pferdes. Dann stach sie zu, locker und sicher aus dem Handgelenk. Ein leichtes Zucken im Bein und mit den Ohren, aber das Pferd stand ruhig und angstfrei.
»Feines Pferd, gut gemacht.« Sie klopfte sanft auf den Hals der Stute, löste den Strick und führte sie in ihre Box zurück. Als die schwer gehende Gittertür mit einem lauten Ruck ins Schloss fiel, stand Michael wieder hinter ihr.
»So, Julia sitzt auf ihrem Pony und ist selig. Zwei Wochen nicht reiten ist für sie so wie für mich zwei Jahre kein Urlaub.«
»Ja, das verstehe ich.«
»Wissen Sie denn, wie das ist, zwei Jahre kein Urlaub?«
»Nein, den lasse ich mir nie nehmen.«
»Ich beneide Sie.«
»Wieso? Sie können es sich doch sicher leisten. Und wegen Julia ...«
»Nein, nein, das ist nicht das Problem. Die Arbeit. Ich komme einfach nicht raus aus dem Laden.«
»Sie arbeiten in einer Werbeagentur, nicht?«
»Richtig. Immer Stress, immer Hektik. Aber ich will mich nicht beklagen. Ist schon ein interessanter Job.«
Anna nickte. Michael warf einen unruhigen Blick auf seine Uhr.
»So, ich muss noch mal in die Agentur.«
»Auch am Wochenende?« Anna überlegte, wie sie ihn noch ein bisschen aufhalten konnte.
»Ja, leider. Ich würde jetzt auch lieber mit Ihnen in der Reiterstube einen Kaffee trinken.«
Sie lächelte.
»Das nächste Mal.« Michael drehte sich auf einem Fuß um, hob kurz die Hand und ließ sie dann in der Hosentasche verschwinden.
Nett, dachte sie. Wie alt mag er sein? Etwas älter als ich vielleicht. Wahrscheinlich Mitte, Ende dreißig. Wie immer würde er in einer knappen Stunde zurückkommen und seine Tochter abholen. Sie würde ihm um den Hals fallen und begeistert von ihrer Reitstunde berichten.
Anna ging die Stallgasse hinunter zu ihrem Pferd. Die zierliche schwarzbraune Vollblutstute streckte ihr den schmalen kleinen Kopf entgegen und schnaubte leise.
»Du kommst jetzt raus, Rubi, kannst dich austoben.« Sie nahm das Halfter von der Tür, zog es behutsam über den Kopf des sensiblen Pferdes und führte es hinaus auf die Koppel. Sie konnte gerade noch den Strick lösen, als die Stute mit einem gewaltigen Satz losstürmte. Tiefe Spuren blieben im feuchten Sand zurück.
In ihrem Herzen wird sie immer ein Rennpferd sein, dachte Anna, während Rubi über die Koppel raste und immer wieder hart vor dem Zaun abbremste.
Sie ging in den Stall zurück und hielt abrupt inne. In der Mitte des langen Gangs stand Julia – weinend. Sie wirkte so winzig und hilflos, mit ihrem Helm in der Hand.
Anna trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »He, was ist los, Julia?«
»Er hat mich gebissen!«, rief sie schluchzend aus. Ihre Stimme war voller Empörung.
»Henry hat dich gebissen? Beim Reiten?«
»Nein, nicht beim Reiten.« Sie zog den Rotz hoch und wischte sich die verheulten Augen. »Wir mussten absteigen und nachgurten und als ich am Gurt gezogen habe, hat er nach mir geschnappt.«
Wieder rollten dicke Tränen über ihre Wangen.
»Das darfst du nicht so persönlich nehmen ...«
»Tu ich aber«, zischte sie und warf einen zornigen Blick in die Box ihres Ponys. »Es tut so weh.«
»Zeig mal, wo hat er dich denn erwischt?«
Julia schob den Ärmel ihrer Bluse hoch.
»O verdammt, das sieht aber bös aus!« Anna nahm ihren dünnen Arm und tastete vorsichtig über die dunkelroten Abdrücke der Pferdezähne oberhalb des Ellbogens.
»Au!« Julia zuckte zusammen.
»Warte, ich habe Heparin-Salbe. Das lindert.«
Anna holte die Tube aus ihrem Arztkoffer und schmierte Julia eine dünne Schicht Salbe auf den Arm.
»Wo bleibt denn mein Vater? Ich will nach Hause«, sagte Julia mit zittriger Stimme und wischte sich die Tränen ab.
Anna sah sich um und dann auf die Uhr. »Der Unterricht ist ja erst in einer halben Stunde zu Ende. Das wird wohl noch dauern.«
Julia stand mit hängenden Schultern vor ihr, ein Häufchen Elend, enttäuscht, gekränkt, in ihrem Stolz verletzt.
»Soll ich dich zu deiner Mutter nach Hause bringen?«
»Die ist nicht da. Ich bin übers Wochenende bei meinem Vater.«
»Ach so.« Anna nickte nachdenklich.
»Ich habe einen Schlüssel. Kannst du mich fahren?«, fragte Julia mit traurigem Blick.
»In die Wohnung deines Vaters?«
»Ja.«
Anna überlegte kurz. War vielleicht eine gute Gelegenheit, um sich näher zu kommen. »Okay, ich bringe dich hin.« Sie sagte dem Reitlehrer Bescheid und heftete einen Zettel, den Julia für Michael geschrieben hatte, an die Boxentür von Julias Pony.
»Wir sind bei dir. Alles okay. Anna und Julia.«
Wenig später saß Julia neben Anna im Auto. Ihr kurzes blondes Haar war völlig zerzaust und die Tränen hatten sich mit dem Staub auf ihrem Gesicht zu bräunlichen Schlieren vermischt.
»Hier ist es«, rief Julia, als sie um die Ecke bogen. Sie stiegen vor einem modernen Klinkerhaus aus.
»Kommst du noch mit rauf?«
»Soll ich?«
»Ja, bitte.«
Der Fahrstuhl brachte sie in die oberste Etage des Mietshauses. Julia schloss auf und sie betraten einen weitläufigen, spärlich eingerichteten Raum mit zwei sich gegenüberliegenden Schiebetüren und Balkons. Anna war beeindruckt – ein Penthouse in Alsternähe.
Julia wirkte sofort entspannter in der Wohnung ihres Vaters. »Fühl dich wie zu Hause«, sagte sie plötzlich mit Stolz in der Stimme, schloss die Tür und ließ sich lässig in den schwarzen Ledersessel fallen. Anna setzte sich ihr gegenüber auf die helle Leinencouch.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Danke, nein. Ich muss gleich wieder los«, antwortete Anna. Sie beobachtete, wie Julia auf die Uhr blickte, genau wie ihr Vater, dabei mit dem Zeigefinger über das Glas fuhr und einige Krümel vor Anna vom Glastisch wischte. In wenigen Minuten war aus dem kleinen Mädchen die Hausherrin geworden.
»Tut's noch weh?«, fragte Anna sanft.
