Herz am langen Zügel - Antje Szillat - E-Book

Herz am langen Zügel E-Book

Antje Szillat

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Beschreibung

Eine romantisch-turbulente Komödie und ein gefühlvoller Frauen-Roman um eine Pferdenärrin wider Willen von der Kinderbuch-Bestseller-Autorin Antje Szillat und eine gefühlvolle Familiengeschichte um eine Frau, die den Weg zurück zu ihren Eltern findet. Mila, 31, erfolgreich und glücklich als hipper Hamburger Single, kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als ihre Designer-Pumps wieder gegen Gummistiefel zu tauschen. Genau das erwartet sie auf dem Pferdehof ihrer Eltern, und genau deshalb will sie eigentlich so schnell wie möglich wieder fort. Wären da nicht die Pferde, die etwas in Mila berühren, das sie längst verloren geglaubt hat. Als dann auch noch der Springreiter Stefan mit seinem Hannoveraner-Hengst Hot Chocolate auftaucht, muss Mila sich entscheiden: Kann sie ihrem Herzen noch einmal die Zügel freigeben, um endlich die große Liebe zu erleben?

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Antje Szillat

Herz am langen Zügel

Roman

Knaur e-books

 

Über dieses Buch

Eine romantisch-turbulente Komödie und ein gefühlvoller Frauen-Roman um eine Pferdenärrin wider Willen von der Kinderbuch-Bestseller-Autorin Antje Szillat

Mila, 31, erfolgreich und glücklich als hipper Hamburger Single, kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als ihre Designer-Pumps wieder gegen Gummistiefel zu tauschen. Genau das erwartet sie auf dem Pferdehof ihrer Eltern, und genau deshalb will sie eigentlich so schnell wie möglich wieder fort. Wären da nicht die Pferde, die etwas in Mila berühren, das sie längst verloren geglaubt hat. Als dann auch noch der Springreiter Stefan mit seinem Hannoveraner-Hengst Hot Chocolate auftaucht, muss Mila sich entscheiden: Kann sie ihrem Herzen noch einmal die Zügel freigeben, um endlich die große Liebe zu erleben?

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Epilog
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Für meinen Danny

 

Du bist als Pferd der beste Mensch, den man zum Freund haben kann.

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Prolog

Mit den Zügeln in der Hand auf dem Weg ins Wunderland

 

Das Gatter war hoch und schien Malin unüberwindbar. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, sich ganz groß machen, um einen Blick auf die Ponys in dem matschigen Auslauf erhaschen zu können.

Heute Morgen beim Frühstück hatte sie mit angehört, wie sich ihre Eltern über die Ponys vom Klünderhof unterhielten. Ihre Mutter hatte die Zustände dort als Schande bezeichnet, und ihr Vater hatte zustimmend genickt und gemeint, dass es gut sei, dass der Amtstierarzt im Zuge der Zwangsversteigerung des Hofes auch endlich die armen Ponys beschlagnahmt hatte.

Malin verstand nicht so richtig, was sie damit meinten und warum sie sich darüber so aufregten. Dass die armen Ponys sich bestimmt freuten, diesem Elend zu entkommen, konnte sie auch nicht feststellen. Sie tobten vergnügt im Auslauf miteinander herum.

Malin hätte ihnen zu gerne noch länger beim Spielen zugesehen, doch ihr Vater drängte zum Aufbruch. Er hatte die kleine Kehrmaschine, derentwegen sie hierhergekommen waren, ersteigert und wollte nun zurück nach Hause fahren.

»Nur noch einen kleinen Moment«, bettelte Malin.

»Was gibt es denn da Spannendes zu sehen?«, fragte ihr Vater ungeduldig.

»Ponys, ganz viele süße Ponys. Aber am süßesten von allen ist das Braune mit dem weißen Fleck auf der Stirn. Schau doch mal, Papa, wie niedlich es guckt«, schwärmte Malin.

»Kind, komm da weg«, befahl ihr Vater. »Das ist gefährlich.«

Erschrocken wich Malin vom Gatter zurück und sah ihren Vater mit großen Augen an.

»Warum?«

So besorgt, wie ihr Vater guckte, rechnete sie fest mit seiner Vermutung, dass sich keine Ponys hinter dem Gatter befanden, sondern Löwen, Tiger oder vielleicht sogar Monster.

Doch ihr Vater seufzte nur tief und erklärte: »Die haben bestimmt alle miteinander irgendwelche Krankheiten, und ich möchte nicht, dass wir irgendetwas davon mit in unseren Stall schleppen.«

Malin begriff auch jetzt nicht, was er meinte, denn krank sah für sie keines der Ponys aus und erst recht nicht das süßeste von allen, der Braune mit dem weißen Fleck. Das wollte sie ihrem Vater auch so sagen. Doch er ließ ihr keine Chance, drängte stattdessen erneut zum Aufbruch.

Malin wollte so gerne noch bleiben. Aber sie war ja nur ein sechsjähriges Mädchen, dem die Pferde ihres Vaters manchmal nicht ganz geheuer vorkamen mit ihren großen Köpfen und flinken Hufen. Doch in dieses braune Pony, welches ihr gerade zugeblinzelt hatte, hatte sie sich auf Anhieb verliebt.

Es sollte jedoch noch fast zwei Wochen dauern, bis Malin das nächste Mal mit leicht zittrigen Knien am Gatter stand, zwei Zuckerstückchen und eine große Möhre in den Taschen. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sich sicher war, die Ponys auf der anderen Seite könnten es hören.

