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Brigitte Werner schildert 25 Episoden, die sie dem Leben abgelauscht hat: besondere Begegnungen, Erinnerungen, "Zufälle", Ängste, Erlebnisse mit bezaubernden Kindern und tröstenden Tieren … Die Texte laden ein zum Mitfühlen und Mitlachen, zum Staunen und Nachdenken. Immer spürt man dabei ein Augenzwinkern und die Liebe zum Leben. Und man erkennt, dass das Herz nicht nur zwei Kammern hat, sondern viele Räume, in denen wir unsere Kostbarkeiten hüten und aufbewahren sollten, um sie immer mal wieder anzuschauen und sich an ihnen zu erfreuen.
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Seitenzahl: 105
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falter 52
Wege der Seele – Bilder des Lebens
Brigitte Werner
Herzräume
Geborgen im eigenen Leben
Verlag Freies Geistesleben
Cover
Titel
Vorwort
Unbedingt!
Verstand verloren
Besondere Herren
Kleine Gespräche
Imagine all the people
Erbse mit Speck
Rose
Freuwort
Woodstock
Paradiese
Bethlehem ist überall
Kurz woanders
Wolkengeflüster
Lichtgeschehnisse
Lady in Red
Good bye
Verhext
Birne à la Brigitte
Die kleine Elli
Glücksspur
Rotkäppchen
Glanzbild
Sister
Drei kleine Königinnen
Voll das Leben
Geschichten
Mächtigkeiten
Nachwort: Was mich antreibt
Danke
Impressum
Leseprobe: Brigitte Werner – Seitenblicke. Die Liebe zum Leben
Pippi Langstrumpf: «Ach was – wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht!»
ASTRID LINDGREN
Liebe Leserin, lieber Leser,
jetzt darf ich schon ein drittes Mal ein Vorwort zu meinen «Kolumnenbüchern» schreiben. Es sind drei geworden,* und ich habe nun tatsächlich eine Trilogie geschafft. Das hatte ich nie vorgesehen, aber es ist wunderschön, dass es diese kleine Serie gibt.
Das Schreiben dieser Kolumnen hat mir eine ungewöhnlich große Freude bereitet und meine Arbeit sehr bereichert, wusste ich bis dahin überhaupt nicht, dass es mir liegen würde, kleine Begebenheiten aus meinem Leben in nur 3600 Zeichen zu erzählen. Und waren sie überhaupt erzählenswert? Was sollte ich meinen Leserinnen und Lesern mitteilen, was würde sie interessieren, wie ehrlich und offen konnte ich sein, ohne zu privat zu werden? Würde mir überhaupt etwas nennenswert zu Erzählendes passieren, und das jeden Monat?
Alles tatsächlich lauter überflüssige Fragen. Es geschieht so viel an einem einzigen Tag, wenn man aufmerksam, neugierig und offen die kleinen Verrichtungen macht und manchmal die großen Begegnungen aus dem Hinterhalt geschehen. In der Corona-Zeit waren die täglichen Ereignisse sehr reduziert, und ich musste in meinen Erinnerungen suchen. Und das Suchen führte zu einem Finden längst vergessen geglaubter Geschehnisse, die immer noch mein Herz hüpfen lassen.
Ja, das Herz, das ist schon ein sehr besonderer Ort. Es erhält uns am Leben, und wenn wir seine zwei Kammern mit Freude füllen, entstehen immer weitere dazu, als ob man an einem Haus baut, das einfach nicht fertig werden will, weil die Familie wächst und wächst und Platz braucht. Eigentlich müsste ein wachsendes Herz auch schwerer und schwerer werden, aber das ist das Wunder: das Herz kann wachsen, ohne dass es größer werden muss, und es wird eindeutig leichter, wenn wir es mit lebensfrohen Erlebnissen und mit Vertrauen und Freude füllen.