»Ja, es brennt.« Julia fasste an ihren Arm. »Hat dich dein Pferd auch schon mal gebissen?«
»Nein, mein Pferd nicht, aber diverse andere. Das ist nichts Besonderes.«
»Ich finde schon. Ich hasse Henry. Er kann mir gestohlen bleiben.«
»Julia, das darfst du nicht sagen. Henry ist doch sonst ein liebes Pony. Weißt du, Pferde beißen sich oft mal untereinander und sie können nicht wissen, dass deine Haut viel dünner ist als ihre. Sie mögen bestimmte Berührungen nicht, vor allem am Bauch, und dann wehren sie sich. Nachgurten ist besonders unangenehm für sie.«
»Aber das ist doch kein Grund zu beißen.«
»Das sagst du. Pferde können nicht sprechen. Sie äußern ihren Unmut eben anders. Und sie wissen sozusagen nicht, was sie tun. Sie haben kein Bewusstsein. Dein Henry wollte dir auf jeden Fall nicht wehtun.«
Julia senkte den Kopf und schwieg.
»Wasch dir erst mal das Gesicht, Julia. Es ist ganz dreckig.«
Sie verschwand im Badezimmer.
Annas Augen wanderten durch den Raum, über die Plakate und Modeaufnahmen an den Wänden, vorbei an dem Bett, das auf einem dreieckigen Podest in der Ecke thronte, hin zu der transparent-grauen Verschalung eines Rechners und eines riesigen Bildschirms mit dem Emblem eines Apfels.
»Ist dein Vater Grafiker?«, fragte Anna mit einem Blick auf den Apple-Computer, als Julia wieder vor ihr saß.
»Er ist Artdirector«, antwortete Julia, als wäre sie aus einem Dämmerzustand erwacht. Ihre Augen leuchteten und die roten Ränder waren verschwunden. »Er macht Seiten für das Internet. Das nennt sich Webdesign.«
»Aha.« Anna nickte.
Einen Augenblick wussten sie sich nichts zu sagen.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Anna schließlich.
»Elf. Ich werde bald zwölf. Am 28. Juli.«
»Willst du auch mal Grafikerin werden?«
»Nein, lieber Tierärztin, so wie du.«
Anna lächelte. »Aber dann wirst du öfter mal Bisse und Tritte einstecken müssen.«
»Ist ja nicht so schlimm. Ich liebe Tiere, vor allem Pferde.«
Anna hörte Schritte vor der Tür.
»Ich glaube, dein Vater kommt.« Sie drehte sich gespannt um.
Michael betrat, einen Stapel Bücher balancierend, die Wohnung.
»Julia, was ist passiert, Liebes?« Er warf Anna einen fragenden Blick zu, während er die Bücher auf den Stuhl legte. Dann ging er zu Julia und nahm sie in den Arm.
»Ist schon okay, Paps.« Sie zog den Ärmel hoch und Michael zuckte zusammen.
»Oje, das sieht ja schlimm aus. Meine arme Kleine.« Er nahm Julia erneut in den Arm und blickte zu Anna. »Ist nett von Ihnen, dass Sie Julia hergefahren haben.«
»Kein Problem.«
Während Julia ihm erzählte, was passiert war, stand Anna zögernd auf.
»Sie wollen doch nicht etwa schon gehen? Einen Schluck trinken Sie doch noch mit uns auf den Schreck.« Michael ließ Anna los, holte etwas zu trinken und goss ihnen ein.
»Mein Pferd steht noch auf der Koppel.«
»Gibt es nicht jemanden, der es reinholen kann? Dann könnten Sie mit uns essen.«
»O ja«, rief Julia.
Anna tat so, als müsste sie überlegen, strich nachdenklich die Haare hinter die Ohren und nickte schließlich. »Im Prinzip ja, aber ich muss auch noch zwei Pferde Impfen.«
»Kannst du das nicht morgen machen?«, fragte Julia.
»Ja, ich glaube schon. Aber ich bin gar nicht auf ein Abendessen vorbereitet. Ich rieche bestimmt nach Stall.«
»Das stört uns nicht. Und außerdem«, Michael deutete auf die Tür neben dem Eingang, »haben wir so etwas wie ein Bad. Ich kann Ihnen auch ein T-Shirt anbieten.«
»Okay, danke.«
Michael reichte ihr den Hörer mit einem Lächeln, das sie nicht unberührt ließ. Es war das erste Mal seit langem, dass sie sich wieder von einem Mann angezogen fühlte. Sie kam gut alleine klar, konnte sich bestens mit sich selbst beschäftigen. Aber, dachte sie, nicht verheiratet oder geschieden mit fünfunddreißig – wirkte das nicht ein bisschen wie übrig geblieben? Die Aussicht auf einen Flirt hob ihre Stimmung. Endlich passierte mal wieder etwas. Sie berichtigte sich – hoffentlich. Es könnte auch eine bloße Nettigkeit sein, als Dank für ihre Hilfe. Wie dem auch sei, sie organisierte alles im Reitstall und blieb zum Essen bei Michael.
Eine Stunde später saßen sie zusammen am Tisch. Anna rollte die klebrigen Spaghetti mit der undefinierbaren Tomatensoße um die Gabel und schob sie bedächtig in den Mund.
»Sie sind leider nicht al dente«, entschuldigte sich Michael. »Meine Kochkünste sind bescheiden. Nächstes Mal gehen wir zum Italiener.«
Anna schluckte. »Ist schon okay. Sie haben das Glück, dass ich völlig ausgehungert bin.«
»Also ich mag Papas Spaghetti. Ist mein Leibgericht.«
»Wollen wir nicht dieses steife Sie durch ein nettes Du ersetzen?« Michael lächelte.
»Cool«, warf Julia ein. »Endlich!«
»Ja, gerne«, sagte Anna und erwiderte Michaels langen, eindringlichen Blick. Er ist der Typ von Mann, der auch mit fünfzig noch jungenhaft aussehen wird, dachte sie. Sein Haar könnte etwas länger und dunkler sein und die Koteletten etwas kürzer, aber als Werbemensch muss man natürlich im Trend sein. Er hat wirklich einen interessanten Kopf und intelligente Augen, schloss sie die Musterung ab und sah zu seiner Tochter hinüber. Sie schien eher der Mutter nachzukommen. Ihr etwas spitzes, altkluges Gesicht hatte nichts mit dem von Michael gemein.
Julia legte das Besteck auf ihren Teller. Ihr Blick schweifte ein paar Mal aufmerksam zwischen ihrem Vater und Anna hin und her.
»Julia, du gehst jetzt ins Bett. Es ist schon neun«, sagte Michael mit weichem, aber bestimmtem Ton.
»Nein, bitte Papa, noch nicht.«
»Deine Mutter würde ...«
»Nun fang nicht wieder mit Mama an. Du musst doch selbst wissen, was richtig ist.«
Michael sah hilflos zu Anna hinüber, dann wieder zu Julia.
»Komm, Liebes, auch wenn es dich heute hart getroffen hat. Geh jetzt bitte. Morgen ist Schule.«
»Ja, ich weiß.« Sie schob den Stuhl gelangweilt nach hinten, erhob sich im Zeitlupentempo und schlurfte in Richtung Bad. »Ich komme noch mal wieder«, rief sie Anna zu und verschwand.
Michael seufzte. »Sie ist eigentlich sehr umgänglich, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren.«
»Wo das wohl herkommt?«, entwischte es Anna und ihr Mund verzog sich leicht nach links.
»Natürlich von ihrer Mutter«, gab Michael zurück und fixierte Anna mit seinen aufmerksamen graublauen Augen.
»In welcher Agentur arbeitest du eigentlich?«, fragte sie in das knisternde Schweigen.
