Herzversagen - Jonas Moström - E-Book

Herzversagen E-Book

Jonas Moström

0,0

Beschreibung

Seit einiger Zeit sterben in Sundsvall gesunde Menschen an Herzversagen. Zunächst scheint es ein beliebiger Zufall, denn unter den Toten sind sowohl Junge als auch ältere Menschen. Der Sohn, der kürzlich an Herzversagen verstorbenen Gerd Ekstedt, bezweifelt, dass seine Mutter an einem natürlichen Tod gestorben ist. Sein Misstrauen verstärkt sich, als er entdeckt, dass ihre kostbare Uhr verschwunden ist. Die Polizei kann keinen Zusammenhang zu den anderen Todesfällen ermitteln und Kommissar Johan Axberg deutet die Zweifelbekundungen des Angehörigen als Trauer. Doch die Todesfälle häufen sich weiter. Als erneut eine blutjunge Frau völlig unerwartet an Herzversagen stirbt, wird Johan Axberg skeptisch. Wieder ist eine kostbare Uhr verschwunden. Allmählich verdichten sich die Indizien. Ein Serienmörder scheint in Sundsvall unterwegs... HERZVERSAGEN ist ein vielschichtiger und fesselnder Thriller, der seine Leser in Atem hält. Lesenswert! „Moström ist ein unheimlich guter Erzähler, der seine Geschichte in hohem Tempo präsentiert." - Jury Jonas Moström ist ein schwedischer Arzt und Autor. Er wurde 1973 in Bräcke im Jämtland geboren und wuchs dort auf. Als Autor debütierte Moström 2004 mit dem Thriller „Dödens pendel" (dt. „Herzversagen"), den er während seiner Elternzeit schrieb. Molström lebt heute mit seiner Familie in Stockholm und arbeitet dort als praktizierender Arzt. Seit seinem Debut sind aus seiner Feder mehr als 10 Krimis und Thriller entstanden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 491

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Jonas Moström

Herzversagen

Roman

Aus dem Schwedischenvon Christine Heinzius

Herzversagen

Aus dem Swedish von Christine Heinzius

Originaltitel: Dödens pendel © 2004 Jonas Moström

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711484876

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Für meine Familie

Sieh eine Welt in einem Körnchen Sand

und einen Himmel in der wilden Blume,

greif das Unendliche mit deiner Hand

und fühle Ewigkeit in einer Stunde.

William Blake

Es gibt nicht viele Wahrheiten,

derer sich das Herz sicher sein kann.

Albert Camus

Kapitel eins

Die letzten zehn Atemzüge im Leben von Gerd Ekstedt waren friedlich.

Sie träumte von ihrem Geburtstag, sie wurde fünf. Die ersten Strahlen der Morgendämmerung wanderten über das Dach des Stalls. Sie war auf dem Weg zur Außentoilette. Das Gras war feucht, und ihre Füße waren eiskalt. Ein paar Brennnesseln strichen leicht über ihre Fesseln. Sie ging schneller.

Er stand am Fußende des Bettes und beobachtete sie. Gerd Ekstedt sah ohne ihr Gebiss viel älter aus, das Gesicht war ganz eingesunken und auffallend blass. Ignorierte man die zwei langen Haare, die sich bei jedem keuchenden Atemzug auf ihrer Oberlippe bewegten, konnte man glauben, sie sei bereits tot. Ihre knotigen Hände lagen auf der Decke. Unter der dünnen Haut traten deutlich bläuliche Adern hervor.

Er sah sich um. Das Zimmer war klein und rechteckig. An den Wänden standen massive Möbel aus dunklem Holz. Auf einem Schreibtisch rechts neben dem Bett waren Familienporträts aufgereiht. Darüber hing ein hölzernes Kreuz. Die Luft roch abgestanden und schlecht. Er atmete durch die Nase und machte dabei so kleine Atemzüge wie möglich, versuchte, die Menge der Partikel, die die Lunge erreichten, zu minimieren. Den Geruch anderer Menschen konnte er nur schwer ertragen, er war aufdringlich, und ihm wurde oft übel davon. Es ekelte ihn, als er sah, wie sich die Haare auf der Oberlippe der Frau beim seufzenden Ausatmen noch einmal bewegten.

Ich muss mich konzentrieren, dachte er und öffnete die Tasche. Alles befand sich am richtigen Platz, nichts hatte sich verändert. Ordnung war eine der Voraussetzungen für das Leben. Und für den Tod. Es fiel ihm leicht zu strukturieren, alles in einem größeren Zusammenhang zu sehen.

Ein abruptes Geräusch unterbrach seinen Gedankengang. Hinter seinem Rücken raschelte etwas. Er drehte sich um. Eine große Wanduhr mit einem vergoldeten Adler auf der Spitze schlug drei Mal. Lautlos duckte er sich hinter das Fußende des Bettes und behielt die ganze Zeit Gerd Ekstedt im Blick. Sie schlief tief und ließ sich nicht stören. Er richtete sich auf, sah auf seine Armbanduhr und merkte, dass die Wanduhr eine Viertelstunde vorging. Einen Moment brachte ihn das aus dem Gleichgewicht und ärgerte ihn. Er wusste, dass seine eigene Uhr auf die Sekunde genau ging. Es galt, dem Plan zu folgen und keine Ablenkungen zuzulassen. Er sah auf seine Hände, die ruhig an seiner Seite lagen, ohne Anzeichen von Nervosität.

Der Tod trat genau zum richtigen Zeitpunkt ein. Als der Akt vorüber war, schloss er die Augen und wartete eine Minute, zählte dabei die Sekunden. Er fühlte sich frei, die Fesseln waren gekappt.

Der erste Dominostein war angestoßen, alles Weitere käme von selbst. Alles stimmte bis ins kleinste Detail.

Die Zeit, der Ort und die Bewegung.

Draußen herrschte immer noch eine angenehme Dunkelheit, es war windstill und kühl. Nach ein paar Schritten auf dem Kiesweg drehte er sich um. Die Fassade des Pfarrhauses strahlte im Mondlicht weiß und kalt. Ein Igel lief über den Hof. Er sog die frische Luft in die Lungen und ging weiter vom Haus fort. Niemand würde je vermuten, dass Gerd Ekstedt eines unnatürlichen Todes gestorben war. Er lächelte leicht und spürte den Stolz wie einen Pfeiler in seiner Brust.

Es war Dienstag, der 16. Mai 2000.

Kapitel zwei

Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends kam der Frühling Ende Mai nach Sundsvall.

Er kam ein wenig zögernd, wie ein schüchterner Gast. Zum ersten Mal seit Ende August wärmten die Sonnenstrahlen, und aus den Bäumen, die mitten im Stadtzentrum angepflanzt waren, hörte man Vogelgezwitscher. Kriminalkommissar Johan Axberg trug seine schwarze Lederjacke über der Schulter und ging im Menschengewimmel in westlicher Richtung zum Polizeirevier. Das Licht blendete ihn, und der Kopf tat ihm weh. Die Ausschweifungen am Samstagabend hatten deutliche Spuren hinterlassen. Er kannte nicht einmal den Namen der Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte. Wieder einmal hatte die Sehnsucht eines Augenblicks Konsequenzen gehabt, die er am nächsten Tag bereute. Ein Liebesspiel mit der Betonung auf Spiel. Er hatte das Gefühl, ein Wochenendabonnent einzelner Nummern von unterschiedlicher Qualität zu sein. Und als solcher musste man natürlich die Leere und die ewigen Fragen beim Aufwachen aushalten.

Er kämpfte sich mühsam im Zickzack voran und grüßte flüchtig die bekannten Gesichter, die an ihm vorbeihuschten. Als er aus dem Augenwinkel einen Kollegen aus der Technik näher kommen sah, starrte Axberg stur vor sich hin und ging vorbei. Das, was er sich im Moment am allerwenigsten wünschte, waren allgemeine Höflichkeitsphrasen und Kommentare über das schöne Wetter.

Am Ende der Fußgängerzone war das Gedrängel vorbei. Die Menschen waren wie fortgeweht. Nur ein Mann mit einem Hund ging schnell auf der anderen Seite des Rondells vorbei, jenseits der Autos, die in einem konstanten Verkehrsstrom vorüberrauschten. Axberg lenkte seine Schritte in Richtung der Storgata.

Das Polizeirevier stand noch so da, wie er es verlassen hatte, stumm und braun, still und langweilig. Die Sonne spiegelte sich in der Fassade, ohne jedoch das Gebäude einladender erscheinen zu lassen. Axberg überquerte den Parkplatz hinter dem Gebäude und betrat es durch den Personaleingang. Auf dem Schreibtisch kämpften drei halb leergetrunkene Kaffeetassen gegen die Übermacht von Papierstapeln, Ordnern, einer Tasche mit Sportbekleidung und seinem Laptop um einen Platz. Er stellte die Tasche fort und die Tassen in den Personalraum, dann trank er lange direkt aus dem Wasserhahn, und das Kopfweh ließ ein wenig nach. Er warf einen Blick in den Wandspiegel. Die Bartstoppeln waren deutlich zu sehen, obwohl er sich erst gestern Abend vor dem Kneipenbesuch das letzte Mal rasiert hatte.

Er kehrte dem deprimierenden Anblick den Rücken zu und ging in sein Büro zurück. Jetzt lagen noch die schon Monate alte Ermittlung wegen Drogenhandels im Stadtzentrum und ein weiterer Fall von häuslicher Gewalt auf dem Schreibtisch. Axberg wünschte sich einen Augenblick lang, dass er auch diese Papierstapel wegräumen, sie jemand anderem auf den Schreibtisch legen und dann ganz von vorn anfangen könnte. Er zündete eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster. Der Mann mit dem Hund ging an der Pizzeria auf der anderen Straßenseite vorbei und grüßte Nikos, der dort an einem seiner eigenen Tische saß und sich sonnte.

Nikos’ Pizzeria befand sich ganz unten in einem der fünf Hochhäuser auf der anderen Seite der Storgata. Das Essen dort war ausgezeichnet. Axberg hatte die Speisekarte schon mehrmals rauf- und runtergegessen, ohne ihrer überdrüssig zu werden.

Er ließ seinen Blick über die fünf schmutzig gelben Fassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite schweifen. Ohne diese Monumente einer misslungenen Architektur könnte ich bis zum Fluss und dem Park sehen, dachte er und blies eine Rauchwolke gegen die Fensterscheibe. Dadurch wurde die Sicht für ein paar Sekunden noch schlechter. Ich mauere mich hier in mein eigenes Gefängnis ein, grübelte er weiter. Ich isoliere mich von der Welt, konzentriere mich auf meine Arbeit.

Axberg hatte seit den Weihnachtsferien durchgearbeitet, oft an mehreren komplizierten Straftaten gleichzeitig. So war die Sonntagsarbeit zur Routine geworden, und sie gefiel ihm, durch die Stille im Haus konnte er sich besser konzentrieren und arbeitete effektiver. Dann bekam er oft neue Ideen und entdeckte Zusammenhänge, die die Ermittlungen weiterbrachten. Viele der großen Fälle waren aufgeklärt worden, seit er vor zwei Jahren die Stelle als Leiter der Kriminalpolizei dieses Regierungsbezirks angetreten hatte. Axberg war sowohl stolz als auch froh gewesen, dass man ihm diese Stellung angeboten hatte, besonders da er erst vierunddreißig Jahre alt war. Hätte er jedoch gewusst, wie viel Verwaltungs-und Personalarbeit dieser Posten mit sich brachte, hätte er wohl nicht so schnell zugesagt.

Im Flur näherten sich schnelle Schritte. Ein neu angestellter Polizeianwärter ging mit nachdenklicher Miene vorbei. Die Wochenendstreife hat jetzt, da es warm wird, alle Hände voll zu tun, dachte Axberg und setzte sich an seinen Schreibtisch. Daran zu denken, dass andere hart arbeiteten, machte ihm Lust darauf, sich seinen eigenen Aufgaben zu widmen. Er sah von einem Papierstapel zum anderen und fragte sich, mit welchem er beginnen sollte. Häusliche Gewalt untersuchte er eigentlich nicht sonderlich gern, aber da sie auch eines der Verbrechen war, die er am meisten verabscheute, las er den Bericht über Lars und Katarina Karlsson aus Timrå zum dritten Mal.

Die Buchstaben wuselten bald über das Papier wie Ameisen.

Axberg wachte auf, weil ihm die Stirn weh tat. Er war mit dem Kopf auf Seite vier des Vernehmungsprotokolls eingeschlafen und hatte nicht die leiseste Ahnung, was er gelesen hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er zwanzig Minuten geschlafen hatte. Das Blatt Papier vor ihm war während des Nickerchens zerknittert worden. Verschlafen ging er zum Kopierer und machte eine Kopie, um die zerknüllte Seite zu ersetzen. Axberg beschloss, seinem Körper eine Chance zu geben. Er nahm die Tasche mit den Sportsachen und ging in den Fitnessraum im Keller. Eine Stunde lang schlug er schweißnass auf den Sandsack ein, radelte auf dem Heimtrainer und mühte sich am Rudergerät. Danach duschte er lange und überlegte, dass sein Körper eigentlich ungewöhnlich widerstandsfähig war angesichts der ungesunden Lebensweise, die er sich während der letzten Jahre angewöhnt hatte. Und doch war seine Kondition weit von der entfernt, die er Ende der achtziger Jahre gehabt hatte, als er Bronze bei den Landesschwimmmeisterschaften gewann. Trotzdem war er beim jährlichen Sporttest der Polizei immer noch unter den Besten, weswegen er auch keinen triftigen Grund sah, seine Lebensweise zu ändern.

Als er durch den Flur in sein Büro zurückging, hörte er die schrille Melodie, die ihm schon lange nicht mehr gefiel; trotzdem brachte er es nicht über sich, sie zu ändern. Er beeilte sich, ins Zimmer zu kommen und holte das Handy aus der Jackentasche.

»Hallo, hier ist Carolina.«

Axberg spürte, wie ihn freudige Erwartung überkam.

»Hallo, lange her … Wie geht’s dir?«

»Gut. Und dir?«

»Alles klar. Ich bin bei der Arbeit und erledige ein bisschen Papierkram«, sagte er und fing an, um den Schreibtisch herumzugehen, suchte nach den richtigen Worten.

Carolina Lind war die Frau in Axbergs Leben. Nicht immer war sie wirklich körperlich anwesend, aber in ihren Gedanken waren sie einander immer nah. Seit sie sich in der zwölften Klasse zum ersten Mal ineinander verliebt hatten, waren sie immer wieder aufeinandergetroffen, wie zwei Planeten, die sich ab und zu die Umlaufbahn teilten. Zwei Mal hatten sie sogar ein paar Monate zusammengewohnt. Jetzt jedoch hatten sie sich seit sechs Wochen nicht mehr getroffen, nach einem Streit, dessen Einzelheiten Axberg vergessen hatte. Dennoch hatte er das Gefühl, im Unrecht gewesen zu sein, und war froh, dass sie nun anrief. Endlich.

»Ich dachte, vielleicht hast du ja Zeit für ein Treffen, wir könnten zusammen Kaffee trinken oder so«, fragte sie vorsichtig.

»Klar. Ich bekomme hier ja doch nichts erledigt.«

»In einer halben Stunde bei Tinells?«

»Perfekt.«

Axberg lächelte, die Arbeitslust war wie weggeblasen. Die Papiere werden am Montag auch noch da sein, dachte er und holte einen Rasierer aus der Schreibtischschublade. Als er sich nach der Rasur das Gesicht wusch, fühlte es sich so an, als verschwände der Kater zusammen mit dem Rasierschaum endgültig im Waschbecken.

Da draußen wartete der Frühling auf ihn.

Kapitel drei

Der Mann holte einen dunklen Anzug von der Garderobe.

Das Hemd saß perfekt und war noch warm vom Bügeln, das ihn vierzig Minuten gekostet hatte. Er probierte alle Schuhe sorgfältig an, bevor er sich für die glänzenden, etwas zu engen Lackschuhe entschied. Dann sah er sich die Einladung an, prägte sich die Wegbeschreibung ein und machte sich auf den Weg.

Er fuhr durch die menschenleere Stadt, überschritt nie die Höchstgeschwindigkeit, blieb bei Gelb stehen und fuhr nur bei Grün weiter. Heute war der Tag des Triumphs. Er wurde erwartet und würde so selbstverständlich dazu passen wie alle anderen Gäste. Niemand hätte einen Verdacht. Das deprimierte ihn zuerst, aber schon bald nahm er es als einen weiteren Beweis für seine Sonderstellung. Er war auserwählt.

Die Kirche lag auf einem kleinen Hügel und war von einer Steinmauer und schwankenden Birken umgeben. Er stellte das Auto auf dem halbvollen Parkplatz ab, warf einen Blick in den Rückspiegel, strich sich über die Haare und stieg aus. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Ein warmer Wind blies über sein Gesicht. Als spazierte man in einem Föhn, dachte er und ging die leichte Steigung hinauf. Eine Wolke aus Staub wehte vom Weg hoch in sein Gesicht. Sein rechtes Auge tränte. Er nahm das frisch gebügelte Taschentuch aus der Brusttasche und drückte es fest auf das Auge. Das linderte den Schmerz und entfernte ein bisschen von dem Dreck. Er blinzelte mehrmals krampfhaft und sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Nummernschild des Wagens. Trotz der Tränen war die Autonummer klar zu lesen, die Kontaktlinsen saßen also noch richtig.

In der Kirche war es kühl und angenehm. Der Wind und die Wärme drangen nicht durch die dicken Steinwände. Er zog seinen Mantel aus und öffnete die Tür zum Mittelgang. Auf der Empore über ihm ging jemand über knarrende Holzbalken. Die Schritte hörten auf, und unter weiterem Knirschen und Knacken setzte sich dieser Jemand hin und richtete einen Hocker oder Stuhl aus. Wahrscheinlich ein übergewichtiger Organist, dachte er und lächelte vor sich hin.

In einem der Seitenschiffe stand der Priester und sprach leise mit einem der Angehörigen. Er ging nach vorn, stellte sich vor und wurde mit den üblichen Phrasen begrüßt. Nichts wich von dem Erwarteten ab. Er wählte einen Platz weit hinten, mit einem guten Überblick, blätterte zerstreut in einem Gebetbuch und hoffte, dass sich niemand in dieselbe Bank setzen würde.

Die Zeremonie begann. Er sang die Lieder ohne Mitgefühl mit und lauschte den Worten des Priesters. Ein rascher Blick über seine Schulter und er wusste, dass niemand hinter ihm saß. Vorsichtig öffnete er seinen linken Manschettenknopf, schob die Hemdsärmel hoch und sah auf die Uhr. Oskar Bylunds Uhr gehörte nun ihm. Er lächelte; wenn sie das wüssten. Der Sekundenzeiger zuckte zielstrebig vor. Eine Art von Heldenmut überkam ihn, den ganzen Körper durchlief es heiß, er hatte Lust zu schreien. Niemand ahnte etwas, das Vertrauen war absolut.

Ein Menschenleben ist wie eine Welle, dachte er. Es wird aus dem Nichts geboren, erhebt sich aus der Wasseroberfläche, wächst langsam heran und erreicht seine maximale Größe. Dann wird es nach und nach weniger, um sich schließlich in nichts aufzulösen. Das, was ich tue, überlegte er, ist bloß, den Wellenkamm kurz zu berühren, bevor der sein letztes Stadium erreicht.

Nach der Beerdigung kam der Leichenschmaus. Als alle nach einer Stunde voller nichtssagender Gespräche aufstanden, kam die Witwe zu ihm.

»Hallo, vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«

»Keine Ursache. Es war schön in der Kirche.«

Die Witwe wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Irgendwie ist es gut, dass jetzt alles vorbei ist«, schniefte sie.

»Das verstehe ich.«

»Es war schon schön für Oskar, dass er einfach einschlief und keine Schmerzen hatte.«

Er nickte zustimmend. Die Frau in Trauerkleidung atmete tief ein. Ihr Gesicht verzog sich unglücklich.

»Glauben Sie, dass er gegen Ende sehr gelitten hat?«, fragte sie.

»Nein, das hoffe ich nicht. Er ist doch ruhig und friedlich eingeschlafen?«

Wenn sie nur wüsste, dachte er.

»Ja, nachts. Armer Oskar. Dass ich nicht da war, als es passierte.«

Ihre Stimme war dünn und die ganze Zeit kurz davor zu brechen. Sie sah ihn bittend an und riss sich zusammen, um fortzufahren.

»Glauben Sie, dass er mich vermisst hat … ich meine am Ende selbst?«

Er legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

»Nein, Sie haben wirklich alles, was Sie tun konnten, für ihn getan.«

Sie blieben ein paar Sekunden schweigend stehen.

»Auf Wiedersehen, Sie können mich immer anrufen, wenn Sie etwas möchten«, schloss er.

Sie begleitete ihn hinaus.

»Noch mal danke, dass Sie gekommen sind.«

Draußen hatte sich der Wind ein wenig gelegt, die Sonne war hinter Wolken verschwunden und die Landschaft ganz ruhig. Er fühlte sich rein und einfach. Nummer drei. Eine herrliche Zahl. Ein ewiger Kreis, wieder und wieder. Das nächste Mal würde es schwerer werden, aber er hatte mehrere Tage, um sich vorzubereiten. Genug Zeit wie immer, wenn man plant und weiß, was man tun muss. Und in welcher Reihenfolge. Er spürte die Uhr schwer und warm an seinem Handgelenk.

In seinem Kopf tickte es gleichmäßig und still.

Kapitel vier

Als Johan Axberg am Montagmorgen ins Konferenzzimmer kam, waren alle bereits dort versammelt. Alle Mitglieder des Ermittlungsteams saßen auf ihren Plätzen rund um den Konferenztisch.

Alle außer Sven Hamrin. Getreu seiner Angewohnheit stand er mit dem Rücken an die einzige fensterlose Wand des Zimmers gelehnt. Axberg warf einen Blick auf die Wanduhr und sah, wie der Sekundenzeiger einen Tick näher auf die volle Stunde zurückte.

»Warum sind heute denn alle so früh da?«, sagte er. »Gibt’s irgendwas Besonderes?«

»Die Ferienaufteilung steht an«, antwortete Sankari.

»Ferien, was ist das denn?«, sagte Axberg und grinste sarkastisch.

Jens Åkerman lachte nervös auf und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Axberg ging zu seinem Platz am Kopfende des Tischs, hängte die Jacke über die Rückenlehne und setzte sich.

»Wie immer sind die letzten zwei Juliwochen das Problem. Wenn wir uns nicht einigen können, müssen wir losen. Ich habe jedenfalls nicht vor, so eine Kinderkacke nach oben weiterzureichen.«

»Natürlich nicht«, warf Pablo Carlén ein. »Das müssen wir selbst lösen. Ich hätte gern die letzte Woche frei. Wir haben eine Reise nach Gotland geplant, die sich nur schlecht verschieben lässt.«

Sven Hamrin sah ihn vielsagend an.

»Du kannst doch verdammt noch mal nicht zuerst sagen, dass wir eine Lösung finden müssen, um in der nächsten Sekunde zu verlangen, dass gerade du dann frei bekommst?«

»Das wollte ich nicht sagen, falls du mir zugehört hast.«

Pablo wandte sich wieder Axberg zu.

»Ich könnte mir vorstellen, den Urlaub teilweise zu verschieben und die vorletzte Woche Dienst zu tun. Wenn ich die dreißigste Woche frei bekomme.«

»Wahnsinnig großzügig«, brummte Hamrin von der Wand her.

Sven Hamrin und Pablo Carlén hatten Schwierigkeiten miteinander, seit Pablo vor drei Jahren in der Abteilung angefangen hatte. Laut Hamrin war Pablo ein viel zu selbstgefälliger Moralapostel angesichts seiner geringen Erfahrungen als Polizist. Pablo wiederum fand, dass Hamrin ein unbeholfener Ochse sei, der immer direkt sagte, was er dachte und meinte. Einmal hatte Hamrin sogar einen abwertenden Kommentar über »Kanaken« gemacht, den Pablo noch lange nicht vergessen hatte. Von dem Tag an, an dem Pablo als Adoptivkind aus Kolumbien gekommen war, hatte er sich Kommentare über seine Hautfarbe anhören müssen. Über die Jahre hatte er gelernt, sie als Zeugnisse menschlicher Dummheit zu übergehen. Aber er würde nie akzeptieren, dass jemand aus den eigenen Reihen rassistische Anspielungen machte.

»Gut«, sagte Axberg. »Bleibt also noch die dreißigste Woche …«

Er ließ seinen Blick über die Kollegen schweifen.

»Ich selbst arbeite während der fraglichen Wochen bereits«, fuhr Axberg fort und tippte mit dem Zeigefinger auf den Kalender.

»Ich auch«, warf Sankari ein. »Ich verstehe sowieso nicht, warum man im Sommer frei haben möchte, da ist doch gar keine Jagdsaison.«

Alle im Zimmer außer Hamrin lächelten. Sankari biss ein Stück von der Apfeltasche ab, die seine Frau ihm für den nachmittäglichen Kaffee mitgegeben hatte. Im buschigen Bart blieben Unmengen von Zuckerkristallen hängen. Böse Zungen im Haus behaupteten, dass Sankari seine Körperform all den Apfeltaschen verdankte, die er in sich reinstopfte.

»Okay«, sagte Jens Åkerman und sah von seinem PDA auf. »Ich kann während beider Wochen arbeiten.«

Alle drehten sich überrascht zu ihm um.

»Klasse!«, rief Hamrin aus und strahlte.

Er trat vor und schlug Jens Åkerman auf den Rücken, so dass diesem der Atem stockte. Axberg hoffte, dass Åkermans Rückgrat dem Prankenhieb gewachsen war. Sven Hamrin hatte die größten Hände der ganzen Abteilung. Sie waren unübersehbar. Meist hielt er sie ruhig, dann hingen sie wie zwei Sandsäcke schwerfällig zu seinen Seiten. Wenn er die Hände bewegte, nahmen sie das gesamte Zimmer ein. Laut Hamrin war das typisch für seine Familie. Die lange Reihe der Fährmänner unter seinen Vorfahren hatte angeblich Hände so groß wie Stalltüren gehabt.

»Damit wäre das also gelöst«, fuhr Hamrin fort.

Axberg sah, dass die Besetzung für die Sommerwochen jetzt akzeptabel war. Wenn er Åkerman als vollwertigen Kollegen rechnete. Åkerman hatte gerade erst seinen Abschluss auf der Polizeischule gemacht, und es war sein erster Sommer in Sundsvall. Axberg musste jedoch nicht lange darüber nachdenken. Als er sah, wie erleichtert alle waren, wusste er, dass die Entscheidung schon gefallen war.

»Danke, Jens«, sagte er und nickte ihm zu. »Da hast du uns wirklich aus einer schwierigen Situation gerettet.«

Als Antwort lächelte Åkerman zufrieden.

»Sind wir fertig?«, fragte Sofia Waltin. »Ich muss in zehn Minuten einen Zeugen vernehmen.«

»Ja, der wichtigste Beschluss des Tages ist wohl gefasst«, sagte Axberg. »Ansonsten wisst ihr alle, was ihr zu tun habt. Ich selbst werde mich um den Fall häuslicher Gewalt in Timrå kümmern. Sankari leitet bis auf Weiteres die Drogenermittlung.«

Sankari nickte. »Wir überwachen weiterhin die Schulhöfe. Heute am Hedengrenska Gymnasium. Leider ist es schwierig, zivile Ermittler auf einem Schulhof unterzubringen. Das Alter verschwindet auch durch eine Verkleidung nicht.«

»Am besten, du ziehst eine Perücke an und nimmst ein Springseil mit«, sagte Hamrin.

Sankari ignorierte den Sarkasmus.

»Es ist erwiesen, dass der Handel mit Hasch und Ecstasy unter den Jugendlichen zunimmt. Es wurde mehr beschlagnahmt …«

»Die Statistik zeigt einen fünfzigprozentigen Anstieg der Anzeigen innerhalb von zwei Monaten«, ratterte Åkerman herunter, als hätte er es auswendig gelernt.

Axberg ging zum Kaffeeautomaten, wählte Espresso und sagte: »Und das Seltsame ist, dass keiner sagen will, wie er an den Dreck gekommen ist. Normalerweise bricht immer einer unter dem Druck zusammen und erzählt die Wahrheit. Nur die Vierzehnjährige, die fast an einer Überdosis gestorben wäre, hat was gesagt …«

»Johanna Svensson«, warf Åkerman ein.

»Genau«, sagte Axberg, »aber das Einzige, was wir aus ihr rausbekommen haben, war, dass sie die Tabletten von einem unbekannten Mann gekauft hat. Während der Mittagspause, hinter der Turnhalle. Sie weigert sich zu erzählen, wie sie überhaupt Kontakt zu ihm bekommen hat und wer außer ihr noch beim Kauf dabei gewesen ist.«

Axberg ging an seinen Platz zurück.

»Im Übrigen haben wir nur indirekte Beweise dafür, dass das Zeug tatsächlich in den Schulen selbst verkauft wird«, fasste er zusammen.

»Abgesehen von dem Hasch, das in der Granbergsschule beschlagnahmt wurde«, berichtigte Pablo ihn.

Hamrin ließ sich mit einem dumpfen Knall zurück gegen die Wand fallen.

»Das war doch vor über drei Monaten«, stöhnte er.

»Jedenfalls besser als nichts«, sagte Pablo.

»Ach, lass gut sein«, unterbrach Axberg. »Es ist wichtig, dass wir einen Weg in die Organisation finden, die dahintersteckt. Denn bei den Mengen, die im Umlauf sind, muss es sich um eine Organisation handeln. Und das Ganze geschieht offensichtlich sehr diskret.«

»Ich gehe von einem gut entwickelten Kuriersystem aus, das wir knacken müssen«, sagte Sankari und leckte sich die Reste der Apfeltasche von den Fingern.

»Und das schnell«, sagte Axberg. »Beunruhigte Eltern fragen sich, warum die Polizei nichts unternimmt. Ståhl stellt mir auch jeden Tag diese Frage. Er will Resultate sehen.«

Hamrin verschränkte seine Hände, drehte sie um und ließ sie knacken.

»Er darf gerne seine Papierberge verlassen, herkommen und selbst mit anpacken.«

Niemand am Tisch kommentierte das. Die ständigen Belehrungen des Polizeichefs der Region waren allen nur zu bekannt. Die Sonne fiel durch die schmutzigen Fenster, die zur Storgata hinausgingen. Axberg spürte, wie sein Nacken angenehm warm wurde.

»Ich muss jetzt jedenfalls los«, sagte Sofia und stand auf.

»Du hast Recht«, sagte Axberg, »es ist schon zwanzig nach.«

Genau in dem Moment klingelte das interne Telefon. Sofia beeilte sich hinauszukommen, während Axberg den Hörer abhob und antwortete. Das Gespräch war kurz. Axberg übernahm wieder mal die Rolle des Verteidigers der Polizeiarbeit. Die Kollegen hörten interessiert zu. Es war ungewöhnlich, dass das Telefonat durchgestellt worden war, obwohl sie sich in einer Besprechung befanden.

»Leider«, sagte Axberg. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht um ein Verbrechen handelt. Falls neue Fakten vorliegen, können Sie die ordnungsgemäß melden. Das müssen Sie akzeptieren.«

Axberg seufzte und legte auf.

»Das war wieder Pfarrer Ekstedt aus Ljustadalen.«

»Der, dessen Mutter vor zwei Wochen gestorben ist?«, fragte Sankari.

»Genau der. Er hat seit letzter Woche fast jeden Tag angerufen und verlangt, dass wir uns der Sache noch einmal annehmen. Jetzt behauptet er, dass ein alter Wecker, der auf dem Nachttisch der Frau stand, verschwunden ist …«

Hamrin löste sich von der Wand und machte einen Schritt nach vorn.

»Er soll verdammt noch mal Ruhe geben. Der Fall ist abgeschlossen. Wir haben nichts gefunden, was auf ein Verbrechen hinweist.«

Hamrin machte eine Pause und atmete tief ein.

»Was ist da draußen eigentlich passiert?«, fragte Sankari.

»Nichts«, donnerte Hamrin. »Wir wurden gerufen, weil der Arzt ein Verbrechen nicht ausschließen konnte. Auf ihrem Nachttisch lagen nämlich mehrere Schachteln Schlaftabletten. Der Arzt glaubte, sie hätte vielleicht eine Überdosis genommen. Und der Pfaffe hat die ganze Zeit was davon gefaselt, dass jemand während der Nacht im Zimmer gewesen sei.«

Sankari zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Warum glaubte er das?«

»Weiß der Teufel. Er konnte auch nichts Genaueres sagen.«

»Und?«

»Wegen der Tabletten ist es zu einer Polizeisache geworden, sogar mit rechtsmedizinischer Untersuchung.«

»Was kam dabei heraus?«, fragte Pablo.

Hamrin verjagte eine Fliege, die sich ins Zimmer geschmuggelt hatte.

»Dass die Gute gestorben ist, weil ihr altes Herz nicht mehr schlagen wollte. Der Todesfall war vollkommen natürlich. In ihrem Blut gab es keine Spuren von Medikamenten. Ich habe den Obduktionsbericht selbst gelesen. Außerdem deutete nichts auf einen Einbruch oder auf Diebstahl hin.«

Axberg trank den Espresso aus und dachte nach.

»Der Fall wurde korrekt bearbeitet. Aber der Pfarrer gibt offensichtlich keine Ruhe. Er war schon die ganze Zeit davon überzeugt, dass jemand in dieser Nacht im Haus gewesen ist. Und die verschwundene Uhr bestätigt ihn jetzt natürlich noch einmal in diesem Glauben.«

»Er sollte sich vielleicht lieber an den Glauben an Gott halten«, sagte Sankari lächelnd, offensichtlich zufrieden über sein Wortspiel.

»Ein schwieriger Typ«, sagte Axberg. »Wir können jedenfalls nicht mehr tun. Ich muss mit der Zentrale sprechen, damit sie nicht alles Mögliche durchstellen.«

Axberg stand auf und schob seinen Stuhl unter den Schreibtisch.

»Zurück zum Tagesgeschäft. Wir sehen uns wie üblich am Nachmittag.«

Alle verließen das Zimmer und machten sich an ihre Arbeit.

Kapitel fünf

Am Freitag, dem 2. Juni, wachte Birgit Öberg auf, weil die Sonne durch das Schlafzimmerfenster schien.

Das Licht wanderte sanft von ihrer Kinnspitze über ihr Gesicht und tauchte ihre Wimpern in ein warmes Orange. Trotz des angenehmen Aufwachens spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie fühlte sich innerlich unruhig, und der nächtliche Schlaf hatte ein ungewisses Gefühl des Unbehagens in ihr zurückgelassen. Ein Unbehagen, das schwer zu definieren war. Es war außergewöhnlich, dass sie so empfand, normalerweise war sie ein in sich ruhender, ausgeglichener Mensch, der nur selten unnötige Angst empfand.

Jetzt fühlte sich etwas in ihr kalt und leer an. Kurze, flüchtige Erinnerungsbilder vermischten sich mit den Träumen der Nacht zu einem nicht deutbaren Nebel. Sie versuchte, dieses unangenehme Gefühl zu vertreiben, indem sie an praktische Sachen dachte. Heute würde sie die Betten frisch beziehen und die Daunendecken für den Sommer wegräumen. Ihr Mann hatte sich schon mehrere Nächte hintereinander beschwert, dass er schwