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Opa Leo hat nicht alle Tassen im Schrank - das meinen zumindest die Verwandten. Also kommt er in ein Altersheim, in diese Villa am Kanal. Sein Enkel Jonas, Pille genannt, ist empört. Aber was bleibt ihm anderes übrig, als das Beste daraus zu machen? Und so hilft er seinem Großvater beim Packen und beim Umzug. Er hilft ihm auch, als Opa Leo aus Kummer in einen Baum klettert, weil Bäume so gut trösten können. Und er wartet sehnsüchtig auf seinen Vater, der ohne eine Erklärung weggegangen ist. Gemeinsam mit seinem Opa erfährt Pille, dass sich in Veränderungen oft wundersame Überraschungen verbergen. Denn in dieser Villa am Kanal wohnen Elvis und die kleine Dame im Rollstuhl namens Krümel, dort wohnen Bismarck und der magische Merlin. Und er lernt Lilli kennen, das Mädchen mit den Veilchenaugen. So wird dieser Mai der besonderste Mai in Pilles Leben, und das nicht nur, weil allerorten die Liebe ausbricht … Ein berührender Roman übers Abschiednehmen und Ankommen, Leben und Sterben, die kleinen und großen Wunder an jedem Tag und über eine veilchenblaue Liebe. Ein Buch für Kinder ab elf Jahren und für alle jung gebliebenen Erwachsenen.
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Seitenzahl: 334
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Brigitte Werner
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Nachwort
Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank», sagt Tante Berta. Sie schiebt sich eine Kuchengabel mit Sahnetorte in den Mund, der wird ganz breit, dann rund und spitz und glänzt fettig. Tante Berta liebt Sahnetorte. Das sieht man.
Neben ihr sitzt Onkel Fredi. Der nickt. «Leo hat schon immer anders getickt», sagt er und pafft die Küche voll mit seiner Zigarre.
Die Zigarre stinkt, und mir wird fast übel.
Mama und ich sitzen den beiden gegenüber. Mama hat traurige Augen. Sie nickt auch und sagt leise: «Er ist halt so ein bisschen versponnen.»
«Ne», sagt Tante Berta. «Ne, ne, der hat nicht alle Tassen im Schrank. Punkt!» Dabei sticht sie energisch mit der Gabel in die Kirsche oben auf der Sahne und schlupp, verschwindet die in ihrem Mund.
Ich möchte Tante Berta vors Knie treten, sodass die Kirsche wieder herausspringt. Mein Bein zuckt heftig, und bevor es tatsächlich so mit Schmackes loslegt, stehe ich schnell auf. Ich bin ganz heiß innen drin, und irgendetwas zerplatzt da gerade in meinem Hals. Und als ich den Mund aufmache, höre ich mich sagen: «Ihr seid doch alle total verrückt. Er hat wohl alle Tassen im Schrank, vielleicht noch ein paar mehr als ihr. Lasst Opa Leo in Ruhe!»
Und dann renne ich schnell raus und schmeiße die Tür zu, dass es nur so scheppert.
Jetzt werde ich ganz kalt innen drin und kriege eine Gänsehaut. Oder umgekehrt. Ich kriege eine Gänsehaut und werde ganz kalt. Ich habe noch nicht rausgefunden, was zuerst passiert. Oder ob es gleichzeitig ist. Aber eins weiß ich ziemlich genau:
Das gibt Ärger.
Das gibt Ärger!
Das gibt Ärger!
In meinem Zimmer setze ich mich aufs Bett und warte. Ich habe die Tür abgeschlossen, obwohl Mama und ich ein Abkommen haben. Sich einschließen bedeutet nämlich: Lass mich in Ruhe! Es bedeutet sogar: Ich hab dich nicht mehr lieb. Und das ist eigentlich das Schlimmste für den draußen vor der Tür. Fast noch schlimmer als für den, der drinnen ist.
Als Mama das einmal gemacht hat und ich vor ihrer abgeschlossenen Tür stand, habe ich vor Angst geschrien. So lange, bis sie herauskam. Wir haben abgemacht, dass nur der allerhöchste Notfall das Abschließen erlaubt. Und wir haben beschlossen, nein, wir haben es beide gemerkt, dass man sich sehr böse sein kann und sich trotzdem noch lieb hat. Das ist eine dieser Sachen, die Opa Leo immer die Wunderdinge nennt. Aber das Abschließen kann auch bedeuten: Ich habe Angst vor dem, was draußen ist, und seinem Drumherum!
Im Moment bedeutet es bei mir das alles zusammen. Von jedem ein bisschen. Aber wie kann ich das erklären? Ich werde ganz still innen drin, und meine Wörter haben sich irgendwo versteckt. Wie diese Sandflöhe, die plötzlich weg sind, wenn man am Strand lang läuft, aber unterm Sand flitzen sie wie wild hin und her.
In der Küche nebenan jedoch toben die Wörter. Ich weiß, was die jetzt sagen.
Tante Berta: «Also wirklich, Hanna, du musst ihn einfach strenger erziehen!» Und dann: «Seufz!» Und: «Ach, du Arme, so ganz ohne Mann …» Seufz, seufz, seufz!
Onkel Fredi (ich höre seinen Bass, eine richtige Bärenbrummstimme): «So ein bisschen hat er was von Leo, da kann man sagen, was man will …»
Und Mama mit leiser Stimme: «Er ist halt noch ganz mitgenommen von den ganzen Geschehnissen. Ihr wisst doch, wie er an ihm hängt …»
Laut, leise, Gebrumm, seufz, seufz, Stühle rücken, Türen schlagen. Stille.
Dann klopft Mama. Die Klinke geht runter. Mein Herz bummert wie ein Presslufthammer. Es wackelt richtig unter meinem Pullover.
«Pille?», fragt Mama.
Sie hat nicht Jonas gesagt, sondern Pille, das soll heißen, dass sie nicht so ganz böse ist, glaube ich. Ich sage keinen Mucks. Ich will sie nicht sehen. Aber ich möchte, dass sie mich tröstet. Ich will, dass Onkel Fredi und Tante Berta verschwinden. Für immer und weit weg.