Natürlich braucht es auch Platz für die Widrigkeiten des Lebens, für die Sorgen, die Ängste, die Wut und die Verzweiflung. Alles hat Platz. Aber wir können sehr wohl entscheiden, ob wir unserem Leben mit Vertrauen und Offenheit und vorbehaltloser Aufmerksamkeit für die Freude begegnen oder unglücklicherweise unser Augenmerk zu stark auf die dunklen Momente richten. Die habe ich ebenfalls immer wieder erlebt. Wenn ich zu stark in einer schweren Trübheit gefangen war, halfen mir stets die Erinnerungen an freudvolle Momente, an meine Kraft, die mir gegeben ist, und die Kraft des Lebens, an die ich stets glaube und der ich vertraue, die mich geborgen sein lässt in mir selber, selbst in Kummermomenten – weiß ich doch, dass ich mich immer wieder auf die Helligkeit in meinem Leben ausrichten kann.
Diese Erfahrung und die, dass die Freude oft nur um die Ecke wohnt oder doch schon längst viele meiner Herzräume besetzt hat, die haben mich immer wieder gerettet. Meistens sind es die Kleinigkeiten, die im Herzen groß werden. Wenn wir sie denn wahrnehmen und wertschätzen. Ja, das sollten wir tun. Unverzagt immer wieder. Jeden einzelnen Tag aufs Neue. Das gelingt nicht immer. Aber geben Sie nicht auf. Ich wünsche Ihnen, dass Sie jedem Tag mit Freude begegnen können und seine kleinen und großen Kostbarkeiten entdecken.
Von Herzen,
Ihre Brigitte Werner
* Die beiden Vorgängerbände haben die Titel Zufälle. Das Leben ist wunderbar und Seitenblicke. Die Liebe zum Leben und sind ebenfalls im Verlag Freies Geistesleben erschienen. Die meisten dieser Kolumnen sind ursprünglich im Lebensmagazin a tempo erschienen.
Auf eine Mauer in einem Hinterhof hatte mal jemand geschrieben: Bildet Banden!Das hatte mich tagelang beschäftigt.
Ich suche ein bestimmtes Dokument für meine Steuererklärung, und obwohl ich in meiner Wohnung nur bedingt Platz habe für nicht auffindbare Verstecke, ist die Suche ergebnislos. Aber ich finde eine Menge anderer, interessanter, längst vergessener Dinge. Auch einen zerknautschten, prall gefüllten großen Briefumschlag, auf dem mit Edding fett und schwarz PINNWAND steht.
Ich staune. Welche Pinnwand? Ich setze mich auf meinen Lieblingsplatz auf den Teppich vor mein Sofa und breite die Fülle von großen und kleinen Zetteln vor mir aus. Ich ahne, dass dies eine Entdeckungsreise wird. Die braucht die dazu passende, musikalische Unterstützung. Stings Dowland-Lieder? Auch sie stammen aus einer anderen Zeit, sie sind vierhundert Jahre alt, aber irgendwie stimmig …
Neben Notizzettelchen, alten Fotos und Postkarten finde ich den Glückskeksspruch: Du wirst eine freudige Überraschung erleben. Jaja, nicke ich, das tue ich gerade, dann ein, zwei Zeitungsartikel, leider ohne Datum, über eine Aktion für Obdachlose und über eine Aupair-Oma. Und noch vieles mehr. Ein ganzes vergessenes Universum. Jede Menge Botschaften aus meinem Leben. Von mir an mich.
Aber von wann? Ich bin in den letzten zehn Jahren dreimal umgezogen, bei einem dieser Umzüge konnte ich mich wohl nicht von diesen kleinen Zetteln trennen. Ein bunter Flicken aus dem großen Flickenteppich meines Lebens. Zusammengewebt aus den großen und kleinen Wichtigkeiten des Alltags. An das meiste kann ich mich nicht erinnern. Umso spannender ist nun das Neuentdecken. Ich bin mir auf der Spur.
UNBEDINGT! steht auf einem abgerissenen kleinen Zettel. Sonst nichts. Ich bin auf der Stelle begeistert. So viel Raum für Möglichkeiten. So ein schönes Wort. Ich umrunde es sogleich mit tänzelnden Gedanken. Auf eine Mauer in einem Hinterhof hatte mal jemand geschrieben: Bildet Banden! Das hatte mich tagelang beschäftigt.