»Und, siehst du es?«, fragte ihr Vater. »Ist es noch da, oder hat es bereits ein neues und hoffentlich besseres Zuhause gefunden?«

Malin zuckte erschrocken zusammen. Nein, das durfte nicht sein. Jetzt hatte sie Tag für Tag von nichts anderem als dem Pony geredet, gebettelt und gefleht, immer wieder erklärt, dass sie ohne das Braune mit dem weißen Fleck bestimmt nicht mehr leben könnte, und endlich hatte ihr Vater zugestimmt, es sich wenigstens noch einmal anzugucken – und jetzt war ihnen jemand anders zuvorgekommen?

Malin spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, während sie fieberhaft den rumpligen Auslauf absuchte. Doch von dem Braunen keine Spur. Ihr Pony war nicht mehr da.

»Es … es ist weg«, schniefte sie todtraurig.

Ihr Vater tätschelte ihr tröstend den Kopf. »Magst du ein anderes von ihnen? Was ist zum Beispiel mit dem kleinen Schimmel dort hinten bei den alten Reifen? Das sieht doch nett aus. Und laut Amtstierarzt sind sie zum Glück alle gesund. Wovon ja fast nicht auszugehen war.«

Malin schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nicht. Ich will kein anderes Pony …«

Enttäuscht wollte sie sich gerade vom Gatter abwenden, als sie ein leises Wiehern vernahm. Unter einer Plane, die den Ponys wohl als Unterstand dienen sollte, aber inzwischen so tief abgesackt war, dass höchstens ein Schäferhund drunterpasste, lugte der Kopf des braunen Ponys mit dem weißen Fleck hervor.

»Da!«, rief Malin aufgeregt. »Papa, da ist es!«

Von diesem Moment an waren Malin und ihr Pony Cleo unzertrennlich. Er war ihr bester Freund, ihr Seelenverwandter, ihr Ein und Alles, ihre große Liebe. Daran änderte sich auch nichts, als Malin viel zu lange Beine bekommen hatte, um auf Cleo zu reiten, und zur Freude ihres Vaters aufs Großpferd umgesattelt hatte.

Eines ihrer Lieblingspferde war die Fuchsstute Delaya, ein vielversprechendes Dressurtalent, das laut Malins Vater unbedingt aufs große Viereck gehörte. Doch so talentiert sie auch war, so zickig zeigte sie sich im Umgang und vor allem in der Herde mit den anderen Stuten. Einzig den kleinen Cleo duldete sie an ihrer Seite, und so wurde er zu ihrem ständigen Weide- und Paddockpartner.

Das passte gut, denn so war es Malin möglich, Cleo als Handpferd mitzunehmen, wenn sie mit Delaya ins Gelände ging.

Es geschah an einem Nachmittag im Oktober, eine Woche vor Malins sechzehntem Geburtstag. Nach tagelangem Dauerregen hatte sich der Himmel endlich mal wieder etwas aufgehellt. Malin wollte die Regenpause nutzen und gleich, nachdem sie aus der Schule gekommen war, mit Delaya und Cleo einen Ausritt zum Waldsee machen.

Trotz des eisigen Windes schnaubte Delaya zufrieden und trabte gemächlich den Weg entlang, Cleo trippelte artig neben ihr her. Malin lenkte die Stute und Cleo vorsichtig über einen kleinen Hügel hinweg, dann hatten sie eine Lichtung erreicht. Der Wind pfiff hier noch kräftiger durch die Bäume, sodass sie sich bedrohlich hin und her bogen. Malin schien es eine Ewigkeit her zu sein, dass das Gras auf der Lichtung grün und weich gewesen war. Jetzt war alles verrottet und der Boden von matschigen Stellen übersät.

Die Kälte kroch ihr in die Knochen. Keine gute Idee von ihr, ins Gelände zu gehen, dämmerte ihr allmählich. Zumal es jetzt auch schon wieder zu regnen anfing.

»Ich glaub, wir reiten lieber wieder zurück«, beschloss sie und wendete Delaya, die nun wie ausgewechselt schien. War sie auf dem Hinweg noch entspannt dahingetrabt, so scharrte sie jetzt vor Ungeduld mit dem Huf. Malin hatte Mühe, sie unter Kontrolle zu bringen, hielt die Zügel kurz und presste die Knie gegen ihren Körper. Gleichzeitig versuchte sie, Cleo, der sich allmählich von Delayas Anspannung anstecken ließ, am Führstrick in Schach zu halten. Delaya kämpfte mit zurückgelegten Ohren gegen Malins Paraden an und wollte sich seitwärts herauswinden. Es erforderte Malins ganze Kraft, sie daran zu hindern, schon im engen Dickicht des Waldes loszustürmen.

Als sie schließlich den Abhang hinter sich gebracht und den weichen, sandigen Waldweg erreicht hatten, war Malin einen kurzen Moment unachtsam. Delaya warf sich nach vorne, riss ihr dabei die Zügel aus den Händen und galoppierte aus dem Stand los. Das alles geschah so schnell, dass Malin auch Cleos Führstrick durch die Finger glitt.

Während Delaya im gestreckten Galopp den Weg entlangpreschte, nahm Malin aus dem Augenwinkel wahr, dass Cleo ihnen folgte. Doch schon bald wurde der Abstand zwischen durchgehendem Pferd und hinterhergaloppierendem Pony immer größer und größer.