Ich will zu Opa Leo. Sofort und auf der Stelle. Ich will, dass er seine langen Arme um mich legt. Und ich möchte seinen Bart spüren.
Ich will schlafen und aufwachen, und alles ist so, wie es mal war: Mit Papa. Mit Oma Lucie und Opa Leo. Und mit Mama und mir.
Als alle weg sind, höre ich Mama aufräumen. Ich höre durch die Tür und durch den Flur, wie traurig sie ist. Da schließe ich schnell auf und renne zu ihr in die Küche. Aber mein Herz ist ein grauer Betonklotz, und meine Füße kommen nur langsam voran unter diesem Gewicht. Als ich so angeschlurft komme, breitet Mama einfach ihre Arme aus. Sie hält mich fest. Und ich halte sie fest. Sie riecht ein bisschen nach Vanille und Rosen, so wie Mama eben riecht. Und sogar die Traurigkeit kann ich riechen.
«Pille», sagt sie leise. «Wir müssen reden. Aber später. Was hältst du von einer Runde um den Pudding?»
Das sagt Opa Leo immer, und das heißt, wir drehen ein paar Runden mit unseren Fahrrädern. Nach irgendwo, wo es uns gerade hinführt.
«Mama», sage ich. Und ich kriege kaum Luft und muss japsen. Das ist immer so in letzter Zeit, wenn sich etwas Schweres in mir rumdrückt. Das hab ich, seit Papa weg ist. Da geht auch manchmal die Luft weg. Und Luft, die einfach weggeht, nennt man Asthma, dann kann ich fast nicht sprechen. Und meine Wörter flitzen wie diese Sandflöhe irgendwo herum, nur so ein paar stecken ihre Köpfe aus dem Sand. Den Sand kann ich richtig im Hals spüren, der kratzt und reibt und scheuert.
«Mama», sage ich, «wir kriegen das schon wieder hin.»
Schließlich bin ich jetzt der Mann im Haus!
Wir sind zum Stadtpark gefahren, dreimal um den Pudding. Und weil es Mai ist und schon warm, sitzen wir auf dem winzigen Stück Hof vor unserer Küche und machen eine Konferenz. Konferenz bedeutet: Etwas Wichtiges muss besprochen werden.
Etwas Wichtiges besprechen kann man am besten mit Vanilleeis und Oma Lucies eingemachten Pflaumen. Wir haben noch ein paar Gläser im Keller, obwohl Oma Lucie jetzt im Großmutterhimmel ist. Sagt Opa Leo. Und der muss es wissen. Weil er mit Oma Lucie immer noch redet. Und die hat es ihm gesagt.
Mama sagt nichts dazu. Ich glaube, sie kann sich nicht entscheiden. Ich meine, ob Opa Leo recht hat oder nicht. Seit Papa verschwunden ist, hat Mama Probleme mit dem Himmel. Sie sagt das zwar nicht, aber ich kann es spüren.
Ich glaube auch, dass Oma Lucie im Großmutterhimmel ist. Vielleicht hat sie sogar Flügel. Das müssten schon sehr mächtige Flügel sein, denn Oma Lucie war eine stattliche Frau. Früher habe ich nicht gewusst, was das heißt, dieses Wort: stattlich. Aber jetzt weiß ich es. Opa Leo sagt das immer so voller Stolz und Beeindrucktheit oder Beeindruckung oder wie man das nennt, wenn jemand ganz platt ist vor Bewunderung.
Da habe ich gemerkt, stattlich heißt: Oma Lucie ist die Größte. Sie ist die Beste. Sie ist die Schlauste. Sie ist die Liebste. Sie ist die Besonderste. Und: Sie ist die Dickste. Sie macht, dass Opa Leo neben ihr noch dünner aussieht als er ist. Und: Opa Leo ist zwei Köpfe größer als Oma Lucie. Als Oma Lucie es war. Oder wie soll ich das jetzt beschreiben, wo sie nicht mehr hier ist, sondern irgendwo da oben im Himmel? Und wie groß ist man da eigentlich? (Muss ich Opa Leo fragen.)
Ach, Oma Lucie! Opa Leo nannte sie meistens Bella, nur wenn er mal sauer auf sie war, sagte er Lucie. Aber meistens tat er dann nur so. Oma Lucie sagte immer Leo, aber manchmal, wenn die beiden ein Geheimnis miteinander teilten und nur mit ihren Augen redeten, dann sagte sie schon mal: «Na, Spaghetti!» Und ihre Augen tanzten nur so in ihrem Gesicht herum.
Und irgendwie passen Bella und Spaghetti ganz wunderbar zusammen. Weil das beides italienisch ist, wie Opa Leo sagt.
«Und», sagt Opa Leo, «Bella kann man richtig im Mund hin und her rollen und auf der Zunge zergehen lassen. So rund und schön und lecker – wie eine allerfeinste Brüsseler Praline, so wie deine Großmutter eben.» Und seine Augen grinsen sein verrücktes Opa-Leo-Grinsen, das reicht fast bis an die Ohren.
Die Erwachsenen finden das immer ziemlich daneben und total albern. «In deren Alter …», flüstern sie dann, und Tante Berta kriegt ihren strengen, harten Blick und fängt an zu hüsteln. Das tut sie immer, wenn ihr etwas peinlich ist. Einmal hat sie bei Opa Leo sauber gemacht. Da war er schon allein. Und sie hat einen Zettel gefunden, darauf stand:
Meine liebste Bella!
Bin eben einkaufen. Ich vermisse dich. Bis gleich.
Dein Spaghetti.
P.S.: Kusskusskuss!
Tante Berta hat sich nicht mehr eingekriegt und den Zettel als Beweis rumgereicht, dass Opa Leo ziemlich durch den Wind ist. Das sind ihre besseren Worte, wenn sie höflich sein will. Sonst sagt sie immer ihren berühmten Satz: «Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank!»