Nun lese ich einen Einkaufszettel: Porree, Kaffee, Waschpulver. Ich finde mir unbekannte Telefonnummern, unter einer steht ein mir fremder Name und dick unterstrichen: Werd ich nicht tun! Da steckt irgendeine Geschichte drin, aber welche?
Mein längst verstorbener Kater Oskar schaut von einem Foto direkt in mein Herz, das zieht sich auf der Stelle schmerzlich zusammen und füllt sich sogleich mit großer Liebe. Dann noch ein, zwei Postkarten mit verwunschenen Gärten oder mit lichtdurchfluteten Wäldern, die habe ich immer schon gesammelt.
Auf einen rosa Zettel schrieb ich: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Ich erinnere mich sofort. Ich musste dieses Buch von Carson McCullers haben. Und dann habe ich es geliebt. Und nun lange nicht mehr in der Hand gehabt. Ich finde das Zeitschriftenfoto einer jungen, hochgewachsenen Frau in einem afrikanischen Gewand, leuchtend und prächtig, Sehnsucht erweckend, selber so zu leuchten, solche Farben zu tragen.
Auf einem wunderschönen Papier, mit einem Goldstift in meiner feinsten Kalligrafie habe ich Zeilen von Rilke festgehalten, die mir kostbar waren, weil sie so stimmig mein damaliges Lebensgefühl beschrieben:
Du meine heilige Einsamkeit,
Du bist so reich und rein und weit
Wie ein erwachender Garten.
Meine heilige Einsamkeit du –
Halte die goldenen Türen zu,
Vor denen die Wünsche warten.
Ich erschauere, eine Flut von Gefühlen rollt an, Sting singt sanft: have you seen the bright lily grow, und ich bin traurig und froh zugleich. Dieses ungleiche Paar geht oft eng umschlungen zusammen. Rilkes Zeilen kommen nun an meine Pinnwand in meiner neuen Wohnung. Ich sitze auf dem Boden im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster scheint und entgleite in eine ferne, andere, vergessene Welt, fremd und doch schmerzlich vertraut, so sehr mein Eigen, dass ich beschließe, diese schönen Orte in mir öfter zu besuchen. Und neue zu finden und anzulegen.
UNBEDINGT!
In den wenigen geschenkten Stunden, in denen ich allein zu Hause war, holte ich diese Wunderplatte aus ihrer Hülle, ich wusste genau, wie ich sie auflegen musste, niemals würde ich ihr einen Kratzer zufügen.
Die Musiktruhe hatte zwei Augendeckel, und die schlossen sich über das Radio mit dem geheimnisvollen grünen Auge und über das Fach mit dem Plattenspieler. Jeden Sonntag nach dem Mittagessen mit klarer Suppe vorweg und Pudding danach hockte ich davor und wartete auf Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv. Ich habe heute noch die Musik dazu im Ohr, sie rettete die trübe, lange Zeit des endlosen Nachmittags und die der schrecklichen Schultage der nächsten Woche.
Wenn meine Mutter eine Schallplatte auflegte, mit dem Loch in der Mitte und dem Hund auf dem gelben Kreis drumrum, der vor einem altmodischen Grammofon saß und auf die Stimme seines Herrn lauschte, so tat sie es behutsam, fast ehrfürchtig, sie führte die Nadel sehr, sehr vorsichtig hinunter auf die sich drehende schwarze Scheibe, Kratzer waren unbedingt zu vermeiden. Ich konnte alle Lieder von Freddi Quinn, Zarah Leander, Hans Albers und Lale Andersen mitsingen mit allen Höhen und Tiefen, Schlenkern und Schleifen und dem Hintergrundgerausche. Das Anfassen dieser Kostbarkeiten war heftigst verboten.
