Villa Zucker - Zusammen ist kein Zuckerschlecken - Pippa Jansen - E-Book
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Villa Zucker - Zusammen ist kein Zuckerschlecken E-Book

Pippa Jansen

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Beschreibung

Bitte anschnallen, Turbulenzen voraus! Chaos, Liebe und Humor in der Familienpackung.

Rosa und Konrad müssen illegales Geld waschen. Kim muss Mardi sowohl vor seiner ehemaligen Gang als auch vor der Abschiebung schützen. Ausgerechnet Hans Seefeld wird ihr wichtigster Verbündeter, mit dem sie auch die Freiluftdusche im Garten baut, weil Wasser und Strom abgestellt werden. Als dann aber Ellen versucht, mit dem Besitzer der Villa eine Duldung zu vereinbaren, schießt sie ein Eigentor. Mitten in der Nacht steht die Polizei vor der Tür, die Villa wird geräumt. Oder doch nicht? Ganz nebenbei findet Rosa eine neue Liebe, Ellen ihr Glück mit Mittmann, Kim neue Freunde und alle gemeinsam eine Bande von Kunsträubern. Wie gut, dass bei dem Chaos der Humor nie auf der Strecke bleibt!

Überarbeitete Neuauflage. Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Zusammen ist (k)ein Zuckerschlecken« von Jutta Profijt bei dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.

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Villa Zucker – Zusammen ist kein Zuckerschlecken

Pippa Jansen

Mehr Chaos, mehr Liebe und noch mehr Humor

 

Inhaltsverzeichnis

Villa Zucker – Zusammen ist kein Zuckerschlecken 

Über das Buch 

Kapitel 1 

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Kapitel 11 

Kapitel 12 

Kapitel 13 

Kapitel 14 

Kapitel 15 

Kapitel 16 

Kapitel 17 

Kapitel 18 

Kapitel 19 

Kapitel 20 

Kapitel 21 

Kapitel 22 

Kapitel 23 

Kapitel 24 

Kapitel 25 

Kapitel 26 

Nachwort 

Leseprobe Alle für einen 

Weitere Bücher der Autorin 

Über die Autorin 

Impressum 

 

 

Über das Buch

BITTE ANSCHNALLEN, TURBULENZEN VORAUS! Chaos, Liebe und Humor in der Familienpackung.

 

Rosa und Konrad müssen illegales Geld waschen. Kim muss Mardi sowohl vor seiner ehemaligen Gang als auch vor der Abschiebung schützen. Ausgerechnet Hans Seefeld wird ihr wichtigster Verbündeter, mit dem sie auch die Freiluftdusche im Garten baut, weil Wasser und Strom abgestellt werden. Als dann aber Ellen versucht, mit dem Besitzer der Villa eine Duldung zu vereinbaren, schießt sie ein Eigentor. Mitten in der Nacht steht die Polizei vor der Tür, die Villa wird geräumt. Oder doch nicht? Ganz nebenbei findet Rosa eine neue Liebe, Ellen ihr Glück mit Mittmann, Kim neue Freunde und alle gemeinsam eine Bande von Kunsträubern. Wie gut, dass bei dem Chaos der Humor nie auf der Strecke bleibt!

 

Kapitel  1

Es war fast Mittag, als Rosa die Augen aufschlug. Sie rieb sich das Gesicht, blieb aber liegen und machte eine erste Bestandsaufnahme. Der erwartete Kopfschmerz hielt sich in Grenzen, lauerte aber vermutlich neben ihrem Bett darauf, dass sie aufstand. Die Joints und der Wein vom Vorabend würden sich bemerkbar machen, denn seit sie die siebzig überschritten hatte, vertrug sie die gelegentlichen Exzesse nicht mehr so gut.

Gestern allerdings hatte es einen vortrefflichen Anlass für eine Party gegeben. Und – noch wichtiger - die richtige Gesellschaft.  Ellen, Kim, Konrad und sogar Hans Seefeld hatten als Bewohner der Villa Zucker gemeinsam gefeiert, flankiert von Leo, dem Langweiler, und Mittmann, dem lässigen Kommissar, der neben der Aufklärung eines Mordfalls ganz im Vorbeigehen Ellens Herz erobert hatte.

Die feucht-fröhliche Versammlung hatte sich weit nach Mitternacht einigermaßen geordnet aufgelöst. Nur Leo hatte es in seinem Vollrausch nicht mehr bis zum Taxi geschafft, sondern war auf dem Küchenboden eingeschlafen. Hoffentlich hatte sich inzwischen jemand um ihn gekümmert. Rosa hatte wirklich keine Lust, den Tag mit Erster Hilfe zu beginnen. Sicherheitshalber würde sie noch eine halbe Stunde liegen bleiben.

Mit dem beruhigenden Gefühl, dass ihr Leben dank des Koffers voller Geld unter ihrem Bett bald deutlich einfacher würde, döste sie wieder ein.

Sie hätte sich kaum mehr irren können.

***

Ellen seufzte erleichtert, als das Taxi mit Leo an Bord endlich abfuhr. Warum nur hatte der Mann, der in allem Mittelmaß war und Mittelmaß hielt, am Vorabend so dermaßen hemmungslos viel getrunken? Vielleicht, weil Konrad, der charmante Mitbewohner der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft, offensichtlich ein Geheimnis mit Rosa teilte, von dem Leo nichts wissen durfte? Bei dem Gedanken an den Koffer voller Geld, von dessen Existenz Ellen nur zufällig erfahren hatte, unterdrückte sie ein erneutes Seufzen. Nein, sie war nach der aufregenden Nacht noch nicht in der Lage, über diese Dinge nachzudenken.

Das Taxi war längst außer Sicht, aber Ellen beschloss, draußen zu bleiben und die Sonne zu genießen. Sie hockte sich auf die oberste Stufe der Eingangstreppe und schloss die Augen.

»Bist du den Fußbodenschläfer losgeworden?«, rief Konrad Schmitt.

Ellen blinzelte dem ehemaligen Unternehmer entgegen, der den Kiesweg heraufkam. Seine Kleidung wirkte heute etwas nachlässig: die Bügelfalte der Hose knittrig, der Kragen unordentlich, die Schnürsenkel ungleichmäßig gebunden. Konrad, der sich meisterlich um die Verpflegung der Mitbewohner kümmerte, kam offenbar auch jetzt schon vom Bäcker. Dem Unfang der Tüte nach zu urteilen, hatte er entweder für die ganze Woche oder für einen Fußballverein eingekauft.

Ellen lächelte. »Der arme Leo ist in den letzten zwölf Stunden um ebensoviele Jahre gealtert. Und das werde ich auch, wenn mein übersäuerter Magen nicht bald etwas zu Futtern bekommt.«

»Das trifft sich gut«, sagte Konrad. »Ich konnte mich nicht entscheiden und habe deshalb das gesamte Sortiment mitgebracht: Croissants, Brötchen, Kuchen und Laugenbrezeln.«

»Lass uns hier frühstücken, die Küche ist immer noch ein Schlachtfeld.«

»Ausgezeichnete Idee.«

Gemeinsam trugen sie Geschirr, Butter, Marmelade, Käse, Kaffee und Milch nach draußen.

Ellens Blick wanderte über den verwilderten Park, der die alte Villa Zucker umgab. Zwar war niemand freiwillig hier gelandet, aber sie hatten trotzdem viel Glück gehabt, denn die Villa am Rand von Kaiserswerth war ein Schmuckstück. In die Jahre gekommen und lange Zeit unbewohnt, aber in erstklassiger Lage. Gleich jenseits der Mauer, einer Wiese und des Deichs floss der Rhein träge in Richtung Meer.

In Momenten wie diesem fand Ellen die Situation gar nicht so schlimm. Sie durfte nur nicht darüber nachdenken, dass sie, die Heftchenromanautorin Mitte vierzig, und ihre Tochter Kim, rechtlich gesehen, obdachlos waren und an jedem Tag, den sie hier verbrachten, gegen das Gesetz verstießen.

***

Die Küche sah so aus, wie Kim sich fühlte: chaotisch, dreckig, durcheinander. Lag das an dem Wein, den Rosa ihr eingeflößt hatte? Er war lecker gewesen, anfangs ein bisschen herb, aber nach dem dritten Schluck hatte sie sich daran gewöhnt. So sehr, dass sie in unbeobachteten Momenten auch aus dem Glas ihrer Mutter getrunken hatte. Jetzt hämmerte ein grässlicher Schmerz hinter ihrer Stirn, und im Magen brodelte eine ätzende Säure. Kim war so übel wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Normalerweise wäre sie nicht auf die Idee gekommen, heute überhaupt aufzustehen, aber Mardi wartete sicher schon auf sein Frühstück.

Kim schlich in Richtung Haustür, von wo sie Stimmen hörte, und sah Ellen und Konrad einträchtig nebeneinander in der Sonne sitzen. Sonne, igitt! Sie hätte ihrem Kopf die Helligkeit dieses sommerlichen Junitages gern erspart, aber sowohl der Kaffee als auch die Brötchen befanden sich draußen auf den Stufen. Sie holte einen Kaffeebecher aus dem Schrank, atmete tief durch, wappnete sich gegen Helligkeit und menschlichen Kontakt und trat hinaus.

