Herz, Schmerz und Gänsehaut - Dieter Adam - E-Book

Herz, Schmerz und Gänsehaut E-Book

Dieter Adam

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Beschreibung

Dieter Adam schrieb in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts viele Kurzgeschichten für die Yellow-Press wie TINA, WOCHENEND, ROMANWOCHE, AUF EINEN BLICK und wie sie alle hießen. Nachdem sie jahrelang in Vergessenheit geraten waren, hat er sie nunmehr aus der Schublade geholt, bearbeitet und auf den neusten Stand der deutschen Rechtschreibung gebracht. Herausgekommen ist dabei dieses interessante Buch mit dem Titel HERZ, SCHMERZ UND GÄNSEHAUT. 36 ernste und heitere Liebesromane, spaßige Schmunzelgeschichten und spannende Kurzkrimis sowie zwei wahre Geschichten aus seinem Leben. Und dies alles - oh Wunder - nicht "uff Hessisch", wie sonst von ihm gewohnt, sondern "auf Hochdeutsch".

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Alle Rechte vorbehalten beim Autor

 2015 by

Dieses Buch möchte ich meiner leider viel zu früh

verstorbenen Frau GERLINDE widmen,

die auch in schweren Zeiten immer zu mir gehalten hat,

unsere Kinder zu tollen, brauchbaren Menschen erzog

und bis zum bitteren Ende immer für mich da war.

Ich werde sie immer lieben und nie vergessen.

INHALT

01   Vorwort  

02   Sie prophezeite ihm Glück  

heitere Liebesgeschichte

03   Der Mann aus den Wolken  

heitere Liebesgeschichte

04   Die graue Maus  

nachdenkliche Weihnachtsgeschichte

05   Der Banküberfall  

heiterer Kurzkrimi

06   Ein Weihnachtstraum  

besinnliche Weihnachtsgeschichte

07   Ein unverhofftes Wiedersehen  

       Liebesgeschichte

08   Hilfe, ich liebe meinen Chef   

erotische Liebesgeschichte

09   Tödliche Klänge unter der roten Laterne   

Kurzkrimi

10   Mein Name ist Hase  

heitere Kurzgeschichte

11   Joes kleine Schwester   

       eine ungewöhnliche Liebesgeschichte

12   Eine bestrickende Frau  

       Schmunzelgeschichte

13   Der schüchterne Musiker  

Liebesgeschichte

14   Der fernsehfreie Abend  

       Schmunzelgeschichte

15   Die Nacht aller Nächte  

       erotische Liebesgeschichte

16   Komm, spiel mit mir  

       Schmunzelgeschichte 

17   Das schönste Lied schreibt die Liebe   

       besinnlicher Liebesroman

18   Der bescheidene Untermieter  

Schmunzelgeschichte

19   Doppelgänger gesucht  

Kurzkrimi

20   Hannibal ist an allem Schuld  

   heitere Liebesgeschichte

21   Mord per Telefon  

       Kurzkrimi

22   Die neue Krawatte  

Schmunzelgeschichte

23   Spiel nicht mit dem Feuer  

Liebesgeschichte

24   Der Untergang des römischen Reiches  

       Schmunzelgeschichte          

25   Die Stimme aus dem Jenseits  

Kurzkrimi

26   Das ewige Lied der Liebe  

Liebesroman

27   Vorsicht - frisch gestrichen  

       Schmunzelgeschichte

28   Auf Wiedersehen in der Hölle  

       Kurzkrimi

29   Warum hast du meine Liebe verraten?  

tragischer Schicksalsroman

30   Die ideale Frau  

   Schmunzelgeschichte

31   Frau Susanne weiß immer einen Rat  

eine ungewöhnliche Liebesgeschichte

32   In vino veritas  

Schmunzelgeschichte

33   Gebranntes Kind scheut das Feuer  

heiterer Liebesroman

34   Zwei und zwei gibt zwei  

Schmunzelgeschichte

35   Zwischen gestern und morgen  

besinnliche Liebesgeschichte

36   Er redete mit Engelszungen…  

Schmunzelgeschichte

37   Liebe geht sonderbare Wege  

Liebesgeschichte

ANHANG

Vorwort

Als ich in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Freiberufler wurde, fing ich an, um von der Musik und Schriftstellerei leben zu können, Kurzgeschichten für die Yellow Press zu schreiben. Und ich hatte Glück! Viele der kleinen Liebesromane und Kurzkrimis wurden für gutes Geld angenommen und gedruckt. Etliche allerdings auch nicht.

   Irgendwann hatte ich keine  Lust mehr, solche Geschichten zu schreiben und hörte damit auf. Es gab genügend anderes zu tun. Die veröffentlichten und unveröffentlichen Werke landeten gebündelt in der Schublade und gerieten in Vergessenheit.

   Jetzt, nachdem ich wegen meiner schweren Kehlkopfoperation mangels Stimme keine Musik mehr machen kann, habe ich viel Zeit und mache mich daran, meine Wohnung vor meinem Abgang in die andere Welt auf Vordermann zu bringen. Dabei fielen mir auch wieder meine Kurzgeschichten in die Hände und ich dachte:

   Eigentlich ist es schade um sie. So schlecht sind die Dinger doch gar nicht. Warum fasst du sie nicht alle in einem Buch zusammen und veröffentlicht sie?

   Genau das habe ich getan. Es war eine mühselige Arbeit, denn die meisten dieser Geschichten waren damals noch mit der Schreibmaschine geschrieben und mussten mühselige Zeile für Zeile in den Computer getippt werden.

   Zu beachten ist, dass es damals noch keine Handys und in den Kneipen kein Rauchverbot gab, dass die DJs noch Schallplatten auflegten, mit DMark bezahlt wurde und Schriftsteller mit einer Schreibmaschine arbeiteten. Selbst die Vornamen der damaligen jüngeren Generation waren andere. Ich habe bei Bedarf auf diese Feinheiten vor oder in den jeweiligen Texten hingewiesen.

SIE PROPHEZEITE IHM GLÜCK

                                 heitere Liebesgeschichte

                     erstmals erschienen in ROMANWOCHE                   

   "Die ganze Wahrsagerei ist Humbug", behauptete Axel Wolf, ein gut aussehender, schlanker Mann Ende Zwanzig, der mit seinen Freunden am Tresen der Tennisbar hockte und seit gut einer Stunde mit ihnen über dieses umstrittene Thema diskutierte. Von Beruf war er Computerfachmann, also ein Mensch, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stand und für derlei Mätzchen nichts übrighatte. Nach einem tiefen Schluck aus seinem Pilsglas fuhr er fort:

   "Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Die das von sich behaupten, sind Scharlatane, denen man schleunigst das Handwerk legen sollte. Mir ist unbegreiflich, dass ihr an diesen Blödsinn glaubt. Ihr seid schließlich auch nicht von gestern."

   "Das sind wir weiß Gott nicht", erwiderte Britta Wegner, die Verlobte von Charly Ebenhöh, dem besten Freund Axels. "Trotzdem hat mich diese Madame Futura überzeugt. Sie wusste nicht nur Dinge aus meiner Vergangenheit, die außer mir keiner kennen konnte, sondern sagte mir unter anderem voraus, dass ich innerhalb eines halben Jahres einen goldenen Ring an meiner linken Hand tragen würde." Sie hielt Axel das Beweisstück unter die Nase. "Bitte sehr, was ist das?"