Und ich habe mich geschämt und geschämt, ich glaube, ich bin überall rot geworden, auch unter den Fußsohlen. Ich habe mich geschämt, dass ich eine so bekloppte Tante habe, die nichts merkt. Die absolut überhaupt gar nichts mitkriegt. Und kein bisschen spürt, wie doof sie ist. Ich habe ihr den Zettel aus der Hand gerissen und bin damit abgehauen. Ich wollte noch schreien: «Du bist eine blöde, dicke Plumpskuh!» Aber da hat Mama mir einen ihrer berüchtigten Gewitterblicke rübergeschickt, dass es in meinem Bauch nur so gekracht hat und ich die Worte blitzschnell runtergeschluckt habe.
Der Zettel mit Opa Leos wackeliger Schrift ist jetzt in meiner Schatzdose. Da waren mal Kekse drin. Auf dem Deckel sind lauter Segelschiffe im Sturm. Es sieht voll nach Abenteuer aus.
Gott sei Dank hat Opa Leo von dieser oberpeinlichen Geschichte nichts mitgekriegt. Ich wäre gestorben. Aber seitdem weiß ich noch genauer und noch klarer, was ich eigentlich schon immer wusste: Tante Berta ist DOOF!! Alle anderen, viel besseren Wörter schreibe ich hier lieber nicht auf. Tante Berta findet alles, da kann man nie wissen …
Aber jetzt ist Konferenz. Und als wir das Vanilleeis ausgelöffelt haben, warten wir. Mama wartet, dass ich anfange. Ich warte, dass Mama anfängt. Und alles in mir drin wartet seit Langem darauf, dass etwas geschieht. Etwas, das alles wieder so macht, wie es mal war.
Aber jetzt bin ich schon wieder ein paar Tage und Wochen älter und weiß Bescheid. Wie es mal war, das ist vorbei. Das ist verschwunden. So wird es nicht mehr sein. Nie mehr. Das Älterwerden ist blöd und das Älterwerden ist klasse. Das ist auch so ein Wunderding, würde Opa Leo jetzt sagen, dass zwei so völlig verschiedene Dinge kein Gegensatz sind, oder so. Das kann man doch gar nicht erklären, obwohl es stimmt.
Meistens wäre ich gern älter. Viel älter. Ich bin jetzt haargenau elf Jahre, elf Monate und elf Tage. WOW!!! Wenn das mal keine magische Zahl ist! Und sofort denke ich: Das bringt Glück!!! Das muss es einfach, weil es sonst nicht zum Aushalten ist. Ich bin immerhin sozusagen ZWÖLF. Und wenn man zwölf Jahre alt ist, ist man fast erwachsen und kann das Leben meistern oder wie man das nennt. Glaub ich jedenfalls. Ist man vierzehn Jahre alt, gehört man zu den coolen Jungs, die hinter der Schule rauchen, die alles über Mädchen wissen und die alle Rätsel der Welt gelöst haben. Und deshalb so obercool sind. Ich wollte, ich wäre vierzehn. Ich könnte Mama hochheben, ich könnte sie herumwirbeln, bis ihre Augen leuchten würden, wie sie es immer bei Papa getan haben.
Ich würde sagen: «Lass mich mal machen. Alles wird gut!» Wäre ich vierzehn, würde ich das irgendwie hinkriegen. Aber diese Konferenz kann nicht warten, bis ich vierzehn bin. Da wären Mamas Augen bestimmt tiefe, dunkle, zugefrorene Seen, und Opa Leos Herz hätte noch mehr Sprünge und Risse. Und hat man zu viele davon, dann fällt es auseinander wie eine kaputte Vase. Das mit den Sprüngen im Herzen hat mir Oma Lucie mal erklärt, als es Opa Leo vor einiger Zeit ziemlich schlecht ging. Sie und Papa und Mama, wir alle, konnten vor Sorge nicht mehr geradeaus denken.
Jetzt haben wir gerade ganz andere Sorgen. Mama sagt mehrmals: «Hm. Hm.» Sie sagt: «Also, du weißt ja …»
Und da sie so rumdruckst, muss ich wohl besser anfangen. Mama schafft das irgendwie nicht. Schließlich frage ich: «Mama, geht es um Opa Leo? Und darum, was ihr mit ihm vorhabt?»
Mama erschrickt. Das sehe ich an ihren Augen, die flattern plötzlich heftig wie aufgescheuchte Vögel. Dann atmet sie tief durch, nimmt meine Hand in ihre, die ist sehr kalt, und sagt: «Ach, Jonas …»
Und sie sagt Jonas, weil sie mir damit sagen will, dass sie jetzt mit mir als einem Erwachsenen spricht, nicht mit dem etwas zu klein geratenen, mopsigen, elf Jahre, elf Monate und elf Tage alten Jungen, den sie sonst Pille nennt.
«Ach, Jonas», sagt Mama, «ich wünsche mir so sehr, dass du es verstehst. Opa Leo kann einfach nicht mehr allein leben. Wir haben ein schönes Zimmer für ihn in diesem Altenheim hinten am Kanal gefunden. Du weißt schon, diese alte Villa. Du hast immer Dornröschenschloss dazu gesagt …» Mama schweigt.
Ach, Mama, da war ich ungefähr vier Jahre alt, ich war ein Baby, ein Baby! Ich kriege kaum noch Luft. Seit Papa weg ist, ist das mit der blöden Luft ein Problem von mir. Ein Asthmaproblem, hat der Arzt Mama erklärt. Ich hasse mein Asthmaproblem. Und jetzt toben in meinem Kopf noch dazu eine Million wild gewordene Bremsen. Die stechen mein ganzes Hirn kaputt, sodass ich überhaupt nicht mehr denken kann, nur noch das verrückte Gesumme höre.
Mama, die alles merkt, nimmt mich in die Arme. «Es geht nicht anders», flüstert sie. «Wir haben Angst, dass er … dass er, weil er mal wieder mit seinen Gedanken woanders ist, aus Versehen etwas Schlimmes anstellt. Etwas, was ihm schadet. Den Gasherd nicht abstellt … Das Wasser überlaufen lässt … Seine vielen Kerzen nicht ausbläst … Mit der Motorsäge … Damit kann etwas ganz Schreckliches passieren. Oder beim Kochen … Weißt du, alle diese Dinge können jetzt gefährlich sein.»
Mama seufzt tief. Und weil mein Kopf an ihrer Brust liegt, spüre ich ganz deutlich, wie dieser Seufzer durch ihren ganzen Körper schleicht und in ihrer Brust Platz nimmt. Mein Kopf liegt sozusagen jetzt auf ihrem Seufzer drauf. Ich schlucke und schlucke.
«Aber das macht Opa Leo doch gar nicht», flüstere ich, weil mein Hals schon wieder ganz eng ist, sodass kaum noch Luft und Wörter raus können.
«Noch nicht», sagt Mama. «Aber er ist so unaufmerksam geworden.»
Das ist typisch Mama. Immer findet sie die lieben Wörter für alles. Ich liebe Mama für ihre lieben Wörter.
Tante Berta hätte wieder mit ihrer Kasernenstimme verkündet: «Er hat nicht alle Tassen im Schrank.» Manchmal sagt sie auch: «Der hat doch ein paar Schräubchen locker!» Und weil sie Opa Leos Schwester ist, meint sie, müsse sie es wohl wissen.
Ich knabbere erstmals an dem Wort unaufmerksam herum, als würde ich probieren, wie es schmeckt und ob die Zutaten stimmen. Mama hat das genau passende Wort gefunden, das steht fest. Sie ist sowieso neben Opa Leo die beste Worte-Finderin, die ich kenne. Sie hat mir auch dieses kleine altmodische Heft geschenkt, das man richtig verschnüren kann, damit ich dort alle meine besonderen Wörter reinschreibe, die ich sammle. Das ist nämlich so ein Tick von mir.
«Ist das so schlimm, unaufmerksam?», frage ich.
«Noch nicht», sagt Mama. «Aber wir machen uns Sorgen um ihn.»
«Tante Berta nicht», sage ich böse. «Onkel Fredi vielleicht. Und ich habe gar keine Angst um Opa Leo. Er kann gut allein leben», sage ich mit überschnappender Stimme, als wäre sie eine Welle, die sich oben am Rand einrollt und dann wegkippt.
Aber irgendwo in meinem Kopf und in meinem Bauch, der jetzt richtig wehtut von dieser Konferenz, weiß ich, dass das nicht so richtig wahr ist, was ich sage. Ich habe auch Angst. Oder Sorge, wie Mama es nennt. Das ist wieder ein viel lieberes Wort als Angst.
«Aber bisher ist doch alles gut gegangen», flüstere ich. Und ich würde um nichts in der Welt verraten, nicht mal Mama, dass es tatsächlich in Opa Leos Küche mal gequalmt hat wie verrückt. Als der blöde Backofen die oberblöde Pizza in einen Haufen schwarzer Kohlestückchen verschmurgelt hat. Ich sage kein Sterbenswörtchen zu niemandem. (Was ist überhaupt ein Sterbenswörtchen? Heißt das, dass man sonst stirbt, ich meine, wenn man das verrät? Das muss ich Opa Leo fragen.)
«Anfängerpech», hat Opa Leo dazu gesagt, und wir haben darüber so gelacht, dass uns Tränen übers Gesicht gelaufen sind.
Tante Berta hätte die Krise gekriegt. Aber Tante Berta wird das nie erfahren. Und damit sie das nie erfährt, haben wir fast zwei Stunden an den Resten im Backofen rumgekratzt, und Opa Leo hat mir erzählt, wie er fast mal einen ganzen Wald in Brand gesteckt hätte. Aber nur fast. Und damals war er noch kein Opa. Nur so ein Kind, das kein Baby mehr ist. Fast so wie ich gerade.
Und das Feuer, mit dem er damals so rumgezündelt hatte und das dann beinahe einen ganzen Wald verbrannt hätte, hat ihm einen solchen Respekt eingejagt, dass er seit damals nur mit höchster Ehrfurcht vom Feuer spricht.
«Das Feuer ist eine mächtige Kraft», hat Opa Leo gesagt, «es ist niemals ein Spielzeug.» Und als wir beim Sauberschrubben so vor dem Backofen gekniet haben, hat sich Opa Leo plötzlich vorgebeugt, die Hände vor der Brust zusammengelegt und ernst in den dunklen Backofen hineingesagt: «Feuer, wir bitten dich um Entschuldigung! Wir waren nachlässig. Danke, dass du uns rechtzeitig gewarnt hast!»
Und ich habe mich auch verbeugt und ein leises Danke gemurmelt. Und dann haben wir uns angegrinst. Aber wir haben es ganz ernst gemeint.
Und genau da hätte Tante Berta sich wieder aufgeplustert wie ein dickes Huhn und mit höchster Überzeugung gesagt: «Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank!» Gackgackgackgack!
Und ich hätte zu Tante Berta gesagt: «Du weißt ja überhaupt nicht, wovon du redest. Du hast ja noch nicht mal einen Hauch von einem blassen Schimmer!» Wenn ich mich das denn mal getraut hätte …
Als ich später im Bett liege, summt mein Kopf immer noch wie verrückt, und auf meiner Brust liegt ein tonnenschwerer Kürbis und drückt und drückt, aber eher innen drin. Er ist so groß wie der Mond, der gerade durchs Fenster äugt, und ich kann ihn nicht runterrollen.
Unsere Konferenz war ein einziger Reinfall. Das lag wohl daran, dass es gar keine richtige Konferenz war, denn es gab überhaupt keine Beratung, nur so ein paar Mitteilungen von längst beschlossenen Sachen. Von beschissenen Sachen. Punkt.
Ich weiß, dass ich dieses Wort nicht sagen darf, aber wenn es stimmt, dann stimmt es, und ich sage es laut unter meiner Bettdecke: «Beschissen. Punkt!»
Lieber Himmel, ich merke gerade, dass ich mich anhöre wie Tante Berta. Also kein Punkt. Einfach nur beschissen!
Naja, eine klitzekleine Beratung gab es schon, als Mama mich fragte, was wir mit Opa Leos Sachen machen sollen, die er nicht in diese Villa, genannt Altenheim, mitnehmen kann. Als ob man das beraten könnte. Das dürfen weder Tante Berta noch Onkel Fredi, noch Mama, noch ich beschließen. Am ehesten Papa, der ist schließlich Opa Leos Sohn. Aber der ist weiß der Himmel wo.