»Guten Morgen, meine Liebe.« Konrads Stimme klang heiser, aber er sah einigermaßen frisch aus. »Hast du gut geschlafen?«

Im Koma gelegen traf es wohl eher, dachte Kim, nickte aber leicht. Schlechte Idee, in ihrem Kopf drehte sich alles.

Unter Ellens Augen lagen dunkle Schatten, und Sorge sprach aus ihrem Blick. »Wie geht es dir?«

Kim schluckte zweimal, um den Mageninhalt von einem weiteren Aufstieg durch die Speiseröhre abzuhalten, und brachte ein »Ganz okay« heraus.

»Hast du den Abend gut überstanden? War ja ziemlich aufregend mit Polizei, Verhaftung …«

Ellen hatte sich schon halb erhoben, aber Kim drückte sie an der Schulter wieder nach unten.

»Alles prima.« Jammern kam nicht infrage. Ihrer Mutter zu gestehen, dass sie einen Kater hatte, würde nur dazu führen, dass sie nie wieder einen Tropfen Alkohol bekam. Jedenfalls nicht in den nächsten hundert Jahren. Außerdem würde Ellen sie den ganzen Tag umsorgen, sprich: mit Argusaugen beobachten. Auch schlecht. Also: lächeln!

Ellens kritischer Blick wurde weicher, sie setzte sich wieder hin.

»Gut.«

»Sind Brötchen da?«, presste Kim hervor.

»Setz dich zu uns«, flötete Konrad. Seine über den Kopf gekämmten Haarsträhnen lagen heute nicht ganz in der Spur, aber falls er einen Kater hatte, hielt er sich tapfer.

»Zu viel Sonne«, erklärte Kim. »Ich nehme mir was mit rein.«

Sie füllte den Kaffeebecher, nahm ein Croissant, zwei Laugenbrezeln und ein Brötchen aus der Tüte, schlug die Beute in ihr T-Shirt ein, murmelte »bis später« und floh zurück ins Dämmerlicht.

 

Bevor Kim die Tür zum Keller öffnete, lauschte sie noch einmal aufmerksam. Aus dem ersten Stock, wo Rosa sicher noch schlief, war kein Laut zu hören. Ellen und Konrad plauderten weiterhin angeregt, Herr Seefeld war in der Schule, die Kim heute schwänzte. Gut. Sie öffnete die Tür, schloss sie leise hinter sich und pfiff dreimal kurz hintereinander. Dann schlich sie die Treppe hinab und wandte sich nach links. Am Ende des Gangs quetschte sie sich an dem Regal vorbei, das sie mit Mardis Hilfe in die Türöffnung gerückt hatte, um den kleinen Abstellraum dahinter zu verbergen.

Nur sie selbst und Hans Seefeld wussten von der Anwesenheit des Jungen, der schon lange vor allen anderen im Keller der Villa gehaust hatte, und das sollte vorerst auch so bleiben. Vor allem Mardi bestand darauf.

»Hey, Langschläfer, Frühstück!«, sagte Kim und setzte vorsichtig die Kaffeetasse auf den Boden.

Mardi lag mit dem Rücken zu ihr auf seinem Schlafsack.

»Verschwinde«, murmelte er undeutlich.

Kim erstarrte mitten in der Bewegung. »Habe ich dir was getan?«

Mardi schwieg.

Kim wurde sauer. Sie hatte sich aus dem Bett gequält, um dem heimlichen Kellerbewohner Frühstück zu bringen, und wurde angeranzt? Sie zog den Saum ihres T-Shirts ruckartig straff. Croissant, Brötchen und Laugenbrezeln regneten auf die Gestalt herab.

»Bitte sehr, gern geschehen.«

Langsam und unter Stöhnen drehte Mardi sich zu ihr um. Das linke Auge und die Oberlippe waren dick geschwollen, die Haut über der Augenbraue war aufgeplatzt. Unter der Nase sah Kim getrocknetes Blut. In den krausen Haaren klebte Dreck, und das Weiß seiner Augen, das sonst so hell aus dem tiefschwarzen Gesicht strahlte, war blutunterlaufen.

Kim riss die Augen auf. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Verschwinde, Kim. Sobald ich gehen kann, tu ich das auch.«

»Warum? Was ist los?«

»Ich will dich und deine Leute nicht in Gefahr bringen.« Mardi drehte sich wieder zur Wand und beantwortete keine weiteren Fragen.

***

Von der Küchentür aus betrachtete Rosa das geradezu idyllische Bild, das sich ihr bot. Konrad hatte sich eine geblümte Schürze umgebunden, trug knallgelbe Gummihandschuhe und spülte, Ellen trocknete ab. Der Boden war sauber – vielleicht hatte Konrad Leo einfach zur Tür hinausgefegt. Rosa unterdrückte ein Kichern. Die leeren Weinflaschen standen ordentlich aufgereiht neben dem überquellenden Mülleimer. Gab es eigentlich eine Müllentsorgung für das Haus? Hatte Konrad, der irgendwie für Strom und Wasser gesorgt hatte, die Müllabfuhr gleich mitgeregelt? Rosa verfolgte den Gedanken nicht weiter. Es gab mindestens drei Leute in dieser zufälligen Wohngemeinschaft, die solche praktischen Fragen längst bedacht hatten und sich um das Nötige kümmerten.

»… das Geld mindestens durch drei teilen, denn du gehörst ja nun auch zu den geprellten Eigentümern«, sagte Konrad gerade.

»Konrad, du redest Unfug«, entgegnete Rosa freundlich.

Konrad ließ vor Schreck den Teller zurück ins Spülbecken fallen. Ein Schwall Wasser tränkte seine Schürze.

»Wolltest du in der Tür stehen und abwarten, bis wir mit der Arbeit fertig sind?«, fragte Ellen spitz.

Hausarbeit war ein Dauerthema in dieser Spießer-WG, meist von Ellen auf den Tisch gebracht. Oder von Hans Seefeld. In Rosas Augen jedoch vollkommen überflüssig. Irgendjemand fand sich immer, der für Ordnung sorgte.

»Ihr hättet ja nicht mitten in der Nacht mit dem Hausputz beginnen müssen.«

»Da du nun schon da bist, kannst du gern helfen.« Ellen streckte ihr ein bereits feuchtes Küchentuch entgegen.

»Danke, aber ich will euch nicht stören. Ihr seid ein eingespültes Team«, gab Rosa zurück. Mit Genugtuung bemerkte sie die Andeutung eines Lächelns um die Lippen ihrer Tochter. Hatte sie den Humor doch noch nicht ganz verloren. Oder mit Mittmanns Hilfe wiedergefunden.

»Guten Morgen, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?«, fragte Konrad fröhlich. Er hatte die lobenswerte Angewohnheit, notwendige Tätigkeiten zu erledigen, statt darüber zu reden.

»Gibt es Croissants? Kaffee?«

Konrad zeigte auf die Tüte und griff zum nächsten Teller.

Rosa nahm sich ein Butterhörnchen und beschloss, den Kaffee erst aufzusetzen, wenn die beiden Hausfrauen mit dem Spülen fertig waren. Das Geklapper des Geschirrs war ihr zu ungemütlich.

»Was meintest du mit ›Unfug‹?«, fragte Ellen, bevor Rosa die Küche verlassen konnte.

»Du weißt genau, was ich damit meine«, entgegnete Rosa. »Dass das Geld, von dem Konrad gerade sprach, nicht dir gehört.«

»Lass mich mal rekapitulieren«, begann Ellen, während sie einen weiteren Teller vom Abtropfgestell nahm. »Der Geschäftsführer der MultiLiving GmbH hat einige Investoren um ihr Geld betrogen, weil er gefälschte Verträge aufgesetzt und die Zahlungen kassiert hat, ohne jedoch die versprochenen Eigentumswohnungen zu bauen. Deshalb hat eine kleine Gruppe geprellter Eigentümer, nämlich Rosa Liedke, Hans Seefeld und Konrad Schmitt, die auf dem vorgesehenen Baugrundstück stehende Villa widerrechtlich besetzt …«

»… und dir und deiner Tochter Asyl gewährt«, ergänzte Rosa.

Ellen überging den Einwurf mit einem ungeduldigen Nicken. »Nun hat Konrad – wie, will ich gar nicht wissen – einen großen Teil der geklauten Summe heimlich und illegal zurückgeholt und mit dir geteilt. Das bedeutet, dass jetzt ihr beide die restlichen Betrugsopfer bestehlt, wenn ihr ihnen ihr Geld nicht zurückgebt.«

Rosa überlegte kurz, ob sie auf diese Tirade überhaupt eingehen oder gleich die Küche verlassen sollte, und entschied sich für den Mittelweg.

»Das ist mir so kurz nach dem Aufstehen eindeutig zu negativ.«

Als Zeichen dafür, dass sie zum Thema nichts weiter beizutragen gedachte, stopfte sie sich ein großes Stück Gebäck in den Mund. Es war himmlisch buttrig zart und tat Kopf und Magen gut.