So jagten sie auf eine Weggabelung zu. Malin versuchte erneut, das Tempo zu drosseln. Sie richtete sich auf, lehnte sich weit im Sattel zurück und zog mit aller Kraft an den Zügeln. Doch Delaya reagierte nicht. Sie lief wie von Sinnen weiter. Hilflos musste Malin mit ansehen, wie sie sich der Weggabelung näherten.

Sie kann bei diesem Tempo nicht wenden, schoss es ihr panisch durch den Kopf. Sie wird das Gleichgewicht verlieren und stürzen.

Panik breitete sich in Malin aus. Sie war wie gelähmt, konnte nur noch darauf warten, dass sich die Stute im letzten Moment herumwarf und sie selbst abgeworfen wurde.

Schließlich hatten sie die Gabelung erreicht. Malin glaubte schon, dass Delaya den Weg verlassen und geradeaus mitten ins Dickicht preschen würde, da warf sie sich mit einer solchen Heftigkeit nach rechts, dass Malin aus dem Sattel flog.

Wie durch ein Wunder landete sie auf ihren beiden Füßen und schaffte es sogar, Delayas Zügel festzuhalten. Die Stute war wohl selbst so perplex, dass sie abrupt stehen blieb.

Das alles hatte nur einen Bruchteil von Sekunden gedauert, aber es hatte ausgereicht, damit Delaya endlich wieder zur Besinnung kam. Ganz verwirrt, heftig schnaufend und mit hängendem Kopf stand sie da und ließ sich von Malin beruhigend die schweißnasse Brust klopfen.

»Ganz ruhig, Delaya, alles ist gut. Ganz ruhig«, redete Malin auf das Pferd ein, während ihr von einem auf den anderen Moment alle Farbe aus dem Gesicht wich. Malins Magen verkrampfte sich, Übelkeit stieg in ihr auf. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, wie schlimm es für sie hätte enden können.

Zitternd atmete sie durch.

Von Cleo war noch immer nichts zu sehen. Womöglich hatte er den direkten Weg genommen und war quer durchs Unterholz zurück zum Hof galoppiert. Sorgen musste sie sich seinetwegen bestimmt nicht machen, dessen war Malin sich sicher, als sie ihren Fuß in den Steigbügel stellte und sich zurück in Delayas Sattel schwang.

Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter hätte sie vorwarnen müssen. Doch Malin nahm an, dass sie sich ihretwegen mal wieder Sorgen gemacht hatte. Dass Cleo allein auf den Hof zurückgaloppiert kam, ließ ja wahrhaftig nichts Gutes vermuten.

»Wo ist Cleo? Schon in seiner Box?«

Ihre Mutter nickte, wollte dann aber wissen: »Was ist denn überhaupt passiert?«

Einen Augenblick lang zögerte Malin und entschied sich dann für die Halbwahrheit. »Ich war einen kurzen Moment unachtsam, und das hat der kleine Racker dafür genutzt, um schon mal nach Hause vorzulaufen.«

Malin rutschte aus Delayas Sattel und bat ihre Mutter, sie kurz zu halten.

»Ich kümmere mich gleich um Delaya, aber erst mal möchte ich nach Cleo sehen!«

Sie fand ihr Pony auf drei Beinen stehend in seiner Box, es blickte ihr aus großen Augen entgegen. Ihr Vater lehnte an der Boxentür und machte einen so deprimierten Eindruck, dass Malins Magen sich unheilvoll zusammenzog.

»O nein!«, rief Malin und stürmte an ihrem Vater vorbei in die Box. »Hat er sich verletzt? Schlimm? Papa, jetzt sag doch was!«

»Nun mach dich mal nicht gleich so verrückt. Bestimmt hat er sich nur vertreten«, hoffte ihr Vater. »Der Tierarzt kommt sowieso jeden Moment, weil die Fohlen geimpft werden müssen. Dann kann er sich Cleo auch gleich mal mit angucken.«

Natürlich machte Malin sich dennoch Sorgen. Ganz besonders, als der Tierarzt kurze Zeit später mitleidig den Kopf schüttelte.

»Hm, sieht leider nicht gut aus. Ich fürchte, er hat sich im Bereich des Fesselgelenks einen Bruch zugezogen. Aber mit Sicherheit und vor allem, ob es sich um einen glatten Bruch oder einen Trümmerbruch handelt, kann ich erst sagen, wenn ich das Bein geröntgt habe.«

Malin blieb die Luft weg, gleichzeitig zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, während sie ihren Vater sagen hörte: »Joachim, jetzt rede nicht lange um den heißen Brei herum. Du bist ein erfahrener Tierarzt und kannst mir auch ohne Röntgenbilder sagen, was los ist.«

Der Tierarzt schluckte schwer, bevor er mit bitterer Miene nickte. »Es ist ein Bruch. Ohne Zweifel …«

»Aber … aber«, stammelte Malin ängstlich, »es ist doch nicht so, dass er nicht wieder gesund werden kann?«

Der Tierarzt zuckte vage mit den Schultern. »Es gibt schon Möglichkeiten. Aber das bedeutet natürlich eine große OP für dein Pony, und ob er anschließend schmerzfrei ist, ist auch ungewiss. Aber mehr kann ich dazu wirklich nur sagen, wenn ich ihn geröntgt habe.« Er wandte sich an Hannes Heuer. »Wollt ihr ihn mir in die Klinik bringen? Ich muss noch kurz bei Rudolfs vorbei und ein Medikament abgeben, aber wenn du hier in einer Viertelstunde losfährst, Hannes, dann passt das.«

Doch Hannes Heuer schüttelte den Kopf. »Das Pony ist Mitte zwanzig. Und wie du schon gesagt hast, selbst nach einer OP ist der Ausgang ungewiss.« Er stockte, wandte sich Malin zu und legte ihr sanft die Hand auf den Unterarm. »Kind, es ist besser, wenn wir ihn erlösen.«

Malins Herz setzte einige Schläge lang aus, während es ihr regelrecht die Luft abschnürte.