   "Jetzt hör' aber auf", grinste Axel überlegen. "Wenn du das für eine Bestätigung von Madame Futuras Glaubwürdigkeit hältst, kann ich nur den Kopf schütteln." Er tat es. "Charly und du gehen seit über drei Jahren zusammen. Irgendwann stand die Verlobung ohnehin ins Haus."

   "Und was ist mit meinem Unfall?", gab Charly zu bedenken. "Den hat sie schließlich auch vorausgesagt."

   "Sie hat dich Auto fahren gesehen", spöttelte Axel. "Dann war diese Prophezeiung kein besonderes Kunststück. Sogar ich hätte dir weissagen können, dass es irgendwann einmal kracht bei dir. Deswegen nenne ich mich aber noch lange nicht Hellseher."

   "Mir hat Madame Futura eine kleine Erbschaft prophezeit", erzählte Claudia Wissel, die mit ihrem Mann Günther ebenfalls zum Freundeskreis an der Tennisbartheke gehörte. "Was geschah? Ein Vierteljahr später starb meine Großtante Kunikunde und hinterließ mir ein Sparbuch. Es waren zwar nur einhundertzweiunddreißig Mark und achtundsiebzig Pfennig drauf, aber immerhin - Madame Futura hatte sich nicht geirrt."

   "Das ist noch gar nichts gegen das, was mir widerfahren ist", trumpfte ihr Mann Günther auf. "Claudia kann es bestätigen. Madame Futura kündigte mir eine bevorstehende Erkrankung an, die nur durch eine Operation behoben werden konnte. Kaum hatte ich ihr Haus verlassen, setzten bei mir starke Blinddarmreizungen ein. Zwei Stunden später lag ich in der Klinik."

   "Zufälle, nichts als Zufälle", tat Axel die Beweisführung seiner Freunde mit einer geringschätzigen Handbewegung ab. "Diese sogenannten Hellseher halten ihre Aussagen so allgemein, dass immer etwas zutreffen wird. Ich falle jedenfalls nicht auf diesen Quatsch herein."

   "Vielleicht hast du ja auch bloß Angst", vermutete Britta.

   "Wovor soll ich denn Angst haben?"

   "Davor, dass Madame Futura dir etwas weissagt, was dir nicht behagt", entgegnete Britta.

   "Da kann ich doch nur lachen!", tönte Axel.

   "Dann geh zu ihr", forderte Charly seinen Freund auf. "Wir alle waren dort. Sogar ich, der ich anfangs ebenso skeptisch war wie du. Ich habe mich überzeugen lassen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die in die Zukunft blicken können. Dir würde sie es genauso beweisen. Wetten?"

   Nun war das Wetten eine der drei großen Leidenschaften Axels. Die zweite war das Tennisspielen, das er meisterhaft beherrschte, und die dritte ein gut gekühltes Pils. Für Frauen hatte er zwar auch eine gewisse Schwäche, aber eine Leidenschaft war noch nicht daraus geworden. Vermutlich lag es daran, dass ihm die Richtige noch nicht über den Weg gelaufen war.

   "Um was willst du denn wetten?", ging Axel denn auch sofort auf das Spielchen seines Freundes ein. "Und wie stellst du dir das Ganze vor?"

   "Ganz einfach", erwiderte Charly. "Du begibst dich zu Madame Futura und lässt dir etwas über deine nähere Zukunft erzählen. Sollte das Ereignis, das sie dir prophezeit, nicht innerhalb eines Jahres eintreten, verpflichte ich mich, die nächste Fete unseres Tennisclubs zu finanzieren. Im umgekehrten Fall bist du an der Reihe."

   "Kein Problem", lachte Axel. "Diese Wette habe ich so gut wie gewonnen. Mach' inzwischen schon mal den Kies locker, Charly!"

   "Abwarten", sagte dieser. "Natürlich verlange ich absolute Ehrlichkeit von dir."

   "Das hättest du nicht betonen müssen", entgegnete Axel. "Und nun gebt mir mal die Adresse dieser seltsamen Madame."

                                                     *

   Madame Futura lebte in einem alten Haus am Rande der Stadt, das von einem wild wuchernden Garten umgeben war. Die Beschäftigung mit der Zukunft schien der Wahrsagerin keine Zeit zum Unkraut jäten zu lassen.

   Axel parkte seinen Wagen am Straßenrand, stieg aus und ging zu einem verrosteten Schmiedeeisentor, das sich unter seinem Druck quietschend öffnete. Im Haus begann ein Hund zu bellen. Mit ein paar Schritten war der junge Mann an der Tür und schaute sich nach einer Klingel um. Als er keine fand, klopfte er.

   "Guten Tag, Herr Wolf", begrüßte ihn die malerisch gekleidete ältere Frau, die wenig später die Tür öffnete. Sie trug einen mit geheimnisvollen Ornamenten bestickten Kaftan und einen Turban aus dem gleichen Stoff, unter dem ihr eisgraues Haar hervorlugte. Auf ihrer rechten Schulter hockte eine Eule, die Axel müde anblinzelte. Zu ihren Füßen zeigte ein kleiner schwarzer Hund undefinierbarer Rasse seine Zähne.

   "Treten Sie ein", sagte die Frau. "Ich habe Sie schon erwartet. Vor Luzifer brauchen Sie keine Angst zu haben. Er tut Ihnen nichts."

   "Woher wussten Sie, dass ich zu Ihnen komme?", wunderte sich Axel. "Haben meine Freunde mich angemeldet?"

   Madame Futura, deren Gesicht zerknittertem Pergament glich, lächelte freundlich. "Keiner hat Sie angemeldet", beteuerte sie. "Ich sah es in meiner magischen Kristallkugel, bevor Sie selbst wussten, dass Sie kommen werden. Und nun folgen Sie mir bitte. Meine Zeit ist bemessen."

   Axel verkniff sich eine spöttische Antwort und ließ sich von ihr in einen düster beleuchteten Salon führen, der mit allerlei altertümlichen Möbeln eingerichtet war. In der Mitte des Raumes befand sich ein runder Tisch, auf dem die von goldenen Händen gehaltene Kristallkugel stand.

   "Nehmen Sie bitte Platz", forderte Madame Futura ihn auf und deutete auf einen Stuhl vor dem Tisch. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber und stützte den Kopf in die Hände. Luzifer - welch sinniger Name, dachte Axel belustigt - ließ sich zu ihren Füßen nieder. Die Eule blieb auf ihrer rechten Schulter hocken.

   "Gut machen Sie das", lächelte Axel. "Man fühlt sich ins Mittelalter zurückversetzt. Verdient man eigentlich viel mit diesem Hokuspokus?"

   "Ich weiß, Sie sind voller Skepsis, Herr Wolf", murmelte Madame Futura, die sich in Trance zu versetzen schien. "Aber ich will versuchen, auch Sie von meinen Fähigkeiten zu überzeugen, die mir von einem Höheren verliehen wurden. Und nun schweigen Sie bitte, damit ich mich konzentrieren kann."

   Axel tat ihr den Willen und beobachtete amüsiert, was nun geschah.

   Madame Futura starrte, mit den Fingerkuppen leicht ihre Schläfen massierend, auf die magische Kristallkugel, die von innen heraus plötzlich zu glühen  und dann immer heller zu strahlen begann.

