Herr Fiedler ermittelt - 3 cosy crime Fälle - Pippa Jansen - E-Book
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Herr Fiedler ermittelt - 3 cosy crime Fälle E-Book

Pippa Jansen

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Beschreibung

Alle drei cosy crime Fälle in einem Band!

Herr Fiedler, vitaler Rentner mit Lebenserfahrung und Humor, vermietet sein Dachgeschoss an Studenten. Mit denen wird es nie langweilig - und oft genug spannend. Ein Jahrhunderte altes Geheimnis um Gladbachs altes Kloster, ein dunkles Kapitel der niederrheinischen Textilindustrie und unappetitliche Lebensmittel lassen keine Langeweile aufkommen. Mit Witz und Tücke meistern Herr Fiedler, sein Freund Theo und die jungen Assistentinnen und Assistenten jede Herausforderung.

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Inhaltsverzeichnis

Ein Einbruch in ein Kirchenarchiv, ein toter Obdachloser und eine Skizze, die einige Leute für eine Schatzkarte halten. Spinnen die?

 

 

In Mönchengladbach steht das 150-jährige Firmenjubiläum eines angesehenen Textilunternehmens bevor, in Krefeld wird eine Übersetzerin ermordet. Dumm für Übersetzerkollegin Lara Lewandowski, dass ausgerechnet sie die Leiche findet und unter Tatverdacht gerät.

 

 

Herr Fiedlers ehemalige Mieterin Annabelle bittet den kauzigen Rentner um Hilfe - und wird nur wenige Minuten später von einem Auto überfahren. Ein Unfall? Herr Fiedler und sein Freund Theo sind vom Gegenteil überzeugt.

 

weitere Bücher der Autorin

Münsterschatz

Pippa Jansen

Kriminalroman

 

Über das Buch

Ein Einbruch in ein Kirchenarchiv, ein toter Obdachloser und eine Skizze, die einige Leute für eine Schatzkarte halten. Spinnen die? Studentin Lara und Herr Fiedler, ihr kauziger Vermieter im Rentenalter, ermitteln auf eigene Faust. Bei den Wohnungslosen am Münster, unter den Kirchensanierern und in Südfrankreich, wo ein europäisches Institut die Geschichte Napoleons im Rheinland aufarbeitet. Mit viel starkem Tee und der gewitzten Hilfe von Freunden und Familie decken sie ein zweihundert Jahre altes Geheimnis der letzten Mönche von Gladbach auf.

 

Prolog

27. Juli 2002, Rheydt-Geneicken

Die Flammen leckten bereits an den Balken des Fachwerks, wo sie gute Nahrung fanden. Fast zweihundert Jahre alt war das Holz, so lang stand das Haus bereits an Ort und Stelle. Geneicken war zwar nicht der Nabel der Welt, aber doch ein Ort mit Geschichte. Die Nähe zu Rheydt, Zoppenbroich und Gladbach hatte für einigen Wohlstand gesorgt. Damit war es nun vorbei, für dieses Anwesen endete die Zeitrechnung in einem feurigen Finale.

Und für den Hausherrn auch.

 

Dummkopf!, dachte der Mann, der das Lodern aus sicherer Entfernung beobachtete, während er mit den Streichhölzern in seiner Tasche spielte. Der Narr hätte ihm das Fundstück einfach überlassen sollen, schließlich hatte er keine Ahnung gehabt, worum es sich handelte. Aber so war das mit den Laien: Sie fragten Experten um Rat, nur um diesen dann zu missachten. Nun war es für den Hausherrn zu spät.

 

Das Holzkästchen, in dem sich das alte Dokument auf dem brüchigen, fast zerfallenen Papier seit vielen Jahrzehnten befand, steckte - wohl verwahrt - in seiner Innentasche.

Ein bisschen bedauerte der Mann den Personenschaden. Der Besitzer des Hauses und des darin aufgefundenen Dokuments war ein netter Kerl gewesen. Aber eben auch sehr stur. Der, von dem die Rede war, war bereits am Rauch erstickt und bemerkte nicht mehr, wie sein Bett, sein Pyjama und schließlich Haut und Haar in Flammen aufgingen.

Mit Ankunft der Feuerwehr wandte der Beobachter sich ab und verließ den Ort seiner Schandtat.

 

Eins

30. Juli 2002

Als Lara vor dem verklinkerten Haus aus dem Auto stieg und die vom langen Sitzen verhärteten Muskeln streckte, fühlte sie sich gleich wieder heimisch. Die ruhige Anliegerstraße mit den achtzig Jahre alten Reihenhäusern und den schlank und hoch aufragenden Bäumen in sommerlichem Grün hatte sich nicht verändert. Nur die Anzahl der parkenden Autos war noch einmal gestiegen, so dass sie froh war, den Platz in der Einfahrt neben dem Eckhaus benutzen zu dürfen. Bevor sie den Kofferraum ihres Kleinwagens öffnen konnte, riss ihr Vermieter auch schon die Haustür auf und rief ihr ein fröhliches »Na, da sind Sie ja, min Deern« zu.

Herr Fiedlers weißen Haare standen wirr in alle Richtungen vom Kopf ab, das letzte Rendezvous mit dem Rasierapparat lag offensichtlich mehrere Tage zurück und seine Füße steckten in einer roten und einer grünen Socke. Diese Marotte hatte er angenommen, als er die Handelsmarine verließ, seine Leidenschaft für die Seefahrt aber weiter pflegte. Das hatte er Lara zwei Jahre zuvor erklärt, als sie während eines Praktikums beim Lokalradio 90,1 drei Monate lang in seinem Dachgeschoss gewohnt hatte. Lara hatte ihn gleich gemocht.

 

Nun fuchtelte Herr Fiedler in der einen Hand mit seinem Stock herum, während er mit der anderen in den Kofferraum langte. Lara deutete auf die leichtere Tasche und antwortete auf seine Fragen: Ja, es sei sehr voll gewesen auf der Autobahn, nein, sie sei auch wirklich nicht zu schnell gefahren, nein, sie habe unterwegs keine Pause gemacht und ja, sie würde gern eine Tasse Tee mit ihm trinken.

 

Herr Fiedler stob stockschwingend in Richtung Küche davon, und Lara stieg ins Dachgeschoss. Der große Raum war hell und voller Möbel, die jeden Trödelhändler glücklich machen würden: Ein höhenverstellbarer Esstisch mit vier Holzstühlen, die zwar nicht dazu passten, aber an eine Eisdiele der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnerten und extrem bequem waren. Eine Kredenz aus Weichholz mit gehäkelten Borten an den Regalbrettern. Ein Bett mit Eisengestell, über dessen Alter Lara sich unsicher war, neben einem Kleiderschrank und einer Kommode, die mit buntem Schrankpapier ausgelegt war. Einzig der Schreibtisch war modern mit Stahlfüßen unter einer großen Eschenholzplatte, wie man sie sonst in guten Kneipen fand. Als sie ihren Laptop auf die Platte stellte, bemerkte sie das Wackeln. Kein Wunder, steckten doch Pappstückchen unter allen vier Beinen, um die Unebenheiten des alten Dielenbodens auszugleichen. Lara brachte den Tisch ins Gleichgewicht.

Miniküche und Kühlschrank waren unverändert, wie immer war eine Bügelflasche Altbier als Willkommenstrunk vorhanden. Dann warf sie einen Blick in das kleine Bad. Den Duschvorhang schmückten Delphine, die zu den blassblauen Kacheln auch viel besser passten als die Blümchen von früher. Nun, viel hatte sich in der Zwischenzeit jedenfalls nicht verändert. Auch der Vermieter selbst war ihr frisch und munter vorgekommen, obwohl er inzwischen stramm auf das Ende des siebten Lebensjahrzehnts zugehen musste.

»Kommen Sie, min Deern, der Tee ist fertig«, schallte es durchs Haus. Begleitet wurde der Ruf vom Getöse einer Schiffsglocke, die ihrer Größe nach für eine schwimmende Stadt mit mehreren Tausend Bruttoregistertonnen gemacht war, in diesem Einfamilienhaus aber wie eine Naturkatastrophe klang.

Lara machte sich kurz frisch, band das schulterlange braune Haar zum Pferdeschwanz, tauschte das verschwitzte T-Shirt gegen ein luftiges Hemd und eilte die Treppe hinunter. Herr Fiedler ließ von der Glocke ab. Er hatte sich doch verändert, stellte Lara fest, denn der Scheitel des Vermieters war auf die Höhe von Laras Nase gesunken. Und sie selbst war mit Sicherheit nicht gewachsen.

Der Tee war sehr stark, sehr schwarz und in Reinform kaum zu genießen. Herr Fiedler legte vorsichtig ein Stück Kandis von der Größe einer Gästeseife in seine zarte Porzellantasse, goss Tee darauf und gab dann vorsichtig eine größere Menge Sahne dazu. Lara begnügte sich mit etwas Milch.

»So, da sind Sie also wieder. Seit Sie damals beim Radio waren, habe ich den Sender immer eingestellt, auch wenn die keine Hörspiele bringen.«

Über seine Leidenschaft für Kriminalhörspiele von Francis Durbridge hatte Herr Fiedler Lara schon berichtet. Sie hatte daraufhin eins gehört, konnte aber an der gemächlichen Inszenierung kein Gefallen finden.

»Die neuen Hörspiele sind nicht so mein Geschmack, die spielen fast alle in Venedig. Oder in Schweden. Auf jeden Fall sind sie viel zu depressiv.«

Lara wollte gerade zum wiederholten Male darauf hinweisen, dass sie diesmal nicht beim Radio arbeiten, sondern nur ihre Masterarbeit schreiben würde, als ihr Mobiltelefon die Titelmelodie von James Bond spielte. Herr Fiedler blickte verblüfft auf die Tasche am Oberschenkel von Laras Cargohose, aus der sie das Telefon zog.

