Herkules und der Stall des Augias / Der Prozeß um des Esels Schatten - Friedrich Dürrenmatt - E-Book

Herkules und der Stall des Augias / Der Prozeß um des Esels Schatten E-Book

Friedrich Dürrenmatt

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Beschreibung

»Wieder einmal stehen in Dürrenmatts Welt der Held und der tapfere Mensch nebeneinander: Herkules und Augias. Herkules darf allein durch seinen Namen im Titel figurieren, Augias ist seinem Stall grammatikalisch, aber nicht nur so, untergeordnet. Herkules, der Held, wird aber nicht als ein Held ausmisten, er kommt überhaupt nicht dazu. Augias hingegen besiegt seinen Stall auf neue Weise.«

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Friedrich Dürrenmatt

Herkules und der Stall des Augias | Der Prozeß um des Esels Schatten

Griechische Stücke Neufassungen 1980

Diogenes

Allgemeine Anmerkung zu der Endfassung 1980 meiner Komödien

Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden – die ersten Stücke tastete ich nicht an – die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.

F.D.  

Herkules und der Stall des Augias

Eine Komödie Neufassung 1980

Für Lotti

zum 4.9.1962

Personen

Herkules Nationalheld

Deianeira seine Geliebte

Polybios sein Sekretär

Augias Präsident von Elis

Phyleus sein Sohn

Iole seine Tochter

Kambyses sein Stallknecht

Lichas ein Briefträger

Tantalos Zirkusdirektor

zehn Parlamentarier

zwei Bühnenarbeiter

Pause nach dem sechsten Bild

Geschrieben 1962

Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 20. März 1963

Bühnenbild

Im Hintergrund eine kolossale Mistwand, einer kubischen Eigernordwand nicht unähnlich, obendrauf ein Handkarren mit einer Mistgabel und dahinter auf einer Säule die Statue einer griechischen Göttin, die während der Handlung allmählich versinkt. Vor dieser Mistwand kubische Mistblöcke mit schwankenden Latten dazwischen. Die Bühne wird so, je nach Beleuchtung, realistisch oder abstrakt.

Kostüme

Die Griechen so griechisch, Deianeira so nackt wie möglich, die Elier in ungefügen Pelzen, als Parlamentarier – außer Augias – mit abenteuerlichen Bauernmasken, wie sie im Lötschental vorkommen.

1.Offene Bühne und Prolog

Polybios tritt vor das Publikum.

POLYBIOS

Auf das leichte Befremden, das Sie, meine Damen und Herren, angesichts unserer Bretter befallen mag, die doch die Welt bedeuten sollten, gibt es nur eine Antwort: Es geht dramaturgisch nicht anders. Wir versuchen eine Geschichte zu erzählen, die auf dem Theater sich bis jetzt noch niemand zu erzählen getraute, liegen sich doch in ihr, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Reinlichkeitsbestreben und das Kunstbedürfnis des Menschen in den Haaren. Wenn wir das bedenkliche Unternehmen trotzdem wagen und nun vor Ihnen eine Welt aus Unrat auf die Bühne zaubern, so nur, weil uns der Glaube beflügelt, die dramatische Kunst werde mit jeder Schwierigkeit fertig; fast mit jeder, denn an anderen Taten unseres Nationalhelden wäre sie wohl gescheitert: So etwa bei der Schilderung der beiden Schlangen, die sich ihm schon in der Wiege um den Hals legten, ihn zu ersticken, und die das Kleinkind dann kurzerhand –

Hinter der Bühne Kleinkindergeschrei, das verstummt, wie Polybios die Handbewegung des Erwürgens macht.

– oder auch bei jener Szene, in welcher der gewaltige Säugling so mächtig am Busen der Göttin Hera sog, daß die Göttermilch über den ganzen Himmel hinschoß –

Ein ungeheures Zischen, und ein Milchstrahl saust über die Bühne.