   "Netter Trick", dachte Axel. "Wahrscheinlich betätigt sie unter dem Tisch mit dem Fuß einen Lichtschalter. Sehr beeindruckend, aber immer noch nicht überzeugend für mich. Die Wette gewinne ich spielend."

   "Sie heißen Axel Wolf", sagte Madame Futura mit hohler Stimme, "und wurden am..." - sie nannte Datum und Ort seiner Geburt - "... geboren. Ihre Eltern hießen Andreas und Maria."

   "Das wird ihr Charly geflüstert haben", dachte Axel. "Und angemeldet hat er mich entgegen ihrer Behauptung auch bei ihr. Diesem alten Gauner traue ich alles zu."

   "Sie hatten eine angenehme Kindheit", fuhr Madame Futura fort, "und wurden von ihren Eltern, deren einziger Sohn Sie waren, umhegt und verwöhnt, auch wenn Sie die vierte Klasse der Grundschule wiederholen mussten."

   Madame Futura kam nun noch auf weitere Einzelheiten aus seiner Vergangenheit zu sprechen, die aber alle auch Charly, mit dem er Tür an Tür aufgewachsen war, bekannt sein mussten. Dann endlich beschäftigte sie sich mit seiner Zukunft.

   "Sie haben einen sehr guten Beruf", sagte die Hellseherin, "der Sie auch künftig, wenn Sie ihm treu bleiben, vortrefflich ernähren wird. Und dann sehe ich eine junge Frau, die Sie in Kürze kennen lernen werden.Sie ist mittelgroß, sehr hübsch und hat hellblonde, lockige Haare. Zum Zeitpunkt Ihres Zusammentreffens wird sie ein rotes Kleid tragen. Sie wird... sie wird... hmmm... sie wird etwas verlieren, das Sie aufheben und ihr nachtragen werden. Ein.. ein... ja, ihr Portemonnaie wird sie fallen lassen und es nicht bemerken. Diese Frau wird Ihre große Liebe werden. Ich sehe Hochzeitsglocken..."

   "Danke, das genügt", unterbrach Axel die Wahrsagerin lachend. "Ersparen Sie sich und mir weitere Worte. Ich kann diesen Unsinn nicht länger ertragen. Sagen Sie mir, was ich Ihnen schuldig bin, und dann verschwinde ich."

   "Bitte sehr, wie Sie wünschen", grollte Madame Futura und blickte von ihrer Kugel auf, deren Licht daraufhin sofort erlosch. "Ich hätte Ihnen auch noch einiges über Ihre fernere Zukunft erzählen können, aber wenn Sie nicht wollen..." Sie hob die Hände. "Sie müssen es wissen."

   "Das weiß ich auch", grinste Axel. "Was muss ich zahlen?"

   "Nichts", erwiderte Madame Futura frostig. "Leuten, die mir nicht glauben, nehme ich nichts ab."

   "Um so besser", freute sich Axel und erhob sich. "Dann darf ich Ihnen für Ihre Zukunft, die Sie ja vermutlich schon kennen, alles Gute wünschen."

   Als Madame Futura keine Antwort gab und sich beleidigt abwandte, zuckte Axel die Schultern und ging.

                                                    *

    Drei Tage später. Axel hatte im Supermarkt einige Einkäufe getätigt und trat mit seinem Wagen an die Kasse, um die Waren zu bezahlen. Vor ihm wartete ein mittelgroßes Mädchen mit hellblonden, lockigen Haaren. Als sie sich nach ihm umblickte, sah er, dass sie sehr hübsch war. Das rote Kleid stand ihr vortrefflich zu Gesicht.

   "Das gibt es doch nicht", dachte Axel, dem das Mädchen ausnehmend gut gefiel, verwirrt. Genau sein Typ war sie. So und nicht anders hatte er sich immer die Frau fürs Leben vorgestellt. Wenn sie jetzt noch ihr Portemonnaie verlöre...!

   Da war es auch schon passiert! Das hübsche, blonde Mädchen in dem roten Kleid hatte seine Rechnung beglichen, die Waren in einen Einkaufskorb gelegt und die Geldbörse obendrauf. Dann war sie gegangen. An der Tür stieß sie mit einem Mann zusammen, strauchelte ein wenig, wobei das Portemonnaie vom Korb herunterrutschte und auf den Boden fiel. Sie schien es nicht zu bemerken und eilte weiter.

   Axel hatte die Szene mit angehaltenem Atem verfolgt. Er hatte inzwischen ebenfalls bezahlt und seine Sachen in einer Tasche verstaut. Da kein anderer Anstalten machte, das Portemonnaie des Mädchens aufzuheben, tat er es und schaute sich nach ihr um. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.

   Auch draußen war sie nirgends zu finden. So öffnete er die Geldbörse und schaute nach, ob sich hier vielleicht ein Hinweis auf die Adresse des Mädchens finden ließ. Neben einem beträchtlichen Geldbetrag stieß er auf ihren Personalausweis.

   "Behält die alte Hexe am Ende doch recht?", überlegte er, während er mit seinem Auto zu der bewussten Adresse fuhr, die er dem Ausweis entnommen hatte. "Das wäre unglaublich - und meine Wette hätte ich außerdem verloren."

   Monika Albers - so hieß das Mädchen - war hocherfreut, als er ihr die verlorene Geldbörse brachte. Als sie ihn aus ihren himmelblauen, langbewimperten Augen dankbar anlächelte, begann ein Feuer in ihm zu brennen, wie er es noch nie gekannt hatte. Sollte das die Liebe sein, von der er schon so oft die merkwürdigsten Dinge gelesen, die er selbst aber noch nie erlebt hatte?

   "Wie kann ich das nur wiedergutmachen?", fragte sie. "Ich hatte gerade mein Gehalt bei der Bank abgeholt. Mein gesamter Monatslohn wäre futsch gewesen, wenn Sie nicht..."

   "Vielleicht könnten wir mal zusammen essen gehen", schlug er vor. "Wenn Sie heute Abend Zeit hätten...?"

   Monika hatte Zeit, und es wurde ein wunderschöner, unvergesslicher Abend. Wie im Flug vergingen die Stunden, und als sie sich endlich weit nach Mitternacht trennten, waren beide der Auffassung, dass dies nicht unbedingt ihr letzter gemeinsamer Abend sein musste. Ein zärtlicher Kuss vor Monikas Haustür besiegelte das Versprechen, sich recht bald wiederzusehen. Am besten schon morgen.

                                                    *

   "Ich habe meine Wette verloren", gestand Axel seinen Freunden vom Tennisklub ein halbes Jahr später bei seinem Polterabend ein. "Nie und nimmer hätte ich es für möglich gehalten, dass diese Madame Futura tatsächlich in die Zukunft blicken kann - und doch durfte ich es am eigenen Leib erleben. Es gibt eben Kräfte zwischen Himmel und Erde..." Axel unterbrach sich und sah seine Freunde, die glucksend zu lachen begonnen hatten, stirnrunzelnd an. "Warum gickelt ihr so blöd?"

   "Mein lieber Axel", sagte Charly, während er sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte. "Nachdem ja nun alles so gekommen ist, wie wir es geplant hatten, können wir dir auch ein Geständnis ablegen. Eine Madame Futura hat es nie gegeben."

