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Herr Groll, der rollstuhlfahrende Detektiv aus der Wiener Vorstadt, ermittelt mit seinem Freund, dem "Dozenten", in Rom. Markus, ein Zögling des Malteserordens, ist verschollen. Der Dozent hingegen will eine polnische Historikerin bei der Suche nach einer ominösen Koranausgabe aus der Frühzeit des Islam unterstützen. In einem Weingut der Malteser findet Groll den väterlichen Freund des Novizen erdrosselt vor. Die Nachforschungen erweisen sich aufgrund der römischen Stadtgeografie und der antiken Straßenbeläge als schwierig. Dennoch gelingt es Groll mit Hilfe des Lebenskünstlers Ezechiel Heavensgate auf dem Aventin und in der Malteserzentrale Markus' Spur aufzunehmen. Dabei wird er in die Konflikte zwischen papsttreuen und papstfeindlichen Klerikern verstrickt. Auch die mafia capitale mischt mit. Der Dozent hat eine leidenschaftliche Affäre mit der Historikerin. Die Anhängerin der spätantiken Religion des Mani fesselt ihn mit ihrem Wissen und ungewöhnlichen Sexualpraktiken. SS-Führer Himmler habe in einer NS-Ordensburg eine Koranausgabe aus der Zeit des Propheten gehortet, die von jüdischen Schriftgelehrten verfasst wurde. Das Original sei verschollen, aber in Rom sollen sich Kopien des Buches befinden. Während sich der Dozent in die Spätantike versetzt sieht, wird Groll vom Strudel der papstfeindlichen Verschwörung mitgerissen. Mister Giordano, Grolls New Yorker Freund mit sizilianischen Wurzeln, schaltet sich ein. weniger anzeigen
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Seitenzahl: 305
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Erwin Riess
ROMAN
www.omvs.at
ISBN 978-3-7013-1254-2eISBN 978-3-7013-6254-7
© 2017 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.atDruck und Bindung: Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o.,69123-Pohorělice, TschechienCoverbild: Ralf von Samson
Rome wasn’t built in a day,but they were laying bricksevery hour
John Heywood
Für Piratessa, ohne deren Hilfedieses Buch nicht zustande gekommen wäre
Prolog
1. Kapitel
Eine hochnotpeinliche Befragung. Kanadische Pioniere und die Farben des Erdöls. Eine Profeß in Rom, eine Flucht nach Sibirien, eine verzweifelte Mutter im Weinviertel
2. Kapitel
Wer zu spät kommt, den bestraft die Phrase. Kühlschränke im Renndesign und die Zukunft der Konspiration. Der Dozent verfällt einer polnischen Historikerin. Der wahre Grund für die Entstehung des römischen Weltreichs. Schließlich: Durchbruch an den Isonzo
3. Kapitel
Der Dozent wird fahnenflüchtig. Fra´ Hubert von Mailberg und die önologischen Bedürfnisse des Malteserordens. Ein Leprafriedhof, ein rücksichtsloser Mann im Maserati und ein schwerer Schock in der Ordensburg Rocca Bernarda
4. Kapitel
Aus den Aufzeichnungen des Dozenten. Ankunft in Rom und Erwachen heiterer Gefühle vor der Stazione Roma Termini. Speedway in Leszno. Mani von Ktesiphon. Albert Camus in Annaba und Augustinus über alles
5. Kapitel
Kutschen, Kolonnaden und Arkebusen in der Villa Manin. Mafiosi, Bibliothekare und Eiskletterer. Mein Freund Paolo
6. Kapitel
Die Stazione Termini und die jüdische Diaspora. Der Bürgerkrieg in Medina und die Vorläufer der Seidenstraße. Die Geburt einer neuen Weltreligion aus der Kraft alter Eliten. Mohammeds Flucht und Krystynas Ankunft
7. Kapitel
Zwei Flüsse aus dem Paläozoikum, eine Diskothek aus den siebziger Jahren und eine Dose Panettone aus der Gegenwart. Der Vatikan im Finanzchaos und ein Schatz der anderen Art in Sacile an der Livenza
8. Kapitel
Ankunft am Esquilin. Ein geordneter Rangierbahnhof und ein derangierter Dozent. Gebackene Zucchiniblüten, schnelle Motorräder und eine seltene sexuelle Spezialität
9. Kapitel
Ein Geheimnis wird offenbart, eine Razzia durchgeführt. Ezechiel Heavensgate kommt wie Kofi Annan aus dem Aschanti-Hochland und ist ein Retter in der Not
10. Kapitel
Mit Ezechiel auf dem Aventin. Römische Lektionen, eine Einführung. Die Wahrheit über die schlechtesten Busse der Welt. Durchs Schlüsselloch auf das Allerheiligste. Fast eine Spur von Markus
11. Kapitel
Der Krieg um die Sampietrini und die Abwesenheit der Fortschrittskräfte. Die erste heiße Spur und was aus ihr wurde
12. Kapitel
Miguel de Cervantes in Rom. Eine Botschaft aus Mistelbach und keine Spontanheilung im Malteser-Hospital
13. Kapitel
Ein Gelenkbus als modernes Weltwunder. Das Quartiere Coppedè oder Grüße aus dem Schattenreich. Hotel und Palazzo Grazioli. Ein vifer Concierge und ein viriler Silvio Berlusconi
14. Kapitel
Eine Offenbarung vor der Villa Borghese oder Die Rache der Schriftkundigen
15. Kapitel
Die römische Dreifaltigkeit Liccio Gelli, Michele Sindona und Roberto Calvi. Ein fliegendes Rennrad und ein Sacco di Roma vor der Villa Medici. Sowie eine Stecknadel auf der Suche nach einem Heuhaufen
16. Kapitel
Aus den Notizen des Dozenten: Keine Spur von Groll, der meine Polin entführt hat. Ich mache eine neue Eroberung und bin verwirrt. Eine überraschende Nachricht
17. Kapitel
Selbstverteidigung im Gemeindebau. Feldenkrais in Palästina. Der Cimitero acattolico, drei linke Engländerinnen, Goethes Sohn und Gramscis Grab
18. Kapitel
Die Generalbeichte des Maltesers Markus
19. Kapitel
Aus den Notizen des Dozenten
20. Kapitel
Petersplatz, Petersdom, Petersschlacht
21. Kapitel
Terror am Petersplatz. Die Entführung Josephs. Eine Maschinenpistole auf dem Rücksitz
22. Kapitel
Die Stromschnellen des Tiber
23. Kapitel
Mathildas Crossing oder die Apotheose der Inklusion
24. Kapitel
Die Bar „Mare Chiaro“ hat ihren Namen verloren und eine Welt gewonnen. Frank Sinatras Erben im edlen Wettstreit und alle Lebensfragen gelöst
Epilog
Ich bin religiös wie ein Windrad. Das dreht sich im Kreis, produziert Strom und braucht dazu kein höh’res Wesen. Auch ich drehe mich oft im Kreis, produziere aber höchstens leere Kilometer. Höh’re Wesen kenne ich viele, das ist in meiner Sitzposition nicht anders möglich. Was diese Herrschaften anlangt, ist mein Bedarf aber gedeckt. Seit ich denken kann, liege ich, ein Angehöriger der niederen Stände, mit den höh’ren Wesen im Streit.