»Bei Rummert und Johnson.«
»Große Agentur?«
»Eine der größten in Deutschland, die auf Internet spezialisiert sind.«
»Und was hast du studiert? Ich vermute, dass du auch noch vor dem Internetboom in die Ausbildung eingestiegen bist.«
Sie grinste.
»Richtig erkannt.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe an der Kunsthochschule Grafikdesign studiert und noch Layouts geklebt.«
»Macht dir dein Beruf am Computer Spaß?«
»Ich liebe ihn, bin ein richtiger Fanatiker.« Michael hob die Arme und lächelte. »Und du? Dir macht's doch sicher auch Spaß, kranken Tieren wieder auf die Beine zu helfen.«
»Es geht so. Nicht mehr so wie früher.«
Michael zerknüllte seine Serviette, warf sie auf den Teller, erhob sich und legte seine Hand auf Annas Schulter. »Komm, ich zeig dir was.«
Sie folgte ihm durch das riesige Zimmer, vorbei an seinem Bett, dessen Inneres sich unter einer Decke mit einem aufgedruckten Warhol-Plakat verbarg. Ihre Absätze klackten auf dem Parkett, so sanft sie auch aufzutreten versuchte. Die Leere des Raums verstärkte jedes Geräusch und jedes Wort.
Sie blieben vor einem Computer stehen. Michael drückte auf eine der Tasten und der Apple-Macintosh erwachte mit einem satten Klang aus seinem Schlaf. Ein leises Rattern signalisierte das Laden mehrerer Systemzusätze. Dann wechselte das Schwarz auf dem Bildschirm in einen türkis gemusterten Hintergrund, auf dem diverse Icons erschienen.
»Das ist mein Mac«, sagte Michael mit einem stolzen Lächeln. »Klingt wie 'ne Harley-Davidson, nicht?«
»Und sieht aus wie eine Kühltasche«, erwiderte Anna.
Michael lächelte verständnislos. »Okay, das Design ist sicher nicht jedermanns Sache, aber ist schon ein cooles Gerät. G-4, hundert Gigabyte-Festplatte, ein Gigabyte Arbeitsspeicher und sage und schreibe 733 Megahertz getaktet. Superschnelle Maschine. So schnell kannst du gar nicht denken, wie der rechnet.«
»Und trotzdem bist du immer im Stress?«
»Ja. Eigentlich verrückt. Aber der Arbeitsrhythmus passt sich nun mal gleich der fortschreitenden Technik an. Das ist ein fataler Kreislauf.«
»Der Fortschritt ist eben überhaupt kein Fortschritt, er ist nur eine Veränderung.«
»Na ja, das würde ich so nicht sagen. Ich möchte jedenfalls keine Klebelayouts mehr machen.«
»Nein, sicher nicht. Aber jetzt klebst du wahrscheinlich an deinem Computer.« Anna zwinkerte ihm von der Seite zu.
»So wie du an den Pferden. Jedem das seine«, erwiderte Michael, während sie vor dem leise summenden Apple-Computer standen.
»Ja, Hauptsache, man ist glücklich dabei und vergisst nicht zu leben.«
»Genau.« Er blickte sie an und strich kurz mit der Hand über ihren Arm. »Lebst du eigentlich allein?«
»Ja.« Anna lächelte verlegen. Warum, fragte sie sich, ist mir das immer so peinlich? Wir befinden uns doch im 21. Jahrhundert!
»Und? Fühlst du dich gut dabei?«, fragte Michael und blickte auffordernd in ihre großen braunen Augen.
»Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Aber es ist nun mal so. Beziehungen sind eben das Schwierigste im Leben.«
»Stimmt.« Er lächelte und presste kurz die Lippen zusammen. »Ich bin geschieden, doch das weißt du ja sicher bereits.«
Anna nickte.
»Du hast immerhin einen sinnvollen Beruf.«
»Na ja, was ist schon sinnvoll? Ich fange an das Leben zu durchschauen, seinen Nichtsinn zu begreifen.«
Michael sah sie erstaunt an. »Und? Wohin führt dich das?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich befinde mich auf der Suche.«
Die Badezimmertür öffnete sich und Julia flatterte im seidenen Bademantel auf ihren Vater zu. Sie drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Tschau, ihr beiden. Viel Spaß noch!« Mit einem gönnerhaften Zwinkern verschwand sie hinter einer Tür mit einem aufgeklebten Pferdeplakat. Dann öffnete sich diese noch einmal. »Vielen Dank, Anna, fürs Herfahren.«
Anna lächelte ihr zu und die Tür schloss sich wieder.
Einen Augenblick herrschte unschlüssiges Schweigen.
»Nun zeig mir mal, was deine Luxusmaschine kann«, sagte Anna heiter.
»Gut. Du wirst sehen, diese Kiste ist wirklich eine Schatztruhe.« Er verschränkte die Arme und warf Anna einen gewichtigen Blick zu. »Vorausgesetzt, man versteht sie entsprechend zu füllen.«
Michael ließ sich auf den Bürostuhl nieder und drehte sich darauf einmal um sich selbst.
Anna stand hinter ihm, die Augen auf seine Hände gerichtet. Mit virtuoser Leichtigkeit sausten seine schlanken Finger über die elegante schwarze Tastatur. Dann legte sich die Rechte auf die halb türkisfarbene, halb durchsichtige Maus und brachte sie klickend zum Laufen. Anna hob den Blick auf den Bildschirm und beobachtete fasziniert den Wechsel diverser Seiten. Farben flossen ineinander, rotierende Icons schnellten ihr entgegen, Schriften tauchten aus dem Nichts auf und gewannen langsam an Schärfe und Größe. Ein Zeichen und ein Schriftzug drehten sich auf sie zu, Pinselstriche sausten über die virtuelle Fläche und formten sich zu einem Logo. Kleine Musik- und Geräuscheinlagen untermalten die optische Wirkung. Sie sahen stumm auf den Bildschirm. Kein Wort kam über Michaels Lippen, kein Blick zu Anna. Er schien in dieser virtuellen Welt zu verschwinden.
»Wow!«, unterbrach Anna schließlich das Schweigen. »Das sieht ja toll aus. Wirklich beeindruckend, wie du dieser toten Kiste Leben einhauchst.« Annas Erfahrung mit dem Internet beschränkte sich auf Bestellungen von Medikamenten und den Abruf von Informationen. Aber derart gestaltete Seiten sah sie zum ersten Mal.
»Das habe ich mit Flash erstellt, einem Programm, mit dem man vektorisierte Filme machen kann«, erklärte Michael und sah zu ihr auf. Er konnte seinen Stolz nicht verbergen. Seine Augen leuchteten und Annas blieben fragend. Sie hatte nichts von dem verstanden, was er gesagt hatte.
»Schluss der Vorstellung.« Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Oder ... warte ... das muss ich dir doch noch zeigen.« Er tippte etwas ein und auf dem Bildschirm erschien eine rote Fläche, die sich mehr und mehr auflöste, bis nur noch ein gezeichnetes Herz zurückblieb.
Anna lächelte und erwiderte seinen Händedruck. Sie dachte kurz über einen Kuss nach, hielt sich dann aber doch zurück und ging langsam zur Tür.
Michael folgte ihr, drehte sie zu sich und küsste sie. Sein Kuss war zunächst flüchtig, dann drängender. Zögernd sanken seine Arme von ihren Schultern hinab auf ihre Hüften.