»Also, was die jungen Frauen heute modern finden«, murmelte er, während er sich noch einen Tee eingoss.

»Bist du schon angekommen?«, fragte Martin Bellhaus, Redakteur und Moderator bei Radio 90,1, den sie zwei Jahre zuvor während ihres Praktikums kennengelernt hatte.

»Ja, gerade eben«, antwortete Lara freudig überrascht. »Du hast meine E-Mail also bekommen?«

Martin, der zur Zeit ihres Kennenlernens noch keine große Begeisterung für die elektronische Post aufgebracht hatte, lachte leise.

»Sehen wir dich morgen im Sender? Oder hast du Lust, gleich in die Kellerbar zu kommen?«

Lara zögerte nur einen kurzen Moment und entschied sich dann gegen einen Abend mit Herrn Fiedler. Der würde erst den Tatort gucken und anschließend bis kurz nach Mitternacht klassische Musik von einer seiner zahlreichen Schallplatten genießen. Und, das war einer der Charakterzüge, die Lara so sehr an ihm mochte, er erwartete nicht von ihr, dass sie ihre Zeit mit ihm verbrachte.

»Bis gleich.«

 

Als Lara vor der Altstadtkneipe eintraf, die entgegen der Erwartung, die der Name weckte, im Erdgeschoss eines Gründerzeithauses auf dem Abteiberg lag, waren auch die Unzertrennlichen Stefan und sein Schatten Harry, der eigentlich Dieter hieß, gerade eingetroffen. Die beiden Mittzwanziger gehörten zum Stab der freien Mitarbeiter des Lokalradios und fabulierten von einer zoologisch inspirierten Schimpfwortliste, die von ameisenhirniger Affenschlampe bis zum zeckigen Zitteraal reichte. Martin wirkte erleichtert, als Lara sich zu ihnen auf die Terrasse setzte.

»So, es geht also dem Ende entgegen«, neckte er sie.

Er trug die dunkelblonden Haare etwas länger, aber an die grüne Jeans und das hellblaue Batikshirt meinte Lara sich noch zu erinnern. Definitiv neu war das kreisrunde, silberne Brillengestell. Es verlieh ihm einen ebenso unschuldigen wie intellektuellen Touch. Passend, wie Lara fand.

»Jaja, mit fast dreißig steht der Sensenmann schon bei Fuß«, mischte Stefan sich ein.

»Mit dem Studium, du Depp.« Lara tippte Stefan an den Schirm seiner allgegenwärtigen Baseballkappe. »Das Studium geht zu Ende. Mit meiner Gesundheit steht es zum Besten. Physisch und psychisch. Welchselbiges, vor allem Letzteres, man von dir kaum zu behaupten wagen möchte.«

Stefan, der mit seiner spinnenartigen Figur in ausgewaschenen Flecktarnklamotten und dem schmalen, spitzen Gesicht nicht landläufig gut aber immerhin sympathisch aussah, grinste breit und spöttisch. Harrys Versuch, das Grinsen zu kopieren, ging wie immer daneben. Der etwas zu kurz und zu dick geratene Blondschopf würde niemals cool aussehen, da konnte er sich in noch so kunstvoll zerrissene Jeans und angesagte Markenshirts zwängen.

Es war Lara wieder einmal vollkommen unbegreiflich, wie Martin es tagein, tagaus mit diesen beiden Chaoten aushielt. Aber in geringen Dosierungen, das musste sie zugeben, waren die beiden eine echte Bereicherung für diese manchmal etwas spießige Stadt.

»Was tut sich so in Mönchengladbach?« fragte Lara in die Runde.

Martin öffnete den Mund, kam aber nicht zu Wort.

»Sie hält den Atem an und wartet auf Lara, die unerschrockene Heldin der Wortklauberei und Buchstabensuppe«, entgegnete Stefan wie aus der Pistole geschossen. »Ab wann gehst du denn wieder auf Sendung?«

»Da ich dir keine Konkurrenz machen mag, lieber Stefan, sende ich gar nicht, sondern beschränke mich aufs Schreiben.«

»Du weißt, wann es schlau ist, gar nicht erst zum Duell anzutreten.«

Harry lachte zu laut über die Bemerkung und fuchtelte in seiner Begeisterung derart ausladend mit den Armen, dass er der vorbeikommenden Bedienung einen Schwinger verpasste. Lara klappte den Mund wieder zu und verzichtete angesichts dieser Entwicklung fürs Erste auf eine Bestellung.

»Um auf deine Frage zurückzukommen, kann ich mit einem wahren Monsterskandal aufwarten, liebe Lara. Ein geheimnisvoller Einbruch hält die Stadt in Atem«, presste Stefan hervor, während er mit mäßigem Erfolg versuchte, angesichts der Boxeinlage seines Freundes ernst zu bleiben, um es sich nicht mit der Bedienung zu verscherzen. »Ziel der Täter war der höchstwahrscheinlich uninteressanteste Keller unserer schönen Stadt: Das Münsterarchiv.«

Martin hatte Lara derweil eine Apfelsaftschorle bestellt und bekam nur das Stichwort Münsterarchiv mit. »Bist du eigentlich sicher, dass es das Archiv war und nicht die Schatzkammer?«, fragte er Stefan.

»Erklär’s ihm, Harry«, war dessen einziger Kommentar, bevor er sich zurücklehnte und die Augen schloss.

»Also«, begann Harry sofort dienstbeflissen. »Am Rande der Pressekonferenz wegen der Brandstiftung in Geneicken gab es eine kurze Info. Das Archiv ist theoretisch gar nicht so uninteressant, denn dort lagern tatsächlich wertvolle alte Bücher. Aber offenbar wurde nichts gestohlen.«

Da Lara Harry selten mehr als »Ja, Stefan« hatte sagen hören, wollte sie ihm den Spaß an dieser Geschichte nicht verderben. Also zeigte sie mehr Interesse, als sie für die Angelegenheit aufbrachte. »Es war also ein Einbruch ohne Diebstahl?«

Harry nickte engagiert. »Die Eingangstür war aufgehebelt, Bücher, Akten und Zeichnungen wurden durchwühlt. Allerdings lag nichts auf dem Fußboden, alle Dokumente befanden sich auf dem großen Tisch. Da war jemand sehr rücksichtsvoll.«

Stefan gähnte demonstrativ, die Augen hielt er weiter geschlossen. Lara hatte das Gefühl, dass er heimlich die Blondine im hellblauen Sommerkleid zwei Tische weiter beobachtete.

»Also, die Tür wurde aufgebrochen, die Unterlagen ordentlich durchsucht, aber nichts fehlt?« Martins Stimme drückte seine Zweifel ebenso aus wie sein Gesichtsausdruck.

Stefan stand auf, um betont lässig auf die anvisierte Blondine zuzuschlendern, deren Freundin gerade den Tisch verlassen hatte.

»Letztlich bleiben drei Fragen.« Harry zählte an den Fingern ab: »Wer bricht ins Münsterarchiv ein, um dort sehr zielgerichtet und ordentlich die Akten und Pläne zu durchsuchen? Zweitens: was suchte er? Und drittens: Wer hat ihn gestört? Denn dass er gestört wurde, davon geht die Polizei aus.«

»Bitte doch die Hörer um Hilfe«, schlug Lara vor.

»Amen«, entgegnete Martin, um das Thema zu beenden. Dann wandte er sich an Lara. »Und jetzt erzähl mal, was du seit unserem letzten Treffen so getrieben hast.«

 

Zwei

Der nächste Vormittag begann sehr gemütlich mit einem großen, gemeinsamen Frühstück mit Herrn Fiedler. Lara wunderte sich wieder einmal, welche Mengen der neunundsiebzigjährige Vermieter verputzen konnte. Üblicherweise, wie er mehrfach betonte, genehmigte er sich zwar nur eine Scheibe Vollkornbrot mit Butter und Holundergelee und drei Tassen von seinem berühmt-berüchtigten schwarzen Tee. Zu besonderen Gelegenheiten allerdings gönnte er sich das Full Irish Breakfast, in Erinnerung an die Zeit, die er auf der grünen Insel gelebt hatte. Dann briet er Eier und Speck, verzichtete allerdings auf Würstchen und Blutwurst. Gebackene Bohnen und Tomaten ergänzten die warme Mahlzeit, dazu gab es Toast. Manchmal backte er sogar sein heiß geliebtes irisches Sodabrot.

Davon hatte Lara gerade eine Schnitte mit Orangenmarmelade bestrichen, als Herr Fiedler sie nach Neuigkeiten von dem netten Herrn Bellhaus fragte. Zwei Jahre zuvor hatte Herr Fiedler Lara und Martin unbedingt verkuppeln wollen. Zum Glück hatte er sein Engagement in dieser Richtung irgendwann aufgegeben und den »jugendlichen Trotzköpfen« beschieden, sie sollten sich nicht bei ihm beklagen, wenn sie einsam und allein ihr trauriges Dasein fristen müssten. Dann hatte er in ihr herzhaftes Gelächter eingestimmt.

Lara berichtete ihrem Vermieter also über Martins neue Brille, sein überzeugtes Singledasein, das er weiterhin sehr zu genießen schien, und über die Arbeit im Sender, die dem Moderator immer noch viel Vergnügen machte.

Während Herr Fiedler sich um die Eier und den Speck kümmerte, wanderte Laras Blick durch das große Wohn–Esszimmer. Die Möbel waren in Stil und Erhaltungszustand mit denen im Dachgeschoss vergleichbar, wenn es auch zusätzlich einen gemütlichen Fernsehsessel neueren Datums gab. Auf dem Sideboard und einigen Regalen im Wohnbereich stand eine unüberschaubare Ansammlung von Andenken aus Herrn Fiedlers Zeit bei der Handelsmarine. Muscheln, Schnitzereien aus Treibholz, Kästchen mit zweifelhaftem Inhalt, ein Buddelschiff, Schulterstücke einer Kapitänsuniform, ein Sextant und ein Kreiselkompass, eine Flaschenpost und ein, laut Aussage des stolzen Besitzers, echter Mammutstoßzahn verwandelten das Zimmer in ein Kuriositätenkabinett.