– ein komisches Geschehen, dem wir unsere Milchstraße verdanken: Wo nähmen wir die Schlangen, wo den Säugling, wo den Busen her? Zur Sache. Die urweltliche Kuhfladenlandschaft, die Sie erblicken, dieser sagenhafte Kompost – um einen mehr gärtnerischen Begriff zu verwenden – ist kein geringerer als jener antike Dünger, der sich im Lande Elis seit Jahrhunderten angesammelt hat, der längst schon überbordete, jede Fesselung sprengte, einfach überlief, überquoll und jetzt schon beinahe die Füße der Eleutheria, der Göttin der Freiheit, erreicht, auf die die Elier so stolz sind, eine Statue auf einer fünfzig Meter hohen Säule, wie behauptet wird, und so mag denn dies wenigstens ein gewisser Trost sein: Bieten wir schon Mist, dann nur einen berühmten. Dazu ist Ihnen die Direktion noch in einem anderen Punkt freundlicherweise entgegengekommen: Für Szenen, die anderswo spielen, in reinlicheren Gegenden also, stellte sie dieses Podium zur Verfügung, sogar mit einem Vorhang versehen, bitte sehr:

Die Wand des Mistkubus in der Mitte klappt nach unten und bildet den Boden eines Podiums, der Kubus wird zur kleinen Bühne mit einem weißen Vorhang.

Die Kulissen lassen wir von oben herunterschweben, zum Beispiel diesen Giebel einer Villa in Theben, wir werden ihn bald benötigen –

Der Giebel schwebt von oben bis zur halben Höhe der Bühne herab und entschwebt wieder nach oben.

– oder wie hier den Vollmond, unseren natürlichen Satelliten.

Oben links wird der Vollmond sichtbar, versinkt wieder.

Keine Kunst ohne Romantik, keine Romantik ohne Liebe, keine Liebe ohne Vollmondnacht. Wir zeigen kein realistisches Stück, wir kommen mit keinem Lehrstück und lassen auch das absurde Theater zu Hause, wir bieten ein dichterisches Stück. Ist der Stoff auch nicht stubenrein, wahre Poesie verklärt alles. Andere Requisiten dagegen schleppen zwei Bühnenarbeiter als Elier verkleidet herbei, wie jetzt hier eine erschöpfte Wildsau.

Zwei Bühnenarbeiter legen keuchend eine Wildsau aufs Podium.

Auf diese Bestie können wir leider nicht verzichten. Daß die Bühnenarbeiter Stiefel tragen, entschuldigt das Gelände. Die zwei Bühnenarbeiter stellen Eiszapfen auf. Meine Damen und Herren. Es wäre soweit. Doch möchte ich die Handlung nicht beginnen, ohne mich vorgestellt zu haben. Ich bin Grieche. Ich heiße Polybios und stamme aus Samos. Ich bin Privatsekretär unseres Nationalhelden. Aber auch die gedemütigtste, zusammengeschlagenste Kreatur – ich wähle bewußt diese Worte – wird einmal reden, einmal nach all den endlosen und – wenn ich den Verlauf der Geschichte grosso modo betrachte – doch wohl fruchtlosen Jahrhunderten, die seit meiner Zeit verflossen sind. Und so rede ich denn, enthülle ich denn. Auch wir sehnten uns nach einem Platz an der Sonne, auch wir hofften auf ein menschenwürdiges Dasein. Wo landeten wir? Der Zustand unserer Bühne sagt alles. Doch genug. Mein Meister kommt, hängt seinen Bogen an eine Eiszacke, nimmt auf dem Podium Platz.

Von rechts erscheint Herkules in der Löwenhaut mit Bogen und Keule, setzt sich auf dem Podium neben die Wildsau.

Wir erzählen: ›Herkules und der Stall des Augias‹! Es ist dies die fünfte Arbeit unseres Nationalhelden, wir fangen jedoch mit dem Ende der vierten an: Im Schnee. 2911 Meter über dem Meeresspiegel. Meine Damen und Herren, wir beginnen endgültig.

Die Beleuchtung gletscherhaft.

2.Auf dem Gletscher des Olymp

Herkules sitzt verschneit rechts neben der verschneiten Wildsau.

HERKULES

Kalt.

POLYBIOS

Kalt.

HERKULES

Dünne Luft.

POLYBIOS

Hochalpine Luft.

Polybios bläst in die Hände, schlägt die Arme an den Leib, geht am Fleck, alles, um sich warm zu halten.

HERKULES

Setz dich. Dein Herumtanzen macht mich nervös.

POLYBIOS

Bitte.

Er besteigt das Podium und setzt sich links neben die Wildsau. Schweigen. Sie frieren.

HERKULES

Nordwind.

Polybios führt den rechten Zeigefinger in den Mund und hält ihn dann in die Höhe.