»Wenn Julia nicht hier wäre, hätte ich dich gebeten zu bleiben.«
»Wenn Julia nicht hier wäre, würde ich auch nicht bleiben«, entgegnete Anna sanft und küsste ihn noch einmal auf den Mund. »Noch nicht.«
Sie betrat den Fahrstuhl. Die Glastür fiel zu und Michael stand lächelnd dahinter. Dann senkte sich die kleine Kabine in die Tiefe und sein Bild verschwand. Ein fast vergessenes Gefühl machte sich in ihr breit. Es tat ihr gut, brachte Bewegung in ihr Inneres. Hatte sie sich tatsächlich in einen Grafiker, einen Internet-Fanatiker verliebt? Verrückt, sagte sie sich. Das passiert mir, die ich mich immer mehr von der Technik abwende. Man ist sich selbst das größte Rätsel im Leben, dachte sie und trat in die frische Abendluft hinaus.
3
Ein Schwarm Krähen wirbelte aus den Bäumen empor, zog einen Kreis und senkte sich mit unbeirrbarer Selbstverständlichkeit dorthin zurück, von wo er aufgescheucht wurde. Wie unerschütterlich, dachte Jeff, während sein Blick aus dem vierzehnten Stockwerk des Bürohauses in der Fifth Avenue über das grüne Loch zwischen den Wolkenkratzern schweifte. Wieder und wieder erhoben sich die Vögel und kehrten an ihren Platz zurück, nachdem die Jogger verschwunden waren.
Da liefen sie, die bewegungshungrigen Sklaven der Computergesellschaft, die ewig Gehetzten, die Stadtneurotiker. Gehöre ich nun auch wieder dazu?, fragte er sich und lehnte sich zurück. Er tastete über seine Schulter, fühlte das korrekt sitzende Polster seines sündhaft teuren Armani-Anzugs und warf den Computer an. Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon.
»Jeff! Hier ist Robert. Gratuliere! Habe es gestern von deinem Cousin erfahren. Wie fühlst du dich?«
»Okay. Könnte besser sein. Aber die Aussicht ist fantastisch.«
»Welche Aussicht? Wie meinst du das.«
»Die Aussicht auf den Central Park.«
Lachen. »Ich wusste doch immer, dass dir Natur mehr bedeutet als Glas und Beton. Du hast die Erfüllung darin nur leider auf der falschen Seite des Ozeans gesucht.«
»Ach Robert, fängst du wieder davon an?«
»Wie gefällt dir denn dein neuer Posten?«
»Viel zu tun, große Verantwortung ... Ich weiß noch nicht.«
»Und was für Kunden bedient ihr?«
»Vor allem die Auto- und Zigarettenindustrie. Neuerdings auch Biotechnologie.« Bei diesen Worten verkrampfte sich alles in ihm.
»Jeff, ich finde das ganz prima, Karriere, 'nen Haufen Geld, Ansehen, aber du solltest nicht vergessen, wie gut es dir ging, als wir auf unseren Pferden den Hassayampa überquert haben. Nur du und ich. Das war mein schönster und letzter Urlaub. Über uns kreiste ein Rotschwanzadler, und vor uns lag der Jesus Creek. Erinnerst du dich? Wir haben unsere Uhren abgenommen und sie im Wüstensand vergraben. Wir haben uns der Zeit entledigt. War das nicht ein großartiger Moment?«
»Ja, natürlich. Ich werde das nie vergessen. Es war wunderbar. Aber nun scheucht mich die Zeit. Sie hat mich wieder fest im Griff.«
»Du kannst dich jederzeit daraus befreien, Jeff. Du musst es nur wirklich wollen und vor allem«, Robert zog die letzten Worte gewichtig in die Länge, »vor allem solltest du die richtige Richtung einschlagen. Du bist Amerikaner und wirst es immer bleiben. Ich habe sofort gewusst, dass du in Japan oder Tibet und wo du nicht überall warst nie das Glück finden würdest, nach dem du suchst.«
»Robert, ich muss arbeiten ...«
»Gut, verstehe. Aber eines möchte ich dir noch sagen. Und deshalb rufe ich eigentlich an.« Seine Stimme senkte sich. »Wie du ja weißt, mache ich mir seit geraumer Zeit Gedanken über meinen Ruhestand. Ich möchte mich mit meinem Pferd und meinem Hund in ein kleineres Domizil in einer entlegenen Ecke meines Besitztums zurückziehen. Und du weißt auch, dass du einen nicht unerheblichen Teil meiner Ranch bekommen sollst. Das tue ich nicht nur für dich, sondern auch für deine Mutter. Ich habe nie aufgehört sie zu lieben.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Jeff«, er sprach den Namen aus, als würde darauf die Offenbarung seines Lebens folgen, »wenn du die Stelle wiederfindest, an der wir die Zeit begraben haben, dann überschreibe ich dir meine Ranch in Wyoming voll und ganz.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Jeff spürte die Erinnerung in sich aufsteigen. Ihm war, als würde sein Blut schneller fließen. Ihm wurde warm und er zog an dem Knoten seiner Krawatte.
»Weißt du«, fuhr Robert fort, »meine verdammte Sippe hat sowieso nichts für Pferde und Natur übrig. Ich wüsste die Ranch viel lieber in deinen Händen. Deine Mutter wollte zwar keine Ranchersfrau werden, aber du hast das Zeug für einen guten Cowboy. Und solange ich noch lebe, könntest du mich dort für die kleinen leichten Arbeiten einsetzen.«
Jeff sank in den butterweich schwingenden Bürostuhl zurück, strich ein paar Mal über die Lederpolster der Armlehnen und nahm den Hörer in die andere Hand.
»Jeff, bist du noch dran?«, fragte Robert.
»Ja, natürlich. Ich muss das erst mal verdauen, was du da gerade gesagt hast.«
»Gut. Schlaf mal drüber. Wir haben ja schließlich keine Eile. Noch bin ich bei bester Gesundheit und fit für die Arbeit auf der Ranch. Aber denk darüber nach.«
»Robert, du möchtest, dass ich ins Hassayampa Valley reite und nach der Box mit unseren Uhren suche?«
»Ja, Jeff. Du hast mich richtig verstanden. Du sollst die Box suchen. Sie liegt etwa zwanzig Inches unter der Erde, falls du dich erinnerst. Meine Breitling neben deiner Rolex. Ich wäre gespannt zu erfahren, welche von beiden die zehn Jahre besser überstanden hat.«
»Also Robert, du hast wirklich verrückte Ideen«, erwiderte Jeff.
»Nun, ein bisschen verrückt sind wir ja beide. Ich weiß, dass du alles Systematische genauso hasst wie ich. Wir leben nach unserer Intuition, nach unseren Ideen. Und das ist gut so. Es bewahrt uns vor Resignation und dem stumpfen Abhaken der Kalendertage. Wir konnten beide das Gewohnte immer wieder loslassen und uns neuen Herausforderungen zuwenden. Ich habe auf die Weise gefunden, was ich gesucht habe, ein paradiesisches Stück Land, Pferde und eine Arbeit, die mich befriedigt.« Er räusperte sich. »Nur eine Frau hat mir gefehlt.« Kurzes Schweigen. »Um ehrlich zu sein, deine Mutter hat mir gefehlt.«
Jeff zuckte zusammen. Die Worte schmerzten ihn.
