Brasilientagebuch - Estevão Ribeiro do Espinho - E-Book

Brasilientagebuch E-Book

Estevão Ribeiro do Espinho

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Beschreibung

Ein Brasilientagebuch, wie es belangloser nicht sein könnte, lädt den Leser dazu ein, sich zu freizumachen. Es konterkariert den aktuellen "Zeitgeist" und setzt einen Gegenpol zu Action und Spannung. Das Gegenteil von Spannung ist nicht Langeweile, sondern tiefe Entspannung, mit der es dem Leser gelingt, die alltägliche Reizüberflutung hinter sich zu lassen, welche die Kinder hyperaktiv werden und die Erwachsenen vor Überforderung lethargisch vor sich hin sabbern lässt. Der permanenten vollständigen Überreizung wird in diesem Buch das Konzept der systematischen Unterreizung entgegengesetzt, die dazu führt, dass das Material zunächst schockierend wirkt, da es den medial veränderten Konsumgewohnheiten diametral entgegensteht. Lässt sich der Leser aber längere Zeit darauf ein, so eröffnet sich ihm eine verlorengeglaubte Erlebenswelt, die das Wort in den Vordergrund treten lässt und seine Wirkung auf ungeahnte Weise verstärkt.

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Seitenzahl: 132

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Diese Zeilen sind nicht zur Veröffentlichung bestimmt, weder im großen noch im kleinen Kreis. Sie sollen mir in der Zukunft helfen, mich zu erinnern, wie ich mich zu der Zeit der Niederschrift gefühlt habe. Dafür ist es mir wichtig, bestimmte Details zu schildern, denn in der Erinnerung bleiben immer nur einzelne Momente erhalten, Fetzen, die positiv oder negativ besetzt sind. Meist kommen mir die negativen Seiten als erstes in die erinnerte Gefühlswelt und lösen depressive Momente aus. Wenn die schönen Erlebnisse in Erinnerung kommen, dann meist mit der Wehmut verbunden, dass sie unwiederbringlich vergangen sind. Deshalb versuchte ich früher meist, die Vergangenheit aus meiner Umgebung zu verbannen. Gegenstände und Schriften, die entbehrlich geworden waren, übergab ich in solchen Phasen dem Feuer, um mich nicht den Erinnerung auslösenden Verbindungen auszusetzen, die sie erzeugten.

Trotzdem kamen die diffusen Erinnerungen immer wieder, meist als Momentaufnahmen der Peinlichkeit oder der Angst. Diese Extreme will ich nun vermeiden, indem ich das ganze Bild in seinen Details festhalte. Der Versuch, Gefühle als solche zu beschreiben, bringt mich dabei nur selten weiter, meist versagen die Worte. Nur die kleinen erlebten Ereignisse und Reaktionen fügen sich auch später noch im Kopf zu einem Bild, das Emotionen in die Erinnerung bringt. Bewusst wurde mir dies bei unserem letzten Besuch in Rathenow vor einer Woche. Wir gingen zu der Stelle, an der das Gebäude gestanden hatte, in dem ich die ersten 20 Jahre meines Lebens zubrachte. Jetzt befand sich dort eine langsam zuwachsende Sandfläche. Ich kann nicht sagen, dass mich das emotional nicht berührt hätte. Aber es war ein Gefühl der Absonderlichkeit, nicht des Erinnerns an bereits an diesem Ort erlebte Emotionen. Es fehlten die Details, die der Bagger Stück für Stück abgetragen hatte. Beim Besuch davor waren sie noch da gewesen, auch wenn das Gebäude schon leer stand. Vielleicht liest G diese Zeilen irgendwann einmal, um zu erfahren, was er erlebt hat, aber nicht erinnern kann.

Inhaltsverzeichnis

Dienstag 01.08.06, 14.33 Uhr in Campina Grande, Computerzeit 19.33

Freitag, 4. August 2006, 12.32 Uhr, Computerzeit 17.32

Samstag, 5. August 2006, Computerzeit 18.52

Freitag, 11. August 2006, Computerzeit 19.44

Samstag, 12. August 2006, Computerzeit 20.21

Montag, 14. August 2006, Computerzeit 19.45

Dienstag, 15. August 2006, Computerzeit 17.29

Dienstag, 22. August 2006, Computerzeit 13.12

Mittwoch, 23. August 2006, Computerzeit 23.27

Donnerstag, 31. August 2006, Computerzeit 11.35, Ortszeit 11.35

Dienstag, 24. Oktober 2006, 11.48

Dienstag 01.08.06, 14.33 Uhr in Campina Grande, Computerzeit 19.33

Die Reise hat ihr vorläufiges Ende genommen, soweit der Weg das Ziel definiert. Das Ziel ist erreicht, gestern sind wir in Campina Grande angekommen. Zuhause für V, bekanntes aber vergessenes Territorium für G, ein Ort des Abenteuers für mich. Des erinnerten Abenteuers, um genau zu sein. Des ungewollten Abenteuers. Für einen wahren Abenteurer waren mir die Ängste stets zu präsent. Trotzdem verliefen meine Reisen meist abenteuerlich, oft aus naiver Fehleinschätzung und Fehlplanung heraus. Aus der Angst, Unnützes zu tun, wurde Verschleppung. Aus der Angst vor Verschwendung wurde Verschwendung. Geld zu sparen kostete ungeahnte Energien. Teilweise war das zwar unverzichtbare Notwendigkeit angesichts begrenzter Mittel, oft aber auch protestantisches Zwangsverhalten ohne Rücksicht auf das Selbst. Über São Paulo zu fliegen, statt direkt nach Recife konnte unter Umständen Geld sparen. Die Tickets waren trotz der längeren Strecke wegen der größeren Varietät der Fluggesellschaften, die diese Metropole im Süden anflogen, oft billiger. Drei Stunden zusätzlicher Überseeflug, ein meist mehrstündiger Aufenthalt auf dem Flughafen des Moloch und ein Binnenflug, der die Strecke von Recife nach São Paulo wieder in umgekehrter Richtung zurücklegte, waren der Preis; physische Anstrengung, bis zur Erschöpfung und darüber hinaus.

Am Abend des 29.07.2006, einem Samstag, kamen wir in Recife an, nicht aus Rio oder Sao Paulo diesmal, sondern über Lissabon, nach „nur“ sieben Stunden Überseeflug. Seltsam sympathisch erschien mir diesmal das „Venedig“ Brasiliens, dessen zahlreiche Kanäle leider immer noch mit Abwasser gefüllt waren, im dem keine Gondoliere Touristen umherfahrend ihr Geld verdienten. Am modernisierten Flughafen lag die neue Sympathie für die oft verfluchte Stadt sicher nicht. In den letzten Jahren wurde dieser an den internationalen Standard abgepasst: Glas, Metall, polierter Stein. Zuvor hatte er mit viel rohem Beton und braunem Kunstleder den etwas muffigen Charme der 70er Jahre versprüht. Aber dieses neue Ambiente aufzunehmen, dafür hatten wir weder Zeit noch Sinn. Als wir aus dem Flugzeug stiegen, wurde bereits Gupas Buggy für uns bereitgehalten, was uns große Hoffnung machte, auch unsere Koffer bereits jetzt wiederzusehen, was nicht bei jeder Ankunft der Fall gewesen war. Auch kamen Zweifel daran auf, da der Flug von Berlin nach München verspätet gewesen war und wir gerade eben Zeit hatten, durch die Gänge des Münchener Flughafens zu hasten und direkt in das bereitstehende Flugzeug zu steigen, das uns nach Lissabon bringen sollte. Sollten die Flughafenarbeiter es wirklich geschafft haben, in dieser Zeit unsere Koffer umzuladen? Schließlich hatte das selbst ohne Zeitdruck oft genug nicht funktioniert. Unser Blick schweifte über das Rollband, an dem sich die Passagiere drängten, um ihr Gepäck auf die bereitgestellten Wagen zu werfen.

Schon einige Male hatten wir hier gestanden, bis nur noch wir oder wenige andere Reisende außer uns warteten und als das Rollband stoppte, frustriert zur Kenntnis nahmen, dass ihre Koffer nicht mehr ankommen würden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit vermischt mit Ärger und einem unberechtigten Hoffnungsschimmer, dass das Gepäck doch noch auftauchen würde. Diesmal standen unsere zwei Koffer, der eine 25, der andere knapp zwanzig Kilo schwer, bereits am Rand des Bandes, offensichtlich von Flughafenarbeitern dort deponiert, während wir an der Passkontrolle warteten.

Ich hatte meine Immigrationserklärung im Flugzeug ausgefüllt, V und Gupa blieb das durch ihren brasilianischen Pass erspart. Tourismus wurde als Grund der Einreise eingetragen. „Business“, „Kongresse“ oder „Andere“ standen zur Auswahl. Die Flug- und Passnummer, Nationalität und Geburtsdatum mussten angegeben werden. Eine Zollerklärung, die für alle Familienmitglieder ausfüllt werden musste, fragte unter anderem nach zu verzollenden Alkoholika, Zigaretten, Medikamenten und Waffen. Alles wurde verneint, obwohl der Umfang der präventiv mitgebrachten Reiseapotheke Zweifel an der Richtigkeit dieser Antwort aufkommen ließ. Auch eine Flasche Himbeergeist für Tio Zé und zwei Flaschen deutschen Wein hatten wir dabei, was aber noch in den Grenzen der Einfuhrbestimmungen gelegen haben dürfte.

Zigaretten hatten wir angesichts meiner bereits mehr als dreimonatigen Abstinenz natürlich nicht dabei, was angesichts der in Brasilien viel niedrigeren Preise auch sinnlos gewesen wäre. Wir hatten uns für die Passkontrolle an der naturgemäß unübersichtlicheren Schlange für Nichtbrasilianer angestellt, wurden dann aber dank Gupas Anwesenheit zusammen mit den anderen Familien mit Kindern von einem Flughafenangestellten aussortiert und nach vorne gerufen. In Europa ist uns das noch nicht passiert. Dort werden nur die Passagiere der Businessclass nach bevorzugt behandelt, was sie schließlich auch teuer bezahlen. Mein Pass wurde gestempelt und alle durchgewinkt. Wie bereits erwähnt, standen unsere Koffer trotz dieser beschleunigten Abfertigung bereits bereit, was bei V Freude auslöste, bei mir die ungewohnte innere Ruhe bei der Ankunft in der Fremde verstärkte. Am Ausgang nahm der Zollbeamte unsere Negativerklärungen entgegen und winkte ebenfalls durch. Dabei lächelte er beim Blick auf die von uns eingereichten Zettel, wahrscheinlich war es ungewöhnlich, dass ich einen solchen für G ausgefüllt hatte, aber in der Ausfüllanleitung hatte gestanden, dass für Kinder bitte die Eltern das Ausfüllen übernehmen sollten. In deutscher Autoritätshörigkeit tat ich das natürlich, obwohl es tatsächlich wenig Sinn macht, im Namen eines Zweijährigen schriftlich zu erklären, dass er keine Waffen bei sich hat.

Vielleicht war es die Gewissheit, dass es diesmal kein Abenteuer durch Sparen geben würde, die meine innere Ruhe hervorrief. Die für den Flug investierte Summe von mehr als 4000 Euro machte solche Versuche zudem lächerlich. Ein kleines finanzielles Polster machte sie unnötig. Die innere Abgeklärtheit machte sie verzichtbar. So kehrte innere Gelassenheit ein. Kein Hin- und Herrennen, um mit dem billigsten Taxifahrer einen Festpreis zu verhandeln. Keine Suche nach dem billigsten Hotel. Keine Angst, die Kreditkarte könnte nicht funktionieren, denn eine zweite war im Gepäck, auch eine Bargeldreserve in Euro, die notfalls gegen horrende Gebühren in Real umgetauscht werden konnte, ohne dass man sich innerlich wie sonst so oft ausgeraubt fühlen würde: Man würde es als Entwicklungshilfe für das brasilianische Bankensystem betrachten, so wie die enormen Steuern auf den Flugtickets zur Modernisierung des Flughafens beigetragen haben könnten.

Der Automat der brasilianischen Citibank „Banco 24 Horas“ spuckt kein Geld aus. Das lässt aber keine Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Geldbeschaffungssystems Kreditkarte aufkommen, da es der Vorbenutzerin genauso ging. Außerdem hatte ich die Karte in Deutschland noch einmal getestet, auch wenn ich dafür Abhebungsgebühren bezahlen musste. Früher hätte mich das geärgert und wahrscheinlich hätte ich es deshalb nicht getan, was die innere Unruhe erhöht hätte. Tatsächlich hatte es sich gelohnt, denn in meinem Kopf war die Geheimzahl der vorhergehenden inzwischen abgelaufenen Kreditkarte gespeichert, die ich auch prompt dreimal eintippte, bis der Automat mir sagte, meine Karte sei jetzt gesperrt. Nach einer kleinen Verwirrung, die mich aus der Bank auf die Straße trieb, wurde mir der Irrtum klar und die neue Geheimzahl tauchte unvermittelt wieder in meinem Gedächtnis auf, trotzdem ich sie noch nie benutzt hatte, da ich mit der Kreditkartenbenutzung sehr konservativ umgehe, sie also zuhause in meiner Schublade aufbewahre und sie nur heraushole, wenn ein Auto angemietet werden soll bzw. in Brasilien Geld beschafft werden muss. Nachdem mir meine Nummer also wieder eingefallen war, ließ ich meine Karte von einer sehr freundlichen Angestellten der Sparda-Bank entsperren. Der folgende Test verlief erfolgreich.

So lasse ich mich nicht beeindrucken als der Automat der 24-Stunden-Bank mitten im „Kundendialog“ – wie das elektronische Abfragen von Daten durch die Maschine jetzt heißt – die Kommunikation einstellt. Die innere Ruhe bleibt. Ein ersatzweise aufgesuchter Automat der HSBC zahlt maximal 750 Reais aus, etwa 300 Euro, das soll als erstes reichen. Ein Stapel 20-Real-Noten und ein Zehner erscheinen im Ausgabeschlitz. Die Zwanziger haben ein Hologrammband, auf dem ein glitzerndes Löwenkopfäffchen, das auch auf der Rückseite abgebildet ist, für die Echtheit birgt.

Diese Scheine waren bis zum letzten Besuch eher ungebräuchlich, meist zahlten die Automaten die braunen 50-Real-Noten aus, wenn man Glück hatte die roten Zehner, die praktischer waren, weil es schwierig war, kleinere Rechnungen oder Einkäufe mit den 50ern zu bezahlen. Aus Angst vor Überfällen hielt niemand ausreichendes Wechselgeld vor. Passierte es, dass man trotzdem mit einem 50er bezahlen musste, wurde meist ein Angestellter des Ladens losgeschickt, um den Schein zu wechseln, was einige Zeit in Anspruch nehmen konnte.

Mit den 20ern sind wir also gut ausgerüstet. Wir nehmen eines der Taxis der Flughafenkooperative, die zwar etwas teurer sind als die normalen Taxis, dafür aber Festpreise haben und die Fahrgäste somit sicher vor manipulierten Taxametern und Extratouren zur Fahrpreiserhöhung sind. 17 Reais kostet die Tour zum Hotel Aconchego, zu dem einen die Taxifahrer immer bringen, weil sie dort an der Rezeption ein paar Reais für das Absetzen der Hotelgäste bekommen. Dass diese versteckt auf den Zimmerpreis aufgeschlagen werden, lässt uns angesichts der neuen Gelassenheit kalt. Im Gegenteil winke ich ab, als der Fahrer das Wechselgeld auf den 20er herauskramen will. Er fragt uns, ob wir schon reserviert haben, freut sich sichtlich als wir verneinen und sprintet dann zur Rezeption, während wir im Auto warten, angeblich um zu sehen, ob es noch Plätze gibt, in Wirklichkeit holt er sich sein Provision dafür ab, dass er uns hergebracht hat.

Er trinkt noch einen Cafezinho, was auch mit in der Provision enthalten zu sein scheint, denn alle Taxifahrer die uns hierher bringen, haben diese Angewohnheit. Er lässt sich eine Visitenkarte des Hotels geben, streicht den Namen durch und schreibt den seinen hinein, nachdem er auch die Telefonnummer getilgt hat, ersetzt er sie ebenfalls durch die seinige. Aufgrund des dadurch entstehenden Platzmangels wird die Sache etwas unleserlich, weshalb er auf der leeren Rückseite der Karte nochmals seine Daten notiert. Er gibt uns die so entworfene und produzierte sehr persönliche Visitenkarte für den Fall mit, dass wir uns für sein Angebot entscheiden, uns später für 200 Reais, etwa 70 Euro, nach Campina zu fahren.

Freitag, 4. August 2006, 12.32 Uhr, Computerzeit 17.32

Ich liege in unsrem improvisierten Bett und höre Leonard Cohens „The Future“, eines der Alben, das ich schon bei meinem ersten längeren Aufenthalt in Campina dabeihatte, damals noch auf Kassette, diesmal auf die Festplatte des Computers überspielt. Nur wenige Alben hatte ich damals – im Gegensatz zu jetzt - mitgebracht, ich weiß nicht mehr genau, ob des Vorsatzes, mich möglichst vorbehaltlos auf die brasilianische Kultur einzulassen, oder aus Faulheit, weitere CDs auf Kassette zu bannen. Ich hatte zunächst nur meinen Walkman dabei, um mich auch im Flugzeug und auf den Busreisen beschallen zu können, später kaufte ich mir im Zentrum von Campina einen Recorder der brasilianischen Firma CCE, die wie ich später erfuhr nicht gerade für Qualität birgt und von den Brasilianern mit „Começou Comprando Errado“ verballhornt wird, etwa „Von Beginn an falsch gekauft“. So ging es mir dann auch, die Klangqualität war unterirdisch und ein Kassettendeck löste sich alsbald vom Rest des Apparates, zum Glück hatte er derer zwei. Hohe Einfuhrzölle auf elektronische Artikel machten ausländische Markengeräte teuer, um die einheimische Produktion zu schützen, jetzt wusste ich auch warum das nötig war.

Nach dem Kauf des Gerätes kam ich mit dem Karton unter dem Arm an einem fliegenden Händler vorbei, der mich mit schelmischem Lächeln zu meinem Kauf beglückwünschte und mir passende Kassetten mit raubkopierter brasilianischer Musik anbot. Da ich mich möglichst vollständig auf die brasilianische Kultur einlassen wollte, schlug ich zu, obwohl sich mein Musikgeschmack eigentlich auf wenige Künstler beschränkte, man bei mir was Musik betraf also nicht von ausgeprägter Experimentierfreudigkeit sprechen konnte. Das Grinsen des Verkäufers verstand ich beim Klangtest meines CCE und der qualitativ dazu passenden Kassetten. „Qualitativ“ bezieht sich bei letzterem sowohl auf die Klangqualität der Aufnahme, als auch auf die musikalische Qualität der Künstler, soweit ich das beurteilen kann. Erinnern kann ich mich noch an die „Magnificos“, einen Schalger-Forró, den ich später beim São João (Forró-Fest) im Parque do Povo (Festplatz von Campina Grande) live erleben durfte, als diese Campinenser Band ihre Heimatstadt mit einem Auftritt beehrte.

Damit hatte ich die Ausstattung für mein „Musikzimmer“ im Wohnkomplex „Nenzinha Cunha Lima“ erworben, das zunächst eigentlich der Kolumbianer Jorge Lambulay als mein Mitbewohner anmieten wollte, der dann aber einen Rückzieher machte. Das lag hauptsächlich an der Größe des Raumes (etwa 5-6 Quadratmeter) und des Fensters von (etwa ein halber Quadratmeter), das sich nur nach außen anklappen ließ und damit ausschließlich durch einen kleinen Schlitz und unter Kopfverrenken einen Blick nach außen erlaubte, ansonsten bestand es aus einem Aluminiumrahmen mit undurchsichtigen Reliefglas. Ich hatte mir im Übrigen nicht etwa das bessere Zimmer ausgesucht, da beide identisch waren. Trotzdem konnte ich Jorges Entscheidung nachvollziehen. So kam ich also zu meinem Musikzimmer, das mit einem Tischchen ausgestattet war, welches den Kassettenrecorder beherbergte und ansonsten nur mit einer Hängematte, in der liegend ich vorzugsweise Leonard Cohen und David Bowie hörte.

Ansonsten bestand die Wohnung aus der Sala, der guten Stube, in der ein Glastisch und ein paar ebenfalls aus schwarzem Vierkantstahl gefertigte Stühle standen. Es gab auch eine Küche mit Kühlschrank und einem Gasherd, der mit den üblichen Botijões - zwanzig Kilo fassenden Propangas“flaschen“ - betrieben wurde. Aus einem Wasserspender mit einem 20-Liter-Garrafão (in Deutschland nicht existente Vergrößerungsform von Flasche, also das Gegenteil von Fläschchen) zapfte ich brasilianisches Quellwasser von zweifelhafter Qualität. Ich hatte mich bereits an die Wegwerfmentalität der Brasilianer gewöhnt, als das Wasser zuende ging und kaufte mir deshalb keinen Eimer für meine Wäsche, sondern schnitt den oberen Rand des Garrafão ab und gab ihm so einen neuen Sinn, ein zweites Leben als Einweichgefäß. Auf diese Idee war ich sehr stolz, bis ich merkte, dass man mir beim Kauf eines neues Garrafão etwa zehn Dollar Pfand berechnete, eine Summe, für die ich einige richtige Eimer hätte erwerben können.