POLYBIOS

Nordwestwind.

HERKULES

Zum Glück habe ich meine Löwenhaut.

POLYBIOS

Ich bin leider ausgesprochen sommerlich gekleidet.

HERKULES

Der Nebel nimmt zu.

POLYBIOS

Man sieht keine zehn Schritte weit.

HERKULES

Schneien tut es auch wieder.

POLYBIOS

Ein Sturm zieht auf.

HERKULES

Griechen auf einem Gletscher haben etwas Hilfloses.

Donnern.

POLYBIOS

Eine Lawine.

HERKULES

Wir sind keine alpinistische Nation.

POLYBIOS

Um so stolzer dürfen wir sein, den Olymp als erste erklettert zu haben.

HERKULES

Das Wildschwein war zuerst oben.

POLYBIOS

Götter sind keine zu sehen.

HERKULES

Na ja.

POLYBIOS

Ihr Vater Zeus –

HERKULES

Reden wir nicht von meiner Mutter.

Donnern.

POLYBIOS

Steinschlag.

HERKULES

Der halbe Gipfel rutscht nach unten.

POLYBIOS

Ist der Olymp eigentlich ein solider Berg?

HERKULES

Keine Ahnung.

Schweigen. Schneetreiben.

HERKULES

Polybios.

POLYBIOS

Verehrter Meister Herkules?

HERKULES

Hör auf, mit den Zähnen zu klappern.

POLYBIOS

Bitte.

HERKULES

Ich beginne nachdenklich zu werden.

POLYBIOS

Das macht die Kälte.

HERKULES

Ich mühe mich ab. Ich erlege die Ungeheuer der Vorzeit, die Griechenlands Felder zerstampfen, und knüpfe die Räuber an die Bäume, die seine Wege unsicher machen. Doch seit ich dich angestellt habe, ist zwar meine Korrespondenz in Ordnung, aber meine Geschäfte gehen zurück. Umgekehrt wäre mir lieber.

POLYBIOS

Zugegeben, verehrter Meister. Die drei ersten Arbeiten, die ich vermittelt habe, brachten wenig ein. Der Nemeische Löwe, nach dessen Gewicht sich das Honorar richtete, erwies sich als ein Balkanzwergberglöwe, die Riesenschlange Hydra sackte in den lernäischen Sümpfen ab und die Keryneiische Hindin sauste auf Nimmerwiedersehen davon. Aber der Erymanthische Eber – war das eine Hetzjagd – bis hier auf den Gipfel des Götterbergs, den vorher noch keines Menschen Auge sah!

HERKULES

Wir sehen auch nichts.

POLYBIOS

Dafür haben wir den fürchterlichen Eber endlich gestellt.

HERKULES

Schneien tut es immer noch.

POLYBIOS

Die Welt darf aufatmen.

HERKULES

Nützt uns nichts.

POLYBIOS

Nützt uns gewaltig. Der Erymanthische Eber liegt zwischen uns erschöpft im Schnee, und wo der Eber liegt, liegt das Honorar.

HERKULES

Zwischen uns liegt nicht der Erymanthische Eber, sondern irgendeine Bache erschöpft im Schnee.

Polybios schaut nach.

POLYBIOS

Tatsächlich. Eine Wildsau.

Schweigen.

POLYBIOS

Sie muß dem Eber nachgelaufen sein.

HERKULES

Wir ja auch.

POLYBIOS

Wir dürfen jetzt nur nicht den Kopf verlieren.

Donnern.

HERKULES

Wieder eine Lawine.

POLYBIOS

Wo die Sau ist, wird auch der Eber sein.

HERKULES

In der Gletscherspalte da vorne.

POLYBIOS

In der – Gletscherspalte?

HERKULES

Der Erymanthische Eber stürzte vor meinen Augen in den bodenlosen Abgrund.

POLYBIOS

Und damit das Honorar. Fünfzehntausend Drachmen liegen da unten.

HERKULES

Dreitausend mehr als ich an einem mittleren Raubritter verdiene.

Schweigen.

POLYBIOS

Könnte man den Eber nicht aus der Spalte –

HERKULES

Zu tief.

Schweigen.

POLYBIOS

Wir müssen nachdenken.

HERKULES

Die Wildsau ist auch schon erfroren.

Schweigen.

POLYBIOS

Ich hab’s.