   "Jetzt spinnt mal nicht", schnitt Axel ihm die Rede ab. "Ich war schließlich selbst bei ihr."

   "Du warst bei einer alten Schauspielerin, die wir - deine Freunde - für einen guten Zweck engagiert hatten", klärte Charly seinen Freund auf.

   "Ja, aber woher wusste diese Frau dann...?"

   "Das war alles getürkt", fiel ihm Monika ins Wort und schmiegte sich an ihn. "Ich liebte dich schon so lange, aber du hast mich nie beachtet."

   "Und da wir uns das nicht länger ansehen wollten - Monika ist nämlich eine alte Schulfreundin von mir und hat mir ihr liebeskrankes Herzchen unlängst ausgeschüttet -, fassten wir den Plan, dich mit der Nase förmlich auf sie zu stoßen", sagte Britta.

   "Das hättet ihr aber einfacher haben können", meinte Axel kopfschüttelnd. "Ihr hättet sie mir bloß vorzustellen brauchen."

DER MANN AUS DEN WOLKEN

heitereLiebesgeschichte

erstmals erschienen in NEUE REVUE

   Sie war bildhübsch, fünfundzwanzig Jahre jung und hatte gerade mit ihrem ständigen Begleiter Andy Glöckner mehr oder weniger friedlich Schluss gemacht. Ein Casanova war er, hatte sie per Zufall herausgefunden; ein Typ, dem es offensichtlich nicht genügte, mit einer Frau glücklich zu sein.

   Dabei hatte sie ihm alles gegeben, was ein Mädchen einem Mann zu geben vermag. Tausend zärtliche Stunden - vielleicht waren es auch ein paar weniger? - hatte sie ihm geschenkt. Kein Tabu hatten sie gekannt. Alle Spielarten der Liebe hatten sie genüsslich ausgekostet. Von einer rosaroten Wolke zur anderen waren sie jedes Mal dabei geschwebt. Wenn es eine Steigerung des Siebenten Himmels überhaupt geben sollte, dann waren sie mindestens im Hundertsten gewesen.

   Und dann hatte sie ihn mit ihrer besten Freundin erwischt. Ausgerechnet mit DER, die mit Abstand nicht so hübsch wie sie war, wie sie befand. Ein Nichts war sie gegen sie; dünn wie eine Bohnenstange, ohne jegliche weibliche Rundung, mit denen sie überreichlich gesegnet war, und ein Gesicht, das dem einer Kuh nicht unähnlich war. Vielleicht wäre eine Kuh sogar beleidigt gewesen, hätte man sie mit Tanja verglichen.

   Trotzdem hatte sie diese getreue Freundin und ihren eigenen Herzallerliebsten dabei ertappt, wie sie sich mehr als ein Küsschen schenkten. Sogar sehr viel mehr. Manche Frauen bekommen Babys davon, wenn sie nicht aufpassen oder die Pille nehmen.

   Babsie - so hieß das Mädchen - hatte wütend und enttäuscht zugleich die Tür zugeschlagen, nachdem sie per Zufall Zeugin dieser Art von Liebesbeweis zwischen den beiden geworden war, war zu ihrem Wagen gerannt und nach Hause gefahren. Dort hatte sie zunächst einmal ein bisschen geweint, wie man dies nach einem solchen Verrat für gewöhnlich zu tun pflegt, hatte auch eine kostbare Blumenvase an der Wand zerschmettert und ein Bild Andys hinterhergeschmissen.

   Nachdem sie sich dann aber darüber klar geworden war, dass sie durch Flennen nichts mehr an den Tatsachen ändern konnte und auch die Blumenvase im Grunde keine Schuld an dieser Misere trug, hatte sie sowohl mit ihrer besten Freundin als auch mit Andy gebrochen; per SMS, weil sie nicht einmal mehr per Telefon mit ihnen sprechen wollte.

   Beide hatten seitdem nichts mehr von sich hören lassen, was sie nun doch wieder ein wenig fuchste; denn zumindest von ihrem früheren Liebhaber hätte sie erwartet, dass er versuchen würde....!

Schwamm drüber. Was vorbei war, war vorbei.

   Das Mädchen studierte ein bisschen Germanistik und auch ein bisschen Theaterwissenschaften, wenn ihm danach zumute war, war aber hauptsächlich die Tochter eines steinreichen Wurstwarenfabrikanten, dem nebenbei auch noch etliche Wohnblocks und Hochhäuser gehörten.

   Auf einem dieser großen Kästen hatte er seiner einzigen Tochter, als diese den Wunsch äußerte, das elterliche Heim zu verlassen und sich selbständig zu machen, ein Penthaus mit Swimmingpool gebaut und seinen finanziellen Möglichkeiten entsprechend eingerichtet.

   Dort, knapp unter den Wolken, lebte sie nun, las viel und drehte, wenn das Wetter danach war, im Swimmingpool ihre Runden.

An diesem Sommersonntag war das Wetter danach. Seit den frühesten Morgenstunden lachte die Sonne von einem strahlendblauen Himmel, an den sich auch den folgenden Tag über kaum mal ein Wölkchen verirrte. Es war so heiß, dass Babsie auf jegliche Bekleidung verzichtete - wer sollte sie hier oben im vierzehnten Stockwerk schon sehen? -, es sich pudelnackt in einem Liegestuhl bequem machte und zufrieden vor sich hin döste. Hin und wieder nippte sie an einem erfrischenden Glas Kalte Ente, die sie sich zusammengebraut hatte, kühlte sich im Swimmingpool ab, um danach wieder mit ihrer kaum als sonderlich anstrengend zu bezeichnenden Tätigkeit fortzufahren, die ja eigentlich gar keine war.

   Irgendwann schlief sie dann ein, und zwar so fest, dass sie  nicht mitbekam, wie sich von oben ungebetener Besuch näherte.

   Ein Ballonfahrer war es, dem offensichtlich ein Missgeschick mit seinem aufblasbaren Luftfahrzeug passiert war. Jedenfalls verlor es unaufhaltsam an Höhe, steuerte genau auf das Hochhaus zu und landete schließlich mit einem lauten Platsch mitten im Swimmingpool.

   Von diesem Geräusch erwachte Babsie, schlug die Augen auf und sah sich unvermittelt einem fröhlich grinsenden jungen Mann gegenüber, der sich schnell unter der erschlaffenden bunten Hülle seines Ballons herausgewühlt hatte, sich mit beiden Armen auf dem Beckenrand abstützte und sie ungeniert musterte.

   "Hallo", sagte er und winkte ihr mit einer lässigen Handbewegung zu. "Tut mir leid, Sie beim Sonnenbaden stören zu müssen, aber Otto war nicht mehr in der Luft zu halten. Er hätte sich kaum einen besseren Landeplatz aussuchen können."

   Babsie wurde sich bei seinen Worten urplötzlich ihrer völligen Blöße bewusst. Mit einem erschreckten Piepser sprang sie auf, griff nach einem Badetuch, das sie auf den Fliesen ihrer Terrasse zum Trocknen ausgebreitet hatte, und hüllte sich darin ein.

   "Sie... Sie Flegel!", keuchte sie und erdolchte den Fremden mit wütend blitzenden Augen. "Eine Frechheit ist das; eine bodenlose Unverschämtheit."