»Wir sollten uns in Ruhe überlegen, wie wir in der Angelegenheit weiter verfahren«, schaltete sich Konrad nun ein. »Aber da Ellen ja die rechtmäßige Erbin von Roberts Anteil ist …«

»Sie hat nichts für die Sicherstellung des Geldes getan«, nuschelte Rosa mit vollem Mund. »Ebenso wenig wie Hans Seefeld oder sonst jemand. Wer sich untätig zurücklehnen und auf die Hilfe der deutschen Jurisprudenz warten möchte, soll das gern tun.«

»Ich will das gestohlene Geld von euch nicht haben«, sagte Ellen.

»Gut«, entgegnete Rosa und hoffte, dass das Thema damit fürs Erste beendet war.

»Ich möchte, dass ihr das Geld der Polizei übergebt.«

Rosa lachte.

Auf Ellens Stirn erschien eine Falte. »Alle, die auf eine juristische Regelung hoffen, werden die Dummen sein, wenn ihr das veruntreute Geld behaltet. Das ist genauso illegal wie der Betrug, dessen Opfer ihr ursprünglich geworden seid.«

Rosa zuckte die Schultern. »Wer sich selbst hilft, dem wird geholfen.«

»Wir leben in einem Rechtsstaat …«

Mit einer knappen Geste unterbrach Rosa ihre Tochter. »Konrad und ich werden darüber beraten, was mit dem Geld geschieht. Und dir wäre ich sehr verbunden, wenn du das Thema derweil diskret behandeln würdest. Es ist niemandem geholfen, wenn die Staatsmacht kommt und uns das wieder wegnimmt, was wir durch einen Diebstahl, vor dem sie uns nicht hat schützen können, verloren haben. Ist das Geld erst einmal im Griff der Behörden, werden wir es niemals wiedersehen.«

 

Rosa setzte sich mit dem Rest des Croissants auf die Stufen vor der Tür und wartete, dass Ellen die Küche verließ und zu ihrem Zimmer hinaufstieg.

Wenig später kam Konrad mit zwei Tassen Kaffee und einem Stück Kuchen zu ihr. »Wenn wir das Geld durch vier teilen …«, begann er.

Rosa tat ihren Protest durch ein Schnauben kund. Wenn man versuchte, es allen recht zu machen, war am Schluss niemand zufrieden. Warum kapierten die meisten Menschen das nicht?

»Lass mich ausreden, bitte. Also, wenn wir es durch vier teilen, wird Seefeld uns anzeigen. Der Mann ist so korrekt, dass selbst der Bundesstaatsanwalt neben ihm wie ein Taschendieb aussieht.«

Rosa nickte grimmig. »Und meine spießige Tochter will ihren Anteil offenkundig auch nicht haben. Und selbst wenn sie ihn nähme, würde ihr schlechtes Gewissen sie so lange quälen, bis sie ihrem geliebten Kommissar die Sache beichtet.«

»Es wäre also das Beste, wenn wir das Geld behalten und das Haus kaufen«, sagte Konrad. »Dann können wir Seefeld und Ellen Wohnrecht einräumen, damit wäre doch auch allen gedient.«

Rosa war sich absolut nicht sicher, ob sie dauerhaft mit Seefeld und Ellen unter einem Dach leben wollte, aber die Vorstellung, die Besitzerin dieser wunderschönen Villa zu werden, gefiel ihr. Und über Wohnrechte konnte man dann immer noch verhandeln. »Gute Idee«, stimmte sie Konrad zu.

»Allerdings gibt es da noch ein Problem«, flüsterte Konrad. »Wenn wir so viel Geld für den Kauf der Villa auf den Tisch legen, will das Finanzamt wissen, woher es stammt. Immerhin sind wir nach unserer Anzeige wegen Immobilienbetrugs aktenkundig pleite. Wir müssen das Geld also erst legalisieren.«

»Was soll ich mir darunter vorstellen?«, flüsterte Rosa zurück. Sie probierte den Kaffee: stark, mit viel Milch und einem Hauch Zucker. Genau richtig. Konrad kannte die Vorlieben und Abneigungen eines jeden Mitbewohners. Er war ein echter Glücksfall in dieser WG wider Willen.

»Wir müssen es waschen.«

Geldwäsche war ein Begriff, den Rosa bisher mit der Mafia in Verbindung gebracht hatte. Oder mit südamerikanischen Drogenkartellen. Aber wie ging man dabei vor? In den entsprechenden Zeitungsartikeln wurde nie eine ›Waschanleitung‹ beschrieben. Wie sollte sie also ihren Anteil in Höhe von sechshunderttausend Euro legalisieren? »Können wir das Geld nicht einfach als Lottogewinn deklarieren?«, fragte sie.

Konrad schüttelte den Kopf. »Geht nicht, weil das Finanzamt Zugriff auf die Daten der Lotteriebetreiber hat.«

»Dann scheidet wohl auch eine Erbschaft aus …«

»Leider.«

Es entstand eine kleine Pause, in der Konrad Rosa aufmerksam musterte. Dann senkte er den Kopf und schaute auf seine Hände, die er um die Knie gelegt hatte.

»Das organisierte Verbrechen wäscht sein Geld oft durch Scheinfirmen wie Restaurants oder Spielhallen. In manchen dieser Etablissements sieht man praktisch niemals einen Kunden, aber die Bücher lesen sich, als ob der Laden jeden Abend rappelvoll wäre. Die Einnahmen, die aus diesen Geschäften erzielt werden, sind sauber.«

»Ich werde sicherlich kein Restaurant eröffnen«, erklärte Rosa. »Und schon gar keine Spielhalle.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Konrad. »Am besten wäre ein Unternehmen, bei dem so gut wie keine Kosten entstehen und die Geldströme nicht anhand von Wareneinkäufen oder Kassenbelegen zurückverfolgbar sind. Also eine Dienstleistung, bei der idealerweise auch die Kunden anonym sind.«

Rosa überlegte einen Moment, dann lachte sie laut auf. »Du meinst so etwas wie Wahrsagen auf dem Jahrmarkt?«

Konrad lächelte. »Im Prinzip ja.«

Sein Lächeln sah verkniffen aus, Rosa seufzte. »Aber?«

»Das Problem ist der geringe Preis der Dienstleistung. Wenn wir jeweils fünfzig Euro pro Kunde kalkulieren, müssen wir vierundzwanzigtausend Kunden die Zukunft vorhersagen, bis wir eins Komma zwei Millionen gewaschen haben. Selbst wenn man annähme, dass wir dreihunderfünfundsechzig Tage im Jahr jeweils zehn Kunden bedienen, würde das sechseinhalb Jahre dauern.«

Die Schnelligkeit, mit der Konrad die Zahlen ausspuckte, zeigte Rosa, dass er das Ganze schon längst durchgerechnet hatte. Sicherlich hatte er auch schon eine bessere Lösung parat. Sie zuckte unwillig die Schultern.

»Spann mich nicht auf die Folter!«

Konrad vergewisserte sich mit einem schnellen Rundumblick, dass sie ungestört waren.

»Nun, es gibt im Grunde nur zwei Branchen, in denen sehr viel Geld in überraschend kurzer Zeit verdient wird, mit Kunden, die mehr Wert auf Anonymität legen als auf eine Quittung, die sie von der Steuer absetzen können.«

Rosa wartete ungeduldig. So zaghaft war Konrad doch sonst nicht.

»Die eine Branche ist der Drogenhandel. Natürlich illegal, also für unseren Zweck ungeeignet. Die andere …«

Eine leichte Röte überzog Konrads Wangen, und er senkte den Blick. Da kam ihr die Erleuchtung.

»Ich biete Liebesdienste an!«

Konrad hob abwehrend beide Hände. »Natürlich nicht wirklich, Rosa. Nur zum Schein. Und zwar auf gehobenem Niveau. Nicht für fünfzig Euro, sondern für fünfhundert. Pro Stunde.«

Rosa spürte, wie die Begeisterung sie mitriss. »Das ist eine geniale Idee, Konrad! Ich weiß auch schon genau, was ich anbieten kann: Liebe nach dem Kamasutra, Verbesserung der Libido durch besondere Yoga-Asanas …«

Konrad wedelte hektisch mit beiden Händen. »Es ist doch nur zum Schein, Rosa. Zum Schein! Du sollst dich doch nicht wirklich …«

Rosa grinste. Konrad wurde schon nervös, wenn sie diese Wörter nur aussprach. Der Ärmste war ganz schön verklemmt.