HERKULES

Nun?

POLYBIOS

Ich kenne in Theben einen Tierpräparator – wenn der einige geschickte Manipulationen vornähme –

HERKULES

Wozu?

POLYBIOS

Die Sau in einen Eber zu verwandeln. Wildschwein ist Wildschwein.

Schweigen.

HERKULES

Es schneit nicht mehr.

POLYBIOS

Der Nebel lichtet sich.

HERKULES

Stehen wir auf.

Sie erheben sich und klopfen sich den Schnee ab.

HERKULES

Turnen wir.

Sie kniebeugen, schwingen die Arme.

HERKULES

Nun denke ich wieder klar.

POLYBIOS

Gott sei Dank.

HERKULES

Du willst mich zu einem Schwindler machen.

POLYBIOS erschrocken

Aber verehrter Meister –

HERKULES

Ich soll eine Sau für einen Eber ausgeben.

POLYBIOS

Aber doch nur, weil wir sonst das Honorar verlieren! Bedenken Sie die fünfzehntausend Drachmen!

HERKULES

Ich pfeife auf die fünfzehntausend Drachmen!

POLYBIOS

Das können Sie sich unmöglich leisten, verehrter Meister, in Anbetracht Ihrer Schulden!

Schweigen. Herkules starrt Polybios fassungslos an.

HERKULES

Schweig!

POLYBIOS

Bitte.

HERKULES donnernd

Wir befinden uns auf dem Olymp!

Donnern.

POLYBIOS

Wieder eine Lawine.

HERKULES brüllend

Mir egal!

POLYBIOS

In der Nähe Ihres Vaters.

HERKULES brüllend

Mir Wurst!

Donnern.

POLYBIOS

Noch eine Lawine.

Schweigen.

POLYBIOS

Wenn Sie weiterbrüllen, saust die andere Hälfte des Gipfels auch noch nach unten.

HERKULES wütend

Ich könnte dich hinunterschmettern! Ich habe keine Schulden!

POLYBIOS

Doch, verehrter Meister.

Herkules packt Polybios an der Brust.

HERKULES

Du lügst!

POLYBIOS in Todesangst

Ich lüge nicht, verehrter Meister! Das wissen Sie genau! Überall haben Sie Schulden! Beim Bankier Eurystheus haben Sie Schulden, beim Treuhandbüro Epaminondas, beim Architekten Aias, beim Schneider Leonidas! Ganz Theben sind Sie verschuldet, verehrter …

Herkules ist mit Polybios hinter dem Podium im Mist verschwunden. Der Podiumsvorhang schließt sich.

Gepolter.

Totenstille.

3.Vor dem Podium

Polybios kommt hinter dem Podium hervorgehinkt, den Hintern reibend und den linken Arm eingeschient.

POLYBIOS etwas keuchend

Die Ausbrüche seines Zorns waren weltberühmt und sind es noch heute. Er schmetterte mich samt der Wildsau den Gletscher des Olymps hinunter bis in die Wälder am Fuße des Berges hinein und kam dann mit dem restlichen Gipfel selber nachgerasselt.

Er angelt sich einen Eiszapfen aus dem Genick.

Hier ein Eiszapfen.

Er wirft ihn ins Orchester.

Glücklicherweise donnerten die häusergroßen Felsblöcke noch gnädig an mir vorbei, aber Herkules fiel auf mich, landete so von uns dreien weitaus am sanftesten und blieb unverletzt, während ich zwischen Wildsau und Nationalheld zu liegen kam – lassen wir das.

Die zwei Bühnenarbeiter tragen die Wildsau hinaus. Von oben der griechische Giebel.

Wenn ich meinen Dienst nicht quittiere, so nur, weil es für einen Sekretär ohne Diplom – ich hatte sowohl in Athen als auch in Rhodos Pech im Examen – schwer ist, überhaupt eine Stelle zu finden, und außerdem schuldet mir unser Nationalheld noch den Lohn von zwei Monaten. Doch werden auch die schlimmsten Ausbrüche seines Zorns durch den Ruf –

DEIANEIRA

Herkules!

POLYBIOS

– besänftigt. Es ist Deianeira, seine Geliebte, eine so außergewöhnliche Frau an Gestalt und Geist, daß von ihr nur Wundersames zu berichten ist.

Herkules steckt den Kopf zwischen dem Podiumsvorhang hervor.