   Der junge Mann war unterdessen aus dem Swimmingpool geklettert, hatte sich wie ein nasser Hund geschüttelt und sagte nun:

   "Erzählen Sie das Otto. Ich bin unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Ehrlich. Ich wollte wirklich nicht den Spanner spielen."

   "Otto?", versetzte Babsie mit gefurchter Stirn. "Haben Sie denn noch einen dabei? Liegt der am Ende noch im Wasser? Und Sie stehen seligenruhig herum und glotzen mich schamlos an, statt Ihrem Freund zu helfen."

   "Dem ist momentan nicht zu helfen", lächelte der Fremde. "Otto ist nämlich der Name meines Ballons. Aber Sie könnten mir helfen, indem Sie mir einen Bademantel oder etwas Ähnliches pumpen, damit ich aus meinen nassen Klamotten komme. Ich hole mir sonst noch den Schnupfen. Die nassen Sachen legen wir dann zum Trocknen in die Sonne.

   "Ach?", sagte Babsie unfreundlich, obwohl ihr der junge Mann gar nicht mal so übel gefiel. Ende Zwanzig, Anfang Dreißig mochte er sein, war groß, schlank, blondhaarig, und sein sonnengebräuntes Gesicht mit den lustigen wasserblauen Augen war durchaus passabel. "Sie beabsichtigen anscheinend, sich häuslich bei mir niederzulassen?"

   "Sie werden mir doch nicht die Tür weisen wollen?", fragte der junge Mann mit komischem Entsetzen. "Wissen Sie nicht, dass es Christenpflicht ist, einem Schiffbrüchigen beizustehen?"

   "Wo steht das geschrieben?"

   "Das weiß ich auch nicht so genau", entgegnete der Mann vergenügt. "Vermutlich in der Bibel. Ich denke jedenfalls, dass dem so ist. Solche Dinge stehen für gewöhnlich immer in der Bibel."

   "Sie sollten das Denken besser den Pferden überlassen", meinte Babsie.

   "Ich weiß", grinste der Mann. "Wegen der dickeren Köpfe. Wie ist es jetzt? Kriege ich einen Bademantel oder kriege ich keinen?"

   "Kommen Sie", forderte sie ihn, nachdem sie ihn für ein paar Sekunden nachdenklich angeschaut hatte, auf. "Dann will ich mal nicht so sein, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das, was Sie behaupten, tatsächlich in der Bibel steht."

   "Ein gutes Werk ist es auf jeden Fall", meinte er. "Und als Pfadfinder habe ich gelernt, dass jeder Mensch pro Tag mindestens eine gute Tat vollbringen sollte."

   "Ich bin nie Pfadfinder gewesen", stellte sie klar.

   "Um so anerkennenswerter ist es, wenn Sie mir trotzdem helfen", lächelte er. "Ich werde Sie in meinen Memoiren lobend erwähnen."

   Er gefiel ihr von Minute zu Minute besser. Ein humorvoller Mensch schien er zu sein. Seine Späße deuteten darauf hin. Viel leicht war es gar nicht so uninteressant, wenn er ihr noch ein wenig Gesellschaft leistete. Der Tag war viel zu schön, um ihn einsam und allein zu verbringen. Vielleicht war es sogar ein Wink des  Schicksals, dass er ausgerechnet in ihrem Swimmingpool Schiffbruch erlitten hatte?

   Meine Güte, wie sich das anhörte: "Im Swimmingpool Schiffbruch erlitten!"

   Sie konnte, während sie ihn in ihr schnuckeliges Haus führte, ein belustigtes Lächeln nicht unterdrücken.

   "Wie hübsch Sie sind, wenn Sie lächeln", sagte er. "Noch hübscher, meine ich damit. Es steht Ihnen auf jeden Fall besser als die finstere Miene, mit der Sie mich empfangen haben."

   "Na also", erwiderte sie. "Werden Sie mal auf diese Weise überrascht. Sie würden dann bestimmt auch nicht sonderlich geistreich aus der Wäsche gucken."

   "Die ja nicht vorhanden war", sagte er anzüglich, worüber sie bis zu den Haarspitzen errötete.

   "Eben", brummte sie, ärgerlich über sich selbst, sich diese Schwäche mit dem Erröten zu leisten. "Als wohlerzogener Mensch hätten Sie sofort die Augen schließen und mich warnen müssen."

   "Dafür war der Anblick viel zu reizvoll", sagte er.

   Sie hatten inzwischen das Badezimmer erreicht, wo noch ein Morgenmantel Andys herumhing, den sie ihm nun, weil er etwa die gleiche Größe wie ihr Verflossener hatte, überreichte. Während er sich auszog und in Andys Morgenmantel einwickelte, begab sie sich in ihr Schlafzimmer und schlüpfte in einen Bikini. In der Diele begegneten sie sich wieder.

   Im gleichen Moment hörte man den Fahrstuhl kommen, in dem man direkt bis zu ihrem Penthaus hinauffahren konnte. Den Schlüssel für die letzte Strecke vom obersten Stockwerk des Hochhauses bis zu ihrer Wohnung besaß allerdings nur sie.

   "Und Andy hat noch einen", schoss es ihr in den Kopf.

   "Los, küssen Sie mich!", forderte sie ihren ungebetenen Besucher, dessen Namen sie bis jetzt nicht einmal kannte, unvermittelt auf. "Machen Sie schon! Schnell, schnell!"

   Der junge Mann verstand momentan zwar noch nicht, was sie damit bezweckte, ließ sich aber nicht zweimal bitten. Er nahm sie in seine Arme und küsste sie, wie sie schon lange nicht mehr geküsst worden war.

   Und sie küsste ihn wieder.

   Im gleichen Moment öffnete sich die Fahrstuhltür. Andy trat heraus und blieb wie vom Blitz getroffen stehen.

   "Babsie!", rief er wütend. "So ist das also! Ich komme her, um mich mit dir auszusprechen und zu versöhnen, und du...."

   Er sah ein, dass es wenig Sinn hatte, mit seinen Anschuldigungen fortzufahren, denn selbst Babsie war mittlerweile so sehr in ihre zärtliche Beschäftigung vertieft, dass sie völlig vergaß, weshalb sie sich überhaupt darauf eingelassen hatte, und es nur noch genoss.

   Mit drei schnellen Schritten war Andy bei dem sich küssenden Pärchen, fasste Babsie unsanft an den Schultern und riss sie zurück.

   "He, was soll das?", fuhr sie ihn unwirsch an.

   "Das frage ich mich auch", sagte der junge Mann und schloss schnell den Morgenmantel, der sich beim Küssen vorne geöffnet hatte. "Hätten Sie nicht wenigstens anklopfen können?"

   Andy unterließ es, ihm darauf eine Antwort zu geben, wieder   holte statt dessen seine Ansprache, weshalb er gekommen war, und fügte abschließend noch ein paar unschöne Worte hinzu, die Babsie mächtig auf die Palme brachten.

   "Ach, versöhnen wolltest du dich also mit mir?", rief sie höhnisch. "Woher wusstest du denn, ob ich mich überhaupt mit dir versöhnen will?"

   "Ich hoffte es", entgegnete er etwas ruhiger. "Weil unser ganzer Streit nämlich auf einem gewaltigen Missverständnis beruhte."

   "Auf einem Missverständnis?", lachte sie grimmig. "Was ich gesehen habe, war eindeutig. Eindeutiger geht es gar nicht mehr."