»Natürlich zum Schein, aber glaubwürdig muss das Angebot schon sein. Wenn das Finanzamt nachfragt, werde ich erklären müssen, was ich zu bieten habe, das den Männern fünfhundert Euro die Stunde wert ist.«

»Sicher.« Konrad wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Du hast ja recht. Ich bin sehr froh, dass du mir den Vorschlag nicht übel nimmst …«

»Übel?« Rosa lachte fröhlich. »Ich bin begeistert. Ich werde gleich eine Liste schreiben mit Dingen, die ich tun muss, um das Angebot bekannt zu machen.«

»Aber …«

»Irgendeine Form von Werbung werde ich dem Finanzamt wohl vorlegen müssen, um glaubhaft zu machen, dass ich dieses Geschäft tatsächlich betreibe.«

Rosa ließ ihre Kaffeetasse stehen, schnappte sich den Kuchen und stieg beschwingt in ihr Zimmer im ersten Stock.

***

Kim schleppte sich in ihre Bude unter dem Dach. Die Villa war mal ein Hotel gewesen, das Mitte des vergangenen Jahrhunderts seinen Gästen einen damals unglaublichen Komfort geboten hatte: Jedes Zimmer verfügte über ein eigenes Bad. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, der sogenannte Salon mit Wintergarten und das ehemalige Büro, das jetzt als Abstellraum diente. Im ersten Stock wohnten Rosa und Hans Seefeld, im zweiten Geschoss Ellen und Konrad und unter dem Dach nur Kim. Eigentlich hätte sie glücklich sein müssen: An einem Dienstag Anfang Juni mit schönstem Sommerwetter offiziell die Schule schwänzen zu dürfen war ein einmaliger Luxus. Ellen war eine strenge Mutter, deren Aufmerksamkeit kaum etwas entging. War Kim unpünktlich, gab es eine Predigt, verstieß sie gegen eine Vereinbarung, drohte Hausarrest. Seit Kim auch noch mit ihrem Physiklehrer unter einem Dach wohnte, hatte sich ihr Spielraum zusätzlich verringert. Trotzdem: Dies war ein geschenkter Tag, den sie eigentlich hätte genießen wollen. Aber sie war alles andere als froh.

Kim zog sich bis auf Unterhose und T-Shirt aus, kroch wieder unter die Bettdecke und schloss die Augen. In ihrem Kopf wummerte und dröhnte es, der Magen fühlte sich an wie ein Sack voller Steine, und der Gedanke an Seefeld verschlechterte ihren Zustand gewaltig. Hans Seefeld hatte den – in jedem Wortsinn schwarzen – Kellerbewohner entdeckt und überlegte nun, ob er ihn anzeigen oder ihm helfen sollte.

Aber was, wenn er Mardi verriet?

Und was war überhaupt mit Mardi passiert? Gestern Nacht, als Kim in den Keller gegangen war, um Mardi von den dramatischen Ereignissen in der Villa zu berichten, hatte er ganz normal ausgesehen. Wo war er in der Nacht noch gewesen? Und wer hatte ihn so übel zugerichtet? Kims Magen kommentierte diese Gedanken mit einer abrupten Kontraktion. Sie drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. Alle diese Überlegungen gingen weit über ihre aktuelle Leistungsfähigkeit hinaus. Sie nahm sich noch vor, spätestens am nächsten Tag einen Rettungsplan für Mardi zu entwerfen, dann schlief sie ein.

***

»Habt ihr ein verwertbares Geständnis?«, fragte Ellen, während sie den Rheindeich entlangspazierten.

Kommissar Patrick Mittmann, der seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte, nickte.

»Volles Geständnis, alle Details stimmen, der Fall ist für die Kripo abgeschlossen.«

»Dann hast du jetzt ein bisschen mehr Zeit?«, fragte Ellen.

Sie hatte ihren letzten Roman abgegeben und noch keinen neuen Auftrag angenommen. Die vergangenen vier Wochen mit dem Rauswurf, dem erzwungenen Umzug in eine illegal besetzte Villa und der gestrige Abend hatten sie erschöpft, sie brauchte Erholung. Und die funktionierte besonders gut in Mittmanns Gegenwart. Er war zu einem Zeitpunkt in Ellens Leben getreten, als sie auf alles Mögliche gefasst war, nur nicht auf die Liebe. Vielleicht sollte sie darüber mal einen Heftchenroman schreiben. Sie lächelte.

»Leider macht das Verbrechen keine Pause. Ich habe schon den nächsten Fall auf dem Tisch.«

Ellen unterdrückte ein Seufzen.

»Aber es ist keine Mordermittlung, wird also voraussichtlich keine Wochenendarbeit erfordern«, fügte Mittmann hinzu. Er beugte sich zu ihr herüber und küsste sie aufs Ohr. »Wir könnten überlegen, ob wir am Wochenende verschwinden.«

Ellen hielt inne. Sie war eine alleinerziehende Mutter, die nicht einfach so … Aber warum eigentlich nicht? Seit sie in dieser seltsamen WG wohnte, war sie faktisch nicht mehr alleinerziehend. Kims Oma wohnte mit im Haus, Kims Lehrer ebenfalls, und Konrad würde darauf achten, dass ihre Kleine nicht verhungerte. Mit einem Mal verspürte Ellen ein Glücksgefühl, das sie schon völlig verloren geglaubt hatte.

»Ja, lass uns wegfahren!«, jubelte sie. »Wohin? Ans Meer?«

Mittmann grinste sie an. »Das ist mir völlig egal. Hauptsache, das Bett ist weich und quietscht nicht.«

Ellen knuffte ihn gegen den Arm und spürte, dass sie rot wurde. Ein neun Jahre jüngerer Liebhaber, der blendend aussah und sich trotz seiner korrekten Arbeitsauffassung eine lässige Haltung bewahrt hatte, war ein echter Jungbrunnen. In diesem Heftchenroman, der gegen ihren Willen in ihrem Kopf bereits Gestalt annahm, müsste der Kommissar älter sein als die Frau, das gehörte zu den Grundregeln des Genres. Dann wies sie sich selbst zurecht. Sie brauchte eine Pause, wollte in dieser und der nächsten Woche einfach mal die Seele baumeln lassen. Aber vielleicht könnte sie ein Exposé einreichen und die Fertigstellung des Romans zum Ende des Monats anbieten. Mit dreieinhalb Wochen hätte sie alle Zeit der Welt, um die Romanze zwischen dem Kommissar und der Zeugin zu Papier zu bringen. Sie würde sich gleich nachdem Mittmann wieder ins Büro gefahren war, mit ein paar Ideen an den Computer setzen.

 

Aus diesem Vorsatz wurde nichts. Als Ellen nach Hause kam – erstaunlich, sie betrachtete die Villa bereits als ihr Zuhause –, traf sie Konrad in der Küche an.

»Hast du Lust, mir zu helfen?«, fragte er.

Ellens Euphorie verflog, aber sie brachte es nicht übers Herz, Konrad zu enttäuschen. Er gab sich so viel Mühe, das besetzte Haus zu einem Heim zu machen. Er kaufte ein, kochte, spülte, putzte. Er lud jeden einzelnen Mitbewohner zu den Mahlzeiten ein, fragte nach Lieblingsgerichten und Abneigungen und versuchte, es allen recht zu machen. Seltsam, dass ein ehemaliger Unternehmer, der in der ganzen Welt gelebt und gearbeitet hatte, so sehr um das Wohl seiner Mitmenschen besorgt war. Aber vielleicht hatte er die Ellenbogenmentalität im internationalen Business so satt, dass er jetzt zum Kontrastprogramm übergegangen war. Und Ellen fühlte sich verpflichtet, ihn in seinen Bemühungen zu unterstützen. Warum hatte dieses Pflichtgefühl, das eben noch praktisch ausgeschaltet war, nicht noch ein bisschen länger Pause machen können?

»Natürlich. Was machst du denn?« Ellen griff nach der Schürze, die Konrad ihr reichte. Er wusste nicht nur, dass sie immer eine Schürze trug, sondern sogar, dass sie die blaue bevorzugte.

»Gulaschsuppe. Sehr gut gegen die Nachwirkungen von zu viel Alkohol. Und zum Nachtisch einen Obstsalat mit vielen Vitaminen und Mineralien.«

»Du kennst dich wohl gut aus?«, fragte Ellen mit gutmütigem Spott.

Konrad lächelte zurück. »Ich bin zweiundsiebzig. Viel Zeit für Erfahrungen auf allen möglichen Gebieten.«

Ellen griff nach dem Küchenmesser und den Zwiebeln. »Wie viele?«

»Das ganze Netz.«

 

»Besser?«, fragte Ellen ihre Tochter eine Stunde später.

Kim sah immer noch furchtbar aus, blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und hängenden Schultern, aber deutlich frischer als vor dem Essen.

»Besser«, murmelte Kim.

»Nimm doch noch etwas«, sagte Konrad. »Es ist genug da.«

»Du hast für eine ganze Kompanie gekocht«, erwiderte Rosa, zog mit spitzen Fingern das Brot aus der Suppe und steckte es sich in den Mund. Kim hatte es ihr nachgemacht, ein paar Brotkrumen getunkt und vorsichtig probiert. Ellen hatte die Erleichterung im bleichen Gesicht ihrer Tochter gesehen, dass ihr Magen die Nahrung akzeptierte. Kim würde in absehbarer Zeit sehr genau darauf achten, bloß nicht zu viel Alkohol zu trinken. Vielleicht hatte dieser monströse Kater also auch sein Gutes.