HERKULES

Hörst du die Silberstimme, Polybios, diesen lockenden Glockenton? Ist sie nicht vollkommen? Ihr Leib, ihr Gang, die Anmut, mit der sie lacht, singt, Verse zitiert, tanzt, meinen Namen ruft?

Herkules verschwindet wieder hinter dem Vorhang.

POLYBIOS

Die beiden ergänzen sich vortrefflich. Herkules ist hünenhaft, robust und einfach, sie zierlich und mit einem unübertrefflichen Sinn für Nuancen begabt. Ihr zuliebe besteht er die ungeheuerlichen Abenteuer seines Berufs, und es ist seine Leidenschaft, Griechenland für den Geist zu säubern, den er in ihr verkörpert sieht. Deianeira dagegen ist manchmal etwas beunruhigt. Ich weiß, sagte sie einmal zu mir …

Von rechts kommt Deianeira mit einer großen Schale.

DEIANEIRA

Ich weiß, Herkules und ich gelten als das ideale Paar Griechenlands, und wir lieben einander auch wirklich. Doch ich fürchte mich, ihn zu heiraten, seit ich die Schale schwarzen Bluts besitze.

POLYBIOS

Eine Schale schwarzen Bluts?

Deianeira setzt sich mit ihrer Schale auf den Podiumsrand.

DEIANEIRA

Als wir den Fluß Euenos erreichten, wollte mich der Kentaur Nessos rauben. Herkules schoß ihn mit einem vergifteten Pfeil nieder. Da riet mir der sterbende Kentaur, sein Blut in dieser Schale zu sammeln. Ich solle damit das Hemd meines Geliebten bestreichen, und Herkules werde mir treu sein. Ich habe es noch nicht getan. Er haßt Hemden. Er ist ja meistens nackt, wenn er nicht gerade die Löwenhaut trägt. Jetzt sind wir frei. Aber einmal werden wir heiraten. Dann werde ich fürchten, ihn zu verlieren, und er wird ein Hemd tragen, weil er älter sein wird und oft frieren wird, und ich werde sein Hemd in das schwarze Blut des Kentauren tauchen.

Deianeira geht mit ihrer Schale langsam wieder nach rechts hinaus.

POLYBIOS

Soweit Deianeira. Was dagegen König Augias betrifft, dessen Ansinnen den Wendepunkt im Leben unseres Heldenpaares bringt, so möchte ich ihm nun persönlich das Wort übergeben: Auftritt Augias.

Polybios nach links ab. Der Giebel fährt nach oben. Augias kommt in Stiefeln von links hinten, tritt vor das Publikum.

AUGIAS

Zuvor einige Angaben über unser Elis: Etwas unter dem achtunddreißigsten Breitengrad in Griechenland gelegen, auf der Höhe Siziliens also, genauer, im westlichen Teil des Peloponnes, begrenzt im Norden und Süden durch die Flüsse Peneios und Alpheios, im Westen durch das Ionische Meer und im Osten durch Arkadien, durch einen im Gegensatz zur Überlieferung ziemlich ungemütlichen Landstrich. Boden: Gut gemistet. Darunter angeblich Molasse und noch tiefer Gneis. Klima: Von den häufigen typisch elischen Dauerregen abgesehen, anständig. Wie auch die Sitten. Die Winter manchmal leider etwas rauh, und ein warmer Fallwind von den Bergen her schläfert öfters ein. Daher das Sprichwort: Verschlafen wie ein Elier. Hauptstadt: Heißt wie das Land ebenfalls Elis. Groß- und Kleinviehbestand: Achthunderttausend Stück Rindvieh, sechshunderttausend Schweine. Rund gerechnet. Hühner: Mehrere Millionen. Die Eier –

Er kramt in den Taschen, holt endlich ein Ei hervor, zeigt es.

Die Eier sind besonders groß, nahr- und schmackhaft. Einwohner: Zweihunderttausend. Auch rund gerechnet. Religion: Temperiert Dionysisch mit Apollonisch-Orthodoxen Urgemeinden. Politik: Liberalpatriarchalisch, zwischen dem attischen Seebund, der spartanischen Hegemonie und dem persischen Weltreich lavierend. Sehenswürdigkeiten: Olympia, die Stätte der vierjährlichen pangriechischen Mistspiele. Über mich selber möchte ich nicht viele Worte verlieren. Um die Wahrheit zu sagen, bin ich eigentlich gar kein König, sondern nur der Präsident von Elis, ja, um präzise zu sein, nur der reichste der Bauern, und, da es bei uns nur Bauern gibt, eben der, welcher am meisten zu sagen hat und das elische Parlament präsidiert. Privatleben: Verwitwet. Zwei Kinder. Darf ich vorstellen:

Von links und rechts kommen Phyleus und Iole.