»Papa, bitte«, flehte sie ihn an. »Bitte, bitte, gib Cleo eine Chance. Bitte, Papa. Und wenn es wegen dem Geld ist, ich habe doch noch das von der Konfirmation auf dem Sparbuch. Und falls das nicht reicht, dann verzichte ich aufs Taschengeld. So lange, bis ich meine Schulden bei euch abgezahlt habe.«

»Passt auf«, schlug der Tierarzt vor, »ich bringe kurz das Medikament weg, und ihr besprecht euch in der Zeit. Okay? So was muss man ja nicht zwischen Tür und Angel entscheiden.«

»Wir erlösen das Pony! Es ist besser so. Quälen soll er sich nicht, und wenn Malin genau darüber nachdenkt, dann wird sie zu demselben Ergebnis kommen«, war sich Hannes Heuer sicher.

Malin schüttelte wild den Kopf. Sie flehte ihren Vater an, doch er ließ sich nicht umstimmen. Die Sache war beschlossen, und dann sagte auch der Tierarzt, dass es wohl tatsächlich das Beste für Cleo sei.

Für Malin brach eine Welt zusammen. Sie umarmte ihr Pony verzweifelt und schluchzte dabei bittere Tränen in sein weiches Fell. Es fühlte sich für sie so an, als würde ihr Herz in tausend Einzelteile zerspringen. Von diesem Moment an war nichts mehr gut – da waren nur noch Cleos dunkle Augen, die sie ohne Furcht anblickten, die auf sie vertrauten – und Malin konnte ihm einfach nicht helfen.

»Jetzt sei doch vernünftig«, mischte sich nun ihre Mutter ein. »Du kannst ihn doch sowieso schon lange nicht mehr reiten.«

Malin starrte sie an. »Spinnst du?«, presste sie fassungslos hervor.

»Kind, das geht wirklich zu weit«, wurde sie von ihrem Vater dafür gerügt. »Ich verstehe deinen Kummer. Aber es ist besser so für das Pony und …«

Malin wollte nichts mehr hören, wollte keine weiteren Erklärungen. Sie wollte nur noch weg.

Fluchtartig verließ sie den Stall. Das Rufen ihrer Mutter überhörte sie einfach. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment zu ersticken, wenn sie nicht schnell an die frische Luft kam.

Sie lief hinaus, stürmte über den Hof, ließ alles hinter sich. Rannte einfach weiter, ohne Ziel.

Keuchend und schwitzend erreichte Malin schließlich das Ufer des kleinen Waldsees. Abrupt blieb sie stehen, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und versuchte, zu Atem zu kommen. Tränen liefen ihr übers Gesicht, tropften von ihrem Kinn hinunter ins Gras. Im Sommer hatte sie hier mit Cleo oft Rast gemacht, im flachen Wasser herumgeplanscht und sich anschließend ins warme Gras gelegt, während Cleo zufrieden neben ihr gegrast hatte. Die Erinnerung an diesen glücklichen Moment zerriss Malin innerlich. Sie schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht. Zitternd hockte sie sich hin und umschlang ihre Beine.

Wie konnte das alles nur geschehen? Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Sie hätte es wissen und vernünftiger sein müssen. Das alles war ihre Schuld. Sie allein war dafür verantwortlich, was passiert war. Und jetzt hatte sie ihn auch noch allein gelassen.

»Cleo«, flüsterte Malin, »es tut mir so leid.«

Sie zog die Nase hoch, wischte sich die Tränen von den Wangen und richtete sich auf. Dann lief sie zum Hof zurück. Sie musste an Cleos Seite bleiben – bis zu seinem letzten Atemzug. Das war sie ihm schuldig.

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Kapitel 1

Mein Gold klimpert nicht, es glänzt in der Sonne und wiehert in der Nacht.

 

Hier ist ein Anruf für dich!«, rief Sybille Hohnsen ihrer Chefin hinterher, die mit eiligen Schritten den Flur entlanglief.

»Jetzt nicht! Ich muss ins Meeting. Bin spät dran!«, entgegnete Malin Heuer gehetzt, ohne ihren Schritt zu verlangsamen.

Doch so leicht ließ sich Sybille nicht abwimmeln. »Es ist aber wichtig, Malin! Sonst würde ich dir das Telefon bestimmt nicht hinterhertragen. Und dass das Meeting bereits vor fünf Minuten beginnen sollte, ist mir als deiner persönlichen Assistentin natürlich bekannt.«

Malin hatte die Hand schon auf die Türklinke des großen Konferenzsaals gelegt. Sie war wirklich in Eile. Gleich beim ersten Meeting als neue Leiterin des Produktmanagements zu spät zu kommen war wahrhaftig kein guter Einstand. Doch Sybilles Stimme hatte so dringlich geklungen, und wenn es nicht wirklich wichtig gewesen wäre, wäre sie bestimmt die Letzte, die sie in diesem Moment mit einem Telefonat behelligen würde.