»Damit genug für alle da ist«, erklärte Konrad. »Diejenigen unter uns, die nur eine winzige Menge gegessen haben«, er zwinkerte Kim zu, »und Herr Seefeld, der das Essen verpasst, weil er als Einziger arbeiten muss, können später noch einmal zulangen.«

»Sehr vorausschauend«, lobte Ellen, die zu ihrer eigenen Überraschung eine große Portion verdrückt hatte.

»Da können die beiden sich ja auf ein gemütliches Dinner for two freuen«, lästerte Rosa.

Ellen sah, wie Kim zusammenzuckte.

»Ich wollte niemanden ausschließen«, beeilte sich Konrad richtigzustellen. »Natürlich ist auch für dich …«

Rosa winkte ab. »Ja doch, Konrad, das war ein Scherz. Jetzt entschuldigt mich, die Arbeit ruft. Ich muss meine Werbung planen.«

Werbung? Ellen starrte ihrer Mutter sprachlos hinterher.

 

Kapitel 2

Rosa öffnete in ihrem Zimmer das Fenster und zündete sich einen Joint an. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete sich kritisch. Sie sah nicht aus wie einundsiebzig. Höchstens sechzig. Natürlich hatte sie Falten im Gesicht. Gesichtsfalten ließen sich durch operative Maßnahmen, Gift oder Unterhautfett verhindern, aber sie wollte sich weder glatt schneiden noch Gift spritzen lassen, und zunehmen wollte sie auch nicht. Ihre Figur war ausgeprägt weiblich, an den richtigen Stellen gerundet, aber nicht fett. Ihr Leben lang hatte sie sich mit Yoga gelenkig gehalten und überwiegend vegetarisch gegessen, und zwar Obst und Gemüse statt Torten oder Schokolade. Das Süße war einfach nicht so ihr Ding. Zum Glück. Hätte sie eine ähnliche Beziehung zu Süßigkeiten wie zu gutem Gras, wäre sie sicher zwanzig Kilo schwerer.

Ihr besonderer Bonus war ihre Ausstrahlung. Die Aura aus Energie, Lebensfreude und Selbstbewusstsein nahm viele Menschen für sie ein, besonders Männer. Das hatte Rosa ohne Eitelkeit festgestellt und sich gelegentlich zunutze gemacht, wenn sie sich an einer Warteschlange vorbeimogelte oder jemanden um eine Gefälligkeit bat. Geflirtet hatte sie mit fremden Männern allerdings nicht, denn der einzige Mann, den sie in ihrem Leben geliebt hatte, war ihr Lebensgefährte Robert gewesen, den sie vor Kurzem verloren hatte.

Nun sollte sie also das, was sie einem Mann in Sachen Liebe bieten konnte, in Worte fassen. Nicht Liebe, korrigierte sie sich, sondern Sex. Ein Mann ging nicht zu einer Prostituierten, weil er Liebe suchte. Oder doch? Gab es Männer, die für die Illusion von Liebe zahlten, wenn sie Sex kauften? Ja, ganz sicher war das so. Es gab immer wieder Berichte über Männer, die eine Nutte bezahlten und dann nur redeten. Oder kuschelten. Gut möglich, denn Rosa war sich ziemlich sicher, dass genügend einsame Zeitgenossen bereitwillig Selbsttäuschung betrieben, weil die Wirklichkeit ihnen nicht das gewährte, wonach sie suchten. Ob sie ihre Werbung auf diese Zielgruppe ausrichten sollte? Eine gute Idee.

Darüber hinaus – das war ihr bereits klar gewesen, als Konrad ihr die Idee offenbart hatte – wollte sie sich der Nachwuchsförderung widmen. In anderen Kulturen war es durchaus noch üblich, dass ein junger Mann sich in Liebesdingen von einer erfahrenen Frau ausbilden ließ. Das kam doch auch seinen späteren Partnerinnen entgegen, die ihm dann nicht mehr mühsam beibringen mussten, dass die Missionarsstellung nicht der Weisheit letzter Schluss war. Ja, eine wahrlich lohnende Aufgabe.

Natürlich alles nur theoretisch, rief Rosa sich in Erinnerung. Tatsächlich sollte sie ja gar kein Geld mit ihrem Business verdienen, weil sie sowieso schon zu viel davon hatte. Sie sollte nur so tun, als hätte sie jede Menge Kunden, um fiktive Einnahmen zu versteuern. Keinen Cent werde ich einnehmen, dachte sie, aber Steuern für sechshunderttausend Euro zahlen. Dadurch würde die Summe sich wahrscheinlich halbieren!

Wenn sie nur daran dachte, welche Unannehmlichkeiten Achim Weiterscheid, der betrügerische Geschäftsführer der MultiLiving GmbH, ihr bereitet hatte, war sie in Gefahr, sich wirklich aufzuregen. Ihr kleines, von einem Erbe vor fast vierzig Jahren finanziertes Haus hatte sie verkauft und den Erlös in die gemeinsam mit Robert erworbene Wohnung gesteckt, die genau hier hätte errichtet werden sollen, anstelle der alten Villa, die jetzt vergeblich auf ihren Abriss wartete. Da Rosas Rente nicht für eine ortsübliche Miete reichte, hatte sie die Villa in Besitz genommen, aber sie wusste, dass die Hausbesetzung eher früher als später zwangsweise beendet würde. Sobald die Mühlen des Gesetzes zu mahlen anfingen, bestand die Gefahr, dass sie, Rosa, darin zerrieben wurde. Deshalb war sie trotz ihrer antikapitalistischen Einstellung sehr daran interessiert, wieder finanziell unabhängig zu werden. Und deshalb würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um das von Konrad wiederbeschaffte Schwarzgeld zu ihrem rechtmäßigen Eigentum zu machen.

Bei dem Wort ›rechtmäßig‹ kam Rosa ein lästiger Gedanke. Sicher musste sie irgendwelche Anträge stellen oder Formulare ausfüllen oder sonstigen Verwaltungskram erledigen, bevor sie ihre Einkünfte versteuern konnte. Gab es nicht für Prostituierte eine vorgeschriebene Untersuchung beim Gesundheitsamt mit entsprechendem Zertifikat, dem sogenannten ›Bockschein‹? Mit einem leisen Seufzer drückte Rosa den Joint in dem selbst getöpferten Aschenbecher aus und notierte auf einem Schmierzettel:

    • Gewerbeanmeldung

    • Gesundheitsamt

    • Bockschein

Sie würde sich mit diesem Bürokratiekram beschäftigen müssen, aber momentan hatte sie dazu wirklich keine Lust. Stattdessen warf sie den Stift hin, verließ das Zimmer und machte sich zu Fuß auf in die Innenstadt von Kaiserswerth. Eine Kugel Eis war jetzt genau das Richtige.

***

Kim hatte den restlichen Nachmittag verschlafen und war hungrig, als sie erwachte. Halb sechs, sehr gut. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch etwas Gulaschsuppe essen, bevor Seefeld in der Küche auftauchte. Wie gut, dass man die Uhr nach ihm stellen konnte.

Sie nahm eine schnelle Dusche, stieg in Jeans und T-Shirt, warf ein Hoodie über und eilte in die Küche. Gerade hatte sie sich mit einem dampfenden Teller voller Suppe an den Tisch gesetzt, als sie in der herrschenden Stille ein leises Geräusch hörte: Der alte Drehschalter für das Licht zum Keller gab sein typisches Klacken von sich. Kim erstarrte.

Nur Sekunden später stand Seefeld in der Küchentür. Gerade aufgerichtet und stocksteif wie immer, in das übliche unauffällige Grau und Blau gekleidet und mit dem ebenfalls unveränderlichen steinernen Gesichtsausdruck. Sie hasste diesen Blick aus den wässrigen hellblauen Augen, die ein physikalisches Phänomen zustande brachten, das nicht den Naturgesetzen unterlag: Er verursachte ein Gefühl von Kälte und Hitze zugleich. Kims Herz gefror, ihr Kopf glühte.

»Bitte warte auf mich, ich bin gleich wieder da«, sagte Seefeld und verschwand lautlos aus Kims Blickfeld.

Kim stellte fest, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie holte tief Atem, löffelte die Suppe, so schnell sie konnte, spülte, noch kauend, ihren Teller unter fließendem Wasser und stellte ihn in das Abtropfgestell. Sie hatte nur einen Gedanken: Flucht! Bloß nicht mit Seefeld allein in einem Raum sein. Aber dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. Seefeld war aus dem Keller gekommen. Er war bei Mardi gewesen! Und hatte sich vielleicht endlich zu der Entscheidung durchgerungen, ob er den Ausreißer unterstützen oder ausliefern sollte. Wollte Seefeld deshalb mit ihr sprechen? Kim seufzte und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. Augen zu und durch, dachte sie und presste kurz die Handballen auf die Lider. Als sie sie wieder wegnahm, saß Seefeld ihr bereits gegenüber.

»Die Hausaufgaben für die nächste Stunde.« Seefeld schob einige Blätter über den Tisch.