»Robert, es tut mir Leid, aber ich bekomme gleich Besuch.«
»Ich höre sofort auf. Ich möchte nur, dass du das weißt, Jeff. Deine Mutter und ich ...« Er brach ab. »Ich bin sehr zufrieden hier draußen und will nie mehr zurück in die Stadt. Und ich möchte, dass auch du irgendwann deinen Platz im Leben findest.«
Die Tür ging auf und die herbe Stimme seiner Sekretärin holte ihn aus der Wüste Arizonas in die vier Wände seines Luxusbüros zurück. Jeff und Robert verabschiedeten sich. »Mr Abramowitz ist eingetroffen. Soll ich ihn hereinlassen?«
»Einen Augenblick bitte. Ich brauche noch fünf Minuten.«
»Gut. Ich sage ihm, dass er warten soll.«
Die Tür fiel zu. Jeff fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und schüttelte den Kopf. Was war passiert? Ein einziger Satz hatte ihm erneut die innere Ruhe genommen. Er starrte durch den Raum, in dem alles kantig und kühl wirkte. Das Kunstlicht brach sich auf den Stahlmöbeln, ein Fenster spiegelte sich im anderen, kein Farbklecks störte die Monotonie des grauschwarzen Designs. Nein, das konnte nicht das Ziel seiner jahrelangen Suche sein. Er stand auf, durchquerte den Raum mit langen Schritten und fand sich in Gedanken an Urlaub und Pferdekauf wieder. Dann öffnete sich abermals die Tür. Seine Sekretärin ließ einen Mann im dunklen Anzug herein und sagte: »Mr Smith, Mr Abramowitz.«
»Bitte setzen Sie sich, Mr Abramowitz.« Jeff zeigte auf den Sessel ihm gegenüber.
Mr Abramowitz ließ sich tief in den grauen Ledersessel gleiten und schlug ein Bein über das andere. Die Bügelfalten seiner zart gestreiften Hose waren so frisch und akkurat wie das weiße Hemd unter seinem Jackett. Die Krawatte ist etwas zu bunt, dachte Jeff und ärgerte sich im gleichen Augenblick über seine sofortige Beurteilung von Nebensächlichkeiten. Lass die Schubladen zu, ermahnte er sich und lächelte sein Gegenüber an.
»Sie sind seit gestern in der Stadt?«
»Ja, ich bin gestern Nachmittag von Philadelphia gestartet. Ich hatte noch einige andere Termine in New York. Es ging natürlich auch um die Fusion. Kommen wir gleich zur Sache. Schon vor Jahren haben wir begonnen unsere Fühler in Richtung Europa auszustrecken. Frankreich hat als erstes Land angebissen. Und nun ist Deutschland an der Reihe. Die heißen Diskussionen fangen an abzuklingen, die Rückwärtsdenker werden ruhiger und die Regierung wird den neuen Techniken bald grünes Licht geben. Und genau in dem Moment müssen wir gut vorbereitet auf der Matte stehen.«
Jeff nickte. Er hatte endlich den Knopf in sich wiedergefunden, mit dem er problemlos sein Selbst ausschalten konnte. Er nahm die Mappe mit den Unterlagen der Firma BioGenTop vom Schreibtisch und überflog in Sekunden die erste Seite.
»Was Sie wollen, ist ein neues Erscheinungsbild mit leicht verändertem Logo, einen inhaltlich erweiterten Auftritt und ein globales Werbekonzept mit Spezifikationen für die einzelnen Länder.«
»Richtig. Und es soll sich konsequent von allem abheben, was bisher auf diesem Gebiet in Erscheinung getreten ist. Wir wissen uns damit bei Ihnen in besten Händen. Die Allmedia ist bekannt für ihre kompetente und flexible Kundenbetreuung und Sie, Mr Smith, sind es für Ihre unkonventionellen und überaus originellen Konzepte.« Er fingerte an seiner Krawatte und räusperte sich. »Sie waren eine ganze Zeit außer Landes, nicht wahr?«
Nicht schon wieder, dachte Jeff, zog seinen Stuhl dichter an den Schreibtisch und legte die Mappe darauf.
»Ja, ich musste den Kopf frei bekommen, um wieder Neues denken zu können. Ich bin bereit für neue Aufgaben.«
»Wunderbar. Dann können wir ja beginnen. Der Rest der Crew wird in zwei Stunden anrücken. Bis dahin sollten wir unseren Nerven eine gute Grundlage verschafft haben. Die Arbeit beginnt im Magen.« Er grinste. »Gibt es hier in der Nähe ein gutes Restaurant mit schneller Bedienung?«
»Ja, das Max. Die haben internationale Küche, solide bis gehoben, oder das Bonsai, aber das ist eine reine Sushi-Bar.«
»Nein danke. Ich brauche etwas Deftiges. Nehmen wir das Max.«
Jeff piepte seine Sekretärin an. Sie erschien umgehend in der Tür.
»Bitte sagen Sie die Reservierung im Bonsai ab.«
»Ja, ich rufe sofort an.« Sie verschwand so eilig, wie sie gekommen war.
Es war bereits neun Uhr abends, als Jeff die schwere Drehtür des Bürohauses in Richtung Fifth Avenue betrat. Er drehte sich zweimal darin herum, fing den erstaunten Blick des Pförtners auf, lächelte und ging hinaus. Sein Kopf schwirrte. Sein Nacken war ganz steif. Er bewegte den Hals hin und her und mischte sich unter die zielstrebig vorwärts eilenden Menschen. Ideen, konzeptionelle Entwürfe, Rückblenden auf den Tag und die Gespräche, Beurteilungen und Zweifel schoben sich wie mehr oder weniger transparente Ebenen übereinander und erzeugten ein konfuses Bild. Erst auf der Couch seiner Wohnung schoben sich andere Bilder stärker und verlockender in sein Bewusstsein. Die Wüste, der Hassayampa, die schroffen, kargen Bergketten und das verschmitzte Lächeln von Robert, als ihre Uhren von ihren Handgelenken glitten. Er zog die Schuhe aus, nahm die Füße hoch und schob sie über Kreuz unter die Kniekehlen. Wo befand er sich in diesem Leben, das sich ihm immer wieder mit neuen Herausforderungen entgegenstellte? Er hatte fast die zweite Hälfte erreicht. Noch knapp ein halbes Jahr bis zu seinem vierzigsten Geburtstag. Im Geiste sah er wieder die Saguaro-Kakteen. Sie wachsen bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr gerade in die Höhe. Dann erst beginnen sie Arme zu bilden.
Er erhob sich und ging zum Kalender. Sein Blick wanderte über die Kästchen der Monate. Mit dem neuen Jahr hatte er bei Allmedia angefangen. Im Mai war er fünf Monate dort. Sehr früh für einen längeren Urlaub, aber nicht unmöglich.
4
Anna lag auf dem Boden, den Kopf auf eine Hand gestützt. Sie fuhr mit dem Finger über die grauen Linien einer Autokarte von Arizona. Phoenix–Sun City–Wickenburg. Mit Daumen und Zeigefinger steckte sie die Entfernung ab. Zirka vierundfünfzig Meilen. Das sind ungefähr sechsundachtzig Kilometer. Dann las sie noch einmal den Brief, der neben der Karte lag.