Jetzt fing ein kleiner würfelförmiger Stein mit einer Münze darin Laras Blick. Sie meinte, das Gladbacher Münster darauf zu erkennen. Als sie aufstand, um sich das eigentlich eher unscheinbare Stück näher anzuschauen, kam Herr Fiedler mit der heißen Pfanne an den Tisch.

»Na, min Deern, seit wann interessieren Sie sich denn für unser Münster?«

Lara wunderte sich über die Formulierung, hatte sie doch noch nie eine besonders ausgeprägte Frömmigkeit bei dem reichlich lebenslustigen alten Herrn festgestellt.

»Fühlen Sie sich dem Münster so verbunden, dass Sie unser Münster sagen?«

»Zunächst war es natürlich Ilses Münster«, begann Herr Fiedler und wie immer, wenn er von seiner verstorbenen Frau sprach, wurden seine Augen feucht. Er zog ein großes, kariertes Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Hab’ ich Ihnen erzählt, wie ich meine Ilse damals kennengelernt habe, als sie evakuiert war?«

Lara beeilte sich zu betonen, dass sie diese Geschichte bereits kannte.

»Als wir nach dem Krieg nach Gladbach kamen, denn wir haben ja tatsächlich erst dort gewohnt, bevor wir nach Rheydt zogen, da war die Stadt zu zwei Drittel zerstört. Und auf dem Abteiberg, wo heute das Münster saniert wird, stand nur noch eine Ruine.«

Lara nahm den sehr kross gebratenen Speck unters Messer, hörte aber weiter aufmerksam zu.

»Ich war neu in der Stadt, mir war die Kirche egal. Wir hatten ja auch eigene Sorgen.« Herr Fiedler machte sich über sein Spiegelei her. »Aber meine Ilse stammte aus Gladbach. Als 1947 ein paar Unternehmer den Münster-Bauverein gründeten, war sie gleich dabei. Einer der Gründer war übrigens evangelisch!«

Herr Fiedler verlor fast die Beherrschung über das Stück Ei auf seiner Gabel und musste sich erst wieder fangen, bevor er weitersprechen konnte.

»Der Münster-Bauverein wuchs schnell, sogar Bürger aus Rheydt engagierten sich, obwohl die beiden Städte eine Intimfeindschaft hegten wie heute Düsseldorf und Köln.«

Lara erinnerte sich an die wechselvolle Geschichte der Zwangsvereinigung, Trennung und erneute Verbindung von Mönchengladbach und Rheydt und nickte.

»Der Bauverein musste damals noch von der Militärregierung genehmigt werden, dazu benötigten die Vorstandsmitglieder den Persilschein, also eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Entnazifizierungsrat. Im Winter lud dieser Münster-Bauverein zu einer Veranstaltung in die Kaiser-Friedrich-Halle ein.« Herr Fiedler machte eine Kunstpause und schmunzelte. »Auf den Einladungsplakaten, die in der ganzen Stadt hingen, war neben dem Zweck der Versammlung fast genauso groß aufgedruckt, dass der Saal beheizt sei.«

Lara prustete in ihren Tee.

»Wir sind hingegangen. Ilse wegen des Münsters, ich mehr wegen der Wärme. Welches der Anlass für die anderen Besucher war, kann ich nicht sagen, die Halle war jedenfalls rappelvoll.«

»Was passierte an dem Abend?«, fragte Lara schnell, nachdem sie sich ein paar Teetropfen vom Kinn gewischte hatte.

»Es gab Vorträge und Reden, in denen an die Bürger appelliert wurde, das Münster wieder aufzubauen. Der Aachener Bischof war gekommen und betonte, dass die Anstrengungen zum Wiederaufbau des Münsters und der Abtei, denn damals sollten auch alle Klostergebäude wieder hergestellt werden, jedermanns Sache sei, unabhängig von Konfession, Parteibuch oder Wohnort.«

»Und dieser Appell hat trotz der Not der Menschen Wirkung gezeigt?«

»Und wie. Auch wir wurden Mitglied im Bauverein, so wie Hunderte andere auch. Ich kann mich nicht mehr an den ursprünglichen Mitgliedsbeitrag erinnern, aber er war nicht hoch. Ich weiß wohl noch, dass eine Schule Mitglied wurde und wöchentlich ein paar Pfennig Beitrag zahlte. Das Geld haben die Schulkinder selbst aufgebracht.«

Herr Fiedler hielt Messer und Gabel in der Hand, sein Blick aber war gedankenverloren in die Vergangenheit gerichtet.

Lara dachte kurz nach. »Selbst wenn Hunderte Mitglieder wurden und ein paar Mark im Jahr spendeten, konnte man das Münster von dem Geld aber sicher nicht wiedererrichten«, gab sie zu bedenken.

»Da haben Sie natürlich Recht, min Deern. Aber damals gab es in Gladbach etwas, das heute gern als neuzeitliche Errungenschaft gefeiert wird: Sozialsponsoring von Unternehmen.«

Lara hob die Augenbrauen. »Sponsoring von mittelalterlichen Steinen als Marketingtrick der Nachkriegsjahre?«

»Das war kein Marketingtrick, den überbezahlte Manager mit Fünfjahresvertrag und Aktienoptionen als Alleinstellungsmerkmal konzipiert haben.«

Herr Fiedler weidete sich ganz offenkundig an Laras Erstaunen über sein Marketingvokabular, das er flüssig und überzeugend wie nebenbei in seinen Vortrag einflocht. Lara verkniff sich ein Grinsen. Vermutlich hatte er kürzlich einen Studenten der Wirtschaftswissenschaften als Mieter gehabt.

»Damals waren noch Unternehmer am Werk, nicht Manager. Die spürten eine echte soziale Verantwortung gegenüber ihrer Heimatstadt und ihrer Geschichte.«

Lara nickte. »Und das war sicher vollkommen uneigennützig, wenn beispielsweise ein Bauunternehmer in einer zu zwei Drittel zerstörten Stadt durch eine Spende mit Nennung des Absenders half, das Wahrzeichen der Stadt wieder aufzubauen.«

Laras Spott entlockte Herrn Fiedler einen Seufzer. »Ich sage es ungern, min Deern, aber manche Kapitel der Geschichte seht ihr jungen Leute heute aus einem ganz falschen Blickwinkel. Damals war es tatsächlich vielen Menschen wichtig, das Münster wieder instand zu setzen.«

Mit strengem Blick unterstrich Herr Fiedler seine Worte.

Dann stellte er die naheliegende Frage in versöhnlichem Tonfall. »Woher kommt denn plötzlich das Interesse?«

Lara erzählte ihm kurz von dem Einbruch in das Münsterarchiv, von dem sie am Vorabend erfahren, und von dem Stein in Herrn Fiedlers Regal, der ihr die Geschichte wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Erwartungsgemäß entwarf ihr Hörspiel erprobter Vermieter während des restlichen Frühstücks mögliche Tathintergründe und Szenarien, die aber alle den Einbruch nicht restlos aufklären konnten.

 

Im Sender traf Lara zuerst auf Harry, der mit strahlendem Blick und gerötetem Kopf auf sie zukam und ihr die Hand schüttelte. Lara hatte zwar keine Ahnung, wie sie zu dieser Ehre kam, aber Harry sah glücklich aus, und das war selten genug der Fall.

»Danke, Lara«, presste Harry hervor. Er sah so gerührt aus, dass er vermutlich um einen Kloß im Hals herum sprechen musste.

»Aus der Sache mit dem Münsterarchiv habe ich gerade einen Beitrag gemacht. Ich habe ihn selbst geschrieben und gesprochen. Und zum Schluss«, wenn möglich strahlte er noch ein bisschen mehr, »zum Schluss habe ich um sachdienliche Hinweise gebeten. Derjenige, der den Einbrecher gestört hat, hat ihn ja vielleicht gesehen!«

Lara wünschte ihm viel Resonanz auf seinen Aufruf. Harry nickte gerührt und überließ sie Martin, der endlich die Nachrichten verlesen, das Wetter vorhergesagt und die Staus heruntergebetet hatte.

»Wie geht’s dem alten Seebär und was macht die Kunst?«, begrüßte er Lara.

»Gut und schlecht, in der Reihenfolge der Fragen«, antwortete Lara mit einem Seufzen. »Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, wie ich auf dieses Magisterthema verfallen bin.«

Martins Grinsen wurde breiter. »Sag’s noch mal, ich kann es mir nicht merken«, forderte er sie feixend auf.

»Hass und Liebe im Lokalen – die Berichterstattung über die Stadtteile Mönchengladbach und Rheydt in der Lokalpresse unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Emotionalität, mit der über den jeweiligen Stadtteil berichtet wird.«

»Ein Leben als kaufmännische Angestellte gewinnt im Rückblick immer mehr Reiz, findest du nicht?«, lästerte Martin. »Warum hast du bloß nach der Ausbildung noch ein Studium begonnen? Kann es wirklich ein ernstes Ziel im Leben sein, Abhandlungen über die Frage zu schreiben, wie Erwachsene Menschen ihren kindlichen Alle-sind-so-gemein-zu-mir-Trotz hinter journalistischen Formulierungen verstecken?«

Martin bewegte sich bereits seitlich auf den großen Schreibtisch zu, an dem gerade niemand saß.

»Warum tust du dir das an? Und wen, zum Teufel, soll das nachher interessieren?«

Blitzschnell ging Martin hinter dem Schreibtisch in Deckung. Der Bleistift, den Lara nach ihm geworfen hatte, landete mit einem klappernden Geräusch an der Glaswand des Studios.