Natürlich, dachte Kim. Der Herr Lehrer stellte gleich sicher, dass Kim die verpasste Stunde schön nacharbeitete. Seufz.

»Dann möchte ich mit dir über den Jungen sprechen, den du seit zehn Tagen versorgst.«

Aha, er wusste sogar, wann sie Mardi entdeckt hatte.

»Was weißt du über ihn?«

Na klar, Psycho Seefeld fragte erst mal ab, was sie wusste. Wahrscheinlich war er wirklich beim Geheimdienst gewesen, wie einige Klassenkameraden vermuteten. Dass er in einer Spezialeinheit beim Militär gedient hatte, war inzwischen bekannt. Aber ob im Bereich Cyberkrieg oder als Scharfschütze oder eben als Spion … Sie räusperte sich. »Praktisch nichts.«

Seefeld hob eine Augenbraue.

»Ich weiß weder, wie er heißt, noch, wie alt er ist, habe keinen Schimmer, wo er herkommt oder warum er sich hier im Keller verkrochen hat.«

»Du nennst ihn Mardi. Ist dieser Spitzname deine Erfindung?«

Kim nickte.

»Und sonst?«

Kim zuckte die Schultern.

»Dann berichte mir deine Beobachtungen.«

»Häh?«

»Welche Sprachen spricht er? Wie verhält er sich dir gegenüber? Was kannst du mir über seine Kleidung sagen? Alles, was dir einfällt.«

Kim nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte: »Warum?«

Eine halbe Ewigkeit starrte Seefeld sie nur unbewegt an. Kim erwartete schon keine Antwort mehr, als er plötzlich eine Regung zeigte. War dieses Zucken der Mundwinkel etwa ein Lächeln?

»Ich habe mir ein Bild von ihm gemacht, das allerdings durchaus verzerrt sein kann aufgrund der Tatsache, dass er in mir eine Bedrohung sieht. Nun möchte ich meinen Eindruck mit deinem abgleichen, um der Wahrheit ein Stück näherzukommen.«

Kim bemerkte, dass sie Seefeld mit offenem Mund anstarrte. Er hatte auf ihre Frage geantwortet. Ihr eine Erklärung gegeben. Er hatte sie – sie glaubte es selbst kaum – ernst genommen. Sie klappte den Mund zu und versuchte, sich auf die Fragen zu konzentrieren. Beobachtungen, hm …

»Er flucht auf Französisch, spricht aber gut Deutsch, wenn auch mit Akzent.« Sie sprach leise, in einem unsicheren, fragenden Tonfall und machte eine Pause. Wartete auf eine Reaktion.

Seefeld nickte kurz.

Kim schluckte und fuhr, etwas sicherer, fort: »Er hat eine riesige Narbe quer über dem Bauch und trägt alte, abgewetzte Klamotten. Keine Marken. Er muss eine ziemlich starke Gesundheit haben, denn als ich ihn fand, war er megaerkältet, ich dachte schon, er krepiert da unten, aber er wollte auf keinen Fall zum Arzt.« Sie machte eine erneute Pause, zuckte die Schultern. »Vielleicht ist er auch nur stur.«

»Gut.«

Kim wurde rot. »Er hat saubere Fingernägel.«

Wieder dieser seltsame Zug um den Mund. »Was bedeutet das?«, fragte Seefeld leise.

»Keine Ahnung. Ist mir halt aufgefallen. Ich fand es erstaunlich, weil, also …« Sie wusste nicht, wie sie ihre Empfindung formulieren sollte. »Keine Ahnung, wie er das schafft ohne Badezimmer.«

»Sonst noch etwas?«

Kim hätte Seefeld sagen können, dass Mardi sie seine ›kleine Gazelle‹ nannte, aber das ging ihn nun wirklich nichts an. Sie schüttelte den Kopf.

Seefeld nickte. »Du bist eine sehr gute Beobachterin.«

Kim starrte ihren Lehrer überrascht an. War Seefeld verrückt geworden? Oder sie selbst? Egal, sie freute sich über das Lob.

»Danke für deine Einschätzung. Und mach die Hausaufgaben.« Er erhob sich und wandte sich zur Tür.

Kims Freude schlug erst in Überraschung, dann in Wut um.

»Hey, Moment mal! So geht das nicht. Jetzt sagen Sie mir mal, wie es weitergeht!«

Im Treppenhaus waren Stimmen und Schritte zu hören.

Seefeld drehte sich noch einmal zu ihr um. »Solange ich mir noch kein abschließendes Urteil gebildet habe, bleibt alles, wie es ist.«

Wütend sprang Kim auf und wollte die Küche verlassen, aber Seefeld trat ihr in den Weg. Fast wäre sie gegen ihn geprallt. Er zeigte auf die Blätter, die noch auf dem Tisch lagen. Kim stöhnte, sammelte die Aufgaben ein und verließ die Küche.

»Ich hab schon gegessen«, rief sie Konrad zu, der sie mit einer einladenden Geste zum Bleiben auffordern wollte, und stürmte die Kellertreppe hinunter.

In Mardis Keller stand ein großer, neuer, zugeklebter Karton ohne Aufschrift. Ansonsten war der Keller leer.

Mardi war weg.

***

Rosa hatte den Rest Milch in ihren Kaffee genommen und die leere Milchpackung auf den Tisch gestellt. Irgendjemand würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und neue kaufen. Für ein richtiges Frühstück war keine Zeit gewesen, denn Rosa wollte zum Ordnungsamt, was sich bei den Öffnungszeiten dieser Behörde als echte Herausforderung entpuppte. Die Büros waren von acht bis halb eins für Antragsteller geöffnet – sie war früher als gewöhnlich aufgestanden, um gegen Mittag dort zu sein.

Eigentlich eine Frechheit, nur am Vormittag zu öffnen. Gewerbe wie dasjenige, das sie heute anmelden wollte, wurden bis spät in die Nacht ausgeübt. Wer bis drei Uhr morgens arbeitete, musste wegen behördlich vorgegebener Sprechzeiten auf jede Menge Schlaf verzichten. Von Bürgernähe war die Stadtverwaltung weit entfernt, aber das war ja nichts Neues.

 

Die Straßenbahn zockelte zum Hauptbahnhof, von dort ging Rosa zu Fuß. Das Wetter war schlechter geworden, der Himmel bedeckt, aber wenigstens regnete es nicht. Sie betrat das Ordnungsamt, fragte sich durch und erreichte tatsächlich gegen zehn nach zwölf die Gewerbemeldestelle. Ein Plakat klärte sie darüber auf, dass sie für die Anmeldung eines Gewerbes einen gültigen Personalausweis mit der aktuellen Adresse benötigte. Außerdem wurde für genehmigungspflichtige Gewerbe die Erlaubnis oder Konzession verlangt. Welche Tätigkeiten unter diese Regelung fielen, stand dort jedoch nicht. Natürlich, dachte Rosa. Erst lässt man die Leute stundenlang warten und erklärt ihnen dann, dass sie irgendein weiteres Papier vorlegen müssen, welches eine andere Behörde ausstellt, die aber leider schon geschlossen hat. Unter dem Plakat zeigte ein dicker Pfeil auf ein Regal, in dem ein Stapel Formulare lag.

»Das müssen Sie ausfüllen«, schnarrte eine näselnde Stimme hinter Rosa.

Sie drehte sich um. Die wenigen anderen Anwesenden beobachteten sie interessiert. Ihr Kaftan in starken Rot- und Orangetönen bildete einen auffälligen Kontrast zu den Handwerkerhosen und Geschäftsanzügen.

Rosa nahm eins der Formulare, suchte sich einen Stuhl in der Nähe des Fensters und überflog die Fragen.

Die Angaben zur Person waren klar, aber dann ging es schon los. Hatte ihre geplante Unternehmung eine Rechtsform? Was war das überhaupt? Welches Datum sollte sie als Beginn der Tätigkeit einsetzen? Galt ihr Gewerbe-Schrägstrich-Dienstleistung als Nebenerwerb neben der Rente oder als Haupterwerb, weil sie ja keine andere Berufstätigkeit ausübte, die den Haupterwerb hätte darstellen kön- nen? War Prostitution ein Gewerbe im Bereich Industrie, Handwerk, Handel oder Sonstiges? Nun, am ehesten wohl Sonstiges. Rosa lächelte. Handwerk ginge auch, je nach Kundenwunsch.

»Hat jemand einen Stift für mich?«, fragte Rosa in die Runde.

Die Handwerker begannen, in ihren zahlreichen Westen- oder Cargohosentaschen zu kramen, die Schlipsträger blickten sie teils mitleidig, teils verächtlich an.

»Behalten Sie ihn. Ist ein Werbegeschenk«, schnarrte der Mann von eben. »Was melden Sie denn an?«

›Haushaltsnahe Dienstleistungen‹ stand auf dem knallroten Kugelschreiber, den Rosa dankend entgegennahm.

»Haushaltsferne Dienstleistungen«, antwortete sie.

Von einer Nachfrage blieb sie verschont, weil der freundliche Helfer in diesem Moment dran war.