»Liebe Anna,
wir bedanken uns für deine Anfrage. Wir sind eine Working-Cow-Ranch und haben uns, wie du wohl aus dem Abenteuerreisen-Katalog entnommen hast, in beschränktem Umfang dem Tourismus geöffnet. Wir sind keine Dude-Ranch. Die Unterkunft ist einfach, aber sauber, und kostet bescheidene fünfzig Dollar pro Nacht. Dafür erwarten wir engagierte Gäste, die bei unserer täglichen Arbeit mit anfassen und sattelfest sind. Wir würden uns sehr über deinen Besuch freuen.
Linda und Ron Williams.«
Anna steckte den Brief zurück ins Kuvert. Sollte sie es wagen? Sollte sie tatsächlich die Reise antreten, obwohl sie nach drei Jahren endlich wieder eine Beziehung zu einem Mann eingegangen war? Unter vier Wochen hätte es keinen Sinn, die aufwändige Reise zu machen. Würde Michael auf sie warten? Sie grübelte, sprach sich Mut zu. In vier Monaten würde sich die Beziehung gefestigt haben oder auseinander sein. Wenn er die vier Wochen nicht warten kann, ist er es nicht wert, sagte sie zu sich selbst und faltete die Karte zusammen. Es war kurz vor acht und in einer halben Stunde wollte Michael kommen. Sie stand auf, ging in die Küche und begann zu kochen.
»Anna, tut mir Leid, aber ausgerechnet, als ich gehen wollte, kam ein neuer Auftrag rein«, entschuldigte sich Michael, als er endlich um neun Uhr erschien. »GM-Germany will ihr gesamtes Erscheinungsbild und damit auch ihren Internetauftritt renovieren. Das ist eine echte Herausforderung.« Er machte die Tür hinter sich zu, stellte einen kleinen flachen Koffer an die Wand und nahm Anna in den Arm.
»Na ja«, seufzte sie, »nun befindet sich mein Gemüse in dem gleichen Zustand wie neulich deine Spaghetti – schlapp, nicht al dente.«
»Macht nichts. Du hast das Glück, dass ich einen tierischen Hunger habe«, erwiderte Michael und schob Anna sanft vor sich her in die Küche.
»Ich vermute, ich bin wieder zum Tischdecken eingeteilt, nicht!«
»Richtig.« Anna nahm Teller und Bestecke aus dem Küchenschrank und drückte sie Michael in die Hand. Dann kam sie mit den Gläsern hinterher.
»Was ist denn da drin?« Sie zeigte auf den schwarzen Koffer.
»Mein i-Book. Soll ich den Wein aufmachen?«
»Dein i-Book? Was ist denn das?«
»Mein Laptop. Heißt so, weil er aussieht wie ein flacher i-Mac.«
»Aha. Bist du zum Arbeiten hergekommen?«
»Nein, ach was!« Michael lachte. »Ich dachte nur ... Also falls du mich hier lässt ...«
»... willst du morgen nicht ohne Computer sein, richtig?« Michael nickte.
»Ich glaube, du bist süchtig.«
»Schon möglich.«
Anna stellte das Essen auf den Tisch und setzte sich. Michael gab ihr einen Kuss auf die Wange, schenkte Wein ein und tat es ihr nach. Er sprach über Computerprogramme und den Ärger mit seinen Mitarbeitern. Anna klagte über ihre Pferdebesitzer.
»Irgendwie fühle ich mich müde und frustriert«, sagte sie und seufzte. »Es werden einfach zu viele Pferde gezüchtet. Jeder Freizeitreiter möchte einmal ein Fohlen von seiner Stute. Und dann fangen die Probleme an. Keine Zeit für die Ausbildung, zu wenig Platz, ungenügendes Wissen über Anatomie und Fütterung. Viele Pferde bleiben dabei einfach auf der Strecke, werden unsachgemäß gehalten und bekommen Krankheiten, die ihnen in der freien Natur fremd wären. Abgestellt, abgemeldet und häufig dann Endstation Schlachter.«
Michael schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich traurig. Pferde sind so nette, umgängliche Tiere. Ich bin ein paar Mal im Urlaub geritten, in Spanien und in Portugal. In Ägypten sogar auf einem arabischen Vollblut durch die Wüste. Das war super.«
Anna horchte auf. »Ich reise vielleicht im Herbst in die USA auf eine Ranch, auf eine echte Cattle-Ranch, mitten in der Wildnis.
»Aha.« Michael stutzte. »Mit wem?«
»Allein.«
»Aha. Mutig.«
»Ja, manchmal ist es mir auch unheimlich, wenn ich darüber nachdenke. Aber es ist schon lange mein Traum und es wird Zeit, dass ich ihn verwirkliche.«
»Und in welcher Ecke von Amerika liegt die Ranch?«
»In Arizona, etwa sechsundachtzig Kilometer von Phoenix entfernt.«
«Für wie lange?«
»Für vier Wochen.«
Michaels Blick senkte sich. Scheppernd fiel die Gabel, mit der er herumgespielt hatte, auf den Teller. Er blickte entschuldigend zu ihr hinüber und Anna ergriff seine Hand. »Ich hab dich gern«, sagte sie leise, beugte sich zu ihm hinüber und sah ihm in die Augen. Dann stand sie auf. Auch Michael erhob sich. Sie ging zu ihm und fiel in seine Arme.
Es war das erste Mal, dass sie miteinander schliefen, nachdem sie einen ganzen Abend mit Essen und Reden verbracht hatten. Anna fühlte sich zufrieden und innerlich erfrischt, wenngleich sie nicht die große Leidenschaft verspürte.
»Komm doch mit nach Arizona«, flüsterte sie, als Michael sich an ihre Seite legte und die Decke über ihre Schulter zog.
»Warum nicht. Zumindest könnte ich nachkommen.«
»Ich habe am 10. November Geburtstag. Wir könnten mit den Cowboys feiern.«
»Ja, das wäre nett«, erwiderte Michael nachdenklich und hielt sie fest in seinen Armen. »Übrigens, Julia hat gesagt, dass sie später so sein möchte wie du.«
»Ach ja?« Anna blickte auf. »Sie möchte gerne Tierärztin werden. Das ist es, nicht?«
»Ich glaube nicht nur. Sie bewundert auch deinen Mut beim Reiten.« Er streichelte ihre Wange. »Und sie mag dich eben. Das finde ich sehr schön.«
»Und ich finde es schön, dass du da bist.« Anna zog die Decke über ihre Köpfe, rollte sich auf Michael und küsste ihn zärtlich.
Am nächsten Morgen blickte sie auf die leere Mulde in dem Kissen neben ihr. Sie rieb sich die Augen und sah zur Uhr. Es war Viertel vor neun. Das gedämpfte Klackern der Tastatur seines i-Books drang an ihr Ohr. Sie sank enttäuscht zurück. Am Sonntagmorgen! Er ist vernarrt in diese verdammte Kiste, schimpfte sie innerlich und spähte zu ihm hinüber in die andere Ecke des Raums. Zu gern hätte sie noch ein bisschen mit ihm gekuschelt.