»Okay«, seufzte sie und wandte sich zu ihrer Assistentin um. Sie nahm ihr das Telefon ab, doch bevor Malin in den Hörer sprechen konnte, raunte Sybille ihr noch zu: »Soll ich kurz drinnen Bescheid geben, dass du dich noch einen Moment verspätest? Ich könnte behaupten, dass du im Stau stehst.«

Doch Malin winkte ab. »Nein, das ist nicht nötig. Ich geh da jetzt gleich rein. Das Telefonat wird schon keine Ewigkeit dauern.«

Sybilles skeptischer Gesichtsausdruck hätte Malin eigentlich stutzig machen müssen – vorausgesetzt, sie hätte ihn wahrgenommen. Doch dafür war sie wie immer viel zu beschäftigt.

Seitdem sie bei Hagen & Hagen, einem großen Filialunternehmen im Bereich Kosmetik und Pflege, direkt nach dem Abitur einen dualen Studienplatz ergattert hatte, stand sie unter Dauerstrom. Mit dem Betriebswirtschaftsdiplom in der Tasche war es zunächst in der Layoutservice-Abteilung weitergegangen. Nicht gerade ihr Traumjob, doch die Festanstellung nach dem Studium ermöglichte es ihr, weiterhin in ihrem geliebten Hamburg wohnen zu bleiben und bei Hagen & Hagen kontinuierlich ihre Karrierepläne zu verfolgen.

Mit zweiunddreißig Jahren konnte sie nun stolz von sich behaupten, alles erreicht zu haben, was sie sich einst im beschaulichen Stolzenburg als Teenager erträumt hatte: einen tollen Job, eine todschicke Wohnung, einen illustren Freundeskreis, mit dem sie ihr unabhängiges Großstadtleben in vollen Zügen genießen konnte.

»Malin Heuer hier!«, sprach sie mit geschäftsmäßigem Tonfall in das Telefon, während sie ungeduldig die dünnen Absätze ihrer High Heels auf dem Granitfußboden hin- und herdrehte. Eine leidige Angewohnheit, die zur Folge hatte, dass sie Stammkundin beim Schuster war.

»Malin, bist du es?«, vernahm sie die gedämpfte Stimme ihrer Mutter.

Malin bedachte ihre Assistentin mit vorwurfsvollen Blicken, während sie mit den Lippen tonlos formte: »Was soll das, Sybille? Das ist meine Mutter!«

Ein Anruf von ihrer Mutter war nett, aber bestimmt kein Grund, sie von einem wichtigen Meeting abzuhalten. Sybille hätte ihr einen Zettel hinlegen können: Du sollst deine Mutter zurückrufen!, so, wie sie es immer tat. Und wenn Malin nicht irgendetwas Wichtigeres dazwischenkam, folgte sie dieser Aufforderung in der Regel dann auch. Selten sofort, oftmals einige Zeit später, zugegeben, manchmal vergaß sie es auch ganz, sobald der Zettel in den Papierkorb gesegelt und somit aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

»Ja, Mama, ich bin es!«, antwortete Malin und gab sich Mühe, nicht allzu kurz angebunden zu klingen. »Wirklich lieb, dass du anrufst, nur leider passt es gerade überhaupt nicht bei mir. Ich muss in eine ganz wichtige Besprechung. Aber ich melde mich heute Abend. Okay?«

»Malin, es tut mir leid, dass ich dich während der Arbeit störe …«

»Nicht schlimm, Mama«, schnitt Malin ihr ungeduldig das Wort ab. »Aber jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Also, bis heute Abend dann. Und grüß mir bitte Papa ganz lieb.«

»Papa ist vom Heuboden gestürzt«, gab ihre Mutter zurück. Ihre Stimme war kaum mehr als ein verängstigtes Hauchen. »Er … er wird gerade operiert. Der Notarzt im Krankenwagen hat gemeint, sein Zustand sei kritisch …« Die Stimme ihrer Mutter brach. Im nächsten Moment hallte ein verzweifeltes Schluchzen durch die Leitung.

Malin erstarrte. Ihr Herz setzte für ein paar Schläge aus. Sie war unfähig, etwas zu sagen, ihre Mutter zu trösten, sich nach Details des Unfalls zu erkundigen. Sie stand einfach nur da, den Hörer in der Hand, aber nicht mehr am Ohr, und hatte Mühe, Luft zu bekommen.

Sybille legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Malin? Was ist denn passiert?«, erkundigte sie sich besorgt bei ihrer Chefin, die sie niemals zuvor so apathisch erlebt hatte. »Du bist ja ganz blass.«

»Mein Vater …«, krächzte Malin. »Er ist verunglückt …«

Betroffen presste Sybille die Hand auf den Mund. »O mein Gott, wie schrecklich«, wisperte sie. Doch nach einem kurzen Moment besann sie sich schließlich ihrer Aufgabe als Malins Assistentin und ging gewohnt pragmatisch vor. »Ich sage jetzt zunächst einmal im Konferenzsaal Bescheid, dass das Meeting leider verschoben werden muss, weil dir etwas Unvorhersehbares dazwischengekommen ist.«

Malin hörte zwar die Worte ihrer Assistentin, doch keines davon kam wirklich bei ihr an.