 

Zwanzig Minuten später wurde Rosa endlich aufgerufen. Sie reichte ihre Unterlagen einer Frau Mitte fünfzig, deren dunkelgrünes Samtcord-Kostüm aus den Siebzigern stammen musste, obwohl der Stoff keinerlei Abnutzungserscheinungen zeigte. Sie hatte auffallend dunkelbraune Augen in einem blassen Gesicht unter mittelblondem Haar.

Die Sachbearbeiterin streifte Rosa mit einem kurzen Blick, fixierte dann das Formular und den Personalausweis und wandte sich ihrem Computer zu.

»Welche Tätigkeit genau möchten Sie anmelden?«

»Prostitution«, sagte Rosa.

Ungerührt tippte die Sachbearbeiterin das Wort in den Computer, dann übernahm sie die Daten aus dem Personalausweis. Beim Geburtsdatum stutzte sie. Ihr Zeigefinger fuhr die Zeile entlang, verharrte. Sie hob den Blick.

Rosa lächelte verbindlich.

»Sie wollen selbst als Prostitutierte arbeiten? Falls Sie nämlich nur vermitteln wollen, müssten Sie …«

»Ich selbst«, sagte Rosa freundlich. »Die Rente ist nicht mehr das, was sie mal war.« Sie machte eine kleine Pause. »Hoffentlich sind Sie gut abgesichert.«

Die Wangen der Sachbearbeiterin wurden rot. Ob vor Wut oder Verlegenheit, war ihr nicht anzumerken. Sie schaute auf das Blatt Papier, von dem sie Rosas Daten abgetippt hatte, und verglich sie mit dem Personalausweis.

»Welche Adresse ist denn nun die richtige?«

Rosa überlegte kurz und nannte die Adresse der Villa.

»Telefon?«

»Ich habe noch keinen Geschäftsanschluss.«

»Egal. Geben Sie irgendeine Telefonnummer an.«

Rosa nestelte das Handy aus ihrer Tasche, schaltete es ein, gab beim zweiten Versuch die richtige PIN ein, fand schließlich ihre eigene Nummer und diktierte die Ziffern.

»Schenken Sie auch Getränke aus oder …«

»Nein.«

»Für Prostitution allein brauchen Sie keinen Gewerbeschein.«

»Wie bitte?« Rosa traute ihren Ohren nicht. Erstens hatte sie erwartet, dass man im bürokratischen Deutschland für jeden Atemzug eine Genehmigung brauchte, zweitens fragte sie sich, wofür sie sich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gequält und ihre kostbare Zeit in einer Behörde verschwendet hatte.

»Ich kann Ihnen den Schein ausstellen«, erklärte die Frau, »aber nötig ist er nicht.«

Rosa dachte kurz darüber nach. Ein offizieller Gewerbeschein konnte ihren Bemühungen zur Legalisierung des Schwarzgeldes nur dienlich sein. Sie nickte.

»Was Sie allerdings brauchen, ist eine Steuernummer. Soll ich die beantragen, oder erledigen Sie das selbst?«

»Das dürfen Sie gern für mich in die Wege leiten«, flötete Rosa und erkundigte sich daraufhin gutgelaunt: »Wann ist es denn bei Ihnen so weit?«

Der Blick, den sie erntete, war unergründlich.

»Mit der Rente, meine ich.«

In den Augen der Frau spiegelte sich nun doch ein Hauch von Mordlust.

»Vielleicht wäre das auch was für Sie. Meine Spezialitäten sind die Positionen des Kamasutra und die Nachwuchsförderung. Aber Sie könnten vielleicht die Domina geben.«

Die Sachbearbeiterin schien zu ihrer unerschütterlichen Neutralität zurückgefunden zu haben. Nach ein paar letzten Tastenanschlägen schob sie Rosas Personalausweis über den Tisch und legte die Hände auf der Tischplatte zusammen.

»Die Steuernummer vom Finanzamt kommt dann per Post.«

Nach einem kurzen Schreck darüber, dass jetzt auch das Finanzamt die besetzte Villa als Anschrift in ihren Unterlagen speichern würde, entspannte Rosa sich. Das Gewerbeamt wusste, wo sie wohnte, die Kripo sowieso, da war es beim Finanzamt auch schon egal.

 

Wenige Meter vom Ordnungsamt entfernt ertönte ein Klingelton, hartnäckig und immer lauter werdend, den Rosa erst nach mehrmaliger Wiederholung mit ihrem Handy in Verbindung brachte. Offenbar hatte sie vergessen, das Gerät wieder auszuschalten, als sie es nachlässig in ihre Tasche gesteckt hatte. Sie meldete sich mit einem freundlichen: »Hier ist Rosa, wer ist dort?«

»Leo.« Seine Stimme klang halb beleidigt, halb besorgt.

Rosa bereute, das Gespräch angenommen zu haben, ohne auf die Nummernanzeige im Display zu achten.

»Was gibt es?«, fragte sie unwillig.

»Ich wollte dich warnen, Rosa. Ich habe ein Auge auf die MultiLiving GmbH und …«

Rosa nahm das Gerät vom Ohr und verdrehte die Augen. Leos Sorge um ihr Wohlergehen war ihr ein Dorn im Auge, sein ständiges Kümmern und Herumstochern in ihren Angelegenheiten empfand sie als Belästigung. Leo suchte förmlich nach Problemen. Rosa hingegen vertrat die Auffassung, dass die wirklich wichtigen Probleme von allein kamen – diejenigen aber, die sich nicht von selbst aufdrängten, konnte man getrost missachten.

»Ich verstehe dich gar nicht, Leo«, rief sie in Richtung des Handys, das sie am lang ausgestreckten Arm von sich weg hielt. »Leo? Ich weiß gar nicht, was …«

Sie legte auf. Mitten im Satz aufzulegen erhöhte die Glaubwürdigkeit ungemein, obwohl Rosa nicht sicher war, ob Leo ihren Trick durchschaute. Sie schaltete das Handy aus und ließ es in ihre Tasche gleiten. Sie wollte ihre Gewerbeanmeldung feiern und sich dabei nicht von Leos mieser Laune anstecken lassen.

***

Kim hatte schlecht geschlafen, ihr Magen war immer noch total übersäuert, der Kopf brummte, und in der Straßenbahn hatte ein Kleinkind seinen Brei auf ihre neuen Chucks gekotzt. Der Tag war gelaufen, bevor er richtig begonnen hatte. Zumal ihre ehemals beste Freundin Jenny mit ihrem ehemals Fast-Freund Tarik wieder diese Knutschorgie abzog, die die beiden neuerdings jedes Mal aufführten, sobald Kim in ihre Nähe kam. Jenny war ein nachtragendes Biest und ihre Freundschaft nichts wert, stellte Kim mal wieder fest. Sie fühlte sich allein. Jenny weg, Mardi weg, und ihre Ma hatte nur noch Interesse an ihrem neuen Lover. Zugegeben, Ellens Ich-mache-alles-besser-und-werde-eine-super-Mutter-Getue war Kim oft genug auf den Keks gegangen, aber das aktuelle Desinteresse war noch schlimmer. Zumal sonst niemand da war, der sich um Kim scherte. Abgesehen von Konrad natürlich.

»Igitt, was stinkt denn hier so?«, kreischte Jenny durch das Klassenzimmer, als Kim hereinkam.

Kim ignorierte sie, stellte die Tasche an ihren Platz in der letzten Reihe, neben dem Jennys Platz leer blieb, seit die Zicke sich ganz nach außen gesetzt hatte, zog den rechten Schuh aus und hüpfte zum Waschbecken. Sie hielt den Schuh unter kaltes Wasser, nahm Flüssigseife und rubbelte an dem Leinenstoff herum. Dann betrat Frau Stegmann-Biegelow das Klassenzimmer. Der Lehrerin folgte ein Junge, den Kim noch nie gesehen hatte. Ganz sicher nicht. An diesen Typen hätte sie sich erinnert.

»Setzt euch bitte. Kim, was machst du da?«

Die vollständig in Schwarz gekleidete Französischlehrerin mit schwarzem Pagenschnitt und knallrotem Lippenstift stellte ihre Tasche auf das Pult und wartete, bis die meisten Schüler saßen.

Kim beeilte sich, die Seife aus ihrem Schuh zu waschen, aber offenbar hatte sie zu viel davon genommen, jedenfalls schäumte es immer noch gewaltig.

»Was riecht denn hier so komisch?«, murmelte die Lehrerin.

»Mein Schuh«, flüsterte Kim. »Deshalb …«

»Damit kannst du nach der Stunde weitermachen, setz dich bitte hin.«

Kim hüpfte auf einem Bein zu ihrem Platz in der letzten Reihe zurück. Der Unbekannte stand noch vorn am Lehrerpult und hatte inzwischen die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse erregt. Kein Wunder. Er hatte asiatische Augen und stahlblaues Haar. Der Tragegurt einer riesigen Kuriertasche führte quer über seine schmale Brust und verdeckte den größten Teil des Aufdrucks auf seinem T-Shirt. Kim meinte trotzdem, das Symbol für Radioaktivität zu erkennen.