5
Jeff blickte über das Sattelhorn mit dem aufgerollten Strick hinab auf die dunkle Mähne seines Pferdes, dann auf sein Handy. Das letzte Sender-Symbol war vom Display verschwunden. Er hatte keinen Empfang mehr. Ein seltsames Gefühlsgemisch durchdrang ihn und löste ein Kribbeln aus. Noch nie zuvor hatte er es so stark gespürt, nicht einmal, als sich die schwere Klostertür in Sikkim hinter ihm schloss. Er fühlte sie ganz tief, noch intensiver als während all der Jahre in Asien – die Einsamkeit. Aber diesmal war es anders, existenzieller. Da war plötzlich nur er, allein, ungeschützt, abgeschnitten von der Zivilisation, sozusagen nackt der rauen Natur ausgesetzt. Hier gab es keine Tempel, keine Mönche, die mit ihm meditierten, keinen Meister, der versuchte, ihm den Weg zu zeigen, und kein Gewand, das ihm eine andere Identität vermittelte. Hier war er wirklich auf sich selbst zurückgeworfen. Um ihn herum eine geheimnisvolle, schroffe Landschaft, abweisend und faszinierend zugleich– die Hassayampa-Wildnis. Sie breitete sich vor ihm aus wie ein grob gewebter stachliger Teppich. Blühende Kakteen, dornige graugrüne Mesquite-Büsche und mannshohe Paloverde-Bäume. Kein Mensch sah ihn hier und er sah keinen Menschen.
Und das Pferd unter ihm? Hatte es ähnliche Empfindungen, so allein, so ohne den Schutz und den Zusammenhalt der Herde? Er klopfte seinen Hals. Joker – ein guter Name für ein Pferd zu dieser Stunde, dachte er und ritt weiter. Vor zehn Stunden hatte er Wickenburg in Richtung Hassayampa verlassen. Mit dem letzten Haus in Richtung Nordosten endete übergangslos alles Urbane und führte hinaus in die Wildnis.
Die leicht pendelnde Nadel auf seinem Kompass zeigte ihm, wo Norden war. Das war die Richtung, die er jetzt nehmen musste. Es war bereits vier Uhr nachmittags und die flirrende Sommersonne brannte immer noch mit mörderischer Intensität auf ihn herab. Die Welt schien zu dursten, die Hügel lagen in mattem Grün vor ihm und die Saguaro-Kakteen reckten ihre Arme sehnsüchtig zum Himmel empor. Aber kein Wölkchen zeigte sich. Nichts wies auf das kleinste Tröpfchen Wasser hin. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, den Hals hinab ins Hemd. Er wischte ihn nicht mehr weg, gab auf, ließ ihn fließen. Er zog seine Baseballkappe tief ins Gesicht und fuhr mit der Hand leicht über den Mähnenkamm. Joker trabte an. Vor der nächsten Hügelkette parierte er durch, nahm die kleine Feldflasche von seinem Gürtel und ließ die letzten Tropfen Energie-Drink in seinen Mund laufen. Er schob sein Gesäß ein paar Mal auf dem knarrenden Leder hin und her, stellte sich in die Bügel und setzte sich wieder mit einem Seufzer. Alles schmerzte, vom Rücken bis in die Fußspitzen. Zu lange hatte er nicht mehr im Sattel gesessen und sich und dem Pferd nur eine einzige Pause gegönnt. Joker hatte die bessere Kondition. Er wurde sowohl als Trailpferd als auch als Working-Cow-Horse auf einer Ranch bei Prescott eingesetzt, bevor Jeff den siebenjährigen Wallach vor einer Woche über eine Annonce in der Zeitschrift Range erstand. Von dort hatte er ihn im Trailer nach Wickenburg bringen lassen und war vier Tage später in die Wüste hinausgeritten.
Die alte Winchester, die er von Robert bekommen hatte, drückte auf seine Schulter, aber am Sattelhorn hingen schon die Wasserflaschen. Sein Körper jedoch kannte keine schweren Lasten, auch wenn er vom Kampfsport gestählt war. Damals bei Robert saß er noch unermüdlich im Sattel. Mit grenzenloser Ausdauer flog er auf Calico, seinem Lieblingshengst, über das weitläufige, satte Weideland der Rowly Ranch. Und er hörte die Ermahnungen von Robert. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mit den Pferden nicht so durch die Gegend rasen sollst. Sie werden zu heiß und wir haben später bei der Arbeit Mühe, sie wieder ruhig zu stellen.« Genug der Gedanken an gestern, ermahnte er sich. Es wird Zeit, dass ich mir einen Platz für die Nacht suche.
Jeff entdeckte einige Steinterrassen zwischen den knorrigen Bäumen und Büschen. Er ritt den Hang hinunter zu einem Plateau. Das stachlige Gestrüpp schabte hart an seinen Lederchaps entlang. Dann stand er vor dem Eingang zu einer ehemaligen Goldmine. Er ließ die offenen Zügel fallen, klopfte das Pferd ab und hob seinen schmerzenden Hintern langsam aus dem Sattel. Er bewegte sich, als würde er gerade gehen lernen. Vorsichtig trat er von einem Fuß auf den anderen, bis die Taubheit endlich aus seinen Beinen wich. Dann drehte er die Fußgelenke ein paar Mal hin und her und betrachtete den verfallenen Mineneingang. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in dieser Gegend nach Gold gegraben. Er sah die harten, kernigen Männer vor sich, viele vor dem Gesetz geflohen, mit der Hoffnung auf das große Glück im verkniffenen Gesicht.
Er öffnete die Schnalle des Sattelgurts und spürte die Erleichterung des Pferdes, als sich der speckige Schaumstoff von seinem Bauch löste. Jeff wuchtete Gepäck und Sattel von Jokers Rücken, legte alles auf den Boden und das feuchte Sattelpad über einen Stein. Die Luft füllte sich mit dem süßlich dumpfen Geruch von Pferdeschweiß und altem Leder. Jeff sog ihn ein. Es war der Duft wunderbarer Erinnerungen. Er betrachtete die feinen Silberbeschläge und das abgewetzte Horn vor der wildlederüberzogenen Sitzfläche. Er liebte diesen Sattel. Robert hatte ihn eingeritten und er, Jeff, hatte ihn sich zu seinem achtzehnten Geburtstag in der Sattelkammer der Rowly Ranch ausgesucht.
Mit müden Bewegungen öffnete er die Schnallen seiner Chaps. Er warf sie über den Sattel, packte sein kleines Zelt und seinen Schlafsack aus und begann sein Quartier für die erste Nacht in der Wüste Arizonas aufzubauen. Es war kein leichtes Spiel, die Heringe in den ausgetrockneten Boden zu schlagen. Die Sonne war gerade hinter den rauen Hügeln verschwunden und ließ ein Licht zurück, das sich nicht zwischen Tag und Abend entscheiden konnte. Die Saguaro-Kakteen standen auf den Kämmen der Hügel wie Wachsoldaten, die ins Tal hinabspähten, und ab und zu drangen die Rufe der Raubvögel an sein Ohr. Als er vor seinem niedrigen dreieckigen Quartier stand und langsam den Rauch einer filterlosen Zigarette in die klare Abendluft blies, wurde ihm bewusst, wie allein er hier war. Mit einem Blick auf das müde Pferd, das sich die trockenen Lippen leckte, verschwand der Anflug von Selbstmitleid. Er nahm einen der großen ledernen Wasserbehälter vom Sattelhorn, füllte den größten seiner Blechnäpfe mit Wasser und stellte ihn vor das Pferd auf den Boden. Mit langen, lautlosen Zügen leerte es den Napf. Das Wasser war noch kühl. Jeff hatte es an einer Quelle nachgefüllt. Etliche Male goss er den Napf voll. Morgen musste er den Fluss erreichen, den Hassayampa, sonst hätten sie beide nichts mehr zu trinken.