Mister Giordanos Bitte, die Geschichte des verlorenen Sohnes aufzuschreiben, konnte ich nicht abschlagen. Dennoch war es ein Fehler, dem Drängen des alten Herrn nachzugeben, denn die Geschichte erwies sich als Mahlstrom, wer da hineingezogen wird, ist verloren. Daß wir in Rom der Auslöschung entgingen, ist reiner Zufall. Die Schäden an meinem armen Rollstuhl Joseph und meine lädierte Schulter erinnern täglich daran. Daß wir in dem allgemeinen Chaos auch noch einen Weltkrieg verhinderten und den Chef der römischen Christenheit vor seinen lieben Kardinalsbrüdern retteten, erwähne ich nur am Rande. Die Welt kennt meine Bescheidenheit.
Mister Giordano kann sehr hartnäckig sein. Zwar hat er sich aus dem Geschäft zurückgezogen und die Sprechstunden in seiner Bar „Mare Chiaro“ eingestellt. Das Lokal heißt jetzt „Mulberry Street Bar“ und wird von seinem Enkel Larry geführt. Sogar Pizzen werden dort jetzt gebacken. Mein väterlicher Freund verbringt den Winter in Florida, aber er ergibt sich nicht dem Buen Retiro. Seine jahrzehntelange Tätigkeit als Consigliere für eine bedeutende sizilianische Familie und deren New Yorker Zweigstelle hat er nie aufgegeben. Noch immer verfügt er über gute Kontakte zu italienischen und amerikanischen Geschäftsleuten und Geheimdiensten. Der Tod seiner geliebten Sekretärin, die ihre letzten, umnachteten Jahre in einem Pflegeheim in Kennebunkport, Maine, zugebracht hatte, ging ihm sehr nahe. Die beiden waren nicht nur durch eine loyale Arbeitsbeziehung miteinander verbunden gewesen. Mister Giordanos Kollegen in Florida taten alles, den Freund nicht in eine Altersdepression rutschen zu lassen. Auch vor diesem Hintergrund muß die Niederschrift der Geschichte vom verlorenen Sohn verstanden werden, sie wirkte sich belebend auf Giordanos Gemüt aus. Des weiteren soll eine nennenswerte finanzielle Zuwendung in Verbindung mit einer Schiffspassage in die Neue Welt nicht unerwähnt bleiben, ich betrachtete sie nicht als Honorar, sondern als Abgeltung meines doch beträchtlichen Aufwands.
Das alles hätte nicht gereicht, gäbe es für meinen Entschluß nicht auch eine historische Begründung. Diese liegt, wie die Welt schon zweimal bitter erfahren musste, darin, daß unbedeutende politische Ereignisse in Österreich dazu neigen, eine welthistorische Dimension anzunehmen.
Im Nachfolgestaat der einstigen Großmacht mit Seeschiffahrt, Marine und der größten Flußreederei der Welt, in dessen engen Grenzen ich den Großteil meines Lebens zugebracht habe, ist eingetreten, was viele für unmöglich, einige für unwahrscheinlich und nur drei Personen für unvermeidbar gehalten hatten. Die drei sind Wenzel Schebesta, der Vorsitzende des „Ständigen Ausschusses zur Klärung sämtlicher Welträtsel“, welcher beim Binder-Heurigen in Wien-Floridsdorf in Permanenz tagt, mein treuer Joseph III., ein unverwüstlicher Rollstuhl der Schweizer Armee namens Küschall, und ich, der weit über die Grenzen Floridsdorfs hinaus geachtete Lebens- und Vermögensberater Groll.
Was war geschehen?
Eine epidemische Fremdenangst hatte sich unter meinen Landsleuten zu einem Generalhaß auf die Welt verdichtet. Zuerst war allerorten, ununterbrochen und mantragleich die Rede von „verständlicher Furcht“ und „berechtigten Ängsten“ angesichts armer Seelen, die vor Krieg und Hunger fliehen. Dann betraten Haßprediger des Internets eine technologische Bühne, die von der Nachfolgepartei der NSDAP betrieben wird. Wer diese Leute als das bezeichnet, was sie sind, nämlich virtuelle Mordbrenner im Übergang zur Tat, dem wurde von staatsnahen Experten beschieden, daß man harmlose Umschreibungen verwenden müsse, widrigenfalls die Unterstützung der lieben Landsleute für eine neue große Zeit der Menschenhatz noch stärker würde. Man solle die Herrschaften in geistigen Schnürstiefeln und Kampfdirndln hätscheln und besänftigen, keinesfalls dürfe man sie vergraulen. Schon gar nicht solle man sich von ihrem höhnischen Gelächter und ihrer schamlosen Niedertracht irritieren lassen. So predigten Großjournalisten, Finanzjongleure und Träger des großen Verdienstzeichens der Zweiten Republik, die eben dabei ist, in der Garderobe der Geschichte eilig den Mantel an sich zu reißen und zu verschwinden. Wissenschaftliche Erklärungen liefern Sozialphilosophen, Sozialpsychologen, Sozialtheologen und andere Herolde der „berechtigten Ängste“. Allesamt Enkel der einstigen Beschwichtigungshofräte.
Und so leben wir in einem weitgehend menschenleeren Land – ein paar Tausend Flüchtlinge und Millionen „Fürchtlinge“. Fäuste werden geschüttelt, Mordpläne geschmiedet, und wann immer die „Fürchtlinge“ den Mund aufmachen, speien sie Haßparolen: Hängt sie! Ertränkt sie! Fort mit den Invasoren aus unserer Heimat! Denn wir sind das Volk und unser ist die Rache für sinkende Löhne, steigende Mieten, Arbeitslosigkeit, zerbrochene Beziehungen, Übergewicht und ranzigen Leberkäse. Wir wissen, wie der Hase läuft. Wir sind die Fürsten des Abschaums.