»Meine liebe Lara«, Martins Gesicht erschien hinter dem Redaktionsschreibtisch, dann richtete er sich völlig auf. »Wenn du demnächst anerkannte Wissenschaftlerin bist, solltest du deine Kommunikation nicht mit fliegenden Gegenständen bestreiten.«

Lara lächelte zuckersüß. »Siehst du, deswegen genieße ich die letzten Wochen als Studentin. Da darf ich alles und keiner wundert sich.«

 

 

4. Juli 1802

Im Münster zu Mönchengladbach besserte Bruder Vitus gerade eine Stufe an der Treppe zum Chor aus, als der Abt ihn zu sich rufen ließ. Vitus grübelte auf dem Weg in das Arbeitszimmer des Abtes, ob er sich wieder etwas zuschulden hatte kommen lassen. Es stimmte, dass er gestern in den Laudes fast eingenickt wäre, aber das passierte auch anderen Brüdern, den älteren sogar recht häufig. Unschlüssig, was er sonst verbrochen haben könnte, klopfte er an die Tür des Arbeitszimmers. Bruder Severus, der dem Abt sicher wieder über die finanzielle Lage im Allgemeinen und die schlechte Qualität vieler Betttücher im Besonderen sein Leid geklagt hatte, öffnete Vitus die Tür, grüßte kurz und verließ das Zimmer.

Vitus suchte noch immer in seinem Gedächtnis nach der Verfehlung, die ihn hierher geführt hatte, als der Abt ihn auch schon ansprach.

»Bruder Vitus, ich habe dich nicht rufen lassen, weil du schon wieder in den Laudes eingedöst bist.«

Vitus wurde rot.

»Es gibt wichtigere Probleme in unserer Gemeinschaft als die Schläfrigkeit eines schwer und gut arbeitenden Handwerkers, der in Zeiten geringster finanzieller Mittel mit der Unterhaltung zweier großer Gotteshäuser und der Klostergebäude befasst ist.«

Vitus freute sich über das unerwartete Lob. Er kannte und schätzte den Abt als gerechten und freundlichen Mann. Doch war dessen Miene seit langem schon sorgenvoll und bedrückt.

»Ich hatte einen Besucher heute Vormittag.«

Als ob das nicht jeder Mann und jede Maus in diesem Kloster wüssten. Bruder Servatius, der für die Küche zuständig war, hatte Vitus von einem Botschafter berichtet, den er hatte bewirten müssen, obwohl die Vorräte durch die Franzosen, die sich in der Prälatur einquartiert hatten, auf einen denkbar niedrigen Stand gesunken waren. Auch Bruder Coelestinus, der für den Obstgarten sorgte und mit Vitus mittags kurz über die notwendige Reparatur der Gartenpforte gesprochen hatte, hatte den Besuch erwähnt. Und offenbar sollten beide Brüder mit ihren Befürchtungen recht behalten.

»Der Herr kam von Napoleon Bonaparte persönlich und brachte sehr schlechte Nachrichten.« Der Abt holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Die Abtei wird aufgelöst.«

Vitus war vor Schreck wie auf den Stuhl genagelt. »Müssen wir in eine andere Abtei gehen? Wohin?«

Der Abt blickte Vitus traurig an. »Mehr als das, mein Junge. Alle Klöster in Frankreich werden aufgelöst. Es gibt keinen anderen Ort, an den wir gehen können. Jeder von uns wird seinen eigenen Weg finden müssen.«

Vitus war erschüttert. Er kannte kein Leben außerhalb dieser Glaubensgemeinschaft, die ihn vor nunmehr siebzehn Jahren eines Morgens als schreiendes Bündel vor der Klosterpforte gefunden, in ihre Mitte aufgenommen und auf den Namen des Stadtheiligen getauft hatte.

»Aber wir sind nicht in Frankreich«, wandte er zornig ein. »Eines Tages werden die Franzosen abziehen. Wir müssen nur ausharren.«

Der Abt schüttelte entschieden den Kopf. »Es tut mit leid, Vitus. Im vergangenen Monat hat Papst Pius der Zweite selbst das Konkordat mit den Franzosen geschlossen. Diesmal ist es wohl endgültig.«

Vitus schaute grimmig. »Seit acht Jahren sind die Franzosen hier. Vor sieben Jahren haben wir den gesamten Silberschatz hergegeben. Das Kloster verfällt, das Münster ist fast eine Ruine. Welche Gefahr stellen wir für die Franzosen dar?«

Der Abt lächelte. »Wir sind eine Gefahr, weil wir zeigen, dass der Glaube selbst in diesen schweren Zeiten nicht vergeht. Wir dienen Gott, nicht den Herren dieser Republik.«

Vitus wunderte sich über seinen eigenen Mut, als er mit festem Blick fragte: »Und wenn wir einfach nicht gehen?«

Der ältere Mann schaute den Jüngeren liebevoll, aber auch ein wenig amüsiert an. »Unzählige Kirchenmänner haben in Frankreich ihr Leben verloren. Lass uns unseres erhalten, damit wir eines Tages zurückkehren können.«

Bekümmert senkte Vitus den Kopf. Die Aussicht, den einzigen Ort zu verlassen, den er kannte, war fürchterlich. Wohin sollte er gehen? Er hatte keine Verwandtschaft, keine Freunde außerhalb dieser Gemeinschaft. Und was würde mit dem Kloster geschehen?

»Wer wird sich um die kaputten Fenster, die bröckelnden Mauern und die Dächer kümmern, wenn wir nicht mehr hier sind?«

»Der Herr, Vitus.«

 

Der unerschütterliche Glaube und Optimismus des Abtes waren, neben seiner väterlichen Sorge um die Mitbrüder und seinem geschickten Umgang mit den französischen Herren, der Grund für seine Wahl vor drei Jahren gewesen. Dass sein Vorgänger, Abt Lambert Raves, ihm auf dem Sterbebett noch ein Geheimnis verraten hatte, das für den Fortbestand der Abtei von erheblicher Wichtigkeit war, hatten die Mitbrüder allerdings nie erfahren. Der junge Mönch mit dem spärlich sprießenden Bart sollte nun zumindest einen kleinen Anteil an diesem Wissen bekommen.

»Mein lieber Bruder Vitus«, begann der Abt die kleine Rede, die er sich zurechtgelegt hatte. »Wir werden diesen Ort verlassen müssen, aber wir hoffen auf eine Rückkehr. Und damit wir selbst oder unsere Brüder dann nicht völlig mittellos dastehen, werde ich eine Vorkehrung treffen. Und du sollst mir dabei helfen.«

Das Gespräch zwischen dem Abt und seinem jüngsten Mitbruder dauerte noch etwa eine Stunde. Als der junge Mönch danach das Arbeitszimmer verließ, glühten seine Wangen und seine Augen leuchteten. Auf die begonnene Ausbesserung der Treppe zum Chor konnte er sich nicht mehr recht konzentrieren.

 

Drei

»Kriegen wir hier nun Geld, oder was?«

Sabine, die Aushilfs-Redaktionssekretärin, hockte an ihrem Schreibtisch und heulte. Das konnte nur ein Überfall sein. Zwei zerlumpte Typen undefinierbaren Alters standen vor ihr.

Einer trug eine mit Edding bekritzelte Jeansjacke mit Fransen an den Ärmeln und silbernen Nieten überall. Seine linke Schädelseite war völlig kahl geschoren. Die rechte Kopfseite war mit einer verfilzten Matte aus grau-schwarz gesprenkelten Haaren bedeckt, deren Farbmuster und Stachelfaktor sie an den platt gefahrenen Igel vor ihrer Haustür erinnerte, in dem sie heute Morgen mit einem ihrer Stilettoabsätze stecken geblieben war. Die Augen waren hinter der verspiegelten Sonnenbrille nicht zu erkennen.

Der andere war deutlich älter, ziemlich groß, ging aber gebückt, trug trotz der sommerlichen Temperaturen einen langen, dunkelgrauen Mantel und einen speckigen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Eine schwarze Collegetasche aus strapaziertem Canvas hing über der rechten Schulter. Die Bartstoppeln verdeckten nur schlecht die Narbe, die vom linken Ohr bis zur Mitte des Kinns verlief.

Gegen den Duft, den die zwei verströmten, kam Sabines Marken-Eau-de-Toilette nicht an. Sie schluchzte jetzt stärker.

»Was ist jetzt?«, fragte der Jüngere noch mal. »Wo ist die Kohle?«

Erst als die Unzertrennlichen ihre Begeisterung nicht mehr zähmen konnten und hinter der Tür laut losprusteten, bemerkte Sabine, dass die zwei Besucher keine Waffe auf sie gerichtet hatten. Angesichts Stefans Belustigung, die dieser nun breit grinsend zur Schau stellte, als er mit Harry im Schlepptau den Empfangsbereich des Senders betrat, griff Sabine nach ihrer Handtasche und stöckelte in Richtung Damentoilette davon. Der jüngere Besucher wurde langsam ungehalten.

»Wenn wir hier keine Kohle sehen, sagen wir auch nix über den Einbruch.«

Stefan, der die Besucher im Treppenhaus getroffen und hereingelassen hatte, wischte sich eine Träne von der Wange als Martin, der wieder einmal Nachrichten, Wetter und Staus verbreitet hatte, den Empfang betrat.

»Was ist hier los?«, fragte er völlig entgeistert angesichts der Szene, die sich ihm bot.

»Die Herren erklären dir das, wir müssen jetzt weg«, rief Stefan ihm noch über die Schulter zu und verschwand schleunigst, dicht gefolgt von einem etwas verunsicherten Harry.

»Was ist das hier für ein Irrenstall? Wir wollen Hinweise wegen dem Einbruch geben. Das tun wir allerdings nur gegen Belohnung.«

Martin verbiss sich den Hinweis auf den Genitiv nach der Präposition »wegen« und bemühte sich auch sonst um Beherrschung. Da hatte Harry aus der langweiligsten Geschichte seit Erfindung des Gladbacher Telefonbuches eine reißerische Story gemacht, und schon standen zwei durchgeknallte Typen im Sender, die sich wichtig machen wollten, während Harry sich von Stefan wegschleppen ließ. Hatte nicht Lara Harry geraten, er solle die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise bitten? Der würde er was erzählen!