   "Was soll ich dir jetzt noch mit Erklärungen kommen, da du dich offensichtlich schon anderweitig getröstet hast", sagte Andy mit umwölkter Stirn.

   "Ja, sollte ich vielleicht die trauernde Witwe spielen?", zischte Babsie. "Das habe ich nun wirklich nicht nötig."

   "Nein, das hat sie nun wirklich nicht nötig", bestätigte der Fremde.

   "Halten Sie sich da gefälligst heraus", knurrte ihn Andy unfreundlich an, und zu Babsie gewandt fragte er: "Wer ist das überhaupt? Von hier ist er jedenfalls nicht. Ich habe ihn nämlich noch niemals gesehen."

   "Mein Name ist Peter", stellte sich der junge Mann, dem Babsies Verlegenheit bezüglich der Unkenntnis über seine Person nicht entging, vor. "Peter Grammich."

   "Glauben Sie, das interessiert mich die Bohne?", versetzte Andy."Sie fragten aber eben danach", stellte Peter überaus freundlich klar.

   "Das war nur so dahergeschwätzt", brummte Andy, und zu Babsie sagte er: "Musstest du ihm ausgerechnet meinen Morgenmantel geben? Schläft er eventuell auch in meinem Pyjama?"

   "Ich benutze sogar Ihr Rasierwasser", schwindelte Peter. "Es ist übrigens eine aufdringlich riechende Marke, passt aber irgendwie zu Ihnen."

   "Werden Sie bloß nicht frech", drohte Andy. "Sonst fehlt Ihnen gleich ein Satz Ohren."

   "Wem hier gleich ein Satz Ohren fehlen wird, wird sich noch herausstellen", fauchte Babsie ärgerlich. "Du dringst ungebeten in meine Wohnung ein und willst jetzt auch noch den starken Mann spielen? Wo sind wir denn? Sei bitte so gut und lebe wohl, sonst rufe ich die Polizei; denn was du hier tust, ist Hausfriedensbruch."

   "Du musst mich nicht hinauswerfen", erwiderte Andy säuerlich,"denn ich wollte eh gerade gehen. Gestattest du mir wenigstens, meine paar verbliebenen Sachen - darunter diesen Morgenmantel - mitzunehmen?"

   "Natürlich gestatte ich dir das", fauchte Babsie. "Wenn du den Kram nicht abgeholt hättest, hätte ich ihn in die Mülltonne gesteckt. Ich möchte nämlich nichts mehr um mich haben, was mich eventuell an dich erinnern könnte."

   "Vergessen Sie vor allen Dingen das Rasierwasser nicht", sagte Peter. "Es riecht wirklich scheußlich."

   "Armleuchter", knirschte Andy. "Los, ziehen Sie endlich meinen Morgenmantel aus."

   "Aber ich habe nichts an darunter", widersprach Peter.

   "Das ist mir völlig gleichgültig", knirschte Andy. "Ziehen Sie ihn aus - und zwar sofort."

   "Darf ich mir wenigstens ein Handtuch umhängen?"

   "Welche Umstände", höhnte Andy. "Als ob Babsie Sie noch nie nackt gesehen hätte; wo ich Sie doch offensichtlich gerade beim schönsten aller Spielchen gestört habe."

   "Beim allerschönsten", sagte Peter, begab sich ins Badezimmer und tauschte den Morgenmantel gegen ein Handtuch aus, das er sich wie ein Hulamädchen um die Hüften wickelte.

   "Süß", kicherte Babsie, als er damit aus dem Bad kam. "Man fühlt sich fast nach Hawaii versetzt. Fehlen bloß noch die Blumenkränze und die entsprechende Musik."

   "Aloha hé...", begann Peter leise zu singen und sich dabei in den Hüften zu wiegen, "...mein Herz tut weh, weil ich dich, Babsie, nicht mehr nackig seh...hee...hee...heeee....!"

   Babsie errötete bis zu den Haarwurzeln und drohte ihm gespielt streng mit dem Finger.

   Unterdessen hatte Andy seine Sachen zusammengesucht. Er ließ sich von Babsie eine Plastiktüte geben und verstaute alles darin. Den Morgenmantel hängte er sich über den Arm.

   "Das war`s", sagte er. "Ich gehe jetzt. Und es hätte mit uns wieder alles so schön sein können."

   "Wenn der Hund nicht hätte....", entgegnete Babsie frostig. "Zieh endlich Leine, du Westentaschencasanova. Tanja brauchst du übrigens nicht von mir zu grüßen, falls du sie siehst. Und lass den Schlüssel für den Aufzug da. Ich möchte keine zweite unangenehme Überraschung mit dir erleben."

   Andy knallte den Schlüssel auf die Flurgarderobe, murmelte sich etwas Unverständliches in den Bart und trat über den Aufzug den Rückzug an.

   "So, den wäre ich los", atmete Babsie auf. "Vielen Dank, dass Sie so nett mitgespielt haben."

   "Es war mir nicht nur eine Ehre, Ihnen helfen zu können", grinste Peter, "es war mir sogar ein Vergnügen. Hat eventuell noch ein früherer Verehrer von Ihnen einen Aufzugschlüssel?"

   "Nein, warum?"

                       DIE GRAUE MAUS

                      nachdenkliche Weihnachtsgeschichte

            erstmals in einer hessischen Version in meinem Buch

                HESSISCHES ADVENTSKALLENNER BUCH

                          Mundartverlag Naumann, Hanau

                                         erschienen

   "Ich hätte gerne eine neue Mami", sagte der siebenjährige Andreas zu seinem Vater, als dieser ihn fragte, was er sich denn zu Weihnachten wünsche. "Alle Kinder in meiner Klasse haben eine, bloß ich nicht, weil meine ja vor ein paar Jahren gestorben ist. Deshalb hätte ich gern eine neue."

   "Tja, mein Sohn", seufzte Hans Tönnissen, der geplagte Vater und kratzte sich verlegen am Kopf. "Mamis gibts nun mal nicht zu kaufen wie all die anderen Weihnachtsgeschenke. Man kann in keinen Laden gehen und den Verkäufer bitten: 'Zeigen Sie mir mal, was Sie so an Mamis auf Lager haben. Mein Herr Sohn wünscht sich nämlich eine.' Das geht nun mal leider nicht."

´  "Das weiß ich auch", erwiderte das Kind. "Damit ich eine Mami kriege, müsstest du dich in eine Frau verlieben und sie heiraten. Warum tust du es nicht?"

   "Weil mir die Richtige einfach noch nicht über den Weg gelaufen ist", sagte Hans.

   "Eine Mami wie Mami, nicht?", fragte der Bub leise.

   "Genau", bestätigte der Vater. "Ich habe deine Mami sehr lieb gehabt. Deshalb wollte ich eigentlich auch nie mehr heiraten."

   "Aber ein Mann in deinem Alter braucht eine Frau", meinte der Bub altklug, "und ich eine Mutter. Das sagt Frau Huber fast jeden Tag."

   Frau Huber war eine ältere, lebenserfahrene Nachbarin, die Vater und Sohn nach dem frühen Tod Karin Tönnissens den Haushalt führte und sich auch um den Jungen kümmerte, wenn Hans seiner Arbeit als Bankkaufmann nachgehen musste. Der Fünfunddreißigjährige musste sich ihre Meinung bezüglich seines Privatlebens öfters anhören, und sie stimmte mit der seinen nicht immer hundertprozentig überein.

