Ich, Kowalke - Estevão Ribeiro do Espinho - E-Book

Ich, Kowalke E-Book

Estevão Ribeiro do Espinho

0,0
3,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich kann nicht reden. Sechzehn Jahre bin ich jetzt alt und habe es nie gelernt. Sprechen, ja, sprechen kann ich. Ich kenne die meisten Wörter, die ich höre und kann sie auch einzeln aufsagen. Aber was hilft das schon?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 89

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Estevão Ribeiro do Espinho wurde 1973 in Rathenow geboren. Weil er es von jeher liebt, einsam seinen Blick über weite Landschaften schweifen zu lassen, wollte er immer schon Lokomotivführer werden. Dieser Berufswunsch wurde ab einem gewissen Alter von seinem Umfeld nicht mehr ernstgenommen. Notgedrungen promovierte er zum Dr. phil. und veröffentlicht nun Texte.

Ich kann nicht reden. Sechzehn Jahre bin ich jetzt alt und habe es nie gelernt. Sprechen, ja, sprechen kann ich. Ich kenne die meisten Wörter, die ich höre, und kann sie auch einzeln aufsagen. Aber was hilft das schon? Um zu reden muss man diese Worte verbinden und im gleichen Moment, in dem man das getan hat, muss man sie auch schon wieder geordnet herauslassen. Ich habe mir unzählige Male vorgenommen, das zu üben, aber ich tue es nicht. Wenn ich alleine bin, komme ich mir bei dem Versuch so erbärmlich vor, dass ich lieber aufschreibe, was ich eigentlich sagen wollte. Wenn jemand anderes dabei ist, tue ich alles, um das Reden zu vermeiden, denn meist geraten mir dabei die Wörter durcheinander und mutieren zu einem für mich selbst unerträglichen Gestammel und Gestotter.

Meine Eltern können mich nicht verstehen. Nicht wegen meiner Unfähigkeit zu reden, sondern weil sie einfach dumm sind. Ich bin nicht weniger dumm, aber auf eine andere Art. Ich gehe auf eine Lernbehindertenschule. Seit ein paar Jahren heißt sie „Förderschule“, aber jeder weiß, was das heißt. Auch die Lehrer verstehen mich nicht, und es ist mir egal. Wenn sie mich etwas fragen, antworte ich ihnen, aber niemals mehr als nötig. Sie sagen, ich könnte mehr aus mir machen, ich wäre nur zu ruhig. Aber ich bin nicht ruhig. Ich koche über vor Unruhe. Jeden Tag fühle ich mehr davon.

Wir wohnen in Omas Haus. Aber Oma wohnt nicht hier, auch zu Besuch kommt sie seit Jahren nicht mehr. Sie hat meine Mutti damals adoptiert, als die drei Jahre alt war, aber sie ist ihr wohl immer fremd geblieben. Auch ich bin ihr fremd und sie mir. Das habe ich schon als kleines Kind gespürt, wenn sie mal zu Weihnachten zu uns kam. Sie wohnt in ihrem anderen Haus, draußen auf dem Dorf. Das Stadthaus hat sie uns kostenlos überlassen. Aber offiziell bezahlen wir Miete. Die überweist uns nämlich das Jobcenter. Und weil wir eigentlich gar keine Miete bezahlen, können wir das Geld behalten. Trotzdem haben wir nie Geld, haben nie welches gehabt. Das heißt, ein paar Tage lang schwimmen wir immer mal wieder förmlich darin, dann können wir uns die ganzen schönen Sachen leisten, die wir ein paar Wochen später auf dem Trödelmarkt verkaufen müssen.

Wir haben Schulden. So viele, dass wir sie nie abbezahlen werden. Vielleicht wenn Mutti mal erbt. Aber das kann noch lange dauern und die Häuser sind dann natürlich weg. Aber vielleicht würde noch Geld übrigbleiben, so dass man eine Weile vernünftig leben könnte. Das wäre mir recht, mir ist unser Haus egal. Schenken wird Oma es uns niemals. Sie traut Mutti nicht über den Weg und noch weniger Papa. Den kann sie nicht ausstehen und da stimme ich ihr zu. Eigentlich ist er gar nicht mein Vater, aber ich sage trotzdem Papa zu ihm. Er und Mutti wollen das so. Ich habe mich daran gewöhnt. Das Wort bedeutet nichts mehr für mich. Meinen richtigen Vater habe ich nie gesehen, konnte niemals Papa zu ihm sagen. Er ist abgehauen, hat uns alleine gelassen, so wie es mein Großvater schon mit Oma getan hatte. Scheidung in der zweiten Generation.

Dann kam der Neue: Papa. Ich war vier Jahre alt. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob ich ihn als Eindringling empfunden habe. In meinem Gedächtnis war er schon immer da und saß wie angewachsen in seinem abgewetzten und speckigen grünen Samtsessel vor dem Fernseher. Inzwischen ist er so fett, dass er kaum noch daraus aufstehen kann. Nicht dass er vorher schlank gewesen wäre. Er sagt, dass es so schlimm geworden ist, liege an seinen Krankheiten. Fünf verschiedene Tabletten muss er jeden Tag nehmen. Abends trinkt er Bier, aber nur noch drei oder vier Flaschen, mehr darf er nicht mehr, sagt er, wegen der Krankheiten und der Tabletten. Nur wenn Besuch da ist, trinkt er auch mal ein paar Schnäpse dazu. Spritzen muss er sich auch, wegen dem Zucker. Dann gehe ich immer aus dem Raum. Ich kann das nicht sehen.

Genauso kann ich den Anblick seiner schwarzen Zehen nur schwer und unter Brechreiz ertragen. Sie sterben langsam ab. Auch vom Zucker, sagt er. Ich habe keine Ahnung, was das mit dem Zucker zu tun hat. Es ist mir auch egal. Letzte Woche musste er zum Arzt. Sein Schlüsselbund war ihm in den rechten Schuh gefallen, ohne dass er es mitbekam. Ich hatte es gesehen, sagte aber nichts. Er hatte die Schuhe bereits angezogen, als er fluchend und nach den Schlüsseln suchend in der Wohnung umherlief. Er merkte nicht, dass sie in seinem Schuh waren, er konnte seine Zehen schon seit ein paar Monaten nicht mehr fühlen. Erst als er beim Arzt angekommen war, bemerkte er, dass ihm Blut aus dem Schuh lief. Das Fleisch seiner Zehen, Blut, der Stoff der Socke, die Schlüssel und Ringe hatten sich zu einem gleichförmigen Klumpen verbunden, der im Operationssaal abgeschnitten werden musste. Jetzt ist die Stelle offen und wird wahrscheinlich nie wieder zuheilen, sagen die Ärzte. Papa wird nun wohl noch seltener aus seinem Sessel hochkommen und noch fetter werden.

Aber er isst jetzt wegen diesem Zucker nur noch ein Stück Kuchen am Tag, nur ausnahmsweise auch mal zwei. Eigentlich darf er ja nicht, sagt er dann, aber er macht es trotzdem und spritzt sich danach eben ein bisschen mehr. Seine ganzen Tabletten muss ich ihm immer aus der Verpackung drücken und sie ihm mit einem Glas Wasser zusammen an den Sessel bringen. Medizin dürfe man nicht mit etwas anderem einnehmen als mit Wasser, meint er. Nicht einmal Cola trinkt er dazu. Ich verstehe nicht, was das bringen soll, wenn er vorher schon eine ganze Flasche davon oder sogar Bier getrunken hat und im Magen doch alles vermischt wird. Aber ich widerspreche ihm nicht, niemals tue ich das, habe es nie getan.

Die meisten der Tabletten sind weiß, manche mit einem Spalt in der Mitte. Er schluckt sie immer alle mit einem Mal herunter. Wenn ich das sehe, zieht sich mein Kehlkopf zusammen, als wolle er selbst diese trockene kantige Masse herunterpressen. Ich kriege nicht mal eine einzige dieser Pillen hinunter, ein paar Mal habe ich es schon versucht, vielleicht aus Langeweile: Wenn Papa eine neue Packung bekam, nahm ich mir auch eine der Tabletten heraus und probierte sie zu schlucken. Aber sie blieben mir immer bitter im Hals kleben und ich musste so lange würgen, bis ich sie wieder ausspucken konnte. Papa sagt, er ist so krank, dass er nie mehr arbeiten kann. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er jemals gearbeitet hätte.

Vor einiger Zeit habe ich angefangen, seine Tabletten zu vertauschen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, nichts geplant, es einfach getan. Die Anzahl hielt ich dabei immer gleich, so dass er nichts merkte. Anfangs ließ ich eine Tablette weg und gab ihm dafür zwei von einer anderen Sorte. Am nächsten Tag machte ich es umgekehrt, so dass nie längere Zeit zu wenige oder zu viele Tabletten in einer der Schachteln waren und etwas auffallen konnte; obwohl diese Gefahr gering war, denn ich war der einzige, der in dieser Beziehung einen Überblick hatte. Ich wartete darauf, dass etwas passierte. Es passierte nichts. Ich wollte ihn nicht umbringen, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich es nicht in Kauf nahm. Ich erhöhte die Anzahl der ausgetauschten Tabletten. Wenn ich ihm drei oder mehr von den kleinen weißen mit dem Spalt untermischte, schlief er sofort ein. Bei einer anderen Sorte bekam er einen trockenen Mund und trank den ganzen Abend lang. Wenn er einschlief, schlich ich mich davon. Wenn ich wiederkam war alles in ernüchternder Weise wie immer.

Nur gestern waren Justin und Mutti ganz aufgeregt. Ich hatte ihm vier oder fünf von den kleinen weißen gegeben; seit einer Weile zähle ich nicht mehr so genau nach. Ich brauchte Zeit, um mit den Kumpels etwas Geld zu machen. Wir zogen durch ein paar Drogerien, meist gab es da nur eine einzige Verkäuferin. Meine Aufgabe war es, die beim Auspacken der Ware im Auge zu behalten, während die Kumpels das Regal mit den Rasiererklingen ausräumten, an die Zigaretten kam man ja nicht mehr ran. Falls die Tante Ärger machen sollte, musste ich ihr eine über den Schädel ziehen, damit wir botzen konnten, aber zum Glück war das noch nicht nötig geworden, denn mein Herz raste jedes Mal so sehr, dass ich mir nicht sicher war, ob ich in einem solchen Moment überhaupt zu irgendeiner Reaktion fähig wäre. Die Klingen vertickten wir an die Fidschis auf dem Markt, die sie weiterverkauften. So hatten alle etwas von der Sache. Ich war froh, dass es die Kumpels gab, denn alleine hätte ich das nie auf die Reihe bekommen. Sie gaben mir einen fairen Anteil und ich tat dafür, was sie von mir erwarteten.

Als mein Bruder Justin an diesem Tag von der Schule kam, war Papa aufgewacht und wollte zur Toilette gehen, war dann aber „zusammengeklappt“. Das erzählten sie mir zumindest, als ich wieder zuhause war. Justin hatte Mutti angerufen und die war von der Arbeit nach Hausenach Hause gekommen. Als sie ankam, war Papa aber schon wieder wach und sie hievten ihn in gemeinsamer Anstrengung in seinen Sessel. Als ich ankam, saß er dort schon wieder wie immer vor dem Fernseher und rauchte.

Er raucht eine Zigarette nach der anderen. Als kleines Kind fand ich das ekelhaft und schwor Stein und Bein, niemals eine Zigarette oder ein Glas Alkohol anzufassen. Mit zwölf tat ich dann doch beides. Ich weiß nicht mehr wieso. Wahrscheinlich, weil ich wie die anderen sein wollte. Nicht so wie Papa natürlich, aber in unserer Schule rauchen sie auch alle. Wenn man Zigaretten hat, ist man immer gern gesehen. Anfangs habe ich nur auf Backe geraucht und den Qualm