Martin bat die beiden Herren, einen Moment zu warten, und rief Lara an.

»Du bist schuld, jetzt komm her und hilf mir!«

Martin legte auf und sah zur Uhr. Sie würde zwanzig Minuten brauchen, diese Zeit musste er irgendwie überbrücken. Allerdings nicht in einem Raum mit diesen beiden Stinkern. Er drückte dem Jüngeren zehn Euro in die Hand und bat ihn, in einer halben Stunde wiederzukommen. »In dem Supermarkt am Eck gibt es guten Kaffee.«

Eine halbe Stunde später kamen Lara und die beiden Zeugen zeitgleich im Sender an. Martin bugsierte die Gesellschaft in den Konferenzraum. Der Jüngere starrte sehnsüchtig auf die knallrote Espressomaschine im Retrodesign, die der Sender zum zehnjährigen Bestehen geschenkt bekommen hatte. Martin dachte an das Geld aus seinem eigenen Portemonnaie und bot weder Kaffee noch Kekse an.

»Mein Name ist Bellhaus, das ist Frau Lewandowski. Dürfen wir Ihre Namen auch erfahren?«

»Ich bin Mike und das ist der Doc«, antwortete der Jüngere. »Ich bin dafür, dass jeder wenigstens einmal seinen richtigen Namen sagt«, stellte Lara klar.

Der Doc streckte ihr seine rechte Hand entgegen, an der der Zeigefinger fehlte. »Doktor Roland Westheim.«

Während Lara unbehaglich die versehrte Hand schüttelte, schien Mike noch mit sich zu ringen.

»Schröder. Gerd.« Die Hände wanderten tiefer in die Taschen, die Schultern höher, bis fast zu den Ohren. »Kann man sich ja nicht aussuchen.«

»Nee«, bestätigte Lara aus tiefstem Herzen und verfluchte zum hundertsten Mal die Schöpfer eines Computerspiels, die der langbeinigen, vollbusigen und adligen Titelheldin ihren Namen gegeben hatten.

Mit einem freundlichen »Zur Sache« brachte Martin die Anwesenden zum Thema zurück.

»Ihr habt um Hinweise gebeten wegen dem Einbruch in das Archiv. Ich weiß, wer’s war und sage es – gegen eine Belohnung.«

Mikes Rede hörte sich auswendig gelernt an.

»An wie viel Geld hatten Sie dabei gedacht?«, fragte die praktisch veranlagte Lara.

»So an fünfzigtausend.«

»Es wurde ja gar nichts gestohlen. Wofür sollte also jemand so viel Geld bezahlen, da nichts wiederzubeschaffen ist?«, warf Martin ein.

»Es gibt ja noch andere Gründe, als dass schon was geklaut worden ist.«

»Zum Beispiel?«

Mike lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es könnte ja sein, dass noch was geklaut wird.«

Martin und Lara blickten einander verständnislos an, zuckten die Schultern.

»Was sollte das sein?«

»Ein Schatz.«

»Im Münsterarchiv?«, fragten Lara und Martin gleichzeitig.

Mike sah sie verärgert an. »Quatsch. Doch nicht da. Der Schatz ist woanders. Aber die Schatzkarte kann man nur lesen, wenn man die mit Karten aus dem Archiv vergleicht.«

Erneuter Blickkontakt zwischen Martin und Lara.

»Woher wissen Sie das?«

Mike sonnte sich in seinem Ruhm. »Ich habe die Schatzkarte gesehen.«

Martin beugte sich vor. »Dann sollten Sie schnellstens zur Polizei gehen.«

Mike lehnte sich grinsend zurück. »Die Bullen zahlen nicht für Infos.« Seine rechte Hand wanderte zum linken Handgelenk, an dem eine silberne Uhr mit einem schwarz schimmernden Zifferblatt vom Ärmel nicht ganz verdeckt wurde. »Außerdem wurde die Anzeige zurückgezogen, weil nix fehlt. Keine Anzeige, keine Polizei.«

Martin wunderte sich. »Sie sind aber gut informiert.«

Mike grinste. »Witzbold, was? Schließlich waren wir ja gleich die Hauptverdächtigen. Wir wohnen nämlich da am Münster. Aber irgendwann mussten die Bullen einsehen, dass wir den Bruch nicht gemacht haben. Manchmal haben die mit dem dreckigen Kragen die weiße Weste und die anderen nicht.«

Lara sah den Doc an, der schweigend das Gespräch verfolgte. Er blickte ausdruckslos zurück.

Martin ergriff das Wort. »Der Sender hat keine Belohnung ausgesetzt und die Hauptpfarre, zu der das Münsterarchiv gehört, auch nicht, soweit ich weiß. Ich rate Ihnen daher dringend, zur Polizei zu gehen und Ihre Aussage dort zu machen, Anzeige hin oder her. Wir können Ihnen jedenfalls kein Geld bieten.«

Mike war sichtlich schockiert und sagte, sichtlich um Haltung bemüht: »Dann besorge ich mir die Kohle halt woanders.«

Er stand auf und verließ den Konferenzraum, gefolgt von seinem schweigsamen Begleiter. Auf dem Weg nach draußen rannte er Sabine über den Haufen, die erneut in Tränen ausbrach.

Martin schüttelte den Kopf und hoffte, dass der Rest des Tages besser würde.

 

 

4. August 2002

Die Meldung, dass ein Obdachloser, der sich üblicherweise in Mönchengladbach aufhielt, in Geilenkirchen tot aufgefunden worden war, kam nur deshalb groß heraus, weil ausgerechnet zwei Kinder, die siebenjährige Melody und ihr zwei Jahre älterer Bruder Marius-Lucius, die Leiche gefunden hatten. Ihre Mutter ließ durch einen Rechtsanwalt prüfen, wen sie auf Zahlung von Schmerzensgeld verklagen konnte. Die Ermittlungen im Fall des toten Mannes, der inzwischen anhand bei ihm gefundener Papiere als Gerd S. identifiziert worden war, dauerten noch an. Nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse ging die Kripo von einem Gewaltverbrechen aus.

Lara war erschüttert, als Martin ihr die Nachricht telefonisch überbrachte, bevor sie über den Sender ging.

»Gewaltverbrechen?«, fragte sie heiser. »Weißt du mehr?«

»Noch nicht«, musste Martin zugeben. »Wir haben die Meldung eben von der Polizei bekommen. Stefan versucht bereits, Details zu erfahren.«

Lara fühlte sich wie betäubt. »Was machen wir jetzt?«

Martin holte tief Luft. »Ich glaube, wir sollten uns mal mit dem Doc unterhalten.«

»Wo finden wir den denn?«, wollte Lara wissen. »Im Telefonbuch wird er ja wohl nicht stehen.«

Martin hatte schon darüber nachgedacht und erinnerte sich an das Gespräch im Sender. »Hat Gerd alias Mike nicht gesagt, dass sie am Münster wohnen?«

Lara schüttelte den Kopf über die Formulierung, versprach aber, sich dort umzusehen.

Sie informierte Herrn Fiedler kurz über die Entwicklung und machte sich dann auf den Weg zum Abteiberg. Als sie vom Haus Erholung in die Abteistraße Richtung Rathaus fuhr, überlegte sie, wo ein Obdachloser wohl am Münster wohnen würde. Sie beschloss, hinter der Propstei links in den Weg einzubiegen, der zum Münsterplatz führte.

Und tatsächlich: An der Mauer neben dem Tor zum Abteigarten hockte der Doc in seinem dicken Wintermantel und mit Hut bei satten 25 Grad Außentemperatur auf dem Boden und starrte vor sich hin.

Als er Lara bemerkte, traten Tränen in seine Augen. »Ich habe versucht, es ihm auszureden.«

»Was auszureden?«, fragte Lara mit einem mulmigen Gefühl. Sie fluchte still, dass sie dem Mann gar nichts mitgebracht hatte. Aber selbst wenn sie daran gedacht hätte, was hätte sie ihm geben sollen? Etwas zu essen? Oder zu trinken? Ein Buch vielleicht? Komische Situation.

Der Doc hatte auf ihre Frage nicht geantwortet, sondern starrte weiter vor sich hin. Lara wollte nicht drängen und setzte sich einfach rechts neben ihn auf den Boden, weil auf der linken Seite eine dunkle Sporttasche stand, in der sich wohl die wenigen Habseligkeiten des Mannes befanden. Der schaute sie schweigend an.

Hatte sie etwas falsch gemacht? Vielleicht mochte er ihre Nähe nicht? War sie in seine Privatsphäre eingedrungen? Lara stöhnte innerlich. Sie fände es auch nicht gut, wenn sich jemand in ihrem Wohnzimmer breit machen würde, ohne wenigstens vorher um Erlaubnis zu fragen.

»Entschuldigung«, stammelte sie und rutschte ein Stückchen zur Seite. »Ich wollte nicht aufdringlich sein.«

Der Doc rang sich ein trauriges Lächeln ab. »Ist schon in Ordnung. Der Straßen Knigge ist in solchen Situationen nicht ganz eindeutig.«

Das machte Lara noch verlegener. Sie wollte zurück zur Sache. »Wovon wollten Sie ihn abhalten?«

Der Doc sah weiter auf einen Punkt vor seinen Füßen. »Noch mehr aus dem Typen herauszupressen.«

Lara zog die Luft ein. »Sie meinen, Mike hat jemanden erpresst und der hat ihn umgebracht?«

Der Doc nickte. »Ich vermute es.«

Lara schluckte. »Haben Sie das der Polizei gesagt?«

Jetzt sah der Doc Lara an. Der Blick aus seinen grauen Augen war müde, aber klar.