   "Die Frau Huber soll mich kreuzweise....." Hans verkniff sich, was er eigentlich hatte sagen wollen und fügte statt dessen brummig hinzu: "Ich kann mir schließlich keine Frau aus den Rippen schneiden. Deshalb solltest du dir besser ein paar andere Weihnachtsgeschenke überlegen, mit denen ich dir eine Freude bereiten könnte."

   "Ich will aber nichts außer eine neuen Mama", sagte der Bub störrisch. "Wenn ich Heiligabend keine kriege, bin ich böse mit dir und werde nie mehr etwas mit dir reden. Und alle anderen Geschenke kannst du dir an den Hut stecken. Nicht einmal anschauen werde ich sie mir. Und wenn es ein neuer Gameboy   wäre."

   Mit dieser Drohung konnte Andreas seinen Vater zwar nicht sonderlich beeindrucken, da es an Heiligabend vermutlich doch ganz anders kommen würde, aber seine Gedanken machte er sich dennoch darüber.

   "Na schön", überlegte er, "dann werde ich ihm an Heiligabend eben eine Mami präsentieren; und zwar eine, von der er sich wünscht, dass sie möglichst schnell wieder verschwindet."

   In den nächsten Tagen schaute er sich in seinem Bekanntenkreis um, wer als vermeintliche Mami in Frage kommen könnte. Viel Auswahl hatte er nicht, denn die meisten Frauen waren in festen Händen oder anderweitig familiär gebunden, so dass sie an Heiligabend sicher nicht abkömmlich waren. Es blieb bei seinem vorsichtigen Nachforschen letztlich nur ein alleinstehendes Fräulein aus der Kreditabteilung seiner Bank übrig, das von allen Kollegen wegen seiner unscheinbaren Art sich zu kleiden und zurechtzumachen nur die graue Maus genannt wurde.

   Angela Lohwein mochte Ende Zwanzig, Anfang Dreißig sein, wirkte vom Aussehen her wie das berühmte Fräulein Rottenmaier aus dem Kinderbuch Heidi und hatte - wie alle vermuteten - bestimmt noch nie eines Mannes Herz betören können.

   An diese graue Maus pirschte sich Hans also nun heran, schüttelte sich innerlich, als er sich diese Frau zwecks zärtlicher Umarmung in seinem Bett vorstellte, und benötigte fast einen ganzen Tag, bis er endlich den Mut aufbrachte, sie auf seinen gewagten Wunsch anzusprechen.

   "Haben Sie an Heiligabend schon etwas vor?", frage er sie schließlich.

   "Warum?", erwiderte sie.

   "Weil... weil ich Sie gerne einladen möchte", brachte er stotternd heraus und bereute im gleichen Moment seinen Entschluss schon wieder, diese Einladung überhaupt ausgesprochen zu haben.

   "Sie wollen mich wohl veräppeln?", sagte Angela unwillig. "Finden Sie es nicht unter Ihrer Würde, sich solche zweifelhaften Scherze auf Kosten anderer Leute zu erlauben? Ich hatte Sie eigentlich anders eingeschätzt, Herr Tönnissen. Ganz anders."

   "Es war kein Scherz, Fräulein Lohwein", versicherte Hans und erklärte ihr, worum es ihm bei der ganzen Sache ging.

   "Ich soll Ihren Sohn also davon abschrecken, sich weiterhin eine neue Mutter zu wünschen?", resümierte Angela bitter. "Finden Sie nicht selbst, dass es fast schon eine Frechheit ist, was Sie mir da zumuten wollen?"

   "Ja", räumte Hans überaus verlegen ein. "Eine Zumutung ist es schon. Aber ich wusste mir nun mal keinen anderen Rat mehr, als Sie darum zu bitten. Sie sind die einzige, von der ich weiß, dass es niemanden gibt, um den Sie sich an Heiligabend kümmern müssen."

   "...und von der Sie sicher sind, dass Ihr Sohn sie nicht als neue Mami akzeptieren würde", spann Angela den Faden traurig weiter. "Wer möchte schon eine graue Maus zur Mutter haben, nicht wahr?"

   "Aber das hat doch damit gar nichts zu tun", log Hans.

   "O doch", sagte Angela. "Es hat sehr viel damit zu tun. Trotzdem werde ich kommen. Und es ist sogar ein wenig Egoismus dabei: Wenigstens einmal in meinem Leben möchte ich die Illu-sion haben, zu einer Familie zu gehören."

   Hans bedankte sich wortreich, versprach ihr, alles zu tun, damit sie ihren Entschluss nicht bereuen müsste, und sah dem Heiligabend mit den gemischtesten Gefühlen und dem schlechtesten Gewissen der Welt entgegen.

   "Und diese Frau will wirklich meine neue Mami werden?", fragte Andreas immer wieder, nachdem sein Vater ihm mitgeteilt hat-te, dass am Heiligabend mit weiblichem Besuch zu rechnen wäre.

   "Möglich wäre es", schwindelte Hans. "Natürlich musst du sie erst genau unter die Lupe nehmen. Wenn sie dir nicht gefällt..."

   "Sie wird mir schon gefallen", meinte Andreas zuversichtlich. "Dir gefällt sie schließlich auch."

   Eben nicht, dachte Hans bedrückt. Was für ein fieser Kerl ich bin! Aber ich tu es doch nur Karins wegen. Nach ihr soll es keine andere Frau mehr für mich geben, habe ich mir geschworen. Darf ich deshalb aber mit den Gefühlen einer anderen spielen? Ob ich die Sache nicht doch besser abblase?

   Aber er blies sie nicht ab, weil Andreas sich so sehr darauf freute, die Frau kennen zu lernen, die vielleicht - und dieses Vielleicht betonte Hans immer wieder - seine neue Mami werden würde.

   Als es am Heiligabend zu dunkeln begann und Andreas vor lauter Aufregung kaum noch zu halten war, kam sie, die graue Maus. Hans musste zweimal hinschauen, nachdem er ihr auf ihr Klingeln hin die Tür geöffnet hatte, bis er erkannte, dass sie es tatsächlich war.

   Eine bildhübsche junge Frau mit langen, kastanienbraunen Haaren und einem überaus modischen Kleid stand vor ihm, hielt ein größeres und ein kleineres Paket in ihren Händen und lächelte ihn zaghaft an. Da gab es den altmodischen Knoten nicht mehr, den sie sonst als Frisur bevorzugte, auch die hässliche Brille war verschwunden, und wenn man genauer hinsah, konnte man sogar das dezente Make-up erkennen, das sie aufgelegt hatte.

   "Meine... meine Güte, Fräulein Lohwein", stammelte Hans erschüttert und konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden. "Es... es ist unglaublich! Ich... ich finde keine Worte!"

   "Es würde mir schon genügen, wenn Sie mich in Ihre Wohnung bäten", sagte Angela. "Hier draußen ist es nämlich ziemlich kalt."

   "O, Entschuldigung", versetzte Hans. "Treten Sie bitte ein."