»Das ist Samu, er gehört ab jetzt zu eurer Klasse.«

»Drei Wochen vor den Ferien?«, flüsterte jemand.

»Schreibt er auch die Klausuren mit?«, fragte Lizzy kichernd.

»Kann der überhaupt schreiben?«, grölte jemand aus Tariks Clique.

»In der Mitte der letzten Reihe ist ein Platz frei, setz dich bitte dorthin«, sagte Frau Stegmann-Biegelow.

Samu schlenderte lässig zwischen den Tischen hindurch, setzte sich neben Kim und nickte ihr kurz zu.

»Hi«, sagte Kim. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie meinte, Samu müsste es hören können. Der Typ war wirklich schrill. Mit dem asiatischen Gesicht und den blauen Haaren ähnelte er einer Figur aus einem Manga-Comic. Bei diesem Gedanken warf Kim einen Blick in Jennys Richtung. Bingo! Jenny konnte ihren Blick gar nicht von dem neuen Mitschüler losreißen. Sie liebte Mangas und würde Kim dafür hassen, dass der Blauhaarige nun ihr neuer Banknachbar war. Kim verkniff sich ein Grinsen. Der Auftritt des Comic-Schlumpfes war ein Punkt auf ihrem Kontostand im Zickenkrieg mit Jenny. Der erste, um genau zu sein. Der Tag hatte eine unerwartete Wendung zum Besseren genommen.

 

»Ist Samu ein japanischer Name?«, fragte Jenny in der Pause. Sobald Tarik mit seinen Getreuen draußen war, hatte sie sich auf den Neuen gestürzt.

Der war noch damit beschäftigt, das Buch und seinen Collegeblock wegzupacken.

»Finnisch«, sagte er, ohne aufzusehen.

Kim hatte zwar ihren Kram schon gepackt, blieb aber sitzen, um dem weiteren Gespräch zu lauschen. Sie hatte selbst noch kein Wort mit ihrem Nachbarn geredet, aber ab und zu auf seinen Block gelinst. Er schrieb die französischen Wörter problemlos und flüssig mit, selbst die neuen, die die Lehrerin an die Tafel kritzelte. Seine Handschrift war unglaublich sauber, die Buchstaben vollkommen gleichmäßig und irgendwie – Kim suchte nach dem passenden Wort – technisch. Während die meisten Jungs eine unleserliche Klaue hatten, die Mädels überall Kringel und Verzierungen anhängten, sah diese Schrift aus, als stammte sie von einem Roboter.

»Ach, du verarschst mich«, sagte Jenny. Sie klang verunsichert.

»Warum sollte ich?«, fragte Samu.

»Takahashi ist jedenfalls japanisch«, sagte Jenny.

»Der Name meines Vaters.«

»Du siehst überhaupt nicht aus wie ein Finne.«

»Ich bin auch keiner.«

»Sag ich doch, du verarschst mich!«

»Nein.«

Kim verkniff sich ein Grinsen.

»Hast du hier noch was zu tun?«, herrschte Jenny sie an.

Kim zuckte die Schultern.

Samu stand auf. »Bis später.« Er hängte sich seine Tasche schräg über die Schulter und verließ die Klasse.

»Kommt ihr bitte, ich muss abschließen«, quengelte Frau Stegmann-Biegelow.

Jenny schnitt eine Grimasse und eilte hinter Samu her.

Kim befühlte das Leinen ihres Schuhs. Es war immer noch feucht und roch halb nach Seife und halb nach Kinderkotze. Sie seufzte und zog den Chuck über. Ein bisschen eklig war es schon, aber besser, als barfuß über den Schulhof zu latschen.

 

Nach der Pause stand Physik auf dem Stundenplan, und Kim dachte mit Schrecken an das Wiedersehen mit Seefeld. Natürlich hatte sie die Hausaufgaben gemacht, schließlich war es undenkbar, bei Seefeld ohne Hausaufgaben zu erscheinen. Aber richtig kapiert hatte sie die Sache nicht. Es ging mal wieder um Lichtbrechung. Aber wann ein Lichtstrahl, der schräg auf die Grenzfläche zweier Medien unterschiedlicher optischer Dichte fiel, nicht nur gebrochen, sondern gleichzeitig reflektiert wurde, interessierte sie nicht im Geringsten.

Seefeld erschien wie üblich vor dem Gong und schloss mit dem Ertönen des Signals die Tür. Samu saß dank Kim bereits auf seinem Platz.

»Wenn du es dir nicht gleich mit dem Oberpsycho verderben willst, solltest du jetzt mitkommen«, hatte sie ihm auf dem Schulhof erklärt.

Samu hatte mit den Schultern gezuckt und war ihr gefolgt.

Was er allein auf dem Schulhof gemacht hatte, war Kim nicht ganz klar gewesen. Er hatte sich weder mit seinem Handy beschäftigt noch mit jemandem gesprochen. Stattdessen hatte er sich an einen Pfosten gelehnt und zugeschaut. Auch gegessen hatte er nichts.

»Sind Sie Herr Takahashi?«, fragte Seefeld.

Samu nickte.

»Von welcher Schule kommen Sie?«

»Alexander-von-Humboldt, Bremen.«

»Dann ist Ihnen der nordrhein-westfälische Lehrplan vermutlich nicht vertraut.«

Samu zuckte die Schultern.

»Haben Sie Optik schon behandelt?«

Samu schüttelte den Kopf.

»Gut, wir werden sehen, wie Sie zurechtkommen.«

Der Rest der Stunde verging mit optischen Problemen, die Kim tödlich langweilten. Derweil kritzelte Samu in seinem Heft herum, machte in seiner gestochen scharfen Handschrift Notizen und beantwortete einige Fragen von Seefeld mehr oder weniger korrekt. Kim quälte sich durch die Stunde und war mit den Gedanken ganz woanders. Sollte sie Seefeld hier in der Schule nach Mardi fragen? Sie hatte ihn nach dem Gespräch vom Vortag nicht mehr allein angetroffen, wollte aber unbedingt wissen, was er mit Mardis Verschwinden zu tun hatte. Denn dass sich der schwer verletzte Kellerbewohner aus dem Lichtschacht, den er als Zugang benutzte, hatte herauswinden können, war für Kim geradezu unvorstellbar. Seefeld musste also etwas wissen und sie …

»Frau Feldmann?«

Mist, Kim hatte die Frage nicht mitbekommen.

»Kleiner«, zischte Samu neben ihr.

»Kleiner«, antwortete Kim laut.

»Danke, Herr Takahashi, das war richtig«, antwortete Seefeld ungerührt.

Kim fällte eine Entscheidung. Sie musste Seefeld fragen, hier und jetzt, sonst würde sie verrückt.

 

»Danke fürs Vorsagen«, flüsterte Kim, als der Gong die Stunde beendete.

»Der Typ ist auf Zack«, antwortete Samu.

»Er war beim Militär.«

»Ja, kann ich mir vorstellen, schon deshalb, weil er uns siezt. Aber er ist okay.«

Kim ließ fast ihr Buch fallen. »Okay?«

»Ich glaube nicht, dass er einen linkt. Machst du deine Arbeit, ist er zufrieden, oder?«

Kim überlegte. »Na ja, so gesehen …«

»Das reicht mir. Für mich muss ein Lehrer kein Freund sein. Kann, muss aber nicht.«

Samu stand auf und warf sich den Träger seiner Tasche über den Kopf. Er war aus einem Anschnallgurt gemacht.

»Was willst du mal werden?«, fragte Samu.

»Keine Ahnung«, sagte Kim nach einem Überraschungsmoment. Was war denn das für eine Frage? Sie kannten sich kaum, hatten zwei Sätze miteinander gewechselt, und dann wollte der Neue gleich alles über ihre Lebensplanung erfahren?

»Wieso?«

»Na, weil du Physik offenbar nicht für relevant hältst.«

»Äh, weißt du denn schon, was du mal beruflich machen willst?«

»Nein. Deshalb versuche ich ja, für jedes Fach was zu tun und mir alle Chancen offenzuhalten. Aber das muss natürlich jeder selbst wissen.«

Kim starrte ihrem neuen Nachbarn überrascht hinterher. Dann wurde ihr bewusst, dass sie mal wieder die Letzte im Physiksaal war. Kein Wunder, gerade bei Seefeld flüchteten die Schüler förmlich aus dem Raum, sobald die Stunde vorbei war. Der Impuls war auch in Kim beinahe übermächtig, aber sie beherrschte sich. Stattdessen ging sie durch den Mittelgang nach vorn zum Lehrerpult.

»Wo ist er?«, fragte sie, als sie vor Seefeld stand.

Der Lehrer blickte sie ausdrucklos an.

»Mardi.«

Immer noch keine Antwort.

»Haben Sie was mit seinem Verschwinden zu tun?«

»Ja.«

Kim wurde schwindelig. »Gestern Abend haben Sie gesagt, dass Sie noch nichts entschieden haben.

---ENDE DER LESEPROBE---