»Und du, Malin, telefonierst jetzt bitte mit deiner Mutter weiter. Sie ist doch noch immer am Apparat, oder?«

Malin nickte zerstreut. Doch erst als Sybille sie erneut am Unterarm berührte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung und presste das Telefon wieder an ihr Ohr.

»Mama, in welchem Krankenhaus seid ihr? Du bist doch bei ihm …?«

»Ich dachte schon, du hättest einfach aufgelegt, weil du doch arbeiten musst«, gab ihre Mutter eingeschüchtert zurück.

»Nein, Mama, das würde ich doch nicht machen. Was denkst du denn von mir?«

Schweigen. Dann wieder ein leises Aufschluchzen und die bittere Vermutung, dass ihre Mutter ihr solch ein herzloses Verhalten anscheinend tatsächlich zutraute.

»In welchem Krankenhaus ist Papa?«, wiederholte Malin ihre Frage. Es brachte nichts, verletzt zu reagieren. Jetzt ging es um ihren Vater, nicht um sie und um das, was ihre Mutter über sie dachte.

»Sie haben ihn ins Oststadt-Krankenhaus gebracht«, schluchzte ihre Mutter. »Ich durfte mitfahren …«

»Okay, Mama, ich setze mich jetzt sofort ins Auto. Wenn ich gut durchkomme, bin ich in zweieinhalb Stunden bei euch. Du kannst mich jederzeit auf dem Handy erreichen, also halte mich bitte auf dem Laufenden, ja?!«

»Du kommst hierher?« Die Stimme ihrer Mutter klang ehrlich erstaunt.

»Natürlich komme ich«, gab Malin fassungslos zurück. »Mama, sag mal, wofür hältst du mich denn?«

Schweigen. Dann ein leises Räuspern und schließlich: »Fahr bitte vorsichtig, Kind.«

Zehn Minuten später lenkte Malin ihr silbernes Mercedes-Coupé vom Firmenparkplatz. Sybille hatte ihr kluges Organisationstalent mal wieder unter Beweis gestellt, indem sie Malin via Handy dem Meeting zugeschaltet hatte. Nun kämpfte sich Malin durch den dichten Hamburger Verkehr Richtung Autobahn, während sie sich über die Freisprechanlage mit ihrem Team austauschte, diverse Studien und Marktanalysen in Auftrag gab und abschließend über eine innovative Strategie anlässlich der Einführung eines neuen Produktes beriet.

Malin hatte schon gut hundertfünfzig Kilometer auf der Autobahn zurückgelegt, als sie sich schließlich von ihrem Team verabschiedete und bemüht heiter versprach, beim nächsten Meeting nicht nur akustisch, sondern auch physisch anwesend zu sein. Anschließend gab es noch einige weitere wichtige Themen mit ihrer Assistentin zu besprechen, bevor Malin endlich das Telefonat beendete.

Als sie von der Autobahn abfuhr, um die letzten knapp fünfzig Kilometer auf der Landstraße zurückzulegen, kam ihr bestürzt in den Sinn, dass sie die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal an ihre Eltern gedacht hatte. Der Job hatte sie mal wieder so beansprucht, dass die Sorge um ihren Vater gänzlich in den Hintergrund gerückt war. Einfach ausgeblendet – Malin schämte sich vor sich selbst.

Das Telefon klingelte. Malin warf einen Blick auf die Anzeige ihrer Freisprechanlage, und ihr Magen zog sich unheilvoll zusammen.

»Mama, gibt es Neuigkeiten? Hast du schon etwas von Papa gehört? Ist die OP gut verlaufen?«, rief sie, noch immer erfüllt von diesem schlechten Gewissen. Es rumorte in ihr, nagte an ihr, ließ die Schamesröte vom Hals in ihr Gesicht hinaufkriechen, während sie mit angehaltenem Atem auf die Antworten ihrer Mutter wartete.

Doch die ließ sie zappeln. Bestimmt nicht bewusst. Nein, so war Gisa Heuer nicht. Alles, was sie tat, geschah aus dem Bauch heraus. Strategisches Handeln war ihr völlig fremd. »Bist du bald da?«

»Zwanzig Minuten, sagt das Navi«, gab Malin hastig zurück. »Was ist mit Papa?«

»Sie haben ihn gerade auf die Aufwachstation gebracht«, erklärte sie mit tonloser Stimme. »Der Arzt, der ihn operiert hat, war auch schon bei mir. Ein netter Mann, groß und schlank mit grauen Schläfen. Ich denke, so Ende fünfzig. Er hat einen sympathischen Eindruck auf mich gemacht. Sehr vertrauensvoll, und sein Händedruck war fest. Ein fester Händedruck ist gut, er vermittelt einem das Gefühl, dass jemand weiß, was er tut … sein Handwerk versteht.«

»Mama!«, rief Malin mit leisem Vorwurf. »Mir ist völlig egal, wie der Chirurg aussieht, ich möchte wissen, was er dir über Paps’ Zustand gesagt hat. Ist die OP gut verlaufen?«

»Jetzt sei doch nicht gleich wieder so bissig«, beschwerte sich ihre Mutter mit eingeschnappter Stimme.

Malin begann, innerlich von zehn rückwärts zu zählen. Es war wie immer. Ihre Mutter fühlte sich von ihr gemaßregelt, war beleidigt, und Malin musste sich beherrschen, sie ihre Ungeduld nicht noch mehr spüren zu lassen.