Außerdem muss Opa Leo das selber wissen. Auch wenn er mal irgendwann so eine oberblöde Pizza verkokelt hat. Das hat Mama auch schon mal, und deshalb hält sie keiner für blöd oder hohl im Kopf. Aber von Opa Leo denken das alle sofort. Das ist ungerecht. Das ist gemein. Das ist besch… ja, ja, es reicht.
Ich merke, wie ich wütend werde. Heiß wütend. Tobsuchtswütend. Sodass man am liebsten mit vollem Karacho mit dem Kopf vor die Wand donnern würde. Diese Nichts-tun-können-Wut macht, dass man alles in Stücke schlagen könnte. Alles!
Und morgen wollen sie es ihm sagen. All diese schrecklichen, beschlossenen Sachen. Ihre bescheuerten Erwachsenensachen.
Morgen ist Sonntag. Ich habe keine Schule. Ich soll mit. Aber ich werde mich dort verdrücken. Ich werde schrumpfen auf die Größe einer Zwergameise. Ich mache mich unsichtbar. Ich werde eine zerplatzte Seifenblase sein. Sollen sie doch ihren ganzen beschlossenen Kram Opa Leo allein sagen. Ohne mich! Ich werde nicht dabei sein. Ich werde, ich werde …
O Mist! Obermist! Ober-Ober-Mist! Ich bin solch eine feige Stinksocke, dass mir davon fast übel wird.
Ich höre Tante Berta, wie sie mit ihrer Soldatenstimme Opa Leo all die schrecklichen Sachen an den Kopf wirft und ihr zuckersüßes «Du weißt doch, Leo, dass ich nur das Beste für dich will …» hinterhersäuselt. Ich höre Mama mit ihrer kleinsten Stimme irgendetwas Verzweifeltes murmeln, und ich höre Onkel Fredis Bass: «Es muss sein, Leo. So nimm doch um Himmels willen Vernunft an!»
Und ich sitze dann in irgendeinem Versteck, klein und mies und feige wie die allererbärmlichste Furzlaus im ganzen Universum. Klasse! Gratulation! Super!
Ich ziehe mich leise an und schleiche an Mamas Zimmer vorbei in den Hof. Die Küchenuhr zeigt zwölf Uhr zwanzig. Es ist schon Sonntag.
Ich schnappe mein Fahrrad und radle los. Noch nie in meinem Leben war ich so spät in der Nacht allein draußen. Aber ich bin jetzt zwölf. (Was machen die neunzehn Tage, die noch fehlen!)
Es ist Alarmstufe eins! Und besondere Situationen verlangen besondere Handlungsweisen. Das sagte mal so ein uralter General in einem uralten Schwarz-Weiß-Film. Und Opa Leo sagt immer: Was getan werden muss, tut man am besten sofort!
Ohne lange zu fackeln. (Das sagte Oma Lucie.)
Okay, wird gemacht. Eye, eye, Sir! Und ich radle los. Der Mai riecht so gewaltig, dass mein Herz gerüschte Ränder kriegt wie an Mamas Bluse. Ich wusste gar nicht, dass die Nacht so komplett anders riechen kann als der Tag. Das werde ich noch erkunden müssen. Später. Jetzt ist Sonntag. Ich lege mich ins Zeug. Ich atme tief durch und radle und radle.
Ich rieche und rieche. Ich könnte singen und heulen. Ich schniefe und schniefe.
Ich denke kurz an Papa. Wo immer er gerade ist, er würde das richtig finden. (Papa, warum hast du mir nie erzählt, wie eine Mainacht riecht?)
Ich radle und radle.
Ich bin der tollkühne, geheimnisvolle Ritter, der Freund der Geächteten und Enterbten. Keiner weiß, wo ich herkomme. Keiner weiß, wo ich hin will. Nur ich selbst kenne mein Ziel.
Mein Pferd galoppiert durch die dunkle, gefährliche, klippenreiche Nacht. Es ist ein treues, unerschrockenes Pferd. Es bläht weit seine Nüstern. Es legt sich mächtig ins Zeug. Es kennt den Weg. Die Mainacht umfängt uns mit ihrem grünen, duftenden Mantel. Das Ziel naht. Ziegeleistraße 65. Noch drei Ecken und ein kleiner Berg.
Mein Pferd keucht. Ich keuche. Opa Leo, wir kommen. Opa Leo, mach auf. Wir können nicht mehr! Mein tapferes Pferd bäumt sich ein letztes Mal vor Erleichterung auf, als sich die Haustür öffnet.
O danke, danke, danke!
Opa Leo steht dort im Schein der Lampe, und seine hellen Haarflusen stehen wild von seinen Kopf ab und leuchten. Er hat, ich schwöre es, einen Heiligenschein. Und überhaupt, er sieht fast so aus wie einer dieser Verkündigungsengel auf Oma Lucies Weihnachtskartensammlung in seinem langen, bleichen Nachthemd.
Vor dem Licht sehe ich nur seine Umrisse, und ich spüre seine verwunderten Augen. Ich fühle mich wie die Heiligen Drei Könige alle auf einmal, als sie endlich vor dem Stall in Bethlehem standen. Ich könnte vor Erleichterung glatt niederknien.
Ich lehne mein Fahrrad an den Zaun und springe direkt in Opa Leos Arme.
Das Wunderbare an Opa Leo ist, dass er sich mit allem so viel Zeit lässt, wie es braucht, auch mit den Fragen. Er hebt mich hoch, trägt mich in die Küche und setzt mich auf die Fensterbank. (Jetzt bin ich doch tatsächlich froh, dass ich noch nicht vierzehn bin.) Das Fenster steht weit auf, und auf dem Küchentisch flackert eine Kerze. Opa Leo setzt sich neben mich, und wir hängen unsere Beine nach draußen in die Nacht mit ihrer weichen, dunklen Luft und lassen uns davon streicheln.
Opa Leos kleines, krummes Haus hat einen winzigen Garten. So groß wie ein Waschlappen, sagt Mama immer. Aber in den hat Oma Lucie alle Blumen der Welt um den alten Pflaumenbaum gesät, und noch Kartoffeln und Möhren und Petersilie. Jetzt sät sie das alles droben im Himmel. Und ich weiß, sie werden dort große Augen machen, was sie so alles zum Blühen bringt.
Hier unten wuchert jetzt alles zu. «Eine Schande», sagt Tante Berta. Aber auch das Wucherzeug sieht einfach total gut aus.
Opa Leo hat seinen langen, starken Arm um mich gelegt, und ich drücke mich an sein Nachthemd. Das riecht etwas nach Waschpulver und etwas nach Opa Leo. Draußen in dem Wucherzeug raschelt und wispert es. Die Sterne summen ihre Sternenlieder, und ein Vogel redet im Traum. Ich kann einfach nicht genug bekommen von diesem ganzen Maizauberkram.
Wir sagen gar nichts. Mit Opa Leo ist Gar-nichts-Sagen einfach klasse.
«Du warst ja noch auf», sage ich.
«Ach, der Mai», flüstert Opa Leo, «den kann man einfach nicht verschlafen.»
Und ich weiß seit heute Nacht genau, was er damit meint, und nicke.
«Der Mai riecht am besten», sagt Opa Leo. «Alle grünen Sachen duften jetzt um die Wette, da wird die Nase komplett verrückt. Besonders nachts. Oder nach dem Regen. Und dann alle diese Streichelsachen. Hast du schon mal diese kleinen pelzigen Knospen berührt?»
Ich nicke.
«Oma Lucie und ich haben im Mai oft auf einer Decke gelegen und den Sternen zugeschaut … Weißt du, dass man die Sterne hören kann?»
«Klaro», sage ich. «Richtige Kreislieder, rum und rum und wieder von vorne. Und jetzt schaut Oma Lucie von da oben runter und dir beim Raufschauen zu.»
Opa Leo seufzt und drückt mich kurz an seine Brust. «Schön, dass du da bist, Pille», sagt er.
Wir hören, dass die Mai-Sterne sich besonders anstrengen mit ihrem Kreislied, und bei der tausendsten Strophe vergesse ich fast, warum ich eigentlich hier bin. Bis es mir wieder einfällt und mein Herz heftig zusammenzuckt und sich alles in mir klein machen will, um sich zu verstecken. Meine Luft stolpert auf und davon, und ich jage ihr hinterher. Das, was Asthma heißt, das macht mir immer fürchterlich Angst.
«Ganz ruhig, Pille», sagt Opa Leo. Er legt mir seine Hand auf den Bauch. Die ist groß und stark und warm und tut gut. «So, jetzt tief Luft holen. Und dann schick die Luft einfach in meine Fingerspitzen. Ja, noch ein bisschen, noch ein klein wenig mehr. Ja, gut so. Angekommen!», sagt Opa Leo. «Und noch mal!»
Und, o Wunder, meine Luft ist wieder da. Sie wandert in mir herum und findet zielgenau ihren Weg in Opa Leos Hand.
Ich werde ganz ruhig. Ich möchte die Augen zumachen und mit Opa Leo im kitzelnden Gras liegen, und über uns dreht sich der Himmel mit Oma Lucie zwischen den Millionen Sternen, bis wir davon ganz schwindelig im Kopf werden. Meine Augen werden schwer, und ich will noch sagen: «Opa Leo, du musst aufpassen. Es gibt eine Verschwörung …»
Als ich wach werde, liege ich neben Opa Leo im Bett. Ich weiß erst gar nicht, was los ist, und denke: toller Traum. Aber dann kapier ich, dass das hier eine nackte Tatsache ist. Denn ich sehe den Zettel im blassen Licht, das gerade ins Zimmer wächst und größer und heller wird. Der Zettel klebt mir gegenüber an Oma Lucies gewaltigem Kleiderschrank. Mitten auf dem angeschlagenen Spiegel, der alles so schön in die Länge zieht. Opa Leo hat groß und wackelig draufgeschrieben:
Ist alles okay!
Mama weiß Bescheid!
Und ringsherum hat er lauter krumme und schiefe Sterne gemalt, die hüpfen direkt in mein Herz und tanzen darin herum.
Opa Leo liegt neben mir und sieht aus wie ein trauriger, lieber, verschlafener Clown, so ein tollpatschiger, langer Lulatsch, der seine rote Nase verloren hat und sie in seinen Träumen sucht.
«Opa Leo, du bist der beste Sternenzeichner, den ich kenne», flüstere ich und mache die Augen wieder zu und schlafe ein. Ich merke sogar ganz genau, dass ich das tu. Und das ist so wundersam, dass ich noch merke, wie ich lächeln muss. Und dann bin ich weg. Das Blöde ist, dass man genau das immer nicht merkt. Leider, leider, leider!
Als ich die Augen wieder aufmache, schaue ich direkt in Opa Leos Augen, mit den tausend Sternenfalten ringsherum. Er lächelt.
Opa Leo sagt: «In den Kissen? Oder draußen?» In den Kissen heißt: Frühstück im Bett! Und das ist eigentlich nur ein anderes Wort für Paradies.
Aber draußen! Jetzt im Mai, in dem grünen Gewucher! Mit Opa Leo auf der Decke unter dem Pflaumenbaum. Das ist so ein kleines Paradies mitten im Paradies, wenn es so was überhaupt gibt. Sozusagen das Paradies der Paradiese.
Opa Leo läuft in seinem Flatternachthemd hin und her, und ich lasse sein großes, altes, weiches Oberhemd, das er mir zum Schlafen angezogen hat, einfach an und flattere hinterher. Ich glaube, wir sehen aus wie zwei aufgeregte Vogelscheuchen – eine lange, spindeldürre, und eine kleine, mopsige.
Oma Lucie kriegt da oben jetzt bestimmt kugelrunde Augen, das wird ihr nämlich mächtig gefallen, auch wenn sie jetzt entrüstet «Also wirklich …» sagen würde.
Endlich haben wir alles draußen: Teller, Brot, Butter, Marmelade, Milch, Kaffee, Messer und Löffel. Und die Decke. Wir setzen uns, und Opa Leo nimmt meine Hände, und wir schauen uns an und schauen den Maimorgen an, wir schauen das Frühstück auf der Decke an und sagen laut Danke in den besonderen Tag. Aber mitten im Frühstück falle ich mit der Tür ins Haus, ich kann nichts dafür. Ich falle volle Lotte mit dem beschissenen Erwachsenenkram in Opa Leos besonderes Frühstück. Mist, Mist, Mist!
«Opa Leo», flüstere ich, «du musst aufpassen!»
«Ja», sagt Opa Leo.
«Sie wollen dich in das Dornröschenschloss am Kanal stecken.»
«Ja», sagt Opa Leo.
«Sie wollen sogar dein Haus verkaufen, damit das mit dem Geld irgendwie hinhaut.»
«Ja», sagt Opa Leo.
Er kaut ganz ruhig weiter. Aber seine Augen schauen auf die Decke, und ich bin richtig froh darüber, denn ich will da jetzt nicht reinschauen. Ich fühle mich feige und müde und traurig.
«Sollen wir abhauen?», frage ich und hole vorsichtshalber tief Luft, weil sie nämlich gerade dabei ist abzuhauen. Sie kann so was blitzschnell.
Opa Leo nimmt meine Hand, die verschwindet fast in seiner.
«Ach, Pille», sagt er. «Ohne Oma Lucie ist hier alles so leer. Und alles tut weh.»
«Was?», frage ich.
«Das leere Bett», sagt Opa Leo, «ihre Zahnbürste im Wasserglas, ihr Platz auf der Küchenbank. Alle ihre Töpfe und Pfannen.»
«Und die Blumen hier draußen», sage ich.
«Ja», sagt Opa Leo.
Mir fällt nichts mehr ein. Mein Kopf ist hohl und leer wie ein geplündertes Sparschwein.
«Vielleicht ist es besser so», sagt Opa Leo.
«Wird Oma Lucie denn wissen, wo du bist, wenn du hier ausziehst?»
«Ja», sagt Opa Leo. «Natürlich. Sie ist doch hier drin!» Er drückt meine Hand auf sein Herz, das schlägt fest und wild.
«Und im Himmel», sage ich. Und ich weiß, dass beides gleichzeitig geht. Wieder so ein Wunderding.
«Und hier im Garten», sagt Opa Leo.
«Und hier drin», sage ich und drücke Opa Leos Hand auf mein Herz, das gerade Saltos übt. Wir schauen uns lange an, und ich schwöre, plötzlich sitzt Oma Lucie zwischen uns und zwinkert ihr besonderes Oma-Lucie-Zwinkern, bei dem ihre Augen fast in ihren dicken Backen verschwinden. Und als ich erschrocken mit meinen Augen plinkere, ist sie schon wieder weg. Nur so ein bisschen von ihrem Geruch hängt noch über der Decke.
Opa Leo hat die Augen zu und lächelt. «Na siehst du», sagt er leise. «So macht sie das. Und deswegen ist das alles halb so schlimm. Die Hauptsache bei einem Umzug ist, dass man sich selber mitnimmt. Und die, die man lieb hat!»
Aber ich höre in seiner Stimme einen tiefen Kummer, den er richtig gut vor mir versteckt hält, aber nicht gut genug. Ich kenne Opa Leos Stimme nämlich sehr genau, besonders seine Freustimme. Und von der gibt es gerade weit und breit keine Spur.
«Ich komme dich jeden Tag besuchen», verspreche ich, «jeden Tag!» Und meine Stimme schrumpft und wird kleiner und ist weg. Einfach so!
Opa Leo drückt mich an sich. «Danke», sagt er. Und: «Wir schaffen das schon.»
«Wir schaffen das schon», sage ich jetzt, und meine Stimme richtet sich wieder auf, wird groß und stark und zeigt alle ihre Muckies.
«Genau», sagt Opa Leo, und wir schlagen unsere rechten Hände aneinander.
Und ich bin so froh, dass wir das geschafft haben – wir beide zusammen –, dass ich anfange zu heulen. Mit elf Jahren, elf Monaten und zwölf Tagen. Blöd, blöd, blöd. Aber dann sehe ich, dass Opa Leo auch Tränen in den Augen hat, und der ist zweiundachtzig und wird im Sommer dreiundachtzig. Also, was soll’s! Und zusammen weinen ist nur halb so schlimm. Und dann hören wir wieder auf.
Jetzt sollen sie mal kommen. Tante Berta. Onkel Fredi. Und Mama. Wir sind stark. Wir sind gewappnet. Opa Leo und ich. Zusammen fast fünfundneunzig Jahre. Steinalt und unbezwingbar.
Sollen sie doch kommen!
Später sagte Opa Leo zu diesem Tag: «Sie kamen. Sie sahen. Sie siegten!» Das ist eigentlich ein lateinischer Spruch, aber Opa Leo weiß nicht mehr, wie das auf Lateinisch heißt.
Sie kamen um halb vier. Mit sauren Gesichtern und süßer Sahnetorte. Und sie sahen natürlich sofort, dass Opa Leo bereits weich geklopft war. Wie Oma Lucies berühmtes Schnitzel. Sie sahen, dass sie gesiegt hatten, dass Opa Leo aufgegeben hatte. Und ich hatte einen Kloß im Hals, der war so dick wie Tante Berta.
«Es war ein kurzer Prozess», sagte Opa Leo später. Und die ganze Zeit kriegte ich so gut wie keine Luft. In mir drin suchte etwas angestrengt nach ihr und konnte immer nur einen Zipfel von ihr erhaschen. Und in Opa Leos Küche war die Luft so dick und zäh und klumpig wie Holundergelee. Und diese Luft konnte ich schon gar nicht einatmen. Mein Herz spielte Fangen und Verstecken auf einmal und klopfte wie wild. Als ich das nicht mehr aushalten konnte und dachte, ich kippe gleich mit einem blau angelaufenen Gesicht vom Stuhl, schickte mich Opa Leo in den Garten.
Als ich irgendwann wieder hereinkam, saßen sie alle mit gesenkten Köpfen am Tisch, wie Hühner. Als ob es unter dem Tisch was zu picken gäbe. Nur Opa Leo saß kerzengerade, grinste mich an und hielt beide Daumen nach oben.
Tante Berta hörte gerade auf, Körner unter dem Tisch zu suchen, und schaute hoch. Ihre kleinen Augen waren noch schmaler, und sie hüstelte und sagte: «Nun gut, Leo. Zwei Monate. Zwei Mo-na-te!» Sie sprach mit ihm, als wäre er taub und stockdoof.
Mama sah mir kurz in die Augen, und ich sah eine Million Tränen hinter einem bröckelnden Staudamm. Onkel Fredi saugte an seiner Zigarre. Und weil so viel Qualm um seinen Kopf war, konnte ich nicht richtig erkennen, was in seinem Gesicht los war.
Aber in Opa Leos Augen war etwas, das war traurig und froh zugleich, wenn das überhaupt geht. Aber so sah es aus.
Ich habe erst abends erfahren, als ich noch ein bisschen allein bei Opa Leo bleiben durfte, was das hieß: zwei Monate. Opa Leo zog um. Noch in der kommenden Woche. Aber zwei Monate durfte keiner, keiner, auch nicht Tante Berta, das Haus anrühren.
«Zwei Monate reicht das Geld für die Dornröschenvilla», sagte Opa Leo. «Und dann werden wir sehen.»
Lieber Himmel, bitte hilf! Oma Lucie, bitte, bitte hilf! Ich habe keine Ahnung, was Opa Leo damit meint: «Dann werden wir sehen!» Denn er hat so seltsam dabei gegrinst. Und irgendetwas hat auf einmal ganz komisch an meinem Herzen gezogen, als sollte es länger und dünner werden. Geradezu unheimlich. Und nicht wirklich komisch. Eher so das komplette Gegenteil.
In der kommenden Woche machte ich in der Schule nur Murks. Ich versuchte, es so unauffällig wie möglich zu machen, denn an Aufpassen war nicht zu denken. Sosehr ich mich auch anstrengte, meine Gedanken kreisten wie Vogelschwärme um Opa Leo, um seinen Einzug in dieses Altenheim am Kanal und um die zwei kommenden Monate.
Nach der Schule radelte ich so schnell es ging in die Ziegeleistraße. Ich hatte Mama die Erlaubnis abgeluchst, jeden Tag hinzufahren – so lange, bis alles gepackt und ausgesucht war.
Das Packen war nicht so schlimm, aber das Aussuchen. Opa Leo bekam ein ziemlich kleines Zimmer in der Villa. Wo sollten da alle seine Lieblingssachen hin? Und was waren überhaupt seine Lieblingssachen?
Opa Leo wartete immer auf mich. Er sagte, dass er so schwere Entscheidungen nicht allein treffen könne. Das ganze Aussuchen und Verwerfen, um dann doch wieder von Neuem zu überlegen.
«Also, du brauchst ein Bett, einen Tisch, einen Schrank, einen gemütlichen Sessel, einen Stuhl und ganz viele schöne Sachen zum Erinnern und Freuen», schlug ich vor.
Das mit dem Bett war schon mal Obermurks. Sollten wir etwa das Bett von Opa Leo und Oma Lucie in der Mitte durchsägen?
«Also nehmen wir das Bett, das sie in der Villa haben», sagte Opa Leo. «Ist auch besser so. Da liegt dann nachts keine Erinnerung neben mir und tut weh …»
Das hab ich kapiert. Den schönen alten Lehnstuhl suchten wir aus, ein paar bestickte Kissen von Oma Lucie und die bunte Flickenbettdecke. Die würde Mama kleiner machen. Wir nahmen zwei Wohnzimmerstühle, die mit der hohen Lehne, einen für Opa Leo, einen für mich oder anderen Besuch. Wir nahmen Oma Lucies kleinen Kirschbaumschreibtisch, der so golden schimmert, weil sie ihn immer poliert hat, und ihren kleinen Teetisch. Der Schrank war ein Problem, das sich von selber löste. Sie hatten in der Villa einen Wandschrank mitten in der Rosentapete versteckt. Den sah man gar nicht. Das war auch besser so. Da konnte man sogar, wenn man wollte, Bilder draufkleben.
«Du brauchst noch ein Regal am Bett für den Wecker, die Bücher, deine Medizin und für alle deine Fotos. Und für das Leselicht», sagte ich.
«Und für Blumen», sagte Opa Leo.
Irgendwann hatten wir alles zusammen. Dann kam das Schwerste. Welche Freusachen sollten mitkommen? Erst als ich Opa Leo sagte, dass wir die jederzeit austauschen könnten, weil ja noch zwei Monate alles so bleiben würde, wie es war, wurde er etwas ruhiger. Opa Leo war jetzt immer ganz hibbelig, und er war schrecklich blass.
Ich brachte ihm Essen von Mama mit, damit er bloß nicht auf die Idee kam, eine Pizza zu verschmurgeln. Aber er aß sowieso so gut wie gar nichts.
Am Donnerstagnachmittag sollte Onkel Fredi mit dem kleinen Lieferwagen kommen. Aber als ich aus der Schule kam, fand ich Opa Leo nicht. Ich rannte im ganzen Haus herum, runter und rauf und wieder runter, ich rannte in den Keller, ich schaute in den Garten, ich schaute ins Klo, ich schaute mir die Augen aus dem Kopf. Ich kletterte sogar durch die Bodenluke auf den düsteren Dachboden und war richtig froh, dass Opa Leo nicht da oben war, weil ich dort immer ein bisschen Schiss habe wegen der vielen Spinnen mit ihren klebrigen Netzen.
Als ich gerade losheulen wollte, so völlig erschöpft und leer im Kopf, dafür mit einem riesigen Schrecken im Bauch, so groß wie das Ungeheuer von Loch Ness, da sah ich zwischen meinen Tränen, die alles verschwommen und neblig machten, plötzlich Oma Lucie. Die winkte mir zu und zeigte nach draußen. Und als ich die Nase hochzog und die Tränen mit dem Ärmel abwischte, war sie schon wieder weg.