Phyleus verneigt sich linkisch, Iole macht einen Knicks, beide etwas vermistet.

Phyleus, mein Sohn, ein achtzehnjähriger Bengel, und Iole, mein Töchterchen. Vierzehn. So ihr beiden, tanzt wieder ab.

Die Kinder ab.

Das wäre das Persönliche. Was nun den sagenhaften Mist angeht, so ist er eben Gegenstand einer hitzigen Debatte im Großen Nationalen Rat – klappen wir denn das Podium wieder zu –, wir befinden uns im altehrwürdigen Rathaus der Elischen Bauernrepublik.

Das Podium klappt zu.

Augias ist etwas verlegen.

Das heißt, auch hier ist ein kleines Geständnis am Platz – da das Rathaus – Sie verstehen – da das Rathaus schon längst unter – unter unseren agronomischen Abfallprodukten vergraben und versunken ist, tagt der Große Nationale Rat in meinem Stall – der Einfachheit halber.

4.Im Stall des Augias I

In der Mitte der Bühne kommt ein Seil mit einer Kuhglocke herunter. Aus dem Mist tauchen um Augias gruppiert zehn Parlamentarier auf, nur bis zum Unterleib sichtbar, in ihren Masken wie gewaltige vermistete Götzen.

Die Szene bedächtig.

Augias bimmelt mit der Kuhglocke. Zuerst geschieht lange überhaupt nichts.

ERSTER

Es stinkt in unserem Land, daß es nicht zum Aushalten ist.

ZWEITER

Der Mist steht so hoch, daß man überhaupt nur noch Mist sieht.

DRITTER

Letztes Jahr sah man noch die Hausdächer, nun sieht man auch die nimmer.

VIERTER

Wir sind total vermistet.

ALLE

Vermistet.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

FÜNFTER

Wir sind aber vermistet.

SECHSTER

Bis zum Hals. Und drüber.

SIEBENTER

Verdreckt und verschissen.

ACHTER

Versunken und verstunken.

ALLE

Verstunken.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

VIERTER

Es soll Länder geben, wo der Mist nicht so hoch ist.

DIE ANDERN

Bei uns ist er aber so hoch.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

NEUNTER

Dafür sind wir gesund.

DIE ANDERN

Aber vermistet sind wir trotzdem.

ZEHNTER

Dafür gehen wir in die Tempel.

DIE ANDERN

Aber vermistet sind wir trotzdem.

NEUNTER

Dafür sind wir die älteste Demokratie Griechenlands.

DIE ANDERN

Aber vermistet sind wir trotzdem.

ZEHNTER

Das freiste Volk der Welt.

DIE ANDERN

Aber vermistet sind wir trotzdem.

NEUNTER

Wir sind die Urgriechen.

ALLE

Die Urgriechen.

Schweigen.

ALLE

Aber vermistet sind wir trotzdem.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

ERSTER

Die Kultur sollte man einführen, wie im übrigen Griechenland.

ZWEITER

Die Industrie, den Fremdenverkehr.

DRITTER

Die Sauberkeit.

VIERTER

Entweder misten wir jetzt aus, oder wir bleiben im Mist stecken.

ALLE

Stecken.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

FÜNFTER

Es eilt.

SECHSTER

Schandbar.

SIEBENTER

Wir müssen Maßnahmen ergreifen.

ACHTER

Welche?

NEUNTER

Weiß nicht.

ZEHNTER

Dann verstinken wir eben.

ALLE

Verstinken.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

ERSTER

Gegen das Schicksal kann man nichts machen.

ALLE

Nichts.

ZWEITER

Die Götter wollen es so.

DIE ANDERN

Die Götter.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

ZEHNTER

Vielleicht sollten wir nachdenken.

SIEBENTER

Wie macht man das?

ALLE

Keine Ahnung.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

FÜNFTER

Wozu haben wir unseren Präsidenten?