»Ich bin nicht bissig, nur sehr besorgt«, behauptete sie versöhnlich. »Was hat der Arzt denn nun zu dir gesagt, Mama?«

Erneutes Schweigen. Dann wieder dieses wohlbekannte tiefe Seufzen, bevor Malin sie fast schon beiläufig sagen hörte: »Ach, du weißt doch, Kind, ich kenne mich mit diesen ganzen medizinischen Fachbegriffen nicht so aus.«

Bleib ruhig. Bleib einfach ganz entspannt und reg dich nicht auf, ermahnte Malin sich selbst.

»Okay, aber mal abgesehen vom medizinischen Kauderwelsch, was hat er dir über Papas Zustand gesagt? Ist zum Beispiel das Wort ›kritisch‹ noch einmal gefallen?«

»Nein … ich glaube nicht.«

Malin atmete schnaufend durch.

»Jetzt schnaufst du gleich wieder«, hielt ihre Mutter ihr vor. »Ich habe doch schon gesagt, dass ich den Arzt nicht verstanden habe. Es ging auch alles so schnell. Er kam auf mich zu, hat mir tausend Dinge erklärt und war auch schon wieder weg«, verteidigte Gisa Heuer sich wie ein Schulkind, das sich die schlechte Note selbst nicht erklären konnte.

»Egal, Mama, ich bin ja bald im Krankenhaus angekommen, und dann versuche ich selbst noch mal, mit dem Arzt zu sprechen«, lenkte Malin ein.

Es führte zu keinem Ergebnis, wenn sie nun auch noch miteinander zu zanken anfingen. Doch zumindest verriet ihr das unterschwellig bockige Verhalten ihrer Mutter, dass ihr Vater nicht in Lebensgefahr schwebte. Auch wenn sie sich manchmal etwas kindisch aufführte und Malin sich des Öfteren schon gefragt hatte, wer von ihnen beiden eigentlich die Mutter und wer die Tochter war, würde sie doch jetzt nicht so beleidigt reagieren, wenn ihr Mann gerade um sein Leben kämpfte.

»Auf welcher Station liegt Papa? Und wo finde ich dich?«

»Ich … ach, Malin, da muss ich jetzt erst einmal schauen …« Wieder dieses leidvolle, überforderte Stöhnen. »Vorhin habe ich da nicht so drauf geachtet, weil wir ja durch die Notaufnahme ins Krankenhaus gegangen sind. Ich suche mal nach einer Schwester, die müssen das ja wissen …«

»Nein, lass es gut sein, Mama! Ich frage einfach unten am Empfang. Bis gleich!«, beeilte sich Malin zu sagen und beendete dann schnell das Telefonat, bevor ihr noch endgültig der Geduldsfaden riss und sie etwas von sich gab, was sie später bitter bereuen würde.

Wie sagte ihr Vater immer: »Geduld ist eine Tugend, und davon braucht man bei Mama manchmal eine gehörige Portion.« Stets mit einem Augenzwinkern und auf jeden Fall liebevoll. Ihre Eltern führten auch nach über vierzig Jahren eine gute Ehe, in der allerdings die Rollenverteilung seit dem ersten Kennenlernen klar geregelt war. Hannes Heuer war für alles, was draußen auf dem Hof, den Feldern und den Stallungen anfiel, verantwortlich, Gisa kümmerte sich um Haus, Herd und die Kinder.

Das Kinder-Thema war dann auch schon der einzige wunde Punkt im Miteinander der Heuers in ihren langen Ehejahren gewesen. Während Hannes sich noch weiteren Nachwuchs gewünscht hatte, unbedingt einen Sohn, der später mal den Hof samt der erfolgreichen Pferdezucht übernehmen würde, hatten Gisa nach zwei vorangegangenen Fehlgeburten der Mut und auch ein wenig die Kraft verlassen. Malin war ein Einzelkind geblieben und hatte zum Kummer ihrer Eltern nicht für den Hauch eines Momentes in Erwägung gezogen, später einmal das elterliche Anwesen samt Acker- und Weideflächen zu übernehmen. Das Gegenteil war sogar der Fall gewesen, ihre ehrgeizige Tochter hatte es kaum abwarten können, dem dörflichen Güllemief ihrer Kindheit zu entkommen. Hinaus in die große, weite Welt, hinein in das schillernde Großstadtleben, wo sie sich endlich richtig und angekommen fühlte.

Malin hatte das Krankenhaus erreicht. Sie parkte ihren Wagen und stieg aus. Bevor sie sich auf den Weg vom Parkplatz zum Haupteingang machte, schloss sie für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch. Papa wird das schon packen. Er ist topfit, ein Mann wie ein Fels in der Brandung. Hände wie Wagenräder, breites Kreuz, nicht der leiseste Ansatz eines Bauches, worauf er extrem stolz war. Hannes Heuer lebte für seine Pferdezucht, in Malins Augen war er der wahre Pferdeflüsterer. Aus der Liebe, der Leidenschaft für diese wunderbaren Geschöpfe zog er seine Kraft und Energie – Tag für Tag, auch noch im Alter von über siebzig Jahren. Zweifelsohne war er Malins Held ihrer Kindheit gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert, auch wenn sie selbst der ländlichen Pferdeidylle nichts abgewinnen konnte und heilfroh war, dass das alles längst hinter ihr lag.

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Kapitel 2

Die Leidenschaft für Pferde ist wie ein Keim, der nie verwelkt, egal, welche Wege das Leben für dich vorsieht.