Menschen mit schwarzen Haaren und großen, dunklen Augen tragen an allem Schuld, grundsätzlich, vorsätzlich und genetisch. Dies in einem Land, in dem Landsmannschaften und parlamentarische Freikorps stolz darauf sind, das Wirtsvolk frei von Genen zu wissen. Die Fürchtlinge verwehren den Flüchtlingen die einfachsten Arbeiten, um sie besser als Schmarotzer am Volkskörper verleumden zu können. Eine gesellschaftliche Arbeit wird den Invasoren, die mit Wischtelefonen bewaffnet sind und Geldscheine in engen Körpertaschen verstecken, allerdings abverlangt: Syrern, Afghanen, Somaliern, Westafrikanern, Roma wird die Rolle einer gesellschaftlichen Abschreckungswaffe zugewiesen. Nicht nur heimische underdogs werden durch die schändliche Behandlung der „Fremdvölkischen“, deren Unterstützung Woche für Woche weiter zusammengestrichen wird, diszipliniert. Und wie immer, wenn eine Gruppe kujoniert wird, sind die Fangarme nach der nächsten schon ausgefahren. Und so dehnt man – aus Gründen der Gleichheit vor dem Gesetz – den Sozialabbau auf österreichische Staatsbürger aus, und ebenso wie immer macht man mit behinderten Menschen den Anfang und streicht deren Unterstützung rigoros zusammen. So laufen die Flüchtlinge im Probebetrieb und produzieren zumindest sozialpolitischen Mehrwert. Angesichts des fremdenfeindlichen Furors meiner Landsleute und der Kürzungen bei der sozialen Sicherheit konnte ich es mir nicht leisten, auf ein Zusatzeinkommen zu verzichten. Noch dazu, wo ich überzeugt bin, daß wir uns erst in den Hauptproben eines Stücks befinden, dessen Premiere viele Heimatverräter und unsichere Kantonisten aus dem Theater schmeißen wird – und das für immer.
Ich habe also auf Mister Giordanos Bitte die Ereignisse meines „Marsches auf Rom und Umgebung“ aufgeschrieben. Daß ich dabei die erstaunliche Kriminal- und Liebesgeschichte des Dozenten und seiner polnischen Historikerin nicht ausspare, liegt auf der Hand. Zu eng zeigte sie sich mit meinem Auftrag verknüpft.
Auch Wenzel Schebesta begrüßt die Niederschrift. Zwar zeuge die Geschichte von haarsträubenden Ermittlungsfehlern und stümperhaftem Vorgehen, davon abgesehen weise sie aber Elemente eines Welträtsels auf, und für dessen Klärung sei der Ausschuß ja eingerichtet worden.
Tag für Tag verrichten Windräder ihre Arbeit. Schon der junge Cervantes war von den Windmühlen der kastilischen Hochebene fasziniert. Als ich in Rom auf seine Spuren stieß, stand ich nicht vor einem, sondern gleich vor mehreren Welträtseln. Ich sah mich daher gezwungen, die erste Hauptregul des Herrn aus der Mancha anzuwenden. Sie lautet: Bewegung ist alles.
Eine hochnotpeinliche Befragung. Kanadische Pioniere und die Farben des Erdöls. Eine Profeß in Rom, eine Flucht nach Sibirien, eine verzweifelte Mutter im Weinviertel
„Ich habe nur Schlechtes von Ihnen gehört“, sagte die großgewachsene Dame im olivgrünen Kostüm. „Sie trinken mehr, als Ihnen guttut, noch dazu trinken Sie schlechten Wein. Wahrscheinlich können Sie sich guten Wein nicht leisten oder Sie sind nicht in der Lage, guten Wein zu erkennen. In Weingegenden ist dieser Defekt häufig anzutreffen. Ich weiß das, ich komme aus einer Weingegend. Darüber hinaus sind Sie unzuverlässig, großsprecherisch und neigen zu Eskapaden, aus denen andere Sie retten müssen. Daß Sie im Rollstuhl sitzen, spricht auch nicht für Sie. Leute Ihres Schlages müssen immer kompensieren. Daraus resultieren ein brüchiges Selbstbewusstsein, das gern mit einem schmierigen und hinterfotzigen Charakter einhergeht, und ein Hang zur Traumtänzerei. Auch das weiß ich, denn ich habe mit behinderten Jugendlichen gearbeitet. Eine disziplinlose und obszöne Bande.“
Es war still im Garten des Binder-Heurigen in Wien-Floridsdorf. Eine warme Brise umspielte den weißen Fliederbusch. Die Klientin und ich waren allein. Im Frühling tauchen die ersten Heurigengeher erst bei Einbruch der Dämmerung auf. Ich war kein Heurigengast, ich hielt Sprechstunde in der Freiluftkanzlei meiner illegalen Lebens-und Vermögensberatung „Ister“. Die Adresse wurde nur unter der Hand weitergegeben. Wer zu mir fand, hatte schon einiges hinter sich und steckte in großen Schwierigkeiten. Für die meisten Klienten bin ich die letzte Hoffnung. Es gibt keine bessere Geschäftsgrundlage.
Ich lehnte mich im Rollstuhl zurück. „Fahren Sie in der Laudatio fort.“
Es ist nicht ungewöhnlich, daß manche Klienten sich bei der Erhebung der Anamnese arrogant gebärden; sie hoffen dadurch den Preis für meine Dienstleistung drücken zu können. Das Gegenteil ist aber der Fall. Wer mit dem Rücken zur Wand steht und dennoch feilscht, landet bei mir in der Honorarklasse zwei, fünfzig Prozent Aufschlag für Dummdreistigkeit in Tateinheit mit Anmaßung.
Die Frau in Olivgrün kramte in ihrer Handtasche, holte ein großes weißes Kuvert hervor und legte es auf den Holztisch.
„Da ist kein Geld drin. Falls Sie das hoffen.“
Ich hätte das Hoffen am Tag meiner Firmung aufgegeben, erwiderte ich. Sie schaute mich streng an, wie eine Lehrerin, die eine obszöne Bemerkung aus der Klasse hört.
„Wann sind Sie aus der Kirche ausgetreten?“
„Mit der Volljährigkeit. Ich dachte, eine Religion, die Leute wie mich aufnimmt, taugt nichts. Im übrigen nehme ich keine Anzahlung, nur Erfolgshonorar.“
Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu, daß ich gegen einen Spesenersatz im voraus aber keinen Einwand hätte.