ACHTER

Damit er nachdenkt.

VIERTER

Dann soll er nachdenken.

ALLE

Er.

AUGIAS mit der Glocke

Ruhe!

Schweigen.

AUGIAS mit der Glocke

Männer von Elis!

DRITTER

Hört unseren Präsidenten Augias.

DIE ANDERN

Hören wir ihm zu.

AUGIAS

Ich denke nach.

ALLE

Er denkt nach.

AUGIAS

Daß mir niemand rülpst oder sonst ein Geräusch macht.

ALLE

Keiner.

Totenstille.

AUGIAS

Ich habe eine Idee.

Schweigen.

ALLE

Eine Idee?

AUGIAS

Ganz plötzlich.

Schweigen.

DRITTER

Bin ich aber erschrocken.

Schweigen.

ALLE

Rede.

Schweigen.

AUGIAS

Männer von Elis. Ich denke, natürlich muß man ausmisten. Es ist wohl keiner unter uns, der nicht gegen den Mist ist, ja, unter den Griechen ist es der Elier, der am meisten gegen den Mist ist.

ALLE

Richtig.

AUGIAS

Doch ist es ein Unterschied, ob wir nur ein wenig oder ob wir radikal ausmisten. Wenn wir nur ein wenig ausmisten, steht der Mist übers Jahr wieder so hoch, wie er jetzt steht, ja noch höher, bei der Menge, die wir produzieren. Wir müssen daher radikal ausmisten.

ALLE

Radikal.

FÜNFTER

Einfach ran an den Mist!

ALLE

Ran an den Mist!

AUGIAS

Ran an den Mist. Ein großes Wort. Wir sind eine Demokratie und stehen vor einer Gesamterneuerung des Staates. Die Aufgabe ist so gewaltig, daß ein Oberausmister gewählt werden muß, soll radikal ausgemistet werden. Dabei kommt jedoch die Freiheit in Gefahr. Der Mist ist dann fort, aber wir haben einen Oberausmister, und ob wir den dann auch fortbringen, kann man nicht wissen. Die Geschichte lehrt, daß gerade die Oberausmister bleiben. Doch droht uns ein noch größeres Übel. Wenn wir jetzt ausmisten, haben wir keine Zeit, unsere Kühe zu besorgen, die Käse- und Butterherstellung, der Export wird zurückgehen, und der Verlust kommt uns teurer zu stehen als die ganze Ausmisterei.

NEUNTER UND ZEHNTER

Teurer.

DIE ANDERN

Die Ausmisterei sollen die Reichen bezahlen.

SECHSTER

Die produzieren den größten Mist!

NEUNTER UND ZEHNTER

Wir zahlen genug Steuern!

DIE ANDERN

Ausmisten! Einfach ausmisten!

AUGIAS

Elier! Ich komme jetzt zu meiner Idee. Beim letzten Fürstentag in Arkadien hörte ich von einem Herkules, den man den Säuberer Griechenlands nennt. Den brauchen wir. Säubern und Ausmisten ist das eine wie das andere. Ich will dem guten Mann mal schreiben. Wir bieten ihm ein anständiges Honorar, zahlen ihm die Spesen, und während wir unser Vieh besorgen, kann er sich an die Arbeit machen. So kommt uns das Ausmisten am billigsten.

ALLE

Am billigsten!