   Und jetzt kam auch der kleine Andreas endlich zu seinem Recht. Mit großen Augen und ein wenig skeptisch zunächst schaute er die fremde Frau an, aber als sie sich sogleich zu ihm niederbeugte und ein paar nette Worte für ihn fand, sah man seiner strahlenden Miene an, wie sehr er mit der Wahl seines Vaters einverstanden war.

   Es wurde ein sehr schöner Heiligabend. Andreas akzeptierte natürlich, dass er neben der Vielleichtmami auch noch ein paar andere Dinge geschenkt bekam. Jubelnd packte er sie aus, und von da an war der Papi vergessen. Angela setzte sich nämlich kurz entschlossen zu ihm auf den Fußboden, spielte mit einer wahren Engelsgeduld mit ihm und eroberte sein kleines Herz im Sturm.

   Hans beobachtete die beiden nachdenklich, wunderte sich immer mehr über die graue Maus, deren Wangen sich gerötet hatten und die sich freuen konnte, als wäre sie selbst noch ein Kind, und ertappte sich immer öfter bei dem Wunsch, dieser Tag möge nie vergehen.

   Später brachten er und Angela den Kleinen gemeinsam ins Bett - darauf hatte Andreas unbedingt bestanden -, und als der Junge die Hände faltete und zum Lieben Gott betete, Er möge es einrichten, dass Angela seine neue Mami werden würde, wusste Hans nicht, wohin er vor lauter Verlegenheit blicken sollte.

   "Damit wäre meine Aufgabe dann ja erfüllt", sagte die junge Frau, nachdem sie das Kinderzimmer verlassen hatten. "Tut mir leid, dass der Abend wohl nicht ganz nach Ihren Vorstellungen verlaufen ist, aber ich konnte es mir einfach nicht antun, die böse Hexe zu spielen. Dazu mag ich Kinder viel zu gern."

   Sie begann zu weinen, riss ihren Mantel vom Garderobenhaken und schlüpfte hastig hinein. Als sie zur Tür eilen wollte, hielt Hans sie zurück.

   "Was haben Sie vor?", fragte er bestürzt.

   "Ich will nach Hause", schluchzte Angela, "um mich wieder in die graue Maus zu verwandeln, damit ich nicht noch mehr Unheil anrichte."

   "Aber Sie haben doch kein Unheil angerichtet", widersprach Hans.

   "O doch", sagte Angela. "Ich habe vermutlich Hoffnungen in Ihrem Sohn erweckt, die sich nie erfüllen werden."

   "Und warum nicht?"

   "Weil... weil....!" Angela wandte den Kopf zur Seite und flüsterte: "Weil ich nie mehr etwas mit einem Mann zu tun haben möchte."

   "Deshalb also Ihre Maskerade als graue Maus?"

   "Ja, deshalb", wisperte Angela. "Ich wollte mir nach der größten Enttäuschung meines Lebens nicht noch einmal die Finger ver-brennen. Darf ich jetzt gehen?"

   "Bitte nicht!", sagte Hans leise. "Es war so schön mit Ihnen; der schönste Tag seit dem Tod meiner Frau. Lassen Sie uns noch ein Fläschchen Wein miteinander trinken und plaudern. Vielleicht tut es uns beiden gut, uns einmal aussprechen zu können."

   Angela ließ sich überreden und blieb. Der Wein lockerte ihre Zungen, und so erfuhr Hans, dass ihre ganz große Liebe ein Heiratsschwindler gewesen war, der ihr alles abgeknöpft hatte, was sie besaß und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand; und er erzählte ihr, warum er niemals wieder hatte heiraten wollen.

   "Ich wollte einer Toten die Treue halten", sagte er abschließend, "und musste heute Abend erkennen, wie unsinnig das war. Ein Kind ohne Mutterliebe aufziehen zu wollen, ist fast schon unver-antwortlich. Es braucht sie wie das tägliche Brot. Aber auch der Vater sehnt sich nach ein bisschen Liebe. Nicht umsonst steht in der Bibel: 'Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei` - oder so ähnlich. Mir ist das heute Abend mehr als klar geworden; dank Ihnen, Fräulein Lohwein."

   "Das sagen Sie doch nur aus einer sentimentalen Weihnachtsstimmung heraus", murmelte Angela ungläubig und wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. "Bis morgen haben Sie das längst wieder vergessen."

   "Nie, Angela", sagte er und griff über den Tisch hinweg nach ihren Händen. "Ich habe zwar einen Kinderschreck gesucht, aber sehr wahrscheinlich eine neue Frau fürs Leben gefunden."

   Und als sie am nächsten Morgen gemeinsam frühstückten, war nicht nur der kleine Andreas der glücklichste Mensch dieser Erde.

                DER BANKÜBERFALL

                                  heiterer Kurzkrimi

   Wenn Claus und Irena Zansinger das Geld besessen hätten, das sie nicht besaßen, wären sie reiche Leute gewesen. Ein Berg Schulden hatte sich im Laufe der Jahre vor ihnen aufgetürmt. Da hatte es auch nichts genützt, dass sie, wenn ihnen die eine Bank nichts mehr gab, zur nächsten gegangen waren. Unter dem Strich hatten sich die Salden sämtlicher Konten letztlich zu einer gewaltigen Summe addiert. Und die dusseligen Banken bestanden dummerweise darauf, dass diese Schulden auch irgendwann zurückzuzahlen waren. Fragte sich nur, von was.

   Nun gehörten Claus und Irena zwar zu den so genannten Besserverdienenden, da ihre Ansprüche aber schon immer größer als ihre Einnahmen gewesen waren, nützte ihnen das am Ende gar nichts. Der Pleitegeier kreiste mit grimmige Miene über ihrem schicken Bungalow, den sie ebenfalls auf Pump gebaut und aufs Feinste ausgestattet hatten, und wartete nur darauf, ihr Leben mit seinen gierigen und unnachsichtigen Krallen zu zerfleddern.

   "Wir sind am Ende", sagte Claus eines Tages, nachdem der Gerichtsvollzieher wieder einmal unverrichteter Dinge gegangen war, zu seiner Frau. "Wenn uns nichts einfällt, wird unser Haus in vier Wochen versteigert. Dann sitzen wir auf der Straße, und alles andere, das uns lieb und wert geworden ist, ist ebenfalls verloren. Wir hätten etwas sorgsamer mit unserem Geld umgehen müssen."

   Den ganzen Abend über beratschlagten sie, wie sie ihr Hab und Gut und damit auch ihr aufwendiges Leben retten konnten, und kamen schließlich zu der Erkenntnis, dass es dafür eigentlich nur eine einzige Möglichkeit gab:

   Wenn die Banken ihnen freiwillig nichts mehr zugestehen wollten, mussten sie diese zwingen, etwas herauszurücken. Und diese Zwangsmaßnahmen bedeuteten, dass sie einen Banküberfall riskieren mussten.

   "Die hiesige Zweigstelle der Privatbank & Co. eignet sich dazu meiner Meinung nach am besten", sagte Claus, nachdem sie sich geeinigt hatten, dass ein Banküberfall zur unbedingten Notwendigkeit geworden war. "Wir sind seit Jahren dort Kunden und kennen die Räumlichkeiten und Verhältnisse dadurch wie unsere eigene Westentasche. Außerdem ist es die Bank, die uns momen-tan die größten Schwierigkeiten macht. Es wäre mir eine Genugtuung, mich an ihr zu rächen und sie um einen ordentlichen Batzen zu erleichtern."