Herzschlag - Estevão Ribeiro do Espinho - E-Book

Herzschlag E-Book

Estevão Ribeiro do Espinho

4,8

Beschreibung

Das Herz schlägt, bis ein Herzschlag es zerreißt und die Dunkelheit beginnt. Es war nur eine Frage der Zeit. Oder hatte die Düsternis schon mit dieser Gewissheit sein Leben eingenommen? Reisen in die Vergangenheit sollen Fragen beantworten, verdunkeln das Sein aber nur noch mehr.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Epilog – Bekenntnisse eines Mörders

I

Ralf-Jochen trank keinen Kaffee. Eigentlich. Das Problem an der Sache war nur, dass er manchmal einfach nicht „Nein“ sagen konnte. Eigentlich konnte er überhaupt nicht „Nein“ sagen und kam dadurch immer wieder ungewollt in die Verlegenheit, vor einer vollen Kaffeetasse zu sitzen, die irgendwie geleert werden musste. Warum konnte man sich eigentlich nicht einfach mal mit jemandem treffen, ohne dass er einem als Erstes diese bittere schwarze Brühe aufdrängte? Viel schlimmer als der Geschmack war aber etwas anderes: Der Kaffee erzeugte einen nervösen Druck in seiner Herzgegend, seine Hände begannen noch stärker zu zittern und er konnte nachts darauf nicht einschlafen. Unzählige Stunden der Unruhe und Schlaflosigkeit bis in die Morgenstunden folgten jedes Mal dem unseligen Moment der Schwäche, in dem er das verhasste Getränk an seinen Geschmacksnerven vorbei heruntergeschüttet hatte. Und trotzdem passierte es immer wieder.

Diesmal aber überwand er sich zur Zurückweisung, obwohl es ausgerechnet sein Chef Rothe war, der ihn gefragt hatte, ob er einen Kaffee trinken wolle. Aber Ralf-Jochen hatte sich erinnert, dass man in Gesprächen mit Vorgesetzten Willensstärke beweisen sollte: Er wollte keinen Kaffee und das hatte er deutlich gesagt, worauf er einen Moment lang einen Hauch von Stolz empfand. Komischerweise folgten der Druck in der Herzgegend und das Händezittern trotzdem, immerhin musste er nun keine Tasse zum Mund balancieren, wobei Rothe das Zittern bemerken konnte. Die gerade geäußerte Ablehnung hinderte den Abteilungsleiter nicht daran, die Kanne aus der Kaffeemaschine zu nehmen, sich selbst eine große Tasse einzugießen und einen kräftigen Schluck Milch aus einem Pappkarton dazuschwappen zu lassen. Während die allgemeine Kaffeesucht die mäßige Verachtung Ralf-Jochens genoss, löste das Vermischen mit Milch regelrechte Abscheu in ihm aus.

Das begann damit, dass er vor einigen Jahren einem der Jugendlichen, die er betreute, einen Ferienjob in einer Molkerei vermittelte. Als er ihn dann irgendwann fragte, wie seine ersten Arbeitstage gewesen seien, bekam er zu hören, dass sich sämtliche Ferienjobber von der Melkmaschine „einen runterholen lassen“ hatten. Ralf-Jochen machte sich eine sehr bildliche Vorstellung von diesem Akt – die Schläuche, die zu den Milchtanks führten, waren darin durchsichtig - die noch jetzt jedes Mal vor seinem inneren Auge ablief, wenn er jemanden mit einer Milchpackung hantieren sah. Selbstverständlich rührte er seitdem keinerlei Milchprodukte mehr an. Auch als er Rothe jetzt seinen Milchkaffee zubereiten sah, kamen die Bilder wieder in seinen Kopf und er musste einen Würgereflex herunterschlucken.

„Und sie wollen wirklich keinen?“, fragte der Chef. Schon wieder zeigte sich dieses aufdringliche Unverständnis für Ralf-Jochens Kaffee-Ablehnung. Er war in diesem Moment vor Ekel und wütender Unsicherheit kaum noch in der Lage, auf Rothes Frage zu antworten, quälte sich aber die Worte „Nein, er schlägt mir immer gleich aufs Herz.“ heraus. Noch bevor der letzte Ton dieses Satzes seinen Mund verlassen hatte, bereute er seine Antwort bereits aufs Heftigste, denn sie war viel zu persönlich ausgefallen und er fühlte sich nun noch verunsicherter als zuvor. Dieser verfluchte Kaffee! Ralf-Jochen versuchte seine Gedanken auf die Entwicklungsberichte der Jugendlichen zu lenken, die er Rothe gleich vortragen würde.

„Es hat natürlich einen Grund, dass ich Sie hier eingeladen habe“, eröffnete der das Gespräch. Ralf-Jochen war verwirrt, denn sein Chef hatte das Zusammentreffen als turnusmäßiges Mitarbeitergespräch angekündigt. Die angespannte Ordnung der Berichte in seinem Kopf zerstob augenblicklich in unartikulierbare Wortfetzen. „Ich will auch gar nicht lange drumrumreden“, setzte Rothe fort. „Unsere Abteilung muss sich verkleinern und wir haben beschlossen, Ihren Vertrag nicht zu verlängern.“

Diese Worte befremdeten Ralf-Jochen und kamen ihm doch so bekannt vor, als hätte sein Gehirn sie aus einer der tausend Fernsehsendungen, in denen er sie schon gehört hatte herauskopiert, um sie Rothe in den Mund zu legen. Träumte er vielleicht nur? Er sah sich um: Raufaserbedeckte Plattenbauwände, von unzähligen Umzügen abgeschlagene Pressplattenmöbel, brauner PVC-Boden mit undefinierbarer Musterung. Ein trockener Geruch von Staub und Kunststoffausdünstungen setzte sich plötzlich in seiner Nase fest und er musste sich die Nasenflügel zusammendrücken, um nicht laut zu niesen. Nein; obwohl seine Träume manchmal so real auf ihn wirkten, dass er nassgeschwitzt und mit pochendem Herzen aufwachte; jetzt fühlte er, dass all dies real war. Auch ohne dass er Kaffee trinken musste, zog sich jetzt sein Herz zusammen und er nahm die nachfolgenden Worte nur noch schemenhaft wahr.

„Ich will auch was zu den Gründen sagen, denn das wird Sie sicherlich interessieren.“

Ralf-Jochen nickte und starrte dabei auf die Tischplatte, deren Kunststofffurnier ebenso schemenhaft die Struktur irgendeines Holzes imitierte, so wie die Gedanken verschwommen durch seinen Kopf waberten und sich übereinanderschoben, immer noch vorhanden, aber ohne klare Linien und unfähig, eine verwendbare Reaktion hervorzubringen.

„Wir hatten immer ein gutes Verhältnis, es ist also nichts Persönliches. Mit den Berichten, da hatten wir uns anfangs mal auseinandergesetzt und dann lief es ja auch. Sie haben ja auch keinen Fall gegen den Baum gesetzt. Aber im Verkauf, da hatten wir immer den Eindruck, dass sie da nicht so aus sich herauskommen. Sie sind sicherlich ein netter Kerl, letztlich sind es ja immer nur Eindrükke, aber wir mussten jetzt eine Entscheidung treffen.“

‚Eindrücke, Eindrücke, klar letztlich sind alles nur Eindrücke’, hallte es in Ralf-Jochens Kopf wider.

„Das mit dem Verkauf habe ich natürlich auch wahrgenommen“, setzte er zu seiner Ehrenrettung an. „Aber ich hatte eigentlich schon den Eindruck, dass ich mich dabei in der Zeit bei AAB auch weiterentwickelt habe.“

‚Jetzt fasele ich hier auch schon von Eindrücken’, ging es ihm durch den Kopf. ‚Eindrücke können täuschen und bei mir da täuschen Sie sich gerade! Das hätte man sagen müssen!’ Was sollte überhaupt dieser Blödsinn mit dem Verkauf, schließlich arbeitete Ralf-Jochen nicht als Versicherungsvertreter, sondern als Jugendbetreuer. Da waren doch andere Qualitäten viel wichtiger und die hatte er ohne Zweifel! Aber hatte es jetzt überhaupt noch Sinn, irgendetwas zu sagen? Die Entscheidung war gefallen, er würde Rothe sicher nicht umstimmen können. Aber er konnte sich doch auch nicht wie ein Schaf zur Schlachtbank führen lassen! Was sollte er sagen? ‚Sie sind ein netter Kerl.’ Wollte Rothe ihn damit ermahnen, das auch zu bleiben und hier keine Szene zu machen? Nein, das würde er sicher nicht, aber das Gefühl irgendetwas erwidern zu müssen ließ ihn nicht los.

Während Ralf-Jochens Gedanken sich weiter ergebnislos um mögliche Antworten drehten, wiederholte Abteilungsleiter Rothe, der sich seit kurzem Teamleiter nannte, seine Ausführungen noch einmal in anderen Worten. Ralf-Jochen musste jetzt an das sogenannte Team denken, dem er angehörte. Er traf die Anderen höchstens einmal in der Woche, ansonsten arbeiteten sie alle einsam und allein vor sich hin. Wie sie ihn wohl anschauen würden, wenn sie von dem Rausschmiss erfuhren?

„…Sie sind ja jung und gut qualifiziert, Sie finden schon wieder was. Wenn Sie sich bewerben, können Sie da ruhig meine Telefonnummer weiterreichen. Ich würde es mal beim SBH oder der JAS versuchen. Die setzen sich da ja keine Zecke in den Pelz oder so“, schloss der Teamleiter seinen Monolog, während er bereits aufgestanden war, Ralf-Jochen die Hand reichte und aus dem Zimmer eilte, wobei er es aber nicht versäumte, sich noch schnell Kaffee und Milch nachzugießen. Ralf-Jochen kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, auch wäre ihm nichts passendes eingefallen. Deshalb hatte Rothe ihn also nicht in seinem Büro empfangen: Um nach dem kurzen Prozess schnell verschwinden und ihn im Vorraum sitzen lassen zu können!

Und was sollte dieses Angebot, sich bei Bewerbungen auf ihn zu berufen? Was würde Rothe wohl am Telefon sagen, wenn dort tatsächlich jemand nachfragte? Hatte er vielleicht einen Verdacht, den er streuen wollte, um ihn auch bei allen anderen Firmen chancenlos werden zu lassen? Hatte er vielleicht bei der Abrechnung Mist gebaut und Rothe dachte, er habe die AAB betrügen wollen? Oder war es wirklich das fehlende „Verkaufstalent“, das ihn dazu gebracht hatte, ihn rauszuschmeißen? Ralf-Jochen dachte daran, wie er dem Teamleiter dieses Argument selbst in die Hand gegeben hatte, noch bevor der ihn einstellte.

Rothe hatte ihn nämlich beim Vorstellungsgespräch nach seinen Stärken und Schwächen gefragt. Ralf-Jochen hielt diese Frage für eine zur Mode gewordene Verunsicherungstaktik und ärgerte sich maßlos darüber, aber diesmal hatte er sich eine Antwort zurechtgelegt und blieb für seine Verhältnisse relativ ruhig. Natürlich durfte er sich bei seiner Antwort nicht als unfähig darstellen. Ebenso wenig konnte er sagen, er habe keine Schwächen, denn das wäre ihm als arrogante Selbstüberschätzung ausgelegt worden. In fast allen seinen Zeugnissen stand, dass er ein zurückhaltender und ruhiger Mensch sei. Er offenbarte es Rothe deshalb einfach als Schwäche, nicht eben die Spontaneität gepachtet zu haben, wendete dieses Geständnis aber im gleichen Atemzug ins Positive, indem er seine Zurückhaltung und Ruhe als Quelle für Zuverlässigkeit, Stetigkeit und die Fähigkeit, auf andere Menschen eingehen zu können darstellte. Nach dem Gespräch empfand er das schon wieder als zu dick aufgetragen, aber es hatte offensichtlich funktioniert, schließlich bekam er den Job. Mit richtiger Bezahlung, fast nach Tarif, nur ohne die dort festgelegten Zuschläge, das war ja heutzutage fast ein Lottogewinn, wenn auch nur befristet.

Fünf Jahre lang hatte er nun hier gearbeitet. Was jetzt? Ralf-Jochen befand sich bereits auf der Treppe und musste sich abtasten, um festzustellen dass er seine Jacke anhatte und Schlüssel und Portemonnaie sich in den Taschen befanden. Auch seinen Rucksack hatte er in der Hand, er musste allerdings nachsehen, ob er im Herausgehen seine Papiere dorthin zurück gesteckt hatte. Eigentlich konnte er sich nicht einmal mehr erinnern, ob er in Rothes Vorzimmer überhaupt etwas ausgepackt hatte. Es schien alles da zu sein. Ralf-Jochen verließ das sanierungsbedürftige ehemalige Kindergartengebäude und stieß dabei fast mit der Jugendamtsleiterin zusammen, die ihn anlächelte und grüßte. Er zwang sich ebenfalls ein Lächeln ab und grüßte zurück. Wusste die etwa schon über ihn bescheid? Warum lächelte sie so, sonst war sie doch immer die fleischgewordene Muffligkeit, mit ihren angegrauten Haaren, ihrer grauen Kettenraucherhaut und ihrer ebenso grauen Kleidung. Wenn sie so etwas wie eine Seele hatte, konnte sie nur grau sein. Bevor sie noch etwas sagen konnte, flüchtete Ralf-Jochen in den gerade an der Haltestelle vor dem Eingang angekommenen Bus, der zwar nicht in seine Richtung fuhr, ihn aber immerhin hier wegbringen würde.

Beim Einsteigen hörte er hinter sich ein jämmerliches Aufheulen, drehte sich um und erblickte einen großen schwarzen Hund. Jemand musste dem armen Tier auf die Pfote getreten sein. Er blickte ein Stück weiter zurück und sah die Besitzerin der bulligen Promenadenmischung, die sich im gleichen Augenblick als wirkliche Urheberin des Urschreis herausstellte. Sie war wahrscheinlich Ende Dreißig, sah aber älter aus, kleidete sich in einem abgerissenen Punkerstil und auf der Lederjacke prangten verschiedene Stoffaufnäher, denen Ralf-Jochen keinen Sinn zuordnen konnte.

„Wenn Du Dich noch mal vordrängelst gibt es ganz schnell was auf den Arsch!“, sagte sie in einem Tonfall, der auf eine Mischung von Debilität und jahrelangem Drogenkonsum schließen ließ. Ralf-Jochen konnte seiner Fassungslosigkeit nur mit einem Kopfschütteln Ausdruck geben und postierte sich in einer Ecke gegenüber der Mitteltür. Die Situation war absurd, noch nie hatte er sich irgendwo vorgedrängelt. Wie oft hatte er sich im Gegenteil still darüber geärgert, wenn andere das bei ihm getan hatten! Aber die Anschuldigung war nicht ungewöhnlich, denn aus irgendeinem Grund übte Ralf-Jochen in dieser Hinsicht eine magische Anziehungskraft auf Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen aus.

Er hatte sich die Theorie zurechtgelegt, das komme von seiner Körpergröße, die schon seit seiner Schulzeit immer zehn bis zwanzig Zentimeter über dem Durchschnitt lag. Gleichzeitig sah man ihm aber an, dass er unfähig war, jemandem wehzutun oder sich auch nur zu wehren, wenn jemand das mit ihm tat. Das spornte offensichtlich kleinere und weniger sanftmütige Zeitgenossen dazu an, ihr Selbstbewusstsein wieder aufzubauen, indem sie es ihm mal so richtig zeigten. Beschimpfungen und Androhungen von Schlägen waren dabei das wenigste. Was ihn am meisten anekelte, war die Neigung der von ihm angezogenen Psychopathen, ihn anzuspucken. Er nannte sie in Gedanken Aussätzige, weil sie aus einem Milieu kamen, das er nicht kannte und das sie von allem ausschloss, was er für normal hielt. Außerdem brachte er irgendwie ihren Hang zum Spucken mit diesem Begriff in Verbindung, auch wenn er sich nicht erklären konnte warum.

Die Aussätzige im Bus zog eine Tür weiter und blieb dort im Rahmen stehen, während sie „Hey weißes T-Shirt! Du Sau! Du kriegst gleich was auf die Fresse!“ schrie. Das wiederholte sie gebetsmühlenhaft, wobei sie „Sau“ durch andere weniger harmlose Substantive ersetzte.

Ralf-Jochen trug immer weiße T-Shirts, weil er sich so beim Einkauf nicht für ein Modell oder eine Farbe entscheiden brauchte. Er versuchte wegzuhören. Aber wie kann man schon weghören? Wegsehen, das ging ja noch, auch wenn es schwerfiel, aber dieses Geschrei?

‚Die ist einfach durchgedreht, die anderen schütteln auch schon den Kopf und sehen sich nach ihr um’, versuchte Ralf-Jochen seine Anspannung in Mitleid umzuwandeln. Als ob sie das gehört hätte, änderte diese Frau plötzlich ihre Strategie und schrie jetzt: „Hey weißes T-Shirt! Alte Leute und Behinderte herumschubsen, das kannst Du, was?“ Auch das wiederholte sie, wobei bald auch kleine Kinder in der Aufzählung von Anschuldigungen auftauchten, die Ralf-Jochen zunehmend verunsicherte. Zog diese Frau jetzt auch noch die anderen Fahrgäste auf ihre Seite? Würde man bald ihn kopfschüttelnd ansehen?

„So, ich steigt jetzt hier aus“, hörte er die überdrehte Stimme. Als er gerade aufatmen wollte, krächzte sie in seiner unmittelbaren Nähe auf und er konnte nicht anders, als sich zu ihr herumzudrehen.

„Was willst du in Berlin?“, schrie ihm ein geifernder Mund voller brauner Zähne entgegen. Schnell drehte er sich zurück zum Fenster und sah steif auf die vorbeiziehenden Häuserwände.

‚Was ich hier will? Das ist eine gute Frage. Aber Dich geht das einen Scheiß an.’ Wieder war es zu spät für eine Antwort, als ihm der letzte Satz einfiel, denn die Hasstiraden gingen bereits weiter. Vielleicht war es auch besser, dass er nichts gesagt hatte, gar nicht beachten, gleich geht die Tür auf und sie ist weg.

Tatsächlich öffnete sich die Tür jetzt, nachdem der Bus zum Stillstand gekommen war. Ralf-Jochen sah hinüber und stellte erleichtert fest, dass die Aussätzige sich tatsächlich anschickte auszusteigen. Aber im Herausgehen drehte sie sich noch einmal um und spuckte Ralf-Jochen angestrengt nach oben ins Gesicht. Er fühlte wie sich etwas um ihn herum ausbreitete, als hätte der braune Mund einen Urknall erzeugt, aus dem heraus sich ein Universum um ihn ausdehnte, ihn blitzartig einhüllte und seine Meteoriten auf ihn einprasseln ließ: Tausende Tröpfchen, in denen sich Milliarden Viren und Bakterien tummeln mussten, gingen auf sein Gesicht und seine unbedeckten Arme nieder, und es setzte eine körperliche Lähmung ein, gegen die eine innerliche Ballung arbeitete, aber trotzdem sie explosiv zu sein schien keine äußerliche Regung erzeugen konnte. Als die Beschimpfungen gegen ihn weitergingen, fiel ihm nichts besseres ein als „Hau ab, sonst haue ich Dir auf die Fresse!“ herauszupressen. Hatte das nicht diese Frau vorhin auch gesagt? Ralf-Jochen fühlte, wie sich angesichts dieser Unfähigkeit zu einer angemessenen Reaktion eine hilflose Wut in ihm ausbreitete. Er starrte wieder hinaus auf die Häuserwände und Hass begann, sich durch seinen bewegungslosen Körper zu fressen. Auch ein anderer Fahrgast forderte die Aussätzige jetzt auf, endlich auszusteigen, aber wahrscheinlich nicht wegen ihrer Angriffe auf Ralf-Jochen, sondern weil sie in der Tür stand und der Bus deshalb nicht weiterfuhr.

Endlich schloss sich die Tür und das verdammte Gefährt setzte sich in Bewegung. Der Fahrer hatte natürlich so getan, als würde er von nichts etwas mitbekommen. Er hatte die Frau mit dem Hund auch ohne Maulkorb hineingelassen ohne etwas zu sagen. Das war so ekelhaft typisch für diese Leute, dachte Ralf-Jochen und in seinem Kopf sprühten die Funken des Hasses von der Aussätzigen empor und prasselten auf dem Busfahrer herunter. Als er einmal von einem Konzert kam und jemand eine offene Flasche mit in den Bus nahm, weigerte sich der Fahrer kategorisch, seinen Beruf weiter auszuüben bevor nicht der Junge mit der Flasche den Bus verlassen hätte. Da niemand ausstieg, wartete der Typ einfach auf seinem gefederten Sessel, bis der nächste Bus kam und alle dorthin umstiegen. Aber mit den Aussätzigen legten sie sich lieber nicht an, da verstummte ihre Großmäuligkeit, deren allgemeine Verharmlosung als Berliner Charme die Flammen von Ralf-Jochens Wut weiter anfachte, so dass sie jetzt über die gesamte Stadt hinweg zu lodern schienen. Seine hasstriefenden Gedanken schweiften von einer unangenehmen Situation zur nächsten und kamen wieder auf die zurück, in der er sich gerade befand, bis sich endlich die Bustüren wieder öffneten und er den Ort der Peinlichkeit verlassen konnte. Er fühlte das Bedürfnis, so schnell wie möglich seine Sachen in eine Waschmaschine zu stecken und den verseuchten Speichel von der Haut bekommen. Aber in ein öffentliches Verkehrsmittel konnte er nicht noch einmal steigen und er lief deshalb einfach ohne über den Weg nachzudenken in Richtung des Fernsehturms, was ihn irgendwann in bekannte Gefilde bringen würde.

‚Wenn ich die noch mal sehe, bringe ich sie um.’

Er erschrak zunächst ein wenig bei diesem Gedanken, was ihn nicht daran hinderte, ihn gleich noch einmal zu denken. Irgendwie tat ihm die Vorstellung gut, er rief sie immer wieder ab und versetzte sich dabei in zunehmend brutalere Situationen, in denen er die Aussätzige um die Ecke brachte. Zuerst gab er ihr nur einen tritt, so dass sie aus dem Bus fiel. Dann trat er sie zusammen, bis sie Blut zwischen ihren braunen Zähnen hervorspuckte. Auch dem hässlichen schwarzen Hund zeigte er es, als der ihn daraufhin anbellte. Die Gedanken halfen, für einige Augenblicke den Ekel zu vergessen, den die immer noch auf seinem Körper verteilten Speicheltropfen verursachten. So lief er mehr als zwei Stunden lang, bevor er seine Wohnung in der Warschauer Straße erreichte und mit jedem Schritt schien er seinen Gang zu beschleunigen und mit der gleichen Geschwindigkeit wuchs der Hass in ihm.

Zuhause angekommen schrubbte er sich mit der Nagelbürste die Haut von Armen und Gesicht bis alles ähnlich rot war wie an einem lange zurückliegenden Tag, als er nach ein paar Flaschen Bier am Strand eingeschlafen war. Er hatte seinerzeit versucht, so etwas wie Urlaub zu machen, aber was sollte man an einem Ort anfangen, an dem es nur Sand und Wasser gab, außer sich zu betrinken? Er suchte in seinem CD-Regal herum, konnte aber nichts finden, was ihm jetzt erträglich erschien. Schließlich sah er seine alten Schallplatten durch, die er seit Jahren nicht mehr angefasst hatte und legte eine Scheibe von Carcass auf. Unruhig lief er bei diesen Klängen durch die Wohnung, dachte erst sie würden ihn nervös machen, dann schienen sie ihm wieder Kraft zu verleihen und er hämmerte mit der Faust gegen die Wand neben dem Ofen und wartete, dass ein Stück des fragilen Putzes rund um das Ofenrohr hinunterfiel. Wieder stellte er sich vor, wie er die Aussätzige für seine Erniedrigung büßen ließ. In Gedanken schlug er im Takt auf sie ein; und es war ein schneller und harter Takt. Als in seiner Vorstellung ihr Schädel unter seinem Fuß zerplatzte, lief ihm ein kalter aber wohliger Schauer durch den ganzen Körper, wie eine gewaltige Welle, die von der Brust aus allen Hass aus ihm herausströmen ließ und ihm die Kraft zu geben schien, all das wirklich zu tun, was sich gerade in seinem Kopf abspielte. Ekel und Zufriedenheit mischten sich und unter Tränen hämmerte er wieder an die Wand, bis die Erschöpfung ihn zwang, sich auf die Matratze zu setzen. Er schluchzte laut und atmete dabei so tief ein, dass er die Luft nur stoßweise wieder herauslassen konnte, was wie ein Wimmern klang, dass er so erbärmlich fand, dass er die Musik ausschalten musste, obwohl er es hasste, einen Titel nicht zuende hören zu können und mitten im Takt die Nadel vom Vinyl reißen zu müssen. Die Kraft, die er gespürt hatte, war von einem Moment zum anderen verflogen und eine lähmende Schwere umfing seine Brust, die keine andere Bewegung mehr zuließ als das gequält stotternde Auf und Ab des Brustkorbes. Auch das Denken war paralysiert, nur die Bilder der verblutenden Aussätzigen ratterten ihm mechanisch durch den Kopf. Sie erschienen ihm plötzlich völlig absurd. Das Gespräch mit Rothe lief wieder vor ihm ab. Nein, er wollte kein netter Kerl sein. Und diesen Blödsinn mit dem Verkauf hatte der Schleimer doch nur gefaselt, weil ihm selbst nichts besseres eingefallen war. Er dachte nach, wie er sich an dem Chef rächen konnte. Komischerweise kamen ihm dabei keine Gewaltszenarien in den Kopf. Er überlegte vielmehr, wie er ei paar kleine Betrügereien in der Firma, von denen er wusste an die große Glocke hängen konnte. Aber das erschien ihm zu billig. Oder sollte er es trotzdem tun? Die immergleichen Gedanken kreisten in ihm wie in einer Endlosschleife.

Als er sich nach einigen Stunden wieder etwas klarer fühlte, verspürte Ralf-Jochen einen starken Drang, die kontaminierten Sachen, die er an diesem Tag getragen hatte, in den Ofen zu werfen. Da er nur zwei Hosen besaß und das Einkaufen hasste, entschied er sich aber dafür, sie in einer Mülltüte zum Waschsalon zu tragen. Als die Waschmaschine nach einer knappen Stunde anhielt, warf er weitere drei Euromünzen in die Zahlbox und schaltete sie gleich noch einmal ein, ohne die Luke zu öffnen. Er starrte auf die sich drehende Trommel und dachte immer wieder ‚Ich bringe sie um’. Es war als gravierte sich dieser Satz mit dem schleifenden Geräusch des Waschmaschinenmotors immer tiefer in sein Gehirn ein.

Er versuchte noch einige Male, sich dagegen zu wehren. Um den Mordgedanken aus seinem Kopf zu bekommen überlegte er , wie er sich auf mildere Art rächen könnte. Eine Anzeige fiel ihm ein, er verwarf diesen Gedanken aber schnell, denn sicher würde man ihm nur unendliche Fragen stellen und anschließend alles im Sande verlaufen lassen, bis die Staatsanwaltschaft ihn nach der gesetzlichen Frist informierte, dass das Verfahren eingestellt sei. Der Gedanke an das nicht unterschriebene weil maschinell erstellte Schreiben, das er erhalten würde, heizte seine Wut nur noch mehr an. Er hätte diese Frau nicht einmal beschreiben können. Nur zweimal hatte sein Blick sie kurz gestreift, das einzige, was sich dabei regelrecht in sein Hirn eingebrannt hatte, war dieser geifernde Mund mit den braunen Zähnen. Würde er jemals wieder jemanden küssen können, ohne an diesen furchtbaren Anblick zu denken? Wieder kam der Tötungsgedanke zurück. Ralf-Jochen überlegte kurz, wie viele Menschen er in seinem Leben schon geküsst hatte. Ihm fiel nur Roberta ein und die Erinnerung an sie stimmte ihn etwas milder. Was hätte sie jetzt wohl getan?

Vielleicht musste man doch zur Polizei gehen, einfach aus Prinzip. Aber wie hatte diese Frau nur ausgesehen? Schwarze Klamotten, schwarze Haare, schwarzer Hund. Das war doch schon was, aber eigentlich auch nichts, denn es traf in dieser Gegend auf jeden zweiten zu. Warum sah er sich die Leute nur nie richtig an? Seine wenigen Bekannten zogen ihn ständig deswegen auf und spotteten darüber, wie er ohne jemals zur Seite zu sehen durch die Stadt stakste und niemanden erkannte, der ihm begegnete. In der U-Bahn klemmte er sich immer so dicht hinter seine Zeitung, dass er es nicht einmal bemerkte, wenn seine Kollegen sich schon um ihn herum gesetzt hatten und sich mit verschiedenen Gesten über ihn lustig machten.

In der letzten Zeit hatte er es sich sogar angewöhnt, die Zeitung, die er jeden Morgen in seinem Briefkasten fand, bereits im Gehen zur U-Bahn aufzuschlagen. Er überflog dabei nur die Schlagzeilen und sah eigentlich mehr verstohlen über den oberen Rand hinweg, um Zusammenstöße zu vermeiden. Wenn es regnete, tat er dasselbe mit seinem großen schwarzen Schirm, den er so weit über das Gesicht zog, dass er am unteren Rand die Füße der ihm Entgegenkommenden gerade noch rechtzeitig erkennen konnte, um ihnen auszuweichen. Gelangte auf der Straße trotzdem einmal jemand in sein Blickfeld, der ihm bekannt vorkam, sah er meist ruckartig weg, weil er nie genau zuordnen konnte, ob er denjenigen wirklich kannte und er ihn jetzt grüßen sollte, oder ob er sich dabei blamieren und über ihn gelacht werden würde. Dabei stockte sein Herz jedes Mal kurz und es kam ihm vor, als würde dabei die Blutzufuhr zu seinem Gehirn unterbrochen. In diesem Moment konnte er sich dann schon nicht mehr an das Gesicht erinnern, das er gerade erblickt hatte und es war zwecklos, darüber nachzudenken, ob es jemand Bekanntem gehörte oder nicht. Hatte er einmal so ruckartig weggesehen, dann wusste er nie, ob der vermeintliche Bekannte ihn bereits bemerkt hatte und sich nun wunderte, warum er wegsah oder ob er selbst gar nicht gesehen worden war oder er sich vielleicht getäuscht und gar keinen Bekannten gesehen hatte. In keinem Fall konnte er dann noch mal dort hinsehen und seine Gedanken kreisten den ganzen Tag um die Begegnung, die gar keine war. Wenn er viel zu tun hatte, dann verschwanden die Gedanken und deshalb achtete er stets darauf, immer viel zu tun zu haben, auch wenn die unangenehme Erinnerung dann abends wiederkam und erst ein paar Flaschen Bier sie abstellen konnten.

Wieder dachte er darüber nach, wie die Kollegen wohl auf seine Kündigung reagieren würden. Er hatte noch mehr als den Jahresurlaub von fünf Wochen Urlaub übrig, weil er nach einigen gescheiterten Reiseversuchen – genaugenommen waren es zwei - nie wusste, was er mit dieser Zeit eigentlich anfangen sollte und deshalb seinen Urlaub immer solange herausschob wie möglich. Wenn er den Resturlaub einrechnete, musste er noch zwei Wochen lang arbeiten, um seinen Vertrag zu erfüllen. Resturlaub was war das für ein schreckliches Wort. Noch mehr wurmten Ralf-Jochen aber die zynischen Fernsehmoderatoren, die den Zuschauern am Samstag Abend regelmäßig ein schönes Restwochenende wünschten. Schon die Angewohnheit der Verkäufer, am Freitag ein schönes Wochenende zu wünschen hasste er bis aufs Blut. Er fühlte dann förmlich die in der Floskel versteckte Häme. Es war als wüssten diese Menschen genau, dass er mit seinen Wochenenden nichts anzufangen wusste:

Betrinken Sie sich schön, um die Einsamkeit zu ertragen! Schönes Wochenende!

Solche süßen und aktiven Kinder haben Sie, junge Frau! Ich wünsche ihnen gute Nerven, sie zwei Tage lang zu ertragen! Schönes Wochenende!

Viel Spaß beim Anschweigen vor der Glotze mit Ihrer Frau! Schönes Wochenende!

Dieser verdammte Urlaub. Bis zu seinem ersten Urlaub war beim AAB alles wunderbar gelaufen. Bis Rothe ihn fragte, wann er denn gedenke, endlich mal Urlaub zu beantragen. Das war fast ein Jahr nachdem er dort angefangen hatte. Er versuchte, immer mal zwischendurch einen Tag frei zu nehmen, merkte aber, dass er den Urlaubsberg damit nicht abbauen konnte. Er rang sich schließlich durch, füllte einen Urlaubsantrag aus und begann sich auf die Auszeit vorzubereiten. Je mehr er versuchte, die Zeit seiner Abwesenheit durchzuorganisieren, je mehr Fehler passierten ihm und Rothe schien immer aufmerksamer auf ihn zu werden. Am ersten Urlaubstag wurde er krank. Aus irgendeinem Grund hatte er das kommen sehen. Nicht dass er sich sonst gesund fühlte, aber jetzt wuchsen sich die Halsschmerzen, die ihn sonst jeden Morgen und das ganze Wochenende plagten zu einem heißen Stechen aus, dass die gesamte linke Halsseite in Flammen setzte. Er konnte nichts mehr essen und nachts schüttelte ihn der Frost oder das Fieber ließ ihn glühen. Das Brennen des Halses stieg die Lunge hinunter und flammte mit jedem Husten explosionsartig auf. Die Symptome ebbten schnell ab, hinterließen aber eine Niedergeschlagenheit, die es Ralf-Jochen für den Rest seines Urlaubs unmöglich machte, aus dem Haus zu gehen. Als er wieder zur Arbeit musste, war nichts mehr wie zuvor. Jeden Morgen quälte er sich nun mit Magenschmerzen aus dem Bett.

Als er sich angestrengt konzentrierte, kamen Ralf-Jochens Gedanken zurück zu seinem Resturlaub und schweiften von dort zu dem Moment, in dem er vor der Jugendamtsleiterin in den Bus geflüchtet war. Das gleiche Gefühl der Erniedrigung, wie er es in diesem Augenblick empfunden hatte, stellte sich wieder ein und ihm wurde klar, dass er seine Arbeitsstätte heute zum letzten Mal verlassen hatte. Er musste sich für die restliche Zeit krankschreiben lassen.

Ob Rothe bereits damit rechnete? Auch ihm würde es sicher nicht ungelegen kommen, wenn er Ralf-Jochen nicht mehr in die Augen sehen musste. Er dachte daran, wie der Teamleiter nach dem Entlassungsgespräch aus dem Raum geflüchtet war. Gedanken. Versuchten sie nur eine Erklärung zu finden für etwas, was wahrscheinlich wirklich nur von Eindrücken bestimmt wurde? Die Erinnerungen spulten sich weiter vor ihm ab und gelangten erneut zu der Aussätzigen im Bus. Wieder verschafften ihm nur die Gedanken an ihren von ihm herbeigeführten Tod Linderung seiner immer roher werdenden Wut.

Als er den Waschsalon verließ, begannen seine Füße schrecklich zu schmerzen. So lange war er heute gegangen und trotzdem hätte er nichts von dem Weg, den er zurückgelegt hatte, auch nur im Entferntesten beschreiben können. Nur die Gedanken blieben. Zuhause ließ er sich auf seine Matratze fallen und schluchzte in sein muffiges Kissen. Noch lange lag er wach und grübelte weiter, nur selten und kurz kamen die Gedanken zu etwas anderem als der Aussätzigen. Er versuchte, sie dort wegzuzwingen, um sie nicht in seine Träume hinüberschwappen zu lassen, aber es gelang ihm nicht, er schlief mit ihr ein.

Im Traum aber war er plötzlich ganz woanders. Er ging langsam ins Meer, ließ die Wellen nach und nach seinen Körper benetzen und begann schließlich zu schwimmen, als der Boden unter seinen Füßen in den Wellenbergen knapp wurde. Auf und ab – sein Körper machte die Bewegungen mit und ließ sich im Wasser treiben. Plötzlich veränderte sich etwas. Das Rauschen der Wellen war verstummt. Das Wasser wurde weiß und dickflüssiger, langsam begann es sogar auszuflocken. Ralf-Jochen ruderte mit den Armen und drehte sich um die eigene Achse. Es war kein Land mehr zu sehen und ihm wurde klar, dass er zu weit hinausgetrieben war, um jemals wieder zurückzufinden. Aufwachen.

Es war zwei Uhr. Schon als er noch bei Mutter wohnte, passierte ihm das oft: Meist wachte er dort zwischen drei und vier Uhr auf und lag bis zum Frühstück wach, denn etwas anderes konnte er nicht tun, sonst hätte er Mutter geweckt, die nebenan im Wohnzimmer auf dem Bett schlief, das sie jeden Abend aus der dunkelbraunen Schrankwand herausklappte. Jetzt überlegte er, ob er den Fernseher einschalten sollte, entschied sich aber doch, noch einmal herauszugehen, um die Freiheit des Alleinseins auszunutzen. Die Nacht war feucht und Ralf-Jochen sog die Luft wie in einen Schwamm in seine Lungen. Er steckte sich eine Zigarette an. Sie schmeckte so kräftig wie in der Zeit, als er angefangen hatte zu Rauchen. Ralf-Jochen erinnerte sich, wie er aus Mutters neuen Schachteln jedes Mal eine „Juwel 72“ herauspulte, indem er vorsichtig das aluminiumbeschichtete Papier auftrennte und anschließend wieder zuklebte. Als er im Wald mit einer Clique um einen alten abgestorbenen Baumstamm herumstand und Bier trank und man sich gegenseitig etwas von der angerauchten Zigarette „stehen ließ“. Aufregende Zeiten waren das und trotzdem bedrückte ihn die Erinnerung daran zutiefst.

Ralf-Jochen ging ein paar Schritte. Auf der Bank auf dem Mittelstreifen der Straße lag jemand. Es war der Mann, der drei Etagen über ihm direkt unter dem Dach wohnte, da wo die Wohnungen niedriger waren und ohne Stuck an den Decken. Seine Frau hatte ihn wieder einmal ausgesperrt. Ralf-Jochen ging an der Bank vorbei und ihm wehte der Geruch von billigem Fusel entgegen. Die Frage, ob der Mann noch lebte, beantwortete sich, als der sich mit dem Gesicht der Lehne entgegendrehte und damit Ralf-Jochen seinen Rücken zuwendete. Vor ein paar Tagen hatte er vom Balkon aus beobachtet, wie seine ebenfalls alkoholsüchtige Frau unten auf dem Mittelstreifen nach oben brüllte, man solle ihr gefälligst die Tür aufmachen. Sie meinte dabei ihren Mann, der nun ebenso betrunken wie sie zu dieser Zeit auf der Bank lag. Die Erinnerung an das keifende Geschrei, das er seinerzeit ganz amüsant gefunden hatte, brachte Ralf-Jochens Gedanken zurück zu seinem Erlebnis mit der Aussätzigen im Bus. Er machte kehrt, schlug diesmal aber einen Bogen um den auf der Bank Schlafenden.

Aus seiner Wohnung trat er noch einmal auf den Balkon und sah nach dem Mann, aber es war nichts zu erkennen, weil die Bank mit der Rückenlehne in seiner Richtung stand. Er dachte wieder an das Bespucktwerden im Bus und seine Gedanken danach. Würde er es wirklich zustande bringen, so jemanden einfach zu töten? Sicher nicht aus der Situation heraus, wie er sie mit der Aussätzigen erlebt hatte. Dafür war er immer viel zu nervös und nicht spontan genug. Wie für den Verkauf fehlte ihm auch hier die Durchsetzungsfähigkeit. Aber wenn derjenige schlief, wie der Mann auf der Parkbank? Was könnte man tun? Am wenigsten Überwindung würde es wohl kosten, ihm eine Flasche mit vergiftetem Schnaps hinzustellen. Man könnte fast sicher sein, dass er sie sich ohne nachzudenken hineinschütten würde. Aber wo sollte man Gift herbekommen, das man nicht schmeckte und das schnell genug tötete bevor man dem Aussätzigen im Krankenhaus den Magen auspumpte?

Ihm die Kehle durchzuschneiden, würde er kaum fertigbringen. Das wäre natürlich am sichersten, er würde verbluten und könnte nicht einmal schreien. Aber wie sollte jemand wie er, der beim Blutabnehmen jedes Mal fast ohnmächtig wurde, das schaffen? Vielleicht müsste man sich selbst betrinken, um sich überwinden zu können. Aber dann würde man sicher zu leichtsinnig werden und alles vermasseln. In diesem Augenblick sah Ralf-Jochen hinter einem Fenster auf der anderen Straßenseite den Schatten einer menschlichen Gestalt. Er fühlte sich ertappt und lief schnell in die Wohnung. Nachdem er die Balkontür geschlossen hatte, sah er durchs seitliche Fenster noch einmal hinaus, wozu er nur ein Auge langsam am Rahmen vorbei dicht an die Scheibe führte. Der Schatten war noch da, aber war es auch eine Person? Hatte sie sich nicht eben bewegt, langsam mit dem Kopf genickt?

Er legte sich rücklings auf seine Matratze, die ohne Bettgestell auf dem Boden lag. Sein Puls ging schnell und er hatte das Gefühl, eine gewisse Unregelmäßigkeit im Herzschlag zu spüren. Er dachte daran, sich aus dem Was ist wo – Heft, das hier jedes Jahr in die Briefkästen verteilt wurde, einen Arzt herauszusuchen, dem er sein Herzleiden vorstellen konnte. Aber dieser Impuls verflog schnell, als er sich wieder ins Bewusstsein rief, wie er vor ein paar Jahren von Praxis zu Praxis gezogen war und sie alle mit diesem Herzflimmern bekannt gemacht hatte. Er hasste es, zum Arzt zu gehen, schon der Geruch, der ihm meist an den Eingangstüren entgegenwehte, ließ ihn einige Male umkehren, obwohl er einen Termin hatte. Aber die Angst trieb ihn doch immer wieder in die Wartezimmer.

Als er sieben Jahre alt war, starb sein Vater an einem Herzinfarkt. Dass man das so nannte, erfuhr er aber erst viel später. Stattdessen sprachen alle davon, dass Vater einen Herzschlag bekommen hätte und das klang irgendwie noch bedrohlicher, als es beim Wort Infarkt der Fall gewesen wäre, das er in keine Beziehung mit etwas schmerzhaftem hätte setzen können. Er konnte sich kaum noch an Vater erinnern, nur dass er spindeldürr gewesen war. Er war schwach, verließ kaum einmal die Wohnung. Ralf-Jochen hatte sich immer einen anderen Vater gewünscht, einen der stark war, der ihn umherwirbelte, ihn auf den Schultern umhertrug und in die Luft warf. Doch seiner fiel einfach um und war tot. Von da an war seine Mutter sehr traurig geworden. Aber Ralf-Jochen hatte sie deshalb nie weinen gesehen, auch auf der Beerdigung nicht.

Nur bei der anschließenden Totenfeier kamen ihr die Tränen, nämlich in dem Moment, als das kaltes Buffet geliefert wurde. Der Fleischer hatte nur die billige Zervelatwurst, Blutwurst, Teewurst, Leberwurst und Griebenschmalz auf den Plastikplatten verteilt, keinen Schinken, nicht einmal Bierschinken, keinen kalten Braten, nicht einmal Hackepeter und nichts vom raren Obst, wie sie es gewohnt waren. Sogar Sülze und Harzer Käse hatte dieser Kerl den Beerdigungsgästen zugemutet. Harzer Käse auf einer Feier! Mutter war schnell nachhause gelaufen und hatte noch ein paar Sachen aus dem Kühlschrank und dem Keller geholt: Die Pilze in Dosen, die die Verwandtschaft aus dem Westen geschickt hatte, die Gläser mit dem ungarischen „Letscho“, den Paprikastücken in Paprikasoße, von denen Ralf-Jochen immer schlecht wurde, die er aber trotzdem gerne aß, bis er sie zum ersten Mal erbrechen musste. Auch etwas Obst und ein paar Tomaten schleppte Mutter heran, Büchsen mit Hering in Tomatensoße, Wurst und Käse. Zum zweiten Mal an diesem Tage drückten ihr die Gäste mit ihren Blicken ihr Beileid aus, diesmal zu ihrer Wahl des Fleischers.

Jeden Morgen wenn Ralf-Jochen von nun an im Ehebett neben ihr aufwachte, saß seine Mutter schon auf ihrer Bettkante und sah auf das gerahmte Schwarzweißfoto, das im Bücherregal an der nahen Wand stand und ihren verstorbenen Mann zur Zeit ihrer Heirat zeigte. Er schaute streng im Profil. Ralf-Jochen wollte nicht, dass seine Mutter traurig war. Am liebsten hätte er das Foto seines Vaters weggeworfen. Mit den alten Fotoalben hatte er das bereits gemacht. Aber als seine Mutter das bemerkte, war sie nur noch trauriger geworden. Abends sang sie mit ihrer blassen Stimme liebevoll „Morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt.“ Ralf-Jochen ahnte bald, dass ihn dieses Lied beruhigen und zum Einschlafen bringen sollte. Aber das tat es nicht. Immer musste er dabei an Vater denken, dessen Foto im dunklen Regal stand. Was, wenn dieser Gott wie schon bei Vater auch bei ihm nicht wollte, dass er morgen früh wieder geweckt wurde?

Immer wenn sie beide vor dem Schallplattenspieler saßen und in einem der Lieder das Wort Herz auftauchte, dann hustete Ralf-Jochen laut, damit seine Mutter dieses Wort nicht hörte und sich dabei an den Tod erinnerte, der die Traurigkeit über sie gebracht hatte. Und Ralf-Jochen musste oft husten, denn die Schlagertexte sangen viel von Herzen. Von schmerzenden Herzen, gebrochenen Herzen, liebenden Herzen, schlagenden Herzen. Wenn sie vom „Herzschlag“ sangen, meinten sie zwar nicht den Infarkt, der seinen Vater dahingerafft hatte, aber wie sollte seine Mutter dabei an etwas anderes denken? Wenn Ralf-Jochen so viel hustete, sah seine Mutter ihn sanft und besorgt an, holte das Fieberthermometer heraus und tatsächlich hatte Ralf-Jochen dann immer Fieber. Dann brauchte er am nächsten Tag nicht in die Schule gehen und wenn Mutter zur Arbeit gegangen war, fing er an zu schreiben. Meist verfasste er Briefe an seine Tante in Halle. Anfangs fiel ihm nichts ein und er schrieb einfach die Sprüche ab, die sein Vater in kleinen Rahmen an die Wand gehängt hatte. Als der Brief mit dem Inhalt „Ich habe geraucht, gelebt, geliebt, gesoffen, jetzt kann ich nur noch auf den Doktor hoffen.“ bei seiner Tante ankam, musste er große Heiterkeit ausgelöst haben, denn immer wenn diese Geschichte im Familienkreis erzählt wurde, lachte man ausgiebig. Ralf-Jochen konnte das nicht verstehen, auch war es ihm ziemlich peinlich. Trotzdem hörte er nicht auf zu schreiben.

Irgendwann schickte ihm seine Tante ein Buch. Die schweren gelblichen Seiten waren leer und in graues Leinen gebunden, auf dem in goldener Schrift das Wort Tagebuch eingeprägt war. War das eine Aufforderung, das Briefeverschicken zu unterlassen und statt dessen seine Gedanken für sich zu behalten? Ralf-Jochen bedankte sich in einem letzten Brief bei der Tante und hielt von nun an jeden Tag unter dem aktuellen Datum seine Erlebnisse und Beobachtungen fest. Anfangs waren es nur banale Ereignisse später auch Gedanken. Doch je weniger banal die Ereignisse wurden, desto mehr verdunkelten sich die Gedanken. Was sollte man anderes denken, wenn die einzige Kraft, die man hatte, die Aussätzigen anzog, die ihre Spuren an einem hinterlassen wollten?

Die Ärzte, die er vor wegen seines Herzens aufgesucht hatte, sagten ihm stets, er sei gesund, vielleicht sei er von der letzten Grippe noch etwas geschwächt und er solle sich nicht so auf seinen Herzschlag konzentrieren. Einer sagte ihm, das Stechen käme wahrscheinlich von seiner nach vorne verkrümmten Wirbelsäule, von der aus die Schmerzen angeblich oft „ausstrahlten“. Auch seine Mutter hatte immer versucht, ihn zu beruhigen. Er sei eben so anfällig für diesen Husten und das Fieber und müsse dann einfach ein paar Tage zuhause bleiben. Meist wurden daraus mehrere Wochen und neben dem Schreiben konzentrierte er sich in dieser Zeit vorrangig auf seinen Herzschlag. Wenn man den ganzen Tag zuhause war, war das schließlich der einzige Rhythmus, den man hatte. Was sollte man fühlen, wenn der einzige Rhythmus, den man hatte nicht richtig funktionierte?

Auch jetzt blieb er ein paar Tage zuhause. Er hatte sich nicht bei Rothe krankgemeldet. Schon seit Jahren war er nicht mehr bei einem Arzt gewesen. Er hatte es irgendwann einfach aufgegeben. Mit seinem Herzen konnten sie ihm ohnehin nicht helfen und immer wenn ihn Mutter als Kind dorthin gebracht hatte, wurden ihm nur Antibiotika verschrieben. Gegen das Fieber halfen sie nicht, aber Ralf-Jochen hatte jetzt das Gefühl, dass sie ihrem Namen trotzdem alle Ehre gemacht hatten, indem sie Kapsel für Kapsel das Leben aus seinem Körper saugten. Sein Chef sprach ihm nach zwei Tagen auf den Anrufbeantworter. Er fragte, ob er denn damit rechnen könne, dass Ralf-Jochen den Fall Hochberg noch zuende bringe, es sei ja schließlich nichts anderes vereinbart worden. Wenn das für ihn nicht so sei, solle er noch am gleichen Tag anrufen, ansonsten gehe er davon aus, dass alles seinen Gang gehe. Ralf-Jochen löschte die Nachricht und zog den Stecker aus der Telefondose. Er schrieb noch eine E-Mail, dass er krank sei und löschte anschließend sein E-Mail-Konto, um keine Antwort darauf bekommen zu können.

Nachts wachte er oft auf, drehte sich auf den Rücken und dachte lange nach. Manchmal sah er auch aus dem Fenster. Zum Ausgleich schlief er einfach am Tag. Die Wohnung verließ er nicht, nur ab und zu ging er auf den Balkon. Auch das konnte er nur nachts tun, denn tagsüber saßen ihm jeden Tag nur ein paar Meter entfernt seine Nachbarn gegenüber. Die Maletzkis waren ein älteres dickliches Paar. Umringt von Grünpflanzen in Plastikkästen starrten sie jeden Tag von ihrem Balkon auf die Straßenbahnen, Busse und Autos, die anscheinend etwas Bewegung in ihr Leben bringen sollten. Beide mussten lange arbeitslos sein, zumindest seit Ralf-Jochen hier wohnte. Trotzdem liefen sie ständig in Kittelschürze und Blaumann umher, wohl zur Erinnerung an bessere Zeiten. Wenn Ralf-Jochen ihnen so begegnete, nickten sie mit dem Kopf und zwangen sich ein Lächeln ab, hinter dem Argwohn spürbar war; wahrscheinlich hatten sie bereits bemerkt, dass er das Haus nicht mehr verließ, auch machte er sich, wenn er doch einmal im Hellen auf den Balkon ging, nicht mehr die Mühe, seine Schlafanzughose gegen etwas Vorzeigbares zu wechseln.

In manchen Nächten sah er ihn wieder, den Schatten auf der anderen Seite der Straße. Sollte er Kontakt aufnehmen? Aber wozu? Ihm fiel kein vernünftiger Grund ein, dennoch spürte Ralf-Jochen eine unerklärliche Anziehungskraft, die von dieser Erscheinung ausging. ‚Lass es uns tun’ schien sie zu sagen und Ralf-Jochen wusste, dass es richtig war, auch wenn er noch nicht wusste, was es war. Tränen rannen ihm übers Gesicht und tropften ihm aufs T-Shirt. Er versuchte nicht, sie sich aus dem Gesicht zu wischen.

Im Briefkasten fand er einen Umschlag mit dem Stempel seiner Arbeitsstelle. AAB gGmbH stand da, das kleine g stand für gemeinnützig. Ralf-Jochen erinnerte sich an die Zeit, als der Betrieb in Form eines Vereins gegründet worden war. Es hatte etwas von Aufbruchstimmung: Man traf sich in der Kantine des Jugendamtes und erst als der Sommer vorbei war, wurde ein Raum gemietet in einem ehemaligen Kindergarten, der nicht mehr gebraucht wurde, weil es hier keine kleinen Kinder mehr gab. Dafür aber umso mehr Jugendliche. Das ganze Plattenbaugebiet war in den achtziger Jahren entstanden und die Wohnungen wurden seinerzeit an junge Familien vermietet. Sie hatten sich darum gerissen und wollten auch jetzt nicht wegziehen aus dieser trostlosen Schlafstadt. Ihre Kinder waren nun in der Pubertät angekommen und alles schrie nach Betreuung. Aber was hieß das eigentlich?

Ralf-Jochen hatte sich anfangs ausgemalt, wie er die orientierungslosen Sprösslinge über Literatur, Musik und gute Filme von ihrem stupiden Umfeld lösen und zu etwas hinführen würde, zu etwas besserem, von dem er selbst nicht genau wusste, was es war. Er musste bald feststellen, dass genau das Gegenteil von ihm erwartet wurde, nämlich dass seine jugendlichen Klienten so lange wie möglich in ihren Familien blieben, weil so am wenigsten Kosten entstanden. Stattdessen sollte er die Konflikte mit den Eltern schlichten, Grenzen setzen und Regeln aufstellen, deren Einhaltung mit Belohnung und Strafe gesichert wurde. In Gedanken verglich er diese Methoden mit denen einer Hundeschule und fand dabei keine Unterschiede, wobei er natürlich keine Ahnung hatte, wie es in einer Hundeschule zuging, aber so hatte er sie sich immer vorgestellt. So wollte er nicht arbeiten, musste aber auch feststellen, dass er mit seinen Vorstellungen von guter Musik und Filmen auf Unverständnis stieß und Literatur für seine Jugendlichen meist etwas fremdes war, dem man sich auch nicht zu nähern gedachte.

Der Verein wurde bald zu einer gGmbH. Das war die Zeit, als plötzlich die An- und Abfahrt zu den Klienten nicht mehr bezahlt werden konnte und das Urlaubs- und Weihnachtsgeld abgeschafft wurden. Ralf-Jochen hatte keinerlei Beziehung mehr zu so etwas wie Urlaub oder Weihnachten, auch das Geld wurde bei ihm nie knapp, trotzdem beunruhigte ihn diese Entwicklung. Eine gemeinnützige GmbH, das war so etwas wie ein vegetarischer Wolf, dachte Ralf-Jochen jetzt und ihm gefiel der Vergleich. Seit Tagen hatte er das erste Mal das Gefühl, doch etwas zu können, wenn es auch nur das Finden passender Formulierungen war. Wobei der vegetarische Wolf sicher nicht das Beste repräsentierte, das ihm jemals eingefallen war. Er musste in seinen Aufzeichnungen nachsehen, vielleicht konnte er jetzt endlich den Roman zuende bringen, den er vor Jahren einmal zu schreiben begonnen hatte. In Schlafanzughose und weißem T-Shirt ging er hastig die linoleumbeschichteten Treppen hinauf, beflügelt von dem Gedanken daran, dass sein Rauswurf nur ein Zeichen war, eine Befreiung von seinem sozialpädagogischen Ordnungshüterdasein, die ihm ein neues Leben als Schriftsteller eröffnete.