In welcher Höhe dieser zu veranschlagen zu sei, wollte die Klientin nun wissen. Er erreiche das Niveau einer großzügigen Anzahlung, erwiderte ich.
Ein Lächeln umspielte ihren Mund. „Genau so wurden Sie mir beschrieben. Unberechenbar und gerissen. Also keine Anzahlung, sondern ein Spesenersatz in Höhe einer Anzahlung.“
Ich nickte ernst.
„Sie werden Ihr Geld bekommen“, sagte sie. Lassen Sie mich noch eine Frage klären. Sie sind aus der Kirche ausgetreten, ich vermute aus finanziellen und somit niederen Motiven. Sind Sie dennoch gläubig? Die meisten Nestflüchtlinge hängen ja irgendwelchen Derivatglauben an, sie glauben an einen Gott ohne Kirche, ein zweites Leben im Nirwana oder an fliegende Schmalzbrote. Daher meine Frage: Sind Sie gläubig?“ „Ist das wichtig?“ fragte ich zurück. Inquisitorische Fragen bringen mich in Rage.
„In meinem Fall ja.“
Ich schaute ihr geradewegs in die Augen. Sie senkte den Blick nicht.
„Ich wiederhole: Sind Sie gläubig?“ Ihre dunkle Stimme war plötzlich metallisch scharf.
Dieses Stadium der Anamnese sollten wir abschließen, dachte ich und sagte verbindlich. „Ich glaube an Schlaf.“
Die Dame in Olivgrün spitzte für einen Moment die Lippen.
„Diesen Satz habe ich schon einmal gehört.“
„Es gibt viele, die an Schlaf glauben“, fuhr ich fort. „Wenn alle, die an Schlaf glauben, eine Religion betrieben, sähe die Welt anders aus.“
„Sie meinen: besser.“
„Anders. Schläfer haben eine hidden agenda. Jahrzehntelang verhalten sie sich unauffällig, doch auf ein Zeichen der Zentrale erwachen sie von einer Sekunde auf die andere zum Leben und beginnen ihr subversives Werk.“
„Und wer, bitteschön, ist die Zentrale?“
Ich machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.“
Die Klientin schwieg eine Weile. Dann schob sie mit einer energischen Handbewegung eine schwarze Haarlocke aus ihrem Gesicht.
„Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen.“ Sie war wieder zum geschäftlichen Tonfall zurückgekehrt.
„Gnädige Frau, anders kommt man nicht zu mir. Ich stehe nicht im Branchenverzeichnis.“
„Mir wurde zugetragen, daß Sie ein Schlitzohr sind. Und daß Sie eine Passion für die Donau haben.“
„Man hat Sie nicht belogen.“
„Sie glauben also an den Schlaf und an die Donau.“
„An die Donau glaube ich nicht. Ich bin ihr hörig.“
Sie warf das Haar in den Nacken. Die Bewegung war anmutig und stand ihr gut.
„Sie sind nicht gekommen, um mit mir über Glaube, Liebe, Hoffnung zu sprechen.“
Geschäftsanbahnungen dürfen nicht ausufern, ich bin kein Gesprächstherapeut, sondern Lebens- und Vermögensberater. Wenn man dieses Gewerbe richtig betreibt, kommt man mit wenigen Sätzen durch. Die Mehrzahl aller Krisen ist durch Trennungen und Ortswechsel zu meistern. Doch am interessantesten sind jene Verstrickungen, die ungewöhnliche Lösungen erzwingen. Sie erweitern den Horizont und füllen die Börse.
Die Frau in Olivgrün zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten nicht. Sie dachte nach. Dann blies sie den Rauch in mein Gesicht. Erschrocken wedelte sie mit den Händen Rauchfetzen beiseite und dachte weiter nach. Ihr schwarzgefärbtes Haar fiel lang über ihren Rücken. Es glänzte wie der Bug eines Tankschiffs, das durch die Strömung pflügt. Sie saß aufrecht, aber nicht wie höhere Töchter in der Tanzstunde. Ihre Haltung war natürlich, ihr Blick fest und ihre Gesten bestimmt. Eine selbstbewußte, erfahrene und schöne Frau. Aber sie ließ mich zappeln. Gesprächstechnisch ist das schlecht, das Machtspielchen untergräbt meine Autorität. Also griff ich ein.
„Gnädige Frau, meine Sprechstunde endet um siebzehn Uhr. Ab diesem Zeitpunkt können Sie mit mir Intimitäten anbahnen oder über die Binnenschiffahrt reden. Man kann beides auch koppeln, in der beschriebenen Reihenfolge.“
Sie senkte den Blick. Jetzt erst sah ich ihre Zigarettenschachtel. Eine Nazionali, in der rotblauen Packung. Straßenarbeiter und Philosophen der Fünf-Sterne-Bewegung rauchen diese Marke.
Sie musterte mich mit kalten Augen. „Ich habe keine Ahnung von der Binnenschiffahrt. Und das andere kommt bei Ihnen ja wohl nicht in Frage.“
Der Konter saß. Ich zwang mich dazu, mein Lächeln nicht einfrieren zu lassen.
„Kommen wir also zum Geschäft“, sagte sie trocken. „Ich möchte mit Ihnen über meinen Sohn sprechen.“
Nach einem langen Blick auf die Bahnhofsuhr oberhalb des Eingangs zur Schank öffnete ich die linke Hand und drehte sie ein wenig. Marlon Brando hat diese Geste im „Paten“ zur Perfektion entwickelt, das Öffnen der auf einem Tisch ruhenden linken Hand geht immer mit einem einladenden Lächeln einher. Versuchen Sie es, Sie werden mir recht geben.
Die Klientin zog drei Fotografien aus dem Kuvert. Sie zeigten einen kurzhaarigen, schlanken Mann mit südländischem Teint. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „beyond remedy“. Sinnliche Lippen, buschige Augenbrauen, ein offener Gesichtsausdruck mit einem Anflug von Verwegenheit. Jim Morrison, bevor er die Doors gründete.
„Markus, mein Einziger. Morgen wird er vierundzwanzig Jahre alt.“
Neidlos stellte ich fest: Der Einzige sah blendend aus, ein würdiger Sproß seiner Mutter. Er wird eine Jugendtorheit begangen haben, dachte ich. Autounfall unter Drogeneinfluß, Spielschulden, Fehlspekulation mit elterlichem Geld, geschwängerte Asylwerberinnen – etwas in der Kategorie. Schöne Männer von Markus’ Zuschnitt sind vielen Verführungen ausgesetzt.