Und dann passierte es. Völlig unvorbereitet und so gewaltig wie ein Gewittersturm kam die klassische Musik in mein achtjähriges Leben. Irgendeine Tante oder ein Onkel, keine Ahnung wer, muss sie wohl mitgebracht haben. Wahrscheinlich meine Tante Paula, die hätte nämlich beinahe auf einem Konservatorium Klavier gelernt, wenn der blöde Krieg nicht dazwischengekommen wäre. Es war wohl ein Sonntag, ich weiß noch, dass die Sonne in breiten Bahnen durch die Gardinen in unser Wohnzimmer schien, ich war völlig verstört, als die ersten Töne eines Orchesters erklangen, die in meinen sehr schmächtigen Körper brausten und mir fast die Beine wegkickten.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass mein Vater oder meine Mutter diese Schallplatte aufgelegt hatte, ich rannte zu dem Musikschrank, setzte mich auf den Boden davor und war wie benommen. Ich raste mit Kawumm in eine andere Welt, in der Wolken über einen lichtdurchfluteten Himmel jagten, Bäume, meine geliebten Gefährten, sich in einem sanften oder wilden Wind wiegten, in dem Gewässer tobten, seltsame Gewächse blühten und Früchte aufplatzten, die köstlich und fremd und vertraut waren, und endlose Sternenhimmel durchleuchteten mich.
Ich muss wohl geschluchzt haben, denn irgendwann rüttelte mein Vater mich sanft, als die Musik zu Ende war. Er fragte, ob ich diese Musik noch einmal hören wollte. Aber ich konnte es nicht. Es war zu machtvoll. Ich musste mich erst einmal davon erholen, ich musste diese Klänge irgendwo in mir bewahren, sorgfältig verstecken, wie ich es mit allen meinen Schätzen und Geheimnissen tat, in der steten Angst vor den Erwachsenen, die oft so unberechenbar sein konnten.
Aber ich wurde süchtig nach dieser Musik. In den wenigen geschenkten Stunden, in denen ich allein zu Hause war, holte ich diese Wunderplatte aus ihrer Hülle, ich wusste genau, wie ich sie auflegen musste, niemals würde ich ihr einen Kratzer zufügen, dann saß ich vor der Musiktruhe, Schulaufgaben, Ängste und Kummer vergessend. Hänseleien in der Schule und das Wissen um meine Unvollkommenheit rückten weit von mir ab, und ich war vollkommen frei von all dem, ich war einzig ganz in der Musik und in den Bildern und Gefühlen des Wohlseins, die sie erzeugten, sie machten mich groß und stark und leicht und froh, solange die Musik erklang.
Ich gönnte mir immer genau eine Schallplattenseite. Nie mehr. Und ich bin nie erwischt worden. Und niemals hat die Musik, niemals hat dieser Zauber einen Kratzer bekommen. Noch heute, wenn ich die Ungarischen Tänze von Brahms höre, ist mein Verstand dann nirgendwo. Aber mein Herz ist überall.
Ich konnte es nicht glauben. Das Paradies war nicht irgendwo, sondern genau hier in einem schwarzen Mercedes mit einem Taxischild obendrauf. «There is a crack in everything», sang Leonard Cohen, «that’s how the light gets in …», sang der Taxifahrer.
Nervös sitze ich zwischen den anderen. Froh, dass ich sitze. Die meisten müssen stehen. Es werden immer mehr. Viele scheinen sich zu kennen, ich kenne niemanden. Fast alle der sehr viel jüngeren Autorinnen und Autoren musste ich erraten anhand der Fotos in dem Werbeprospekt dieses Lesefestivals.
Das große Lesespektakel war nun vorbei. Jetzt, hier in dem Antiquariat mit den wunderbar alten Büchern, gab es Sekt, Häppchen, Reden und «gemütliches Beisammensein». Von dem ich mich fortwünschte. Ich war erschöpft, übermüdet und heimwehkrank nach meinem Bett. Immer hatte ich bei genau diesem Festival dabei sein wollen. Immer hatte ich geglaubt, dass es eine große Ehre sei, dorthin eingeladen zu werden. Immer war ich ein bisschen neidisch auf all die Kolleginnen und Kollegen gewesen, die in diesem Prospekt gelandet waren.
Nun war ich hier und einfach nur sehr, sehr müde. Müde und leer. Und die übervolle Buchhandlung