Er wagte nur einen kleinen Teil seiner Abendration zu essen – eine Dose Corned Beef und gebackene Bohnen in Tomatensoße. Den Rest seiner Verpflegung stellte er als Reserve in den Eingang der Mine. Dort war es am kühlsten. Dann setzte er sich an die Kante des Plateaus und beobachtete, wie sich die letzten Reste des Abendlichts zurückzogen und silberne Sprenkel auf dem dunkelblauen Himmel hinterließen. Dieser Himmel war anders als der über New York. Der Wüstenhimmel war so klar und blau, wie aus einer einzigen Farbe gemalt, die Luft transparent und rein. Kein Dunst verschleierte die harten Konturen der kantigen Landschaft. Er lehnte sich an einen Felsen und fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er lag in seinem Kinderbett und blickte zur Zimmerdecke, auf die tiefblaue, glänzende Farbe mit den aufgeklebten silbernen Sternen. Vor dem Einschlafen hatte er immer eine Weile das Licht angelassen und träumend auf seinen kleinen Sternenhimmel gestarrt. Robert hatte diese Dekoration mit ihm zusammen angefertigt. »Sieht ziemlich nüchtern aus in deinem kleinen Reich«, hatte er gesagt, als er ihn und seine Mutter das erste Mal in der neuen Wohnung besuchte. Ja, Robert hatte das, was seinem Vater fehlte – Herzverstand. Wenn sie zusammen waren, schien das Leben leicht und verständlich. Sie hatten Blutsbrüderschaft geschlossen, Roberts Blut vermischte sich mit seinem. Es hatte die gleiche Farbe, die gleiche Beschaffenheit. Es floss in dieselbe Richtung.
Das Licht hatte sich nun ganz zurückgezogen und die Nacht verschluckte alles Sichtbare. Sie legte sich über ihn wie schwerer schwarzer Stoff und drohte ihn zu erdrücken. Er fühlte sich wie ein Blinder. Hastig fingerte er in seiner Weste nach der Taschenlampe, als ginge es um sein Leben. Endlich, da war sie wieder, die Welt um ihn herum, die Steine, die niedrigen knorrigen Sträucher, sein Pferd. Alles tauchte in dem kleinen Lichtkegel vor ihm auf. Er legte Joker die Hobbles an, die seine Vorderbeine zusammenhielten, kroch in das Zelt und rollte sich in den Schlafsack ein.
Die Nacht war erfüllt von undefinierbaren Geräuschen und Jeff tat kaum ein Auge zu. Er lag immer wieder wach, drehte die müden Knochen auf dem harten Boden von einer Seite auf die andere und lauschte in die Wildnis hinaus. Er dachte darüber nach, wie sehr die indianische der taoistischen und buddhistischen Betrachtung der Natur glich. Die tiefe Einsicht von der Verbindung aller Lebewesen im ewig wiederkehrenden Fluss des Lebens, der Respekt vor der Natur, die Demut im Angesicht des Himmels und das gelassene Leben im Hier und Jetzt. Diese Gedanken beruhigten ihn. Und als er meinte, das bedrohliche Klappern einer Schlange zu vernehmen, glitt seine Hand ein letztes Mal auf das Gewehr an seiner Seite. Er horchte, hielt für Sekunden den Atem an. Sein Pferd stand ruhig neben dem Zelt. Jeff verließ sich auf den Instinkt des Tieres und fiel endlich in einen kurzen, aber tiefen Schlaf.
Das schrille Piepen seiner Armbanduhr ließ ihn hochfahren. Für Sekunden tauchte seine New Yorker Wohnung vor ihm auf und ließ die Lust auf einen starken Kaffee in ihm aufsteigen. »Heute noch nicht«, sagte er zu sich selbst. Erst musste der Fluss erreicht sein. Er streckte seinen vom Liegen steifen Körper, hangelte sich aus der kleinen Öffnung seines Zelts und erstarrte. Vor ihm schlängelte sich eine ockerfarbene Schlange mit rautenförmiger brauner Zeichnung über das Plateau. Er verharrte in Hockstellung im Eingang des Zelts und beobachtete sie. Lautlos glitt sie durch das harte gelbe Gras wie ein dicker Faden durch einen rauen Baumwollstoff. Dann war sie im Dickicht verschwunden. Jeff atmete auf, trat aus dem Zelt und blickte auf sein Pferd. Seine Nüstern vibrierten und seine Ohren standen gespitzt über der kurzen breiten Stirn, aber es war ruhig.
Jeff klopfte dem Falben beruhigend den Hals. Dann stellte er sich an den Rand des Plateaus, schüttelte die Arme, hob sie zu einem Kreis über seinen Kopf und ließ sie vor seinem Körper sinken, während er ausatmete. Sein staubiges, zerzaustes Haar wehrte sich gegen seine Finger. An alles hatte er gedacht, nur nicht an einen Kamm. Er ließ die Haare, wie sie waren, und schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne. Zahnbürste und Waschlappen blieben heute unbenutzt. Das Wasser musste noch bis zum Abend reichen. Es war fünf Uhr morgens und die Sonne versteckte sich noch hinter den Bergen. Er zog die Zeltstangen mit einem Ruck aus dem festen Boden, rollte den Schlafsack in das Zelt, zurrte alles mit zwei Lederriemen zusammen und schnallte es, nachdem er sein Pferd gesattelt hatte, hinter den Sattel. Dann steckte er seinen Proviant in die Packtaschen links und rechts des Sattels und saß auf. Er beugte sich auf Jokers Hals hinab und nahm die Zügel auf. Sein Körper schmerzte von der Anstrengung des ersten Tages, aber sein Kopf war klar und frei vom dumpfen Hämmern seines inneren Stundenplans. New York war ans Ende der Welt gerückt, das schwarz gefärbte Leder seines Bürostuhls hatte sich in seine Naturfarbe zurückverwandelt und lag auf einem Pferderücken. Er ließ sich tiefer in den Sattel sinken. Es war wunderbar, wieder ein Pferd zwischen den Beinen zu spüren.
Der Aufstieg hinauf in die Berge war mühsam. Mit sicheren Tritten balancierte Joker sein Gewicht und das Gepäck über das lose Geröll. Seine harten Hufe waren beschlagen und an den unnachgiebigen Steinboden gewöhnt. Er besaß eine runde, abfallende Kruppe und die Muskelstränge seiner Hinterbacken bildeten tiefe Kerben unter dem hellen Fell. Seine Brust war breit und kräftig, seine Schulter schräg genug für eine ausladende Vorderhandaktion. Vorsichtig setzte er einen Huf vor den anderen, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen. Am Mittag erreichten sie den Kamm des Bergs und am Abend das Hassayampa-Tal.
Majestätisch glitt ein Rotschwanzbussard über ihn hinweg, verharrte ein paar Mal flatternd, stieß einen Schrei aus und schwebte dann gleich einer sanften Melodie über die Hügel hinweg, bis er nur noch ein kleiner Punkt am Himmel war. Zurück blieb eine unendliche Stille und die Erinnerung an den Ritt mit Robert. Damals waren sie von einer Dude-Ranch westlich von Wickenburg aufgebrochen, die ersten fünf Meilen in Begleitung eines Cowboys, der die Gegend kannte wie seine Hosentasche.