»In der Tat habe ich den Beamten, die gestern Nachmittag hier erschienen, um ihren Aachener Kollegen Amtshilfe zu leisten, meine Vermutung in dieser Hinsicht dargelegt.«

Lara wunderte sich wieder einmal über die Ausdrucksweise des Mannes, die so gar nicht zu seinem Äußeren und seinen Lebensumständen passte.

»Die nette junge Beamtin und der etwas korpulente Kollege fragten natürlich, wen er erpresst haben könnte und womit.«

Der Doc machte eine Pause und starrte wieder vor seine Füße.

»Ich hätte ihnen sagen können, dass er den Einbrecher vom Münsterarchiv erpresst hat, der einen bisher unbekannten Münsterschatz klauen will.«

Lara schüttelte den Kopf. »Hört sich völlig bescheuert an.«

»Eben. Und da sich die Glaubwürdigkeit wohnungsloser älterer Männer sowieso schon nur in einem sehr kleinskaligen Maßstab darstellen lässt, habe ich von einer weiteren Erörterung dieses Themas abgesehen und nur geantwortet, dass ich das leider nicht weiß.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Hinzugefügt habe ich, dass er sich in den letzten Tagen komisch benommen hat und dass er neuerdings eine wertvolle Uhr trug. Die habe ihm jemand geschenkt, hat er behauptet.«

Die Uhr war Lara auch aufgefallen.

»Mit diesen Informationen muss die Polizei jetzt sehen, wie sie weiterkommt. Wenn sie überhaupt lange nachforscht.« Bei den letzten Worten war eine deutliche Bitterkeit zu hören.

Wieder war es eine Zeit lang still.

»Mussten Sie ihn identifizieren?«, fragte Lara dann.

»Nein, die Polizei hatte seine Identität bereits festgestellt. Einem Penner, der einen Penner identifiziert, glaubt man sicherlich sowieso nicht.«

Diesmal war keine Bitterkeit in den Worten, der Doc stellte einfach eine Tatsache fest.

»Was passiert eigentlich mit seinen Sachen?«

»Keine Ahnung«, musste der Doc zugeben. »Vielleicht hat die Pennerfee sie bekommen, um sie seiner Familie zu geben, falls er noch eine hat.«

Einen Augenblick dachte er noch darüber nach, dann kam ihm die Erleuchtung.

»Die Uhr!« Erstaunlich fink stand er auf, hängte sich seine Tasche um und stiefelte los. Lara hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

»Wohin gehen wir?«, japste sie und wunderte sich, wie schnell der Mann in seinem viel zu warmen Wintermantel ausschritt.

»Zum Pflaster. Fragen, wo die Uhr ist.«

Lara hatte zwar keine Ahnung, was das Pflaster war, folgte aber ohne weitere Fragen.

 

Auf dem Weg über den Alten Markt wurde Lara bewusst, dass die Passanten den größtmöglichen Abstand zu ihnen hielten. Sie wirkten bei ihren Ausweichmanövern wie ferngesteuert, weil sie jeden Blickkontakt vermieden. Lara empfand die offensichtliche Zurückweisung als furchtbar schmerzhaft - obwohl sie wusste, dass sie nicht einmal ihr selber galt.

Das Pflaster stellte sich als Café Pflaster heraus, ein Treff für Wohnungslose und Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen tagsüber eine Anlaufstelle suchten. Der Doc war dort offensichtlich bekannt, denn er wurde von mehreren anwesenden Kunden begrüßt. Auch die Mitarbeiterin, die gleich rechts hantierte, nickte ihm freundlich zu. Lara hingegen, die junge Begleiterin des Doc, wurde angestarrt wie ein bunter Hund.

Der Doc ging zielstrebig ins Büro und trug der Sozialarbeiterin sein Anliegen vor. Skeptisch blickte sie an ihm vorbei zu Lara.

»Oh, Verzeihung, ich habe die Damen gar nicht miteinander bekannt gemacht.«

Mit einer übertriebenen Geste stellte er Lara Andrea Peters vor. Die Frauen gaben sich die Hand.

»Sind Sie von der Presse?«, wollte die resolute, aber freundliche Frau Peters wissen.

Aha, daher wehte der Wind. »Nein.«

Der Doc sah sie nur an, sagte aber nichts.

Frau Peters runzelte die Stirn, erklärte aber immerhin bereitwillig, dass sie eine Tüte mit Mikes Sachen von der Polizei bekommen hatte, nachdem die Untersuchung der Kleidung und der persönlichen Gegenstände abgeschlossen war. Den Inhalt der Tüte kannte sie nicht.

»Ich habe nicht hineingeschaut. Geht mich nichts an. Ich habe mich nur bereit erklärt, die Sachen zu verwahren, bis wir wissen, was damit geschehen soll. Zurzeit versucht das Sozialamt, Angehörige ausfindig zu machen. Schon wegen der Beerdigungskosten. Das wird wohl einige Zeit dauern, da wir nicht viel über Mikes familiäre Situation wissen.«

Der Doc kam auf den Punkt.

»Wir möchten wissen, ob eine silberne Uhr mit schwarzem Zifferblatt bei den Sachen ist.«

Frau Peters schaute von Lara zum Doc und wieder zurück.

»Und vielleicht ein Lageplan«, fügte der Doc hinzu.

Jetzt starrten beide Frauen ihn an.

»Was wollen Sie denn damit?«

Lara hatte die Frage kaum mitbekommen. Sie starrte den Doc an. »Gibt es den wirklich?«

Er wurde der Antwort enthoben, da Frau Peters eine Entscheidung traf: »Wir sehen nach.«

Sie holte einen Schlüssel aus ihrer Schublade, schloss Schreibtisch und Büro sorgfältig ab und führte Lara und den Doc in ein Hinterzimmer. Links standen Waschmaschine und Trockner, rechts eine ganze Batterie blauer Spinde, von denen Frau Peters nun einen öffnete. Sie holte eine Plastiktüte heraus und stellte sie auf die Bank vor dem Spind. Nach einem kurzen Moment des Zögerns griff sie in die Tüte. Lara erkannte die bekritzelte Jeansjacke. Allerweltsjeans und ein Paar ausgelatschte Turnschuhe folgten. Der Doc schluckte trocken. Lara hätte ihm gern die Hand auf den Arm gelegt, traute sich aber nicht.

Eine weitere Tüte enthielt einen Gürtel, ein Portemonnaie, eine Kette und einen Ohrring. Der letzte größere Gegenstand war ein Solarradio.

»Sein ›Tor zur Welt‹«, murmelte der Doc. »Von Nachrichten konnte Mike nie genug bekommen.«

Eine Uhr war nicht dabei.

Lara schaute nachdenklich auf den ausgebreiteten Inhalt der Tüte. So wenig blieb von einem Menschen übrig, der auf der Straße gelebt hatte. Keine Wohnungseinrichtung, die individuellen Geschmack verriet. Kein Auto, ob abbezahlt oder nicht. Keine Fotoalben. Nicht einmal ein Schlüssel.

Der Doc nahm sich das Portemonnaie vor. Ein Schülerausweis von 1995. Der Mike, den Lara drei Tage zuvor kennengelernt hatte, sah dem Jungen auf dem Bild nicht einmal annähernd ähnlich. Acht Euro siebzig Cent in Münzen. Und ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Eine Fotokopie. Billiges Papier, schlechte Qualität. In der Mitte des Papiers eine Art Zeichnung, die man als Grundriss eines Hauses oder eines Häuserensembles verstehen konnte. Einige Worte standen am linken oberen Rand, eine Notiz war unten rechts. Sie waren aus verschiedenen Gründen schwer zu entziffern. Die Buchstaben schienen, genau wie der Rest der Zeichnung, irgendwie verlaufen, als wären sie nass geworden. Diese Nässe schien oben links deutlich schlimmer gewütet zu haben als unten rechts. Außerdem waren die Buchstaben kunstvoll von Hand geschrieben. Und zu guter Letzt schien das Ganze auch noch in Latein verfasst zu sein.

Frau Peters, mehr der praktische Typ, was sicherlich eine Voraussetzung oder zumindest ein Vorteil für ihren Beruf, momentan aber für Lara etwas hinderlich war, unterbrach die meditationsähnliche Betrachtung dieses Stückchens Papier, in die Lara und der Doc verfallen waren.

»Ich will ja nicht drängeln«, was sie natürlich sowohl wollte als auch tat, »aber ich muss wieder nach vorn. Können wir jetzt zusammenpacken?«

Lara bemerkte, dass dem Doc Tränen über die Wangen liefen. Plötzlich knüllte er in einem hilflos wirkenden Wutanfall die Kopie zusammen und schüttelte die Faust, die das Blatt hielt.

»Dafür hast du dein Leben aufs Spiel gesetzt, du Idiot«, brüllte er.

Lara und Frau Peters traten erschrocken zurück. Der Doc drehte sich um und verließ das Café.

Frau Peters wurde wütend.

»Das kann er doch nicht einfach mitnehmen! Was ist denn das für ein Papier?«

Lara seufzte und versuchte, ihr die Situation, soweit sie sie selbst verstanden hatte, zu erklären. Der Blick, den sie dafür erntete, wechselte von verärgert über erstaunt bis hin zu ungläubig.

»Ein Schatz im Münster? Sie glauben diesen Schwachsinn doch wohl nicht im Ernst?«

Da diese Haltung keine Basis für weitere Diskussionen bot, murmelte Lara ein entschuldigendes »Also, ich geh’ dann mal«, und machte sich auf die Suche nach dem Doc.

 

»Aber was war denn nun mit der Uhr?«, fragte Herr Fiedler eine gute Stunde später, nachdem Lara ihm die Ereignisse bis zum Abgang des Docs haarklein geschildert hatte.

Lara nutzte die Frage, um einen Schluck Kakao zu trinken. »Sie war jedenfalls nicht da.«

Herr Fiedler verdrehte die Augen. »Ich bin fast achtzig Jahre alt und habe vielleicht nicht mehr lange zu leben. Also verschwenden Sie die Zeit nicht mit Wiederholungen, min Deern.«

Lara unterdrückte das Lächeln, indem sie genüsslich die Sahne von der Oberlippe leckte.

»Da der Doc nicht genau weiß, wie Mike zu der Uhr gekommen ist, haben wir folgende These aufgestellt: Die Uhr tauchte kurz nach dem Einbruch in das Münsterarchiv plötzlich an seinem Handgelenk auf. Er erklärte, sie sei ein verspätetes Geburtstagsgeschenk.«

Wieder konnte Herr Fiedler nicht an sich halten. »Wie alt war er eigentlich?«

Lara rechnete, ausgehend von dem Geburtsdatum auf dem Schülerausweis.

»Mensch, der war erst dreiundzwanzig!« Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. »Der hatte sein Leben doch noch vor sich.«

Herr Fiedler legte ihr die Hand auf den Arm. »Ein Leben auf der Straße?«

»Dabei hätte es ja nicht bleiben müssen«, empörte sich Lara. »Und selbst wenn! Ist ein Leben auf der Straße nicht immer noch deutlich besser, als im Leichenschauhaus in einer gekühlten Schublade zu liegen?«

Herr Fiedler nickte lächelnd. »Dann nutzen Sie Ihre Empörung sinnvoll und gehen der Sache auf den Grund.«

»Genau das habe ich vor. Und wenn Sie mich mal länger als 13 Sekunden ohne Unterbrechung reden lassen würden, könnte ich Ihnen nicht nur erklären, was wir inzwischen wissen, sondern auch, wo ich Ihre Hilfe brauchen könnte.«

Herr Fiedler setzte sich aufrecht hin und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich lausche wortlos«, erklärte er mit Unschuldsmiene.

»Ich habe den Doc also später noch mal getroffen und ihn überredet, zwei Fotokopien von diesem seltsamen Plan zu machen. Damit versuche ich herauszufinden, um was es hier eigentlich geht. Und dabei könnte ich Ihre Hilfe brauchen.«

Lara sah Herrn Fiedler erwartungsvoll an.

»Natürlich helfe ich gern, wenn ich kann. Vielleicht zeigen Sie mir auch mal diese geheimnisvolle Fotokopie?«

Lara strich das Papier auf dem Tisch glatt. »Was meinen Sie, ist das nun ein Plan vom Gladbacher Münster?«

»Nein«, antwortete Herr Fiedler ohne zu zögern. Da er weiter auf das vor ihm liegende Blatt starrte, bemerkte er Laras konsternierten Blick gar nicht.

»Aber das hier«, er deutete auf eine Art Viertelkreis an der rechten Seite der Zeichnung, »das könnte ein Teil des Münsterchors sein.«

Lara beugte sich wieder über das Blatt. »Was ist dann der Rest?«

»Das Kloster vielleicht?«

»Sieht das denn so aus?«

»Nein.«

Lara musste um Beherrschung ringen und stieß einen Stoßseufzer aus, der Herrn Fiedler aufblicken ließ.

»Nun entspannen Sie sich, min Deern.« Er lächelte amüsiert. »Heute sieht das Kloster nicht so aus. Kein Wunder, denn im Krieg wurde nicht nur die Münsterkirche, es wurden auch alle Anbauten und Nebengebäude zum größten Teil zerstört. Wie es davor ausgesehen hat, weiß ich nicht so genau.« Herr Fiedler sah Lara über seine Lesebrille hinweg an. »Aber wofür gibt es Bibliotheken und Archive?«

»Wie zum Beispiel das Münsterarchiv?«, fragte Lara betont beiläufig.

Herr Fiedler nahm die Lesebrille ab und nickte bedächtig. »Ob die dort auch einen Schrift- und Sprachgelehrten haben, weiß ich allerdings nicht.« Nach einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Und wir werden es auch erst am Montag herausfinden.«

 

Vier

9. Oktober 1802

Der Abt stand an seinem Fenster und schaute über Gladbach hinweg in Richtung Aachen. Bald würde er sich auf den Weg machen in seine Heimat Bardenberg. Zum wiederholten Male grübelte Abt Maurus Ahn über die Wendungen der Geschichte. Seit Jahrhunderten stand an dieser Stelle die Abtei mit der Münsterkirche. Zunächst war das Kloster das Zentrum des geistlichen und weltlichen Lebens in dieser Region gewesen, hatte die Mühlen betrieben, das Land verpachtet und die Biersteuer erhoben.

Viel später machten die weltlichen Herren all diese Vorrechte der Abtei streitig. Die Bürger, die den Aufschwung durch das Kloster gern gesehen hatten, entwickelten mit der voranschreitenden Industrialisierung und Verstädterung plötzlich ein Selbstbewusstsein und wollten unabhängig sein von den Verpflichtungen gegenüber der kirchlichen Macht. Nach langen Jahren der Streitigkeiten um Gerichtsbarkeit, Steuern und Grundrechte hatte sich in den letzten Jahrzehnten wieder ein gutes Verhältnis zwischen Abtei und Bürgern eingestellt. Das Gasthaus und die sonstige Unterstützung der Armen befand sich in klösterlicher Hand. Die Bürger hatten mit der Klostergemeinschaft einvernehmlich gelebt.

Dann waren die Franzosen gekommen mit ihrem Krieg, den sie erst nach Köln und Bonn und dann nach Gladbach brachten. Im Jahr des Herrn 1794 schnellte die Sterbeziffer nach oben. Dreihundertzwei Gemeindemitglieder starben, mehr als doppelt so viele wie sonst. Alles war teurer geworden, Krankheit und Hunger wüteten in Gladbach, viele Menschen verließ der Lebenswille.

Ein Jahr später pressten die Franzosen Kriegskontributionen sogar aus der Abtei, die dafür ihre Gold- und Silberschmiedearbeiten einschmelzen und hergeben musste. Drei Jahre später wurde die französische Republik in Gladbach eingeführt, im Jahr darauf starb Abt Lambert Raves im hohen Alter von achtzig Jahren.

Maurus Ahn hatte zweiunddreißig Jahre lang die Entwicklungen im Kloster miterlebt, die letzten Jahre als Pfarrer in Hardt in engem Kontakt mit den Gemeindemitgliedern. Er kannte ihre Sorgen und Nöte.

 

Dieser Abschnitt seines Lebens ging nun zu Ende. Morgen würden er und alle Mitbrüder das Zuhause verlassen müssen.

Er hatte den Prior des Klosters, Bruder Cornelius, bereits im letzten Dezember zum Pfarrer von Gladbach ernannt. Cornelius war ein mutiger und starker Mann, in der Gemeinde beliebt und geachtet. Wenn es jemanden gab, der den benediktinischen Geist hier am Leben erhalten konnte, so war es Cornelius Kirchrath.

Das jüngste Mitglied der Klostergemeinschaft hingegen würde Maurus Ahn mit sich nach Bardenberg nehmen. Der ebenso fröhliche wie leidenschaftliche Vitus war ihm in den vergangenen siebzehn Jahren wie ein eigener Sohn ans Herz gewachsen. Wie der Junge wohl außerhalb der Klostermauern zurechtkommen würde?

Ein lautes Klopfen unterbrach seine Grübeleien. Bruder Servatius kam mit geröteten Augen herein. Er sah deutlich älter aus als die zweiundvierzig Jahre, die er zählte.

»Ist alles vorbereitet?«, fragte der Abt.

Servatius nickte. »Wie du es wünschtest. Aber sag mir, warum du morgen schon fort willst, während alle anderen das Kloster erst einen Tag später verlassen?«

»Lieber Servatius«, der Abt legte seinem alten Weggefährten die Hand auf die Schulter, was ein neuerliches Schluchzen auslöste. »Ein unerwarteter Zeitpunkt ist eine Frage der Sicherheit, denn es ist nicht gewiss, dass die Franzosen mich friedlich ziehen lassen. Also gehe ich morgen früh, nachdem ich zum letzten Mal in unserer schönen Münsterkirche die Laudes gebetet habe. Vitus kommt mit mir, weil er keine Familie hat, zu der er zurückkehren könnte, und weil ich ihm erst einiges über das Leben außerhalb der Klostermauern beibringen möchte.«

Der Abt machte eine Pause und zwinkerte Servatius zu. »Und weil ich seine Gesellschaft in dieser schweren Zeit gut brauchen kann.« Angesichts des Eingeständnisses seiner eigenen Verletzlichkeit musste der Abt schlucken. »Es bleibt dabei, Servatius. Ich danke dir, dass du unsere Provianttasche vorbereitet hast, und ich werde für dich beten.«

Servatius verlor den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung und fiel dem Abt um den Hals. Dann stürmte er hinaus und zurück in seine Küche, um weitere Vorbereitungen zu treffen.

 

 

7. August 2002

Am Montagmorgen, nach einem Full Irish Breakfast, das Herr Fiedler als Unterlage für längere Recherchen für durchaus angemessen hielt, machte er sich mit Lara gemeinsam auf den Weg. Ihren Vermieter setzte Lara im Stadtarchiv ab, sie selbst fuhr weiter zum Pfarrbüro. Das Münsterarchiv, in dem sie Informationen über die bei Mikes Sachen befindliche fotokopierte Skizze in Erfahrung bringen wollte, war nicht mehr besetzt. Die Knappheit an irdischen Gütern der Hauptpfarre Mönchengladbach hatte sich in der Wegrationalisierung dieses Arbeitsplatzes niedergeschlagen. Die von der Pfarrsekretärin ins Spiel gebrachte Fülle an himmlischen Gütern, als da wären Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und eine Engelsgeduld angesichts eines ganz und gar irdischen Tohuwabohus im Pfarrbüro, führten Lara dann aber doch zum Ziel. Frau Behrens, nach dem Weggang des Archivars mit seinem Schlüsselbund ausgestattet, verschaffte Lara Zugang zu dem Kellergewölbe. Sie griff zielsicher einige Bücher aus dem unüberschaubaren Bestand, legte sie auf den großen Holztisch und entschwand wieder an ihren Arbeitsplatz.

 

Lara las über die Gründung der Benediktinerabtei im Jahre 974 durch den Kölner Erzbischof Gero und den ersten Abt Sandrad sowie die allmählich größer werdenden Kirchenbauten. Sie musste an das Buch »Die Säulen der Erde« denken und versuchte sich vorzustellen, wie der Abteiberg damals ausgesehen und was Gero bei der Gründung von dort oben gesehen hatte. Weit hatte er jedenfalls schauen können von der einzigen Erhebung im Umkreis. Lara, die den Geschichtsunterricht als Auswendiglernen von Jahreszahlen in Erinnerung behalten und leidenschaftlich gehasst hatte, wünschte sich plötzlich die Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen und den Bau der Abtei aus der Nähe zu betrachten.

Im Hier und Jetzt rief Lara sich zur Ordnung. Sie hatte ein konkretes Ziel, nämlich die Entschlüsselung der Skizze. Daher hatte Frau Behrens nur jene Bücher herausgesucht, in denen die Münsterkirche im Mittelpunkt des Interesses stand. Ein ganzes Werk widmete sich der archäologischen Untersuchung des schwer beschädigten Münsters nach dem Krieg. Sehr interessant, wie Lara beim Überfliegen des Textes und der Bilder befand, aber nicht sachdienlich. In keinem der Bücher war ein Grundriss abgebildet, der dem auf Laras Fotokopie glich.

Spannendes fand sie trotzdem, zum Beispiel ein Kapitel über die Vertreibung der Mönche aus Gladbach. Von einem eingeschmolzenen Silberschatz war dort die Rede und von dem erfolglosen Versuch, Wertgegenstände vor den nahenden Franzosen zu verstecken. Erfolglos, dachte Lara enttäuscht, und legte auch dieses Buch zur Seite. Aber dann stutzte sie.

Es waren die erfolglosen Versuche, von denen man wusste, weil das Versteck gefunden und der Schatz geborgen wurde. Aber rein theoretisch wäre es ja auch denkbar, dass einer dieser Versuche so erfolgreich war, dass der Schatz bis heute in seinem Versteck verborgen war.

Trotz der durchblutungsfördernden Erregung, die Lara bei diesem Gedanken durchströmte, stellte sie fest, dass sie vor Kälte fast zitterte. In diesem Keller war es sicher 15 Grad kühler als draußen in der sommerlichen Wärme. Wie hatte der Archivar hier arbeiten können? Hatte er sich eine Wärmflasche unter den Pullover gesteckt oder sich mit heißen Getränken von innen gewärmt?

Von dieser Vorstellung noch sehr erheitert, meldete Lara sich bei Frau Behrens für heute ab und kündigte weiteren Recherchebedarf an.

»Dann bräuchte ich aber noch mal Ihre Hilfe. Vielleicht finde ich in alten Akten Pläne oder Zeichnungen, die ich mit meiner Fotokopie vergleichen kann.«

Frau Behrens nickte. »Ihre Skizze erinnert schon ein bisschen an den Grundriss des Abteiberges.«

Lara zuckte die Schultern. »Leider findet sich auf der Skizze an keiner Stelle ein Kreuzchen als Hinweis auf die Lage des Schatzes.«

Frau Behrens reckte den Hals, um die Skizze noch einmal zu betrachten. »Und der Text? Gibt der keinen Hinweis?«

Lara schaute sie erwartungsvoll an. »Können Sie das denn lesen?«

Ein amüsiertes Schnauben war die Antwort.

»Solange wir niemanden haben, der das entziffern kann, halten wir uns erst mal an die Zeichnung.«

 

Draußen beschloss Lara, sich zum Aufwärmen in die Sonne zu stellen, und so ging sie zur Südseite des Münsters, wo sich der aktuelle Haupteingang befand. Sie schlenderte Richtung Westen, zum eingerüsteten Turmbau, und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen immer wieder in die Sonne. Dann hörte sie, neben den üblichen Baustellengeräuschen, Stimmen.

Eine Menschentraube stand in sicherer Entfernung von den Arbeiten am Fuß des Westwerks. Der Mann mit dem Rücken zum Münster dozierte.

Lara näherte sich der Gruppe und gesellte sich dazu. Niemand beachtete sie. Offenbar war sie in eine Führung hineingeraten, die die aktuellen Sanierungsarbeiten erläuterte. Von Sandstein und Tuff war die Rede und deren unterschiedlichen Charakteristika. Von Statik und Steinschwund, Hohlräumen in optisch dicht wirkenden Mauern und Pfeilern und verschiedenen Sanierungsansätzen wie Betonit-Einspritzungen. Das waren zu viele Fachbegriffe, als dass Lara viel verstanden hätte, allerdings kapierte sie eins: Die Sanierung eines jahrhundertealten Gemäuers war eine Kunst, für die es überraschend wenig Erfahrungswerte gab. Daher wurde das Westwerk, das hinter den Gerüstplanen nur stellenweise zu erahnen war, klassisch neu aufgemauert.

Der Vortragende erging sich in weiteren Details, trug misslungene Versuche früherer Sanierungen vor, die die Fassade versiegelt und damit den Schaden nur vergrößert hatten, und bat dann um Fragen aus dem - wie Lara jetzt auffiel - überwiegend jungen Publikum. War sie in eine Uni-Exkursion hineingeraten?

Auch die Fragen überstiegen Laras Verständnis von Baukunst, das sich ausschließlich aus ihren Erfahrungen mit Legosteinen und Bauklötzchen speiste. So wollte sie schon abdrehen, als eine näselnde weibliche Stimme den Dozierenden fragte, welche Aufgabe er nun genau bei der Sanierung habe.

»Ich gehöre zum Leitungsteam der Experten, die die Sanierung konzipiert und geplant haben und nun abwickeln und beaufsichtigen. Insbesondere obliegt mir die Ausführungs- und Qualitätskontrolle vor Ort.«

»Und insofern muss ich Ihnen Herrn Hubert kurz entführen«, sagte jemand hinter Lara. Alle Köpfe fuhren herum, auch sie wandte sich dem Sprecher zu.

Der Mann war nicht groß, aber sehr kompakt gebaut und trug, trotz der Wärme, einen wollenen Trachtenjanker. Das volle schwarze Haar war kurz, die Brille randlos, der Tonfall bestimmt, die Sprache mit Dialektfärbung. Ein Franke, vermutete Lara, der jetzt mit seinem kantigen Schädel eine ruckartige Bewegung nach links machte. Der Dozent, dessen Reaktion Lara aus dem Augenwinkel beobachtete, kniff die Lippen zusammen, entschuldigte sich kurz und forderte seine Zuhörer mit einer Geste zum Bleiben auf.

»Wer bist du denn?«

Es dauerte einen Moment bis Lara kapierte, dass sie gemeint war.

»Ich hab dich an der Uni noch nie gesehen.«

Lara schüttelte den Kopf. »Ich kam gerade zufällig vorbei. Welche Uni?«

Die junge Frau holte eine Flasche Wasser aus ihrer Umhängetasche, nahm einen Schluck und seufzte. »RWTH. Aachen«, fügte sie auf Laras fragenden Blick hinzu.

»Und das ist eine Exkursion?«

»Genau.« Die Blonde gähnte. »ELMAH.«

Lara war sich nicht sicher, ob das Verständnisproblem an einer undeutlichen Aussprache der Studentin oder bei ihr lag.

»Wie bitte?«

»E-L-M-A-H. Externe Langeweile mit August Hubert.« Grinsend deutete sie mit der Wasserflasche auf den Dozenten. »Seine Exkursionen sind berüchtigt, weil sie so öde sind. Aber Ahnung hat er, das muss man ihm lassen.«

»Und wer ist der andere?«, fragte Lara.

»Max Grinding. Honorarprofessor. Wenn der Exkursionen anbietet, melden sich nur die Schwindelfreien. Mit dem geht es meistens rauf: Ins Dachgebälk oder auf Türme. ›Von oben planen, von unten bauen‹ ist sein Lieblingsspruch. Und wenn man sieht, welche Lasten mit Dachstühlen und Dächern auf den Mauern lasten, dann weiß man, was er meint. Komm mit«, forderte die Blonde Lara nach einem Blick auf die beiden Männer auf, die immer noch ins Gespräch vertieft waren.

»Ich bin übrigens Suse« führte Lara zur Südseite des Münsters bis an den Rand des Platzes und lehnte sich an die Mauer, hinter der der Abhang des Abteibergs lag.

»Schau hoch zum Dach des Langhauses. Die Schräge hat geschätzt etwa fünfzig Grad. Das heißt, dass das Dach die Mauern nach außen drückt. Du kennst das, wenn du mit gespreizten Beinen auf zwei Stühlen stehst. Die Stühle rutschen nach außen weg. Wenn du die Kräfte des Daches nicht auffängst, wird der Baukörper durch die diagonal zur Seite drückenden Kräfte praktisch zerrissen. Das lernt man natürlich in der Theorie, aber wenn du mal im Dachstuhl einer Kirche über dem Gewölbe warst und die Balken siehst, die das Dach tragen, dann kapierst du es richtig.«

Lara lächelte. Suses Begeisterung steckte sie an.

»Wenn du jemals Gelegenheit hast, in den Dachstuhl der Wiesenkirche in Soest zu gehen, tu es! Im ältesten Teil des Dachstuhls steht alle fünfzig Zentimeter ein Balken, weil man die Statik nicht berechnen konnte und sich dachte: viel hilft viel. Irgendwann wurden die Architekten schlauer und vergrößerten die Abstände auf einen Meter. Du kannst also den Entwicklungssprung in statischen Berechnungen dort förmlich mit Händen greifen. Wahnsinn!«