Es schien, als könne meine Klientin Gedanken lesen. Sie dämpfte die Zigarette aus und zündete sich unverzüglich eine neue an. Ich schob ihr den Aschenbecher zu, setzte mich im Rollstuhl gerade und legte beide Hände auf den Tisch.
Sie seufzte schwer, dann sagte sie: „Markus hat eine ausgefallene Berufswahl getroffen. Er wird Priester. Sein Entschluß steht seit der Firmung und seinem Eintritt ins erzbischöfliche Gymnasium fest. Er hatte durchaus Mädchenbekanntschaften, noch heute drehen die Mädchen sich nach ihm um. Aber der Entschluß meines Sohnes, sein Leben dem Allmächtigen zu weihen, ist unverrückbar. Es ist tragisch, eine ungeheuerliche Verschwendung von Leben. Daß es sich um eine Dauerstellung handelt, vermag meinen Schmerz nicht zu lindern.“
Wieder machte ich die bewußte Geste.
„Er war in seinem Glauben nie fanatisch oder versponnen“, fuhr die Mutter fort. „Er sieht sich auf der Seite der Armen und verabscheut den hohen Klerus. Ein Papst mit roten Seidenschuhen geht nicht durch die Straßen der Elenden, sagt er über Benedikt. Vom argentinischen Papst ist er begeistert, er liebt ihn wie einen Vater – den er nicht hatte. Das heißt, er hatte im Lauf der Jahre drei, aber sie waren nie für ihn da. Der leibliche Vater folgte noch vor Markus’ Geburt dem Ruf einer Lustenauerin, der zweite starb nach zwei Jahren bei einem Autounfall, und der dritte …
Josephs Gestänge knarrte. Er wurde ungeduldig. „Ist ihr Sohn denn – Jesuit?“ unterbrach ich.
„Die sind ihm zu streng. Außerdem ist er historisch bewandert. Deschners ‚Kriminalgeschichte des Christentums‘ liegt bei Markus auf dem Nachtkästchen. Ihm haben es die Malteser angetan; die pflegen Verbindungen rund um den Globus, und sie keltern guten Wein, und den hat Markus bei uns im Weinviertel immer geschätzt. Mein Nachbar, Adolf Huber, betreibt eines der berühmtesten Weingüter des nördlichen Weinviertels. Die Adresse ‚Erdölstraße 1‘ bürgt für Qualität. Der Huber’sche Zweigelt ist wirklich außerordentlich, seine Viskosität ist unerreicht. Solcherart verwöhnt, war Markus’ Weg vorgezeichnet: er heuerte bei den Malteserrittern an. Sie entschuldigen den saloppen Ausdruck.“ Ich nickte wohlwollend. In der Sprache der Schiffahrt über Ritterorden zu sprechen schien mir keine schlechte Idee.
„Seit achtzehn Monaten studiert er nun an der Päpstlichen Universität Gregoriana auf der Piazza della Pilotta. Das ist beim Trevi-Brunnen.“
Ich nickte. Die Straßen Roms sind mir so fremd wie die Grundlagen des Christentums.
„Mein Sohn wird Malteserritter. Welche Mutter kann das schon von ihrem Sohn sagen? Welche Mutter muß das von ihrem Sohn sagen? Mein Einziger wird kein Weltpriester, er wird Ordensmann, ein Fra’. Das kommt von Frater, Bruder.“
Die unglückliche Mamà hatte keine hohe Meinung von meiner Bildung. Ich bemühte mich, ihr Vorurteil noch zu verstärken. „Mir ist der Name eines Dorfs im Waldviertel geläufig, direkt an der tschechischen Grenze und unweit der mährischen Thaya. Die ist zwar wie die March und die Donau eine internationale Wasserstraße, aber dort oben ist sie noch lange nicht schiffbar. Die Ortschaft heißt Fratres. Ich glaube aber nicht, daß dort viele Malteserritter aufhältig sind. Andererseits gibt es in Mailberg im Weinviertel eine häßliche und abweisende Malteserburg mit einem renommierten Schloßweingut“, – die Klientin nickte – „es ist nicht auszuschließen, daß die Mailberger Fratres einen vorgeschobenen Außenposten in Fratres betreiben.“
Um das zu überprüfen, hätte ich den Dozenten und dessen Computerflunder benötigt. Aber mein Freund war nicht ansprechbar, er sei einer großen Sache auf der Spur, hatte er am Telefon gesagt, so groß, daß das Schicksal des Abendlands davon abhänge. Der Dozent hat immer große Ziele, darunter tut er’s nicht.
Markus’ Mutter lächelte gequält. Sie wußte nicht, ob ich sie auf den Arm nahm.
„In einem Jahr soll er die Profeß feiern, er meldet sich regelmäßig, ein Telefonat pro Woche, manchmal zwei“, sagte sie traurig. „Häufig kommen Postkarten, er überrascht mich mit immer neuen Ansichten von Rom. An minder wichtigen Feiertagen kommt er auch nach Hause. Er erzählt mir dann, was es mit den einzelnen Kirchen oder Straßenzügen, die auf den Karten abgebildet sind, auf sich hat.“
Braver Bub, dachte ich. Der Stoff für eine Predigt.
„Markus kümmert sich um mich. Er würde es nie zulassen, daß mir etwas zustößt.“
„Gnädigste, es wäre für uns beide hilfreich, wenn Sie mir jetzt erzählen könnten, wo das Problem liegt.“
„Habe ich das nicht gesagt?“ rief sie aus. “Seit sechs Wochen höre ich nichts von ihm! Kein Anruf, keine Postkarte! Wenn ich zurückrufe, heißt es auf Italienisch: keine Verbindung unter dieser Nummer. Aber eine andere habe ich nicht! Meine Angst wird von Tag zu Tag größer. Eine Mutter spürt, wenn ihr Kind in Gefahr ist. Wie kann denn ein Priesterzögling in Rom verlorengehen! Ein Küken verliert sich ja auch nicht im Nest.“
Aber manche fallen heraus und werden von großen schwarzen Katzen namens Luzifer gefressen, dachte ich. „Ich bin keine Landpomeranze, falls Sie das glauben!“ setzte sie hinzu.
Ich hob abwehrend die Hände. Sie strich ihr Kleid glatt, das mir jetzt weniger olivgrün vorkam.
„Ich weiß mich schon in der Welt zu behaupten. Zehn Jahre Wirtschaftskammer, davon fünf Jahre im Ausland, in Schweden, der Sowjetunion und Kanada. Dann fünfzehn Jahre in der Erdölbranche, zuletzt als Prokuristin bei van Sickle. Ich habe mit ehemaligen SS-Geologen, österreichischen Ministern und sowjetischen Handelsattachés verhandelt. Da lernt man auch im Weinviertel die Welt kennen. Pardon, ich vergaß hinzuzufügen: Van Sickle ist …“
„Gnädige Frau“, unterbrach ich höflich. „Ich kenne die Firmengeschichte, die Firma van Sickle zählt zu den Pionieren der heimischen Erdölförderung. Einer meiner Freunde schuftete bei van Sickle in der Prospektion, Ende der siebziger Jahre ging er nach Tjumen in Sibirien und später nach Misurata, Libyen.“
Hannes war schon in den Siebzigern, aber wenn er von seinen Abenteuern auf den Erdölfeldern dieser Welt erzählte, waren die Jahre wie weggeblasen. Von ihm wußte ich auch, daß einzelne Fraktionen des Weinviertler Erdöls bei Licht dunkelgrün leuchteten. Französisches Erdöl ist laut Hannes bordeauxrot, iranisches tiefschwarz, die Öle der Golfemirate sind essigbraun, das sibirische glänzt in tiefem Revolutionsrot, kann aber auch einen rostigen Ton annehmen, das hochwertige Nordseeöl ist messingfarben. Das österreichische Erdöl schwankt zwischen tiefgrün und braun, woran man auch erkennen kann, daß der österreichische Faschismus eine geologische Konstante hat. Sagte man Hannes ein Naheverhältnis zum „Ständigen Ausschuß zur Klärung sämtlicher Welträtsel“, welcher beim Binder-Heurigen in Permanenz tagt, nach, ich würde nicht widersprechen.
„Ich weiß nicht einmal, wo ich nach meinem Sohn suchen soll“, klagte die verzweifelte Mutter. „Als Frau habe ich in Ordenskreisen keine Möglichkeit, gezielt nachzufragen. Man würde nicht einmal mit mir sprechen. Mütter, die es nicht verwinden können, ihre Söhne an eine Parallelwelt verloren zu haben, gibt es viele.“
„Sie erwähnten den dritten Vater …“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Für einen Kommunisten der alten Schule und Erdölgeologen, der Religionen grundsätzlich verabscheut, hatte Markus’ Berufswahl verheerende Auswirkungen. Er trank und wurde gewalttätig, gegen mich und gegen Markus. Am Tag, als unser Sohn ins römische Priesterseminar einrückte, schlug mein Mann mich so blutig, daß ich eine Woche das Haus nicht verlassen konnte. Am nächsten Tag unterzeichnete er einen Kontrakt für ein sibirisches Erdölfeld. Unsere Ehe war vorher schon zerrüttet, aber ich hätte es noch eine Weile ausgehalten.“ Ich nahm mir vor, mich bei Hannes über den Kollegen zu erkundigen.
Die Dame in Olivgrün sah sich um, offensichtlich nach einer Servierkraft, aber vor siebzehn Uhr war mit der Kellnerin nicht zu rechnen. Sie fuhr fort:
„Auch mir fiel es schwer, Markus’ Berufswahl zu akzeptieren. Aber dann sagte ich mir: Hauptsache, der Bub ist glücklich. Das ist es ja, was Eltern ihren Kindern mitgeben. Das Streben nach Glück. Ich habe Markus keine Vorwürfe gemacht, es war ja auch für ihn nicht einfach. Ich schwor bei mir: Was auch kommen mag, ich tue alles, um mit meinem Sohn im Gespräch zu bleiben. Außerdem: Rom ist nicht aus der Welt.“
Zuerst verliert die Frau den Mann, dann den Sohn, dachte ich. Das war nicht leicht, im Weinviertel schon gar nicht. Depressionen gedeihen in diesem Landstrich besonders gut.
„Ich verstehe“, sagte ich.
„Das glaube ich nicht. Sie sind ein Mann. Wahrscheinlich allein lebend, Leute Ihres Schlages sind meist beziehungsunfähig. Sie können das nicht nachvollziehen.“ Ich nickte höflich. Ein Psychotherapeut verliert auch nicht die Nerven, wenn ein Klient davon träumt, mit einem Dutzend Wildschweinen sexuell zu verkehren. Der Therapeut wird Ruhe bewahren und in beharrlicher Gesprächsarbeit die Anzahl der Sexualpartner auf höchstens drei reduzieren. Mit dreien schafft man es immer, das gilt für Menschen wie für Wildschweine.
Wer zu spät kommt, den bestraft die Phrase. Kühlschränke im Renndesign und die Zukunft der Konspiration. Der Dozent verfällt einer polnischen Historikerin. Der wahre Grund für die Entstehung des römischen Weltreichs. Schließlich: Durchbruch an den Isonzo
„Wir sind hier falsch“, rief der Dozent. Ich kurbelte entschlossen am Lenkrad und gab Vollgas. Der verschlammte Weg führte steil bergauf, linkerhand fiel der Weingarten ins Tal ab, rechts ragte ein Fichtenwald in den Himmel. Mein alter Renault 5 schlingerte wie ein Fischerboot bei rollender See.
„Drehen Sie um Gottes willen um“, schrie der Dozent. „Der Berg wird uns verschlucken! Nichts wird an uns erinnern!“
Ich konzentrierte mich darauf, den Gasring gedrückt und die Geschwindigkeit hoch zu halten. Daß ein Hietzinger Akademiker in Seenot die Götter anruft und den Weltuntergang nahen sieht, bestärkte meinen Vorbehalt gegen Privatschulen. Sie richten die Kinder betuchter Eltern zu künftigen Vorstandsvorsitzenden ab; wenn es aber donnert und blitzt, fallen die kommenden CEOs auf das Niveau von Welpen zurück.
„Das Leben selbst wird uns den Weg weisen, lassen Sie Ihre Götter schön zu Hause“, sagte ich scharf. Eine glückliche Fügung bescherte uns festen Grund. Wir bogen in einen schmalen Weg ein und kamen gut voran. Auf der Kuppe bot sich uns ein pittoresker Anblick. Eine Versammlung grüner Buckel; Wellenberge in einem Meer aus Wein.
„Steirisches Disneyland“, befand der Dozent. „Sind Sie sicher, daß wir uns hier auf der schnellsten Route nach Rom befinden?“
Noch bevor ich antworten konnte, setzte mein Gefährte das Lamento fort. „Ein Navigationsgerät haben Sie ja ebensowenig wie taugliche Straßenkarten! Mit Hilfe Ihrer Militärkarte aus der Monarchie haben Sie uns in die Wildnis manövriert. Trutzige Ruinen, tückische Wanderdünen, ein furchterregender Gebirgsstock.“
„Vor der Soboth brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Höchstens vor den Motorrädern auf der Paßstraße.“
„Das sagt einer, der über zu wenig Intelligenz verfügt, um Furcht zu empfinden“, gab der Dozent zurück. „Sicher gibt es auf der Soboth Wölfe, die das Fleisch von gesund ernährten Großstädtern schätzen. Sie sollten sich einen Jeep zulegen oder, besser, einen Traktor mit Seilwinde.“
Abgesehen von meiner finanziellen Malaise seien beide Fahrzeuge für mich schon aufgrund ihrer Sitzhöhe unerreichbar wie der Monte Tricorno, der König der Julischen Alpen, antwortete ich.
„Keine Ausflüchte! Sie sprechen vom Triglav. Ein Nanga Parbat mit Zwetschken. Kommen Sie mir jetzt nicht mit Slowenien!“
„Wir sind in Slowenien, verehrter Freund! Eben haben wir mit Hilfe der k.u.k. Manöverkarte das Grenzmanagement der Festung Österreich ausgetrickst und sind ohne Kontrolle durch wildgewordene Innen-, Außen- und Kriegsminister nach Slowenien durchgebrochen. Ein perfektes Umgehungsmanöver, es wird dereinst an den Militärakademien für Aufsehen sorgen. Wir haben uns drei Stunden im Stau erspart und befinden uns auf dem schnellsten Weg nach Rom. Vor uns liegt das Mittelmeer. In der Ferne sehe ich schon die Kuppel des Pantheon.“
Daß ich infolge eines glücklichen Irrtums im Weingarten eines ehemaligen Grazer ÖVP-Stadtrats gelandet war, der sich standhaft weigerte, sein Grundstück, welches zur Hälfte in Slowenien, zur Hälfte in Österreich lag, mit Wachtürmen und Stacheldrahtzäunen zu versehen, verschwieg ich. Auch ein berühmter Winzer hatte seine Weingärten vom Zaunzwang ausgenommen. Aber wie das mit berühmten Winzern so ist – sie müssen auf die Märkte Rücksicht neh-men, und im neuen Europa kommen die Märkte nicht ohne Grenzfesten und Selbstschußanlagen aus. Das leuchtete auch dem berühmten Weinhauer ein, er wechselte die Fronten und fiel den Standhaften in den Rücken. Er darf nun den Titel „Schandweinproduzent“ führen. Möge er einen Verkaufsschlager daraus machen.
Ein Stau auf der Autobahn sei ihm zehnmal lieber als eine lebensgefährliche Berg- und Talfahrt in der Wildnis, meinte der Dozent. Schließlich seien wir ja keine Schlepper.
Ich verwahrte mich dagegen, despektierlich über altehrwürdige Flußschlepper zu sprechen. Der Dozent dachte keinen Moment daran, daß Polizeikontrollen für einen verdeckten Ermittler eine unkalkulierbare Bedrohung darstellen. Auch wenn man keinen Flüchtling im Handschuhfach findet; die technischen Mängel meines Wagens hätten langwierige und unerquickliche Auseinandersetzungen mit der Behörde nach sich gezogen.
„Umwege sind das Salz der Existenz. Das Leben selbst will es so“, beendete ich die Debatte. Vorsichtig rumpelten wir den Weinberg hinunter ins Slowenische. Es gab noch einen weiteren Grund für meine Routenwahl. Der Weg über Kärnten schien mir zu riskant. Aus gewöhnlich gut informierten Quellen wußte ich, daß das Haider-Lager dabei war, sich neu zu formieren. Da mußte ich nicht dabei sein, aus diesem Kelch hatte ich vor Jahren schon getrunken.
Nach einiger Zeit erkundigte der Dozent sich nach der von mir gebrauchten Wendung.
„‚Das Leben selbst … Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘. Diese Phrase stammt doch aus der Zeit Michail Gorbatschows?“
Der sei nur der Vollender, besser gesagt, der Vollstrecker gewesen, sagte ich, als wir an der reißenden, hochwasserführenden Drau entlangfuhren. Die Wendung sei wesentlich älter. Man finde sie schon in den sechziger und siebziger Jahren in Reden kommunistischer Politiker und Gesellschaftswissenschaftler. „Die Phrase ersetzte eine ältere, inflationär gebrauchte. Durch Jahrzehnte fingen alle Reden und Zeitschriftenartikel mit den Worten: ‚Wie schon der Generalsekretär unserer ruhmreichen Partei, Josef Wissarionowitsch Stalin, in seiner Abhandlung über – nun konnte man einsetzen: Baumwollplantagen, die bourgeoise Gene-tik von Getreidesorten, Wohnungsbau, Atomwaffen – meinte und so fort. Jeder Text begann mit einer Ergebenheitsgeste an das Genie des Vorsitzenden. Auch hervorragende Arbeiten auf dem Gebiet der Medizin, der Binnenschiffahrt- und Gewässerkunde, der FondsÖkonomie oder des Frauenstudiums in zentralasiatischen Sowjetrepubliken begannen und endeten mit dieser Phrase. In den sechziger Jahren wurde die Phrase seltener verwendet, sie bezog sich auf den neuen Generalsekretär Breschnjew, der wurde zwar vom Genie zur Onkelfigur herabgestuft, aber sie blieb Bestandteil der meisten Abhandlungen. Erst in den achtziger Jahren wurde sie im großen Ordner der Geschichte abgeheftet. Die für unsere Ohren seltsam anmutende Wendung ‚das Leben selbst‘ ist also ein Beleg für die Überwindung des Personenkults. Da man schlecht zu den Göttern zurückkehren konnte, nahm man eine Anleihe bei den Gnostikern und praktizierte eine Vergöttlichung der Welt, wenn Sie so wollen, einen pantheistischen Atheismus, eine ideologische Krücke. ‚Das Leben selbst‘, was für ein Unsinn! Als hätte es als Gesellschaftsziel nicht gereicht, die Katastrophen des menschlichen Jammertals wenn schon nicht auszuschalten, so doch zumindest zu lindern.“
Der Dozent würdigte mich keiner Antwort, der östliche Sozialismus war im Theresianum offensichtlich nicht auf dem Lehrplan gestanden. Er breitete die Manöverkarte aus und befragte seine Computerflunder.
In Ravnje seien einst die besten Messer Europas geschmiedet worden, bemerkte er nach einer Weile. Und in Slovenj Gradec sei der Liederpapst Hugo Wolf aufgewachsen. Zuerst Musikkritiker in einer Zeitung für den Adel, dann Komponist, habe er zeitlebens in großer Armut gelebt und sei von Freundeshilfe abhängig gewesen. „Seit den frühen Mannesjahren an Syphilis leidend und mit knapp vierzig Jahren daran zugrunde gegangen. Musikalisch ein Wagnerianer und Feind von Brahms. Ich kenne einige seiner Lieder. Spätromantisch, sehr späte Romantik, um das beste zu sagen.“
„Ich habe nie von diesem Mann gehört. Es muß sich um einen minder bedeutenden Künstler handeln.“
„Banause“, sagte der Dozent.
„Theresianist“, sagte ich.
Wolf habe Stücke aus Goethes „Westöstlichem Diwan“ vertont, fuhr der Dozent fort. Unter anderem die Gedichte „Ob der Koran von Ewigkeit sei?“ und „Als ich auf dem Euphrat schiffte“.
„Ein großartiger Künstler!“ warf ich ein. „Ein Mann mit Weitblick und einem schiffenden Gemüt. Männer dieses Formats sind heute selten.“
„Wieso schauen Sie mich an?“ sagte der Dozent. „Achten Sie lieber auf die Kurven.“
Nach einer Weile passierten wir eine Industriestadt namens Velenje, im Ortszentrum befand sich eine schlanke Sprungschanze. „Das Elend des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus“, sagte der Dozent. „Sie wollten hoch hinaus und fielen fürchterlich auf die Schnauze. Schauen Sie nur, Wohnruinen aus den siebziger Jahren, Gewerbebrachen, aber restaurierte Kirchen. Das bleibt von der Großmannssucht. Ein schäbiger und frömmelnder Nationalismus.“
„Sie haben eben kein Gespür für den sozialistischen Traum“, erwiderte ich. „Sie kennen das Leben mit der Großindustrie nur aus soziologischen Büchern. Kein Wunder, Fabriken waren ja in Ihrem Heimatbezirk Hietzing durch Jahrhunderte verboten. Im Weichbild von Schönbrunn wurden nur Manufakturen im Dienste des Herrscherhauses geduldet, man fertigte Bettwärmer, Fransen, Kordeln, Gimpen, Posamente in allen Varianten. Das größte Industrieprodukt waren handgeschmiedete Spargelschäler für die kaiserliche Küche.“
Mein Begleiter würdigte mich keiner Antwort. Meine Freude war groß, als ich ihn wenig später auf eine kilometerlange Industrielandschaft verweisen konnte. Einige Altbauten und viele silberfarbene, großartige Hallen. Überfüllte Parkplätze, acht Werkseinfahrten, reger LKW-Verkehr. Gorenje.
Wenig später machten wir in einem Dorf vor einer Gostilnica Rast, auch das Dorf trug den Namen Gorenje. „Das Dorf wurde nach dem Werk benannt. Die Indu-strie ebnet das Land ein“, nörgelte der Dozent.
„Verehrter Freund, es ist umgekehrt. Das unscheinbare Dörfchen gab dem Konzern den Namen. Gorenje ist einer der größten Weißwarenhersteller Europas, bekannt für langlebige Geräte mit innovativem Design. Seit Jahren pflegt Gorenje eine enge Kooperation mit dem legendären Designerbüro Pininfarina aus Turin. Kühlschränke und Küchengeräte, gezeichnet von Ferrari-Designern. Wo finden Sie Ähnliches?“
Der Dozent trug die Niederlage mit Fassung. Zur Strafe müsse er einen Cviček trinken, beschied ich. Er betrachtete den hellroten Wein mit Skepsis, nahm einen großen Schluck und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Einsetzender Regen ließ uns auf die Straße zurückkehren. Der Dozent vertiefte sich in schriftliche Unterlagen. Ich verspürte eine feuchte Müdigkeit, wollte aber bis zum Abend am Unterlauf des Isonzo in einem kleinen Weiler namens Versa sein, wo ich ein ebenerdiges Quartier in einer Osteria wußte.
“Was studieren Sie da? Eine wissenschaftliche Abhandlung? Einen Debattenbeitrag?“ fragte ich nach einer Weile.
„Nichts von alldem. Ich habe vor einiger Zeit ein Schreiben samt Anlagen erhalten, nicht per E-mail, sondern ganz nach alter Façon, per Briefpost“, erwiderte der Dozent. „Ich lese den Text immer wieder. Ein seltsames Schreiben, ein seltsames Anliegen, verfasst in antiquiertem Deutsch. Von einer Polin. Mittlerweile hat sich zwischen uns eine rege Korrespondenz entwickelt. Sie benützt keinen Computer, sie ist Mediävistin.“
„Ich dachte, diese Krankheit sei längst ausgerottet.“
„Mediävistik heißt Mittelalterkunde …“ Er reichte mir eine Fotografie. Sie zeigte eine zierliche Frau mit hohen Backenknochen, langen blonden Haaren und blitzenden Augen.
„So viel Geschmack hätte ich Ihnen nur in Ausnahmefällen zugetraut.“
„Kryszu ist ein Ausnahmefall!“ versicherte der Dozent. „Kryszu ist die Koseform von Krystyna, die sich mit zwei Ypsilon schreibt und ausgesprochen wird wie ein hartes I. Die Betonung liegt auf der zweiten Silbe: ‚Kristinna‘.“
„Sie sind ja schon recht intim, die Frau mittleren Alters und Sie, wenn Sie schon per Kosenamen verkehren.“
„Aus Ihnen spricht der Neid, der pure Neid. Er macht Sie häßlicher, als Sie sind“, erwiderte der Dozent. „Den Kosenamen habe ich im Sprachlexikon nachgeschlagen. Ich wollte die Kollegin nicht mit dem doch etwas umständlichen Namen Krystyna Wisława Agnieszka Hrystofiak ansprechen.“
„Geben Sie zu, Sie haben sich in die Frau verknallt.“ Mein Begleiter schwieg.