DER SIEBENTE

So wollen wir es machen

ALLE

Wenn das Vaterland, das liebe,

In Gefahr ist

DER ERSTE

Wenn der Mist hochsteigt wie jetzt

Dampfend und braun

DER ZWEITE

Wenn der Milchpreis sinkt wie jüngst

Abgrundtief

DER DRITTE

Wenn die Makedonischen Barbaren

Billigere Butter auf den Markt werfen

DER VIERTE

Wenn die Fremden das Land meiden

Weil den korinthischen Bordellen

Keine Stunde schlägt

ALLE

Wie den unsrigen

DER FÜNFTE

Denkt ein Präsident für uns nach

DER SECHSTE

Der aber ist kein König

ALLE

Sondern unsresgleichen

DER SIEBENTE

Er trinkt das Bier, das wir trinken

DER ACHTE

Und abends

DER DRITTE

Lallend wie wir

ALLE

Die gleichen heimatlichen Lieder

DER NEUNTE

Torkelt er heim, auch wie wir

DER ZEHNTE

Er spielt Karten wie wir

DER ERSTE

Schläft wie wir

DER ZWEITE

Hat geheiratet wie wir

DER DRITTE

Gezeugt wie wir

DER VIERTE

Mit einer ähnlichen rundlichen Gattin

DER FÜNFTE

Wer aber ist wie wir

DER SECHSTE

Handelt wie wir

DER SIEBENTE

Langsam aber sicher

ALLE

Auch wie wir

DER SIEBENTE

Denn wo

DER ACHTE

Eile nottut

DER NEUNTE

Ist Bedachtsamkeit doppelt am Platze

DER ZEHNTE

Drum wollen wir Augias gehorchen

ALLE

Gehorchen

Die elischen Parlamentarier versinken mit Augias wieder im Mist.

5.Vor dem Hause des Herkules in Theben

Das Podium klappt wieder herunter. Von oben senkt sich der Giebel herab.

Der Briefträger Lichas tritt von rechts auf.

LICHAS

Ich bin Lichas und komme schon bei Sophokles vor – wenn er mich auch der Klassik zuliebe zum Herold unseres Nationalhelden hochstilisiert hat. Die Wahrheit sieht freilich anders aus: Von Amts wegen ist mir das Kadmosviertel in Theben zugewiesen, und ich habe unserem Nationalhelden Herkules, da er in der Kadmosstraße 34 wohnt, den Brief des Augias zu überbringen. Ich bin folglich ein Briefträger. Aber was für ein Briefträger! Es gibt viele bedeutende Könige, es gibt viele bedeutende Feldherren, viele bedeutende Künstler, sogar viele Genies gibt es, alles in allem aber es gibt nur einen bedeutenden Briefträger: mich. Ja, ich glaube kaum nach den Sternen zu greifen, wenn ich mich als die eigentliche Schlüsselfigur dieses Stückes bezeichne, obgleich ich nur einmal auftrete, nämlich jetzt, in der Vorgeschichte dieser zum Himmel stinkenden Komödie, auch wenn ich eigentlich zu ihrer Nachgeschichte gehöre, bin ich doch kein Geringerer als jener klassische Unglückswurm, der einige Jahre nach der Augias-Episode – man hatte mich damals aus postinternen Gründen auf die Insel Euböa versetzt – Herkules das berüchtigte Paket mit dem Nessoshemd brachte. Absender: Deianeira. Bestimmungsort: Ein Landgasthof auf dem Vorgebirge Kenion. Übrigens: Das Hemd selbst war blütenweiß, nichts deutete darauf hin, daß es in das schwarze Blut des Kentauren getaucht worden war, ich dachte, Hemd ist Hemd, und lieferte das Paket ab. Doch ich führe Ihnen die Szene, die eigentlich an den Schluß des Stückes gehört, am besten mal vor.

Von oben fällt ihm ein Paket in die Hände.

Mittagszeit. Der Himmel silbern, regnerisch verhangen. Es ist Januar und kalt. Relativ kalt.

Beleuchtungsänderung. Von rechts wird gleichzeitig der Grabhügel des Phyleus hereingeschoben, ein Erdhaufen mit einem zerschmetterten Helm gekrönt und mit einem blutdurchtränkten elischen Gewand mit zerfetzten Hochzeitsbändern.

Ich gehe auf den Landgasthof zu, komme am Grabhügel des Phyleus vorbei –

Er nimmt den Helm und das Gewand vom Grabhügel, zeigt es dem Publikum.

Der Sohn des Augias ist Ihnen ja schon vorgestellt worden. – Hier, ihr Kritiker da unten, was von ihm übrigblieb, etwas für euch: Eurer Ästhetik war ein blutbesudeltes Gewand stets lieber als ein vermistetes Hemd. – Der junge Mann hatte Herkules endlich gefunden, forderte ihn zum Zweikampf auf, und darauf wurden seine Überreste zusammengeschaufelt.

Er legt Helm und Gewand wieder auf den Grabhügel.

Ich erreiche die Haustüre, klingle.

Markiert das Ziehen an einer Türklingel.

Iole öffnet die Türe, Iole, die Tochter des Augias, auch sie kennen Sie schon, Iole, unbeeindruckt vom Tode ihres Bruders, Iole, auf die Deianeira eifersüchtig ist.

Iole öffnet den Vorhang.