 

Der ältere Mann hinter dem Informationsschalter gab Malin bereitwillig Auskunft und schenkte ihr anschließend ein so herzliches Lächeln, dass sie beschloss, es als gutes Omen zu nehmen. Fast ein wenig beschwingt lief sie zu den Fahrstühlen hinüber, drückte mehrere Knöpfe auf einmal und wartete darauf, dass sich eine der Türen öffnete.

Bald darauf stand Malin vor der breiten Milchglasfront der Aufwachstation, auf der sich ihr Vater noch immer befinden sollte. Die vier Stühle an der schlichtweißen Wand davor waren unbesetzt. Malin dachte kurz daran, ihre Mutter, die sie eigentlich hier vermutet hatte, zu suchen. Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder, bestimmt hatte man sie inzwischen zu ihrem Mann gelassen, damit er beim Aufwachen aus der Narkose in ein ihm vertrautes Gesicht blicken konnte.

Sie legte den Finger auf den kleinen weißen Klingelknopf. Die Tür öffnete sich fast augenblicklich, und eine junge Krankenschwester erschien.

»Guten Tag. Ich möchte zu Hannes Heuer.« Und weil die Schwester nicht sofort etwas erwiderte, fügte Malin erklärend hinzu: »Ich bin seine Tochter.«

Die Krankenschwester musterte sie mit ausdrucksloser Miene. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Einen Augenblick bitte, da muss ich erst nachfragen, ob schon jemand zu ihm darf.«

»Aber ist denn meine Mutter nicht schon bei ihm?«, wunderte Malin sich.

»Wie gesagt, ich muss erst mal fragen«, blieb die Krankenschwester vage.

Die Tür schloss sich wieder, und Malin stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Sie dachte daran, ihre Mutter auf dem Handy anzurufen. Doch falls sie tatsächlich bereits im Aufwachraum bei ihrem Mann war, hatte sie das Gerät sowieso ausstellen müssen.

Nach einer Weile, die Malin wie eine Ewigkeit vorkam, öffnete sich die Tür erneut, und die Schwester gab ihr ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Die Stationsschwester sagt, Sie können kurz zu ihm«, erklärte sie.

Malin warf einen flüchtigen Blick auf das kleine weiße Namensschild am Kittel der jungen Frau. Schwesternschülerin Svenja. Das erklärte ihre Unentschlossenheit, fand Malin und folgte ihr durch die Tür über einen breiten Gang in einen kleinen Raum. Dort musste sie sich grüne Schutzkleidung überziehen. Zum Schluss reichte die Schwesternschülerin ihr noch einen Mundschutz. »Den bitte auch anlegen.«

»Warum eigentlich die Schutzkleidung?«, wunderte Malin sich. »Ich dachte, mein Vater befindet sich auf der Aufwachstation?«

Schwesternschülerin Svenja schüttelte mit nach unten gezogenen Mundwinkeln ihren blonden Zopf. »Nö, die Oberschwester hat gesagt, ich soll Sie zur Intensivstation begleiten.«

Malin zuckte unmerklich zusammen. Intensivstation? Was war passiert, dass man ihren Vater nun doch dorthin gebracht hatte? Hatte es Komplikationen gegeben? Die Fragen brannten ihr auf der Seele. Doch sie der jungen Svenja mit den naiven blauen Augen zu stellen war vermutlich vergeudete Zeit.

»Legen Sie jetzt bitte den Mundschutz an«, forderte Schwesternschülerin Svenja sie noch einmal auf.

Malin nickte, griff mit leicht zittrigen Fingern danach und folgte dem jungen Mädchen in einen länglichen Raum mit einer großen Glasfront.

»Sie müssen hier bitte noch einmal kurz warten«, erklärte die Schwesternschülerin und verschwand durch eine weitere Tür.

Malin schaute ihr irritiert hinterher, bevor sie einen Schritt an das Fenster herantrat. Dann einen weiteren. Unsicher. Noch einen halben – und dann nahm sie die Gestalt in dem Krankenbett wahr. Der Kopf war in einen Verband eingewickelt, nur Stirn, Nase, Mund und Augen lagen frei. Eine Vielzahl von blinkenden Geräten befand sich im Raum. Schläuche und dünne Kabel führten zu einem reglosen Körper.

Malin sah ihn und mochte es dennoch nicht glauben. Nein, das konnte einfach nicht ihr Vater sein, der dort lag. Schmal, hilflos … mit einem weiß umwickelten Kopf.

Unwillkürlich legte sie die Hand gegen die Scheibe, ihre Stirn folgte, presste sich gegen das kalte Glas. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das da war ihr Vater, ihr großes, starkes, unbeugsames, unverwüstliches, stets zwinkerndes Papilein, und doch kam er ihr wie ein Fremder vor.

Malin starrte so gebannt zu ihm hinüber, dass sie überhaupt nicht bemerkte, dass jemand in den Raum getreten war. Erst als sich eine warme Hand auf ihre Schulter legte, wandte sie sich halb um und blickte in die verständnisvollen braunen Augen einer deutlich älteren Krankenschwester.

»Geht es, oder möchten Sie sich kurz setzen?«

»Nein danke …«, Malin schüttelte den Kopf, »alles in Ordnung.«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich noch jemand neben der Schwester befand. Und obwohl Malin wegen des Mundschutzes und der blauen Haube, die wie eine Badekappe am Kopf anlag, nur die Augen erkennen konnte, wusste sie sofort, dass sie ihre Mutter vor sich hatte.