Villa Zucker - Alle für einen - Pippa Jansen - E-Book
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Pippa Jansen

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Beschreibung

Das Leben ist schön. Von einfach hat keiner was gesagt!

Alles wäre gut geworden, hätten die Bewohner der Villa Zucker das alte Gemäuer einfach kaufen können. Aber natürlich geht der Plan schief und jetzt droht sogar der Abriss! Da ist Erfindungsgeist gefragt. Doch erst mal fahren in der WG die Hormone Achterbahn. Rosa entdeckt, dass ihre neue Liebe schon verheiratet ist. Ellen bekommt einen Heiratsantrag, Tochter Kim verliebt sich in zwei Jungs auf einmal, und Hans Seefeld hegt plötzlich väterliche Gefühle für den heimatlosen Mardi. Was für ein Chaos! Doch am Ende zeigt sich, was sich alles bewegen lässt, wenn man fest zusammenhält.

Überarbeitete Neuauflage. Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Alle für einen« von Jutta Profijt bei dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.

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Villa Zucker – Alle für einen

Pippa Jansen

Chaos, Liebe und Humor in der XXL-Familienpackung

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch 

Kapitel 1 

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Kapitel 11 

Kapitel 12 

Kapitel 13 

Kapitel 14 

Nachwort 

Leseprobe Münsterschatz 

Weitere Bücher der Autorin 

Über die Autorin 

Impressum 

Über das Buch

DAS LEBEN IST SCHÖN. Von einfach hat keiner was gesagt.

 

Alles wäre gut geworden, hätten die Bewohner der Villa Zucker das alte Gemäuer einfach kaufen können. Aber natürlich geht der Plan schief und jetzt droht sogar der Abriss! Da ist Erfindungsgeist gefragt. Doch erst mal fahren in der WG die Hormone Achterbahn. Rosa entdeckt, dass ihre neue Liebe schon verheiratet ist. Ellen bekommt einen Heiratsantrag, Tochter Kim verliebt sich in zwei Jungs auf einmal, und Hans Seefeld hegt plötzlich väterliche Gefühle für den heimatlosen Mardi. Was für ein Chaos! Doch am Ende zeigt sich, was sich alles bewegen lässt, wenn man fest zusammenhält.

Kapitel 1

Die Küche war verwaist, wie meist um diese Zeit. Dabei war elf Uhr der perfekte Moment für ein schönes Frühstück. Und geradezu ideal war es für Rosa, wenn sie die Küche dabei für sich allein hatte. Eine Wohngemeinschaft brachte zwar viele Vorteile mit sich, aber direkt nach dem Aufstehen schon Konversation treiben zu müssen, gehörte eindeutig nicht dazu. Ebenso wenig, wie sich Vorhaltungen über nicht getane Hausarbeit aufs buttrige Croissant schmieren zu lassen. Natürlich trug sie weder den Müll raus, noch spülte sie ab oder kaufte ein. Das taten schließlich die anderen. Sollte sie sich da vordrängeln? Nein, ihre Stärken lagen eindeutig auf anderem Gebiet.

Immerhin war es Rosa gewesen, die die Villa Zucker in Besitz genommen hatte, nachdem sie einem Immobilienbetrug aufgesessen war und ihr ganzes Geld verloren hatte. Zugegeben, Konrad Schmitt und Hans Seefeld waren auch bald auf dem Schauplatz erschienen, aber eben erst nach ihr. Wochen später, als die WG mit zwei weiteren Mitgliedern – Ellen und Kim, Rosas Tochter und Enkelin – schon lange komplett war, hatte sie die vom Eigentümer angeordnete Zwangsräumung abgewendet. Rosa war Expertin für das große Ganze, nicht für das tägliche Klein-Klein penibler Haushaltsführung.

Sie goss das kochende Wasser in die vorbereitete Kanne. Da sie es mit dem Abmessen nie so genau nahm, schmeckte der von ihr selbst zubereitete Kaffee immer anders und selten gut. Konrad hatte es daher übernommen, die richtige Menge Wasser in den Kocher und die passende Menge Kaffeemehl in den Filter zu füllen, so dass Rosa nur den Kessel einschalten und das Wasser aufgießen musste. Herrlich, dachte sie, fügte Milch und einen Hauch Zucker hinzu, probierte und – spuckte das Gebräu in den Ausguss. Ekelhaft! Und das schon zum zweiten Mal in dieser Woche! Was war nur mit Konrad los? Einmal konnte man ja mit den Gedanken woanders sein und die falsche Menge Pulver nehmen, aber wenn diese Nachlässigkeit innerhalb kürzester Zeit erneut auftrat, musste es einen anderen Grund geben.

In diesem Zusammenhang erinnerte sich Rosa, dass Konrad in den letzten Wochen ein seltsames Verhalten an den Tag gelegt hatte. Mehrfach hatte sie ihn mit Stift und Papier angetroffen, aber er hatte nur dagesessen und Löcher in die Luft gestarrt. Ob er seine Memoiren schreiben wollte? Rosa grinste. Ein notorischer Betrüger, der von seinen einundsiebzig Lebensjahren fast dreißig im Knast verbracht hatte, konnte sicher viele interessante Geschichten erzählen.

***

Ellen hörte Rosas Clogs auf der Holztreppe und schaute automatisch auf die Uhr. Kurz nach elf. Nanu, das war ein kurzes Frühstück. Aber egal, sie musste sich konzentrieren. Mit dem Ende der Schulferien hatte Ellen zu ihrem normalen Rhythmus zurückgefunden. Alle zwei Wochen lieferte sie einen Heftroman ab, obwohl es ihr immer noch schwerfiel, sich von den Geräuschen der anderen Bewohner in diesem ehemaligen Hotel nicht ablenken zu lassen.

Nach dem Schock, mit Mitte vierzig obdachlos und als Hausbesetzerin kriminell zu werden, hatte Ellen sich inzwischen an die provisorische Bleibe gewöhnt und fühlte sich sogar meistens richtig wohl in ihrem Zimmer im zweiten Stock. Nur die Konzentration litt durch all die seltsamen Geräusche. Die Leitungen gurgelten, seit Wasser und Strom wieder funktionierten, die Druckspülungen der Toiletten klangen wie startende Düsenjets, und die Holztreppe knarrte und quietschte je nach Benutzer in unterschiedlichen Intensitäten. Wenn dann Rosa noch ihre indische Musik andrehte … Ellen seufzte. Wenn man vom Teufel sprach!

Zu allem Überfluss dröhnte nun auch noch der harte Klang des großen Türklopfers durchs Treppenhaus. Rosa würde natürlich nichts hören, sie war in ihrem Kokon aus Sitarklängen für die Außenwelt unerreichbar. Beneidenswert, dachte Ellen nicht zum ersten Mal, während sie aufstand und die Treppe hinuntereilte.

»Einschreiben«, nuschelte der Postbote um sein Kaugummi herum.

»Für mich?«

»Hier unterschreiben!«

Ellens Unterschrift fiel krakeliger aus als sonst. Wer sollte ihr ein Einschreiben senden? Die Scheidung war abgeschlossen, ihr Exmann hatte das gemeinsame Haus verkauft und sie mit dem lächerlichen Betrag ausbezahlt, der nach der Hypothekentilgung übrig geblieben war. Außer vom Familiengericht hatte sie seit Jahren kein Einschreiben bekommen. Aber früher war sie auch nicht kriminell gewesen. Na gut, wirklich kriminell war sie nicht mehr, seit es eine mündliche Vereinbarung darüber gab, dass die Hausbesetzer vorerst in der Villa wohnen durften. Aber so richtig legal war ihr Status nicht, daran gab es nichts zu rütteln.

Der Postbote reichte Ellen einen ganzen Stapel Post, darunter einen großen Umschlag mit dem Einschreibe-Vermerk.

»Hey, der ist ja gar nicht für mich …« Ellen blickte auf.

Doch der Postbote hatte sich bereits umgedreht und eilte die Stufen hinunter. »Ist doch hier alles eine Bande«, rief er über die Schulter.

Ellen schüttelte den Kopf. Es gab nur einen Briefkasten, auf dem die Namen aller fünf Bewohner standen, aber deshalb waren sie noch lange keine Bande. Sie war auch nicht die Sekretärin der anderen. Und Hans Seefeld würde sicher nicht begeistert sein, dass sie den an ihn adressierten Brief entgegengenommen hatte. Der Mann war ihr immer noch ein bisschen unheimlich.

***

»Sehr gut, Frau Feldmann.«

Kim glaubte, sich verhört zu haben. Noch nie hatte Hans Seefeld, ihr Physiklehrer und Hausgenosse in der Villa Zucker, in der Kim mit ihrer Mutter Ellen, ihrer Oma Rosa und Konrad Schmitt wohnte, sie im Unterricht gelobt. Ja, okay, dazu hatte er auch keine Veranlassung gehabt, denn bis vor kurzem war sie in Physik eine absolute Null gewesen. Dann war Samu in ihre Klasse gekommen, der Halbfinne-Halbjapaner-Halbwaise mit den schlumpfblauen Haaren, und hatte ihr in den Sommerferien Nachhilfe gegeben. Noch hatte Kim zwar nicht den Eindruck, auf dem Weg zum Nobelpreis zu sein, aber immerhin hatte Samu es geschafft, dass sie das Fach nicht mehr hasste. Im Gegenteil. Einige Experimente, die sie gemeinsam gemacht hatten, waren richtig cool gewesen: das Entzünden von Heu mithilfe einer Lupe, durch die sie das Sonnenlicht gelenkt hatten. Eine ganze Fotoserie im Freibad, auf der sie aussah, als säßen ihre Füße knapp unter der Hüfte, weil die Lichtbrechung im Wasser eine andere war als an der Luft. Die Erzeugung eines Regenbogens – und einer mittelschweren Überschwemmung – in der Dusche. Kim hatte kapiert, dass Physik sich mit Wundern beschäftigte. Mit Naturwundern. Und das Beste war: Das Wunder wurde nicht langweilig, wenn man seine Funktionsweise verstand.

Blöd waren allerdings die Formeln und Berechnungen – so genau wollte sie es dann doch nicht wissen. Aber diese lästige Nebenerscheinung konnte man akzeptieren, wenn die Sache an sich interessant war. Und diese Erkenntnis brachte Kim nun das erste Lob in Physik ein. Sie hob die Hand und ließ sich von Samu abklatschen. Die Mundwinkel des Physiklehrers, der die Lässigkeit eines betonierten Brückenpfeilers besaß, zuckten. Näher würde Hans Seefeld einem Lächeln nicht kommen.

»Boah, Alte, ein Lob«, stöhnte Tarik.

Kim und Samu lachten. Der ehemals coolste Gangsta der Klasse, der dem Jugendknast nur dadurch entgangen war, dass er einen außerfamiliären Betreuer akzeptiert hatte, gehörte seit Beginn der Sommerferien zu ihrer Clique. Die überaus pikante Tatsache, dass ausgerechnet Hans Seefeld die gerichtlich angeordnete Betreuung übernommen hatte, war ein zwischen Seefeld, Samu, Kim und Tarik gut gehütetes Geheimnis. Tariks ehemalige Kumpel hatten sich trotzdem von ihm losgesagt. So musste er selbst nun die Herablassung und den Spott ertragen, die er früher kübelweise über seinen Klassenkameraden ausgegossen hatte.

»Die letzte Reihe bleibt noch hier«, sagte Seefeld exakt zwei Sekunden, bevor der Gong die Stunde beendete.

Samu, Kim und Tarik schauten sich überrascht an. Was Seefeld wohl von ihnen wollte?

***

Nach dem ersten, kläglich gescheiterten Kaffee des Tages wagte Rosa gegen ein Uhr einen zweiten Versuch. Sie ging in die Küche, traf aber wieder niemanden an. Dieses Mal bedauerte sie das sogar. Konrad, der freiwillig in der Villa das Hausmütterchen spielte, hätte ihr sicher einen ganz hervorragenden Kaffee gemacht, vermutlich sogar noch die Milch aufgeschäumt, um seinen Schnitzer vom Frühstück wettzumachen. Aber überraschenderweise war er nicht aufzufinden. Nun, dann musste sie eben selbst ihr Glück versuchen.

Bevor sie allerdings zur Tat schritt, warf Rosa einen Blick auf die Briefe, die auf dem Küchentisch lagen: ein an Kim adressiertes Schreiben von der Sparkasse und eine Werbesendung von einem Mobilfunkanbieter, die sie sofort zerriss. Dann fiel ihr Blick auf das Einschreiben, das an ›Major Hans Seefeld‹ adressiert war. Nanu, diese Anrede war eigentlich nicht korrekt. Hans Seefeld war bei der Bundeswehr gewesen, bevor er als Quereinsteiger Physiklehrer an Kims Schule geworden war, das hatte die Hausgemeinschaft herausgefunden, ohne dass Seefeld auch nur eine Silbe darüber verloren hatte. Der Mann war verschlossener als eine Auster und verschwiegener als ein Grab, was Rosa regelmäßig zur Weißglut brachte. Egal. Da seine militärische Laufbahn beendet war, müsste die Anrede auf dem Brief ›Major a. D.‹ heißen. Aber die zwei entscheidenden Buchstaben fehlten. Rosas Neugier war geweckt.

Sie füllte einen Liter Wasser in den Kocher und schaltete ihn ein. Dabei drehte und wendete sie den großen Umschlag hin und her. Er war aus dickem Papier mit vermutlich selbstklebender Lasche. Diese Gummierungen waren leicht zu lösen, einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Sobald das Wasser kochte, hielt Rosa den Umschlag über den Dampf. Sie brauchte fast fünf Minuten, bis sie mit einem Messerrücken die Lasche vollständig anheben konnte. Vorsichtig zog sie die weißen Blätter hervor, überflog den Text und spürte, wie ihr Hals eng wurde.

›Besondere Umstände‹ führten dazu, dass die Dienste des hochdekorierten Offiziers Hans Seefeld erneut benötigt wurden. Weitere Details werde man ihm erläutern, sobald er den anliegenden Vertrag unterzeichnet und sich im Landeskommando Nordrhein-Westfalen zurückgemeldet habe. Die nebulösen Formulierungen und die Tatsache, dass der inzwischen als Lehrer erfolgreiche ehemalige Soldat wieder für das Vaterland tätig werden sollte, lösten in Rosa ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung aus. Wie schlimm musste es stehen, wenn ein sechsundfünfzigjähriger Haudegen fünf Jahre nach seinem Ausscheiden wieder in den Dienst zurückgerufen wurde? War das eine Art Mobilmachung? Oder hatte Seefeld einfach die Nase voll von pubertierenden Schülern und einer chaotischen WG und sich freiwillig gemeldet, um wieder in Zucht und Ordnung zu leben? Aber was wurde dann aus dem Kauf der Villa Zucker, bei dem Seefeld eine entscheidende Rolle spielte? Der Mann machte mal wieder sein Ding, ohne die Hausgenossen auch nur ansatzweise zu informieren.

Der leise Hauch von Schuldbewusstsein, den Rosa beim Öffnen des Briefes verspürt hatte, war nun vollständig verschwunden. Seefeld war selbst schuld daran, dass die Mitbewohner zu drastischen Methoden greifen mussten, um ihr legitimes Informationsbedürfnis zu stillen. Jetzt war Rosa wenigstens gewarnt.

 

Wenig später erwachte Rosa vom Klingelton ihres Handys. Was hatte sie diese Dinger verachtet und die Leute, die sich von den Mobiltelefonen abhängig machten, gleich mit. Aber nun war alles anders. Seit sie Roland Stettin kannte, achtete sie darauf, das Handy möglichst griffbereit zu haben. Im Frühsommer war der Kunsthändler geschäftlich in Düsseldorf gewesen, im Herbst würde er wiederkommen, dazwischen lebte er in München. Deshalb dudelte das Handy nun ›Skandal im Sperrbezirk‹ der Spider Murphy Gang. Die von Stettin scherzhaft vorgeschlagene Bayernhymne hatte Rosa rundweg abgelehnt.

»Was treibst du, meine Liebe? Überführst du Kunstdiebe, Betrüger oder sonstige Kriminelle?«, fragte Stettin und spielte damit auf die ereignisreichen Wochen des Frühsommers an.

»Ich döse im ehemals verwilderten Garten, den meine fleißigen Mitbewohner in den letzten Wochen in einen gepflegten Park verwandelt haben. Nur die Putten fehlen noch.«

»Diesen Part kannst du doch übernehmen. Die barocken Formen hättest du ja. Soll ich dir einen Sockel mitbringen, wenn ich demnächst wieder nach Düsseldorf komme?«

Rosa grinste. Stettin teilte ihren Sinn für Humor und ihre Leidenschaft. Beides war ihr wichtiger als Geld oder Ansehen, obwohl er auch davon reichlich besaß. »Ich werde die spießerhafte Züchtigung und Vermenschlichung der in ihrer natürlichen Entfaltung behinderten Flora keinesfalls unterstützen.«

Stettin lachte laut auf.

»Konntest du deine Reisepläne schon konkretisieren?«, fragte Rosa. Sie war zwar eine unabhängige, emanzipierte Frau, die gut allein zurechtkam, aber ein Liebhaber in ihrem Bett war trotzdem besser als ein Liebhaber am anderen Ende der Republik.

»Deshalb rufe ich an, und meine Neuigkeiten werden dir nicht gefallen. Das hoffe ich zumindest.«

Rosa seufzte.

»Ich habe dir doch von der Benefiz-Auktion berichtet, die wir zugunsten der Flüchtlingshilfe organisieren.«

»Ich erinnere mich.«

»Wir mussten den Termin verschieben, außerdem benötigen wir einen neuen Raum. Bis ich das alles organisiert habe, kann ich hier nicht weg.«

»Schade.« Rosa biss sich auf die Lippen. Die Idee, die ihr spontan durch den Kopf ging, wollte sie lieber nicht aussprechen.

***

Die letzte Reihe, das waren sie: Kim, Samu und Tarik. Irgendwie machte es Kim stolz, dass sie so was wie einen Namen hatten. Wie eine Band. Nur cooler. Jetzt stand also die letzte Reihe vor Seefeld und wartete schweigend und gespannt. Sie alle hatten eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Physiklehrer, weil sie vor den Sommerferien gemeinsam mit ihm eine gefährliche Jugendbande überführt hatten. Außerdem hatten sie monatelang ein Geheimnis mit ihm geteilt, nämlich das Wissen um Mardi, den Jungen aus Mali, der von den anderen Hausbewohnern unentdeckt im Keller der Villa Zucker gehaust hatte. Inzwischen lebte Mardi bei Samu und seinem Vater Yuuto und büffelte wie ein Weltmeister, um demnächst auch auf ihre Schule gehen zu können. Kim ging die neue Strebsamkeit ihres Umfelds langsam, aber sicher auf den Sender.

»Meine Zeit als euer Lehrer ist vorbei«, sagte Seefeld. »Frau Davidoff wird meinen Physikunterricht übernehmen.«

Einen Moment herrschte absolute Stille.

»Mitten im Schuljahr?«, fragte Samu verwirrt.

»Mitten in der Woche?«, fragte Kim.

»Ey, Scheiße, Mann!«, sagte Tarik. »Ausgerechnet die!«

Seefeld hob die linke Augenbraue um einen Millimeter, Tarik murmelte eine Entschuldigung.

»Und was machen Sie?«, fragte Samu.

Seefeld blickte sie alle der Reihe nach ernst an. »Ich werde eine Weile weg sein.«

»Bedeutet das, dass Sie auch nicht bei uns wohnen?«, fragte Kim.

Seefeld nickte knapp.

Sollte Kim das jetzt gut oder schlecht finden? Gut war es, weil es ihr immer noch absolut abartig vorkam, mit dem Lehrer in einer WG zu wohnen. Andererseits war Seefeld im Vergleich zu der durchgeknallten Rosa, ihrer unbeholfenen Mutter Ellen und dem harmoniesüchtigen Konrad der einzige Mitbewohner, der in Krisenzeiten die Nerven behielt und wusste, was zu tun war. Und wenn Kim die letzten drei Monate als Maßstab nahm, war die nächste Krise sicher nicht weit weg.

»Von euch erwarte ich, dass ihr alle Vereinbarungen einhaltet, die wir getroffen haben.«

Kim seufzte. Das bedeutete Nachhilfe in Physik für sie, Nachhilfe in allen Fächern für Mardi, Tarik in die Freizeitgestaltung einbinden, damit er gar nicht erst auf die Idee kam, sich wieder irgendwelchen Kriminellen anzuschließen. Kurz gesagt: schön brav sein.

»Und was genau machen Sie?«, fragte Kim.

Seefelds Augen in Polareisblau blickten sie reglos an. Kim zuckte die Schultern und wandte sich ab.

»Kim?«, fragte Seefeld.

»Ja, versprochen«, murmelte sie.

»Ich verlasse mich auf euch«, sagte Seefeld.

 

»Warum macht er immer so ein Geheimnis um alles?«, maulte Kim auf dem Weg zum Mäuerchen am Fahrradständer, wo die drei üblicherweise ihre Pause verbrachten.

»Akzeptier ihn, wie er ist, sonst ärgerst du dich bis an dein Lebensende über den Mann«, schlug Samu vor.

»Recht hat er, der blaue Buddha«, warf Tarik grinsend ein. Die Verwendung des Spitznamens, der auf Samus absolut nicht altersgemäße Weisheit und seine Haarfarbe abzielte, brachte Tarik einen leichten Ellbogenstoß von Samu ein.

»Bist du gar nicht neugierig?«, fragte Kim.

»Natürlich. Aber was erwartest du von mir? Soll ich ihn foltern? Raten ist auch Blödsinn, da ich nicht den leisesten Anhaltspunkt habe. Der Mann könnte zum Mond fliegen oder am Knie operiert werden!«

»Genau«, Kim grinste. »Nur fliegt er nicht zum Mond, sondern wird von Rosa raufgeschossen.«

»Was hast du gegen die Davidoff?«, fragte Samu Tarik. Er war erst wenige Wochen vor den Sommerferien an die Schule gewechselt und kannte daher nicht viele Lehrer.

»Ich hatte sie früher in Physik.« Tarik war in Kims Klasse gekommen, nachdem er sitzengeblieben war. Nicht, weil er den Stoff nicht kapiert, sondern weil er zu oft geschwänzt hatte. Kim hatte eine Zeitlang für den älteren Jungen mit den goldgrünen Augen geschwärmt. »Die Davidoff ist, ey, ich weiß auch nicht. Die ist keine richtige Frau. Sie hat eine super Figur, das ist es nicht. Aber – sie ist eine Kampflesbe.«

»Was soll ich mir denn darunter vorstellen?«, fragte Kim kichernd.

»Und was hält sie von dir?«, fragte Samu.

Tarik grinste schief. »Hirnloser Macho.«

»Okay, ich finde, dass wir nach diesen schlimmen Nachrichten etwas zur Stärkung der Nerven brauchen«, sagte Samu. »Nach der Schule zur Eisprinzessin?«

Kim und Tarik nickten. Tarik war neuerdings auf den Geschmack gekommen, weil er, wie viele andere Jungen der Schule, die Inhaberin des Eiscafés anhimmelte. Kim unterdrückte ein Grinsen, weil es so offensichtlich war, obwohl alle Jungs sich für undurchschaubar hielten. Und im Übrigen: Das Eis schmeckte echt göttlich.

 

Die Eisprinzessin hatte dem Café Ehrenrunde, in dem die Schülerinnen und Schüler früher gern ihre Freistunden verbracht hatten, den Rang abgelaufen. Zumindest so kurz nach den Sommerferien und bei grandiosem Spätsommerwetter. Die Schlange vor dem kleinen Laden war bestimmt zwanzig Meter lang und bestand zur einen Hälfte aus Schülern und zur anderen aus Typen in Anzügen, die dauernd versuchten, sich vorzudrängeln. Vor Kim und ihren Begleitern kam es zu einer kleinen Rangelei, aus der die Sechstklässler als klare Sieger hervorgingen. Der Anzugträger zog beleidigt ab.

Kim genoss die Sonne auf dem Gesicht und die seltsame Gewissheit, vor dem bevorstehenden Schuljahr keine Angst haben zu müssen. Dieses Gefühl war neu. Seit sie auf das Gymnasium ging, war ihr zu jedem Schuljahresbeginn mulmig gewesen. Nach der Paukerei in den Sommerferien, die mit Samu sogar richtig Spaß gemacht hatte, fühlte sie sich der achten Klasse gewachsen. Überhaupt machte mit Samu einfach alles mehr Spaß. Er hatte immer gute Laune, war total schlau, aber nie überheblich und vermittelte den Eindruck, dass er aus lauter Neugier lernte. Sogar mathematische Formeln. Oder Lateinvokabeln. Außerdem sah er einfach granatenmäßig gut aus. Die Erbanlagen seiner kürzlich verstorbenen finnischen Mutter, die überall auf der Welt als Model gearbeitet hatte, und seines japanischen Vaters waren eine absolut perfekte Kombination. Mandelförmige Augen in einer undefinierbaren dunklen Farbe, schön geschwungene Lippen, kleine Ohren und ein Grübchen am Kinn, das vor den Sommerferien noch nicht da gewesen war. Samu war zwar ein paar Zentimeter kleiner als Kim, aber sein Körperbau war perfekt. Besonders die schmalen Hüften und der knackige Hintern hatten es ihr angetan. Der absolute Kracher war natürlich das blaue Haar. Die Farbe sei die reine Provokation, hatte Kim eine Frau in der Straßenbahn sagen hören, aber das stimmte überhaupt nicht. Samu trug den schlumpfblauen Schopf mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er damit geboren worden. Seit Wochen verbrachte Kim die meiste Zeit des Tages mit Samu, aber noch nie hatte sie sich getraut, sein Haar zu berühren. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher auf der Welt, als mit den Fingern durch diese seidig glänzende Mähne zu fahren.

»Da komme ich ja gerade noch rechtzeitig!«

Der Ausruf riss Kim aus ihren Gedanken. Die lange, schmale Silhouette von Mardi tauchte neben ihr auf. Seine Augen strahlten aus dem tiefschwarzen Gesicht, während er Samu ein High-Five gab und Tarik zunickte. Die beiden ›Halbbrüder‹, wie der kleine Samu mit den asiatischen Gesichtszügen den schlaksigen Schwarzafrikaner nannte, verstanden sich blendend. Zwischen Mardi und Tarik hingegen herrschte immer noch Eiszeit. Mardi war von der Bande, zu deren Anführern Tarik gehört hatte, ausgenutzt, verprügelt und als Sündenbock missbraucht worden.

Verständlich, dass Mardi immer noch einen Groll gegen Tarik hegte, der nur durch gehörigen Druck von Samu, Kim, Seefeld und Kommissar Mittmann die Seite gewechselt und zur Aufklärung der Kunstdiebstähle beigetragen hatte. Sicher würde es schon helfen, wenn Mardi endlich die Hauptschule verlassen und auf das Gymnasium wechseln konnte. Damit wäre zumindest dieser wunde Punkt, der sein Selbstbewusstsein erheblich belastete, ausgemerzt.

Als Mardi sich zu Kim beugte und ihr auf französische Art zwei Wangenküsschen gab, wurde Kim rot. Dass er sich diese Begrüßung angewöhnt hatte, fand sie immer noch exotisch. Und der Ausdruck auf Tariks Gesicht, den Kim für einen Sekundenbruchteil erhaschte, haute sie vollends aus den Latschen: Tarik war eifersüchtig.

***

Ellen schaltete den Computer aus und streckte sich. Ihr Tagespensum hatte sie erledigt, letzten Endes war ihr die Arbeit doch noch flott von der Hand gegangen. Gut, dass sie einfache Geschichten schrieb und nichts, was auch nur ansatzweise ihrem eigenen Leben glich. Verlust des Eigenheims, das erzwungene Zusammenleben mit ihrer durchgeknallten Mutter und zwei inzwischen nicht mehr ganz so fremden Männern, der ›blinde Passagier‹ im Keller, die versuchte Räumung der Villa Zucker … Da neben dem Immobilienbetrug auch noch ein Mord geschehen war, hatte Ellen in der schlimmsten Zeit ihres Lebens das größte Glück gefunden: Patrick Mittmann, Kriminalkommissar, neun Jahre jünger als Ellen und der Mann, der sie an eine zweite Ehe denken ließ. Nur denken, rief Ellen sich sofort wieder zur Ordnung. Mittmann betonte zwar immer wieder, dass ihm der Altersunterschied nichts ausmache und dass er sein Leben mit Ellen verbringen wolle, aber sie selbst würde das Wort ›Heirat‹ auf gar keinen Fall aussprechen.

 

In der Küche trank Ellen ein Glas Leitungswasser und setzte sich dann auf die Stufen vor dem Haus. Die Septembersonne schien ihr ins Gesicht, sie schloss die Augen und genoss das gute Wetter nach dem Regen der letzten Tage. Fast wäre sie eingenickt, aber das Geräusch von Schritten auf dem Kiesweg brachte sie wieder zu sich. Es war Konrad, der mit zwei großen Einkaufstaschen auf sie zukam.

»Was für ein netter Empfang!«, rief er.

Ellen ging ihm entgegen und streckte die Hand nach der Tasche in seiner linken Hand aus. Konrad drehte sich elegant und reichte ihr den anderen Beutel. Er war wie immer korrekt in Stoffhose und Clubjackett gekleidet, wobei die Schnitte unmodern und die Stoffe abgenutzt waren. Die über den Kopf gekämmte Haarsträhne war verrutscht, ein deutliches Zeichen für Nervosität. Irgendetwas beschäftigte ihn seit Tagen, aber Ellen wollte nicht in ihn dringen. Andererseits wollte sie ihm nun doch zeigen, dass sie seinen Gemütszustand bemerkt hatte, daher legte sie, während sie nebeneinander die Stufen hochstiegen, die Hand auf Konrads Arm und sagte:

»Konrad, wenn es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann, dann sagst du es mir doch, oder? Ich will mich nicht aufdrängen, helfe aber gern, wenn ich kann.«

Konrad nickte kurz, ging aber wortlos weiter in die Küche, wo sie die Einkaufstaschen abstellten. Anstatt mit dem Auspacken und Verstauen der Lebensmittel zu beginnen, schaute Konrad nervös umher.

»Gab es denn gar keine Post heute?«

»Nicht für dich. Welche Post erwartest du denn?«, fragte Ellen beunruhigt. Er hatte doch nicht etwa wieder Ärger mit dem Gesetz?

»Ach, nicht so wichtig«, entgegnete er, aber seine Stimme verriet das Gegenteil.

Ellen hatte Mühe, ihre Neugierde zu zügeln, verbot sich aber jede weitere Nachfrage. Im Gegensatz zu ihrer Mutter Rosa wusste sie, was das Wort ›Privatsphäre‹ bedeutete.

 

Wenig später räkelte sie sich genüsslich in einem der Gartenstühle und freute sich über ihre neu gewonnene Gelassenheit. Mitten am Tag faul in der Sonne zu liegen und den Tag zu genießen – das hätte sie vor ein paar Monaten nicht gekonnt, als sie noch die gestresste alleinerziehende Mutter einer zickigen Dreizehnjährigen war. Inzwischen verteilte sich die Last von Haushalt und Kindererziehung auf mehrere Schultern. Konrad kümmerte sich so hervorragend um die Verpflegung der Hausgenossen, dass Ellen überhaupt keinen Drang verspürte, ihm den Posten des Chefkochs streitig zu machen. Rosa machte zwar meist ihr eigenes Ding, stand Kim aber als Ansprechpartnerin jederzeit zur Verfügung. Und Seefeld war – das musste Ellen mit einem innerlichen Kopfschütteln immer wieder feststellen –, Seefeld war der Mann im Haus, der ihrer Kleinen sagte, wo es langging. Nicht dass Kim den Lehrer wirklich mochte, aber sie respektierte ihn wie kaum jemanden sonst.

Ein Schatten fiel auf Ellens Gesicht. Sie blinzelte und erschrak. Seefeld stand nur wenige Zentimeter vor ihrem Liegestuhl.

»Warum schleichen Sie sich immer so an?«

Seefeld erwiderte nichts. Musste er auch nicht, denn er hatte bereits klargemacht, dass seine Art der Fortbewegung für ihn normal war. Seine Kondition erhielt er mit einem ausgiebigen Laufpensum aufrecht, das er vor sechs Uhr morgens absolvierte. Zusätzlich praktizierte er Yoga und Krafttraining, um Muskeln und Gelenke geschmeidig und stark zu halten. Seine Fertigkeiten in irgendwelchen abgefahrenen Kampfkünsten waren ihnen bereits nützlich gewesen. Und ändern würde der Mann sich sowieso nicht mehr. Ellen seufzte.

»Ich werde eine Zeitlang weg sein«, sagte Seefeld. Sein Gesicht lag im Schatten, aber Ellen hätte sowieso nichts darin lesen können. Würde Seefeld sein Glück mit Pokern versuchen, wäre er sicher Multimillionär.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Post für mich aufheben würden.«

»Natürlich«, sagte Ellen verwirrt.

»In Ihrem Zimmer«, fügte Seefeld hinzu.

»Äh, ja. Gern.«

»Dem Zugriff Ihrer Mutter entzogen, damit sie die Briefe nicht mithilfe von Wasserdampf öffnen kann.«

Ellen spürte, dass sie rot wurde. Sie fühlte sich immer noch für den ganzen Mist verantwortlich, den Rosa baute, obwohl das rein vernunftsmäßig betrachtet natürlich Quatsch war.

»Ich werde mich bemühen, den Briefkasten selbst zu leeren und Ihre Post gleich an mich zu nehmen.« Mein Gott, jetzt redete sie schon wieder so gestelzt daher, wie immer, wenn sie unsicher wurde. In Seefelds Gegenwart fühlte sie sich regelmäßig wie ein Schulmädchen beim Direktor.

»Danke.« Seefeld drehte sich um und ging zurück zum Haus.

»Mitten im Schuljahr?«, rief Ellen ihm hinterher.

Seefeld blieb stehen, nickte knapp und setzte seinen Weg fort.

Wenig später hörte Ellen seine Schritte im Kies der Einfahrt, dann herrschte erneut Stille. Und Ellen ärgerte sich wieder einmal über ihre höfliche Zurückhaltung. Wo ging Seefeld hin? Was bedeutete die Formulierung ›eine Zeitlang‹? Hatte diese Abwesenheit Auswirkungen auf den Kauf der Villa, der dem illegalen Logieren endlich ein Ende setzen sollte? Rosa hätte Seefeld wenigstens diese Fragen gestellt – auch wenn sie vollkommen sicher war, dass er nicht eine davon beantwortet hätte.

***

Wenn Rosa etwas hasste, dann war es Schlangestehen. Daher stoppte sie abrupt am Eingang zu den Fahrkartenschaltern. Überall im Bahnhof wimmelten und wuselten die Leute durcheinander, nur hier: Stillstand. Nicht gerade die beste Werbung für ein Unternehmen, dessen erklärtes Ziel die Bewegung war, dachte Rosa spöttisch.

»Wollen Sie nun rein oder raus?«, fragte hinter ihr eine Stimme in dem genervten Tonfall desjenigen, der es eilig hatte.

»Weg«, entgegnete Rosa kühl. »Vor allem will ich weg, aber das scheint hier gerade nicht möglich zu sein.« Sie verließ den Düsseldorfer Hauptbahnhof und überlegte, wie sie stattdessen an ihre Fahrkarte kam. Natürlich könnte sie Ellen bitten, ihr das Ticket im Internet zu kaufen, aber eigentlich wollte Rosa ihre Absicht nicht groß kundtun. Vielleicht wäre ihr die Fahrt zu teuer, vielleicht überlegte sie es sich im letzten Moment anders. Nein, erst wollte sie sicher sein, dass sie die Fahrt auch wirklich antrat. Sie erinnerte sich an ein kleines Reisebüro, in dem sie früher gelegentlich Fahrkarten gekauft hatte, und lenkte ihre Schritte dorthin.

 

»Nach München? Wann?«

Rosa zuckte die Schultern.

Der Auszubildende, der mit geröteten Wangen und vermutlich schweißnassen Händen hinter dem Computer hockte, schaute irritiert auf, als die Antwort ausblieb.

»Wann geht denn ein Zug?«, fragte Rosa.

»Stündlich«, erklärte die Frau, die hinter dem jungen Mann stand und sich mit einer Hand auf der Tischplatte abstützte. Sicher war sie die kompetente Fachfrau, die den Jüngling einarbeiten sollte. Die beiden wirkten nicht sehr glücklich miteinander, fand Rosa. Vermutlich waren sie erst seit Anfang des Monats ein Team. »Alle halbe Stunde, wenn Sie einen kleinen Umweg in Kauf nehmen.«

»Wie lange fährt man bis München?«

»Fünf Stunden von Hauptbahnhof bis Hauptbahnhof.«

»Dann möchte ich gegen zehn Uhr fahren.«

»Morgen?«

»Ja.«

Beide Frauen wandten sich dem jungen Mann zu, der mit glasigen Augen auf den Computermonitor starrte.

»Stefan?«, fragte die Fachfrau mit scharfem Unterton.

 

Fast zwei Stunden später verließ Rosa das Reisebüro mit einer Fahrkarte in der Tasche. Außerdem hatte sie eine vorläufige Probe BahnCard erworben, allerdings nicht die ermäßigte Variante für Senioren, da diese nur über einen Antrag auf dem Postweg mit dem Nachweis ihres Alters zu haben gewesen wäre. Der Azubi hatte angesichts der Variantenvielfalt von BahnCard, Probe BahnCard, Ermäßigungsnachweisen und den diversen Vor- und Nachteilen irgendwann den Kopf verloren, woraufhin ihn seine Ausbilderin schon vom Platz stellen wollte. Es war Rosa gewesen, die darauf bestanden hatte, dass er sie weiter bediente. Als Rosa endlich sämtliche Dokumente in der Hand hielt, waren sie alle drei nass geschwitzt und am Ende ihrer Kräfte, aber Rosa war sicher, dass der junge Mann etwas fürs Leben gelernt hatte. Und wenn es nur die Erkenntnis war, dass er besser Bibliothekar geworden wäre.

***

Es hatte sich eingebürgert, dass um sieben Uhr gegessen wurde, und Kim hatte einen Bärenhunger. Schon als sie aus dem Dachgeschoss, das sie ganz für sich allein hatte, die Treppe hinunterlief, kam ihr ein absolut herrlicher Duft nach Kräutern, Gemüse, Knoblauch und einem Hauch von irgendetwas Unbekanntem entgegen. Sie war gespannt, was Konrad wieder gezaubert hatte.

»Kim, kannst du für Wasser sorgen, bitte?«

Ellen trug, ebenso wie Konrad, eine Schürze und rührte in einem großen Topf, während Konrad den neu erworbenen Wok schwenkte. Mittmann deckte den Tisch und nickte ihr grinsend zu. Er aß gern in der WG – beteiligte sich sogar an den Kosten – und machte Konrad damit glücklich. Ein größeres Kompliment als den weiten Weg aus der Innenstadt nach Kaiserswerth auf sich zu nehmen, um sein Essen zu genießen, konnte man Konrad nicht machen. Kim füllte den großen Krug mit Leitungswasser, schnitt eine Scheibe Zitrone ab, flitzte hinaus in den Garten und pflückte ein paar Blättchen Minze, die sie ebenfalls hineinwarf. Da niemand in der WG ein Auto besaß und die Einkäufe zu Fuß nach Hause gebracht wurden, waren Fertiggetränke Mangelware. Nur Wein und Bier bildeten die Ausnahme. Hätte jemand Kim vor vier Monaten prophezeit, dass sie bald nur noch Leitungswasser trinken würde, hätte sie denjenigen für vollkommen verrückt erklärt.

Als die Vorbereitungen abgeschlossen und die gefüllten Schüsseln auf den Tisch gestellt waren, erschien auch Rosa. Kim wunderte sich immer wieder, wie ihre Oma es schaffte, genau den richtigen Moment abzupassen. Irgendwann würde sich Kim draußen in der Halle auf die Lauer legen, um zu überprüfen, ob Rosa wirklich auf der Treppe wartete, bis die Geräusche aus der Küche ihr verrieten, dass sie nun eintreten konnte, ohne zu irgendwelchen Arbeiten herangezogen zu werden. Kim verkniff sich ein Grinsen. Während Ellen sich mühte, Kim ein gutes Vorbild für jede Lebenslage zu sein, war Rosa so ziemlich das Gegenteil – und das nicht nur wegen ihres regelmäßigen Kiffens.

»Grünkernkugeln mit Ratatouille und Süßkartoffelpuffern«, verkündete Konrad, als alle saßen. »Guten Appetit.«

Eine Weile waren nur die Geräusche zu hören, die fünf hungrige Esser machten, gefolgt von verzücktem Stöhnen und begeisterten Komplimenten. Konrad entspannte sich sichtlich und langte ordentlich zu.

»Wo ist denn unser Meisterspion?«, fragte Mittmann mit vollem Mund.

Zwar wusste niemand, was genau Seefeld während seiner Militärzeit getan hatte, aber aus irgendeinem Grund war der Spitzname ›Spion‹ an ihm hängen geblieben. Vielleicht, weil er immer genau wusste, was im Haus vorging.

»Er hat gesagt, er sei eine Zeitlang weg«, sagte Kim. »In Physik bekommen wir eine Vertretung.«

»Mir hat er Bescheid gesagt, dass ich in der nächsten Zeit nicht für ihn mitkochen soll«, fügte Konrad hinzu. »Aber einen Grund hat er natürlich nicht genannt.«

»Den kann, wenn überhaupt, nur Rosa kennen, nicht wahr?«, sagte Ellen.

Ihr spitzer Tonfall ließ Kim aufhorchen.

»Hast du die zwei beim Tuscheln erwischt?«, fragte Mittmann grinsend.

Seine Frage löste allgemeine Heiterkeit aus. Zwar waren die Spannungen zwischen Rosa und Seefeld, die in praktisch allen Lebensbereichen entgegengesetzter Ansicht waren, einer genervten gegenseitigen Akzeptanz gewichen, aber die Vorstellung, dass gerade diese beiden die Köpfe zusammensteckten und gemeinsame Pläne ausheckten, war einfach zu lächerlich.

»Nein, aber Rosa hat Herrn Seefelds Post geöffnet.«

Kim war entsetzt. Oder beeindruckt? So ganz genau wusste sie nicht, was sie davon halten sollte. Egal, darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Atemlos fragte sie: »Und? Wo ist er hin?«

»Ich glaube nicht, dass wir Hans Seefeld noch mal wiedersehen, meine Liebe«, sagte Rosa in dem Bewusstsein, dass alle am Tisch an ihren Lippen hingen. »Er ist zurück zur Truppe.«

Einen Moment war es absolut still.

»Aber was wird denn dann mit dem Haus?«, fragte Konrad leise.

»Vielleicht hat er sich genau deshalb abgesetzt«, fügte Rosa hinzu. »Weil er Angst vor seiner eigenen Courage bekommen hat und die Villa Zucker nun lieber doch nicht kaufen will. Oder kann sich sonst jemand erklären, warum er schon seit acht Wochen den Vertragsentwurf für den Hauskauf vorliegen hat und sich seitdem nichts tut?«

***

»Was glaubst du, lässt er uns einfach so im Stich?«, fragte Ellen, während sie eine bequeme Position in ihrem Bett suchte. Schwierig, da der größte Teil der Matratze von Mittmann belegt war. Er rückte an die Wand und zog Ellen an sich. Diese Rücksichtnahme war typisch für Mittmann, der aussah wie ein Surfer auf dem Weg zur nächsten Welle. Das hatte schon viele Delinquenten dazu gebracht, ihn zu unterschätzen. Tatsächlich war er ein verdammt guter Polizist.

»Nein«, entgegnete Mittmann spontan. »Er ist zwar schwierig im Umgang, weil er viel denkt und wenig redet und man deshalb oft nicht weiß, woran man mit ihm ist. Aber dass er heimlich verschwindet, um einem unbequemen Versprechen zu entkommen, das glaube ich niemals.«

Im Grunde sah Ellen die Sache genauso, trotzdem konnte sie Mittmanns Optimismus nicht teilen. Dazu stand einfach zu viel auf dem Spiel: Hans Seefeld war der einzige Hausbesetzer, der nach dem Immobilienbetrug noch über Geld verfügte. Und er hatte mit dem Insolvenzverwalter der Multi-Living GmbH, jenes Unternehmens, das die Eigentumswohnungen hätte bauen sollen, eine Einigung über den Kauf der Villa Zucker erzielt. Wenn die MultiLiving wieder handlungsfähig werden wollte, nachdem der ehemalige Geschäftsführer die Firma an den Rand des Ruins getrieben hatte, musste sie Vermögen verkaufen. Seefeld wollte kaufen. Warum also tat sich seit zwei Monaten nichts?

»Warum fragst du diesen Insolvenzverwalter nicht einfach?«, murmelte Mittmann.

»Aber das geht mich doch gar nichts an!«, erwiderte Ellen.

»Der Vertrag zwischen der MultiLiving und Seefeld geht dich juristisch gesehen nichts an, aber als Roberts Erbin bist du nun auch Opfer des Immobilienbetrugs, und so steht es dir durchaus zu, nach dem aktuellen Stand der Dinge zu fragen.«

Ellen öffnete den Mund für eine Erwiderung, wurde aber von Mittmanns Atem an ihrem Ohr abgelenkt. »Ich glaube, du brauchst ein bisschen Ablenkung, sonst grübelst du die ganze Nacht.«

Ellen kicherte. »Schöner Spruch, den verwende ich in meinem nächsten Roman.«

»Nur, wenn ich als Co-Autor genannt werde.«

 

Kapitel 2

Natürlich hätte es niemand zugegeben, schon gar nicht Kim selbst, aber alle waren neugierig auf die neue Lehrerin, deshalb füllte sich der Klassenraum nach der Pause recht schnell. Hatten zu Schuljahresbeginn noch alle die Köpfe darüber geschüttelt, dass mehrere Fächer, darunter Physik, jeweils an zwei aufeinanderfolgenden Tagen lagen, so war es Kim gerade in dieser Woche sehr recht. Vielleicht wusste Frau Davidoff mehr über Seefelds Abwesenheit. Sie würde sie auf jeden Fall nach der Stunde fragen. Immerhin sollte man erwarten, dass in der Schule bekannt war, ob Herr Seefeld bald wiederkam oder nicht.

»Guten Morgen, mein Name ist Davidoff, ich bin ab sofort eure Physiklehrerin.«

Kim wurde erst durch den Ellbogenstoß, den Samu ihr versetzte, bewusst, dass sie immer noch stand und die Frau, die den Raum betreten hatte, mit offenem Mund anstarrte. Kim ließ sich auf ihren Stuhl sinken und schluckte. Natürlich hatte sie die Davidoff schon mal gesehen, auf dem Schulhof oder im Flur, aber erst hier im Klassenzimmer fiel ihr auf, wie groß diese Frau war. Und breit. Aber nicht dick, sondern … Kim suchte nach dem richtigen Wort. Gestählt. Ja, das war es. Ihr Körper wirkte selbst in Straßenkleidung wie der gestählte Body einer Ringerin. Obwohl auch die Bezeichnung ›Straßenkleidung‹ irreführend war. Okay, die Jeans konnte man noch als normal bezeichnen, aber das hellgraue Shirt, das den flachen Bauch, die spitzen Brüste, die unglaublich breiten Schultern und die Hälfte der Oberarme bedeckte, saß wie eine zweite Haut und glänzte wie Gummi. Oder wie flüssiges Quecksilber. Aus dem kurzen Ärmel schaute am linken Arm ein Tattoo heraus, am rechten eine Narbe, die sich bis unter den Ellbogen zog.

»Der Kollege Seefeld hat mich bereits über den aktuellen Unterrichtsstand informiert, auch über eure Hausaufgabe, also legt eure Hefte offen auf den Tisch. Ich will jedes Ergebnis sehen.«

Kim schaute fassungslos zu Samu, der mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck die Schultern zuckte und sein Heft aufschlug. Ein Blick durch den Raum verriet ihr, dass er mit seiner Gelassenheit wieder mal allein war. Die anderen Jungs glotzten fasziniert auf das Muskelspiel, die Tattoos oder die perfekt geformten Brüste der Lehrerin. Am weitesten aufgerissen waren die Augen von BigT und Locke, Tariks ehemaligen Homies, die außerdem dümmlich grinsten. Die Mitschülerinnen blickten dagegen ungläubig oder entsetzt auf Davidoffs Reize.

»Ich sag ja, Kampflesbe«, raunte Tarik gerade so laut, dass Kim es hören konnte.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, sagte die Davidoff und starrte Tarik mit einem nur kurzen, aber so intensiven Blick an, dass Kim sich unwillkürlich zur Seite wegduckte. Die Augen der Lehrerin waren nicht hellblau wie Seefelds, sondern irgendwas zwischen Dunkelblau und Grün, was aber ihrer Feuerkraft keinen Abbruch tat. Fast glaubte Kim, dass dort, wo ihr Blick auftraf, ein roter Punkt wie von einer Laserwaffe auftauchen müsste. Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern.

Im Verlauf der Stunde entspannte Kim sich ein wenig. Davidoff, die ihren Namen auf der zweiten Silbe – Da-ví-doff – betonte, machte klare Ansagen und lächelte nicht, verhielt sich aber korrekt. Sie verspottete niemanden für eine falsche Antwort, brachte niemanden absichtlich in eine peinliche Situation und erklärte überraschend gut und geduldig. Aber sobald jemand mit seinem Nachbarn auch nur ein Wort wechselte, und sei es noch so leise, stoppte sie mitten im Satz und wartete so lange, bis wieder absolute Ruhe herrschte.

»Sie ist genau wie Seefeld«, sagte Kim, als der Gong das Ende der Stunde einläutete.

Tarik grunzte zustimmend.

»Überhaupt nicht«, widersprach Samu. »Sie hat viel mehr Oberweite!«

Kim starrte ihn entsetzt an.

Samu grinste. »Und sie duzt uns.«

»Stehst du etwa auf sie?«, fragte Kim.

Samus Grinsen wurde breiter. »Wenn ich in einem Computerspiel einen Waffenbruder wählen müsste, würde ich sie nehmen. Ansonsten: nein.«

Kim war sich nicht ganz sicher, ob sie ihm glauben sollte, aber momentan wollte sie das Thema auch nicht weiter verfolgen. Ihren Vorsatz, die Davidoff nach Seefeld zu fragen, hakte sie ab. Die Frau war ihr noch viel zu unheimlich, als dass sie sich freiwillig in ihre Nähe gewagt hätte.

»Nun sag schon, was dich bedrückt«, forderte Samu Tarik auf, während die anderen bereits aus dem Klassenraum stürmten. Nach der Schule wollte jeder schnell weg. Offenbar auch Tarik, denn er raffte stumm seinen Kram zusammen und griff nach seiner Jacke.

Kim, die noch in Gedanken bei der Frage war, ob alle Physiklehrer furchterregende Sonderlinge waren, schaute überrascht auf.

»Fehlt Seefeld dir so sehr?«, hakte Samu nach.

»Hältst du mich für bescheuert, wenn ich ja sage?«, murmelte Tarik.

»Ich hielte es für eine Lüge, wenn du nein sagst.«

»Verlasst bitte den Raum, ich muss abschließen!«, rief Frau Davidoff von der Tür her.

Sie packten ihre Taschen, schoben sich an der Lehrerin vorbei und schlenderten die Treppen hinunter. Erst als sie das Gebäude verlassen hatten, sprach Tarik weiter.

»Mein Vater ist krank. Er hat seinen Job verloren.«

Kim wusste wenig über Tariks Familie, nur dass seine Eltern in ihrer Heimat angesehene Akademiker gewesen waren, die sich seit ihrer Ankunft in Deutschland vor über zwanzig Jahren mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser hielten. Sie arbeiteten rund um die Uhr, um ihren sieben Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen. In einem der wenigen Momente, in denen Tarik mal einen Einblick in sein Seelenleben gegeben hatte, hatte er von zu viel Leistungsdruck und null Lebensfreude gesprochen. Die Atmosphäre bei ihm zu Hause musste ziemlich deprimierend sein.

»Seit wann weißt du das?«, fragte Samu.

»Der Arzt hat ihm gestern die Tauglichkeitsbescheinigung verweigert. Ohne den Wisch darf er nicht mehr Taxi fahren.«

»Und in der Zentrale …«, murmelte Kim.

Tarik lachte wieder sein böses, verächtliches Gangsta-Lachen, das sie so hasste. »Klar, die haben nur drauf gewartet, dass mein Vater sich um einen Schreibtischjob bewirbt. Mann, da wollen alle hin!«

Kim verbiss sich eine pampige Antwort. Tariks Verwandlung vom dealenden Vorstadtkriminellen zum ausgeglichenen Musterschüler war noch lange nicht gelungen.

»Kannst du Seefeld nicht anrufen?«, fragte Samu. »Du hast doch bestimmt seine Handynummer.«

Tarik war vor einigen Monaten nur deshalb dem Jugendknast entgangen, weil er sich zu Anti-Aggressionstraining, Täter-Opfer-Ausgleich und außerfamiliärer Betreuung durch Hans Seefeld bereit erklärt hatte. Wie Seefelds Verschwinden nun damit zusammenpasste, kapierte Kim nicht.

»Klar könnte ich«, sagte Tarik verächtlich. »Aber wenn er sich einfach verpisst, soll ich ihm dann hinterherlaufen?«

»Hat er dir auch nicht gesagt, wohin er geht oder wann er wiederkommt?«, fragte Kim. Sie wollte einfach nicht glauben, was Rosa ihr erzählt hatte.

»Ende nächster Woche werde er vorbeischauen, hat er gesagt, dazwischen könne ich ihn erreichen. Aber was soll er am Telefon machen? Mir ein Liedchen singen?«

»Immerhin könntest du ihm sagen, dass du seine Hilfe brauchst. Vielleicht fällt ihm ja was ein«, murmelte Samu.

»Zulu hatte recht«, murmelte Tarik, während er sich zum Schultor wandte. »Trau keinem, wirst ja doch verarscht.«

Dass Tarik den gewalttätigen Typen zitierte, dessentwegen er fast im Knast gelandet wäre, verschlug Kim die Sprache.

Samu ergriff Tariks Arm und drehte ihn zu sich herum. »Trau uns, wir verarschen dich nicht.« Er streckte Tarik die Hand hin.

»Und, was hab ich davon? Findest du einen Job für meinen Vater?« Tariks Tonfall war aggressiv und spöttisch.

»Das kann ich nicht versprechen.«

»Was soll dann das ganze Gelaber?« Tarik schlug Samus Hand weg und ging mit diesem aufgeblasenen Machogang davon, den Kim total lächerlich fand. Auf der Mitte des Schulhofes begegnete Tarik Mardi, der mit allen dreien zum gemeinsamen Lernen verabredet war. Mardi hob grüßend die Hand, aber Tarik gab ihm einen festen Stoß, der den Schwarzafrikaner fast zu Boden schickte. Nur mit Mühe konnte Mardi sich auf den Füßen halten. Er drehte sich um und starrte Tarik hinterher. Dann blickte er fragend zu Samu und Kim.

»Scheiße«, sagte Samu.

Die Tatsache, dass gerade der immer gelassene Samu einen Kraftausdruck gebrauchte, ängstigte Kim mehr als alles andere.

***

Wann war das Bahnfahren eigentlich so komfortabel geworden?, fragte sich Rosa, als sie in München aus dem Zug stieg. Das letzte Mal war sie noch in einem Intercity durch die Republik gereist, einem rappelnden Ding mit Toiletten, die die Hinterlassenschaften der Reisenden durch eine Klappe nach unten auf die Gleise beförderten. Rosa hatte sich nie für zimperlich gehalten, aber die Vorstellung von Hochgeschwindigkeitsfäkalien, die in die Kleingärten entlang der Bahngleise oder von Brücken auf darunterliegende Straßen und Gehwege verwirbelt wurden, hatte sie immer angewidert. Nun, das gehörte zum Glück der Vergangenheit an. Das Fahrgeräusch des Zugs war im Abteil kaum wahrnehmbar gewesen, ein freundlicher Mitarbeiter des Bordbistros brachte ihr einen Kaffee an den Sitzplatz, und der Zug fuhr mit nur fünf Minuten Verspätung in München ein. Unterwegs hatte sie von einer Mitreisenden haarsträubende Berichte über verstopfte Toiletten, defekte Klimaanlagen, Triebwerksschäden und stundenlange Verspätungen gehört, aber sie selbst konnte nicht klagen. Nur der Weg aus dem hintersten Wagen den Bahnsteig entlang zum Ausgang war so weit, dass sie schon überlegte, den Fahrer des Servicewagens, der dem Bordbistro neue Verpflegung gebracht hatte und nun auf dem Rückweg war, um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten. Zum Glück reiste sie mit leichtem Gepäck.

Ihr letzter Besuch in München war unendlich lang her. Ellen war noch nicht auf der Welt gewesen, siebenundvierzig Jahre waren also seitdem mindestens vergangen. Eine Demo war damals der Grund gewesen, wenn Rosa sich recht erinnerte, aber wofür oder wogegen sie demonstriert hatte, wollte ihr nicht mehr einfallen.

Auch in München war das Spätsommerwetter angenehm, und so beschloss sie, zu Fuß zum Gärtnerplatz zu gehen. In der Touristeninformation ließ sie sich den Weg auf einem Stadtplan zeigen, dann marschierte sie los und schlenderte in einem großen Bogen durch die Stadt. Ein bisschen enttäuscht war sie schon, dass auch hier dieselben Modeketten zu finden waren wie in Düsseldorf oder überall sonst auf der Welt. Immerhin gab es hin und wieder Schaufenster mit Trachtenkleidung. Auch auf den Straßen sah Rosa überraschend viele Menschen in Lederhosen oder Dirndl, darunter viele Asiaten. Erst als sie die Plakate wirklich bewusst wahrnahm und auf das Datum schaute, konnte sie sich die Verkleidung erklären: Es war Wiesn-Zeit. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie Stettin auch antraf und bei ihm wohnen konnte, denn ein preisgünstiges Zimmer war während des Oktoberfestes sicher nicht zu bekommen.

In einem kleinen, gemütlichen Café machte Rosa Pause, genoss einen hervorragenden Cappuccino und vertilgte ein riesiges Stück Kuchen. Als sie am Gärtnerplatz ankam, war es fast vier Uhr. In einem der Häuser, die den kreisrunden Platz umschlossen, wohnte Stettin. Rosa kannte die Hausnummer auswendig, zögerte aber plötzlich. Was, wenn er nicht da war? Gut, das war unproblematisch. Viel unerfreulicher wäre es, wenn er da wäre und sich nicht über ihr Kommen freuen würde. Immerhin hatten sie keine richtige Beziehung, oder? Waren sie ein Paar mit Fernbeziehung oder doch nur Gelegenheitslover? Wie würde Stettin ihr Auftauchen empfinden? Würde er in Rosa eine Klette sehen, die ihm durch ihren Besuch lästig fiel, oder eine starke Frau, die auch mal für eine Überraschung gut war?

---ENDE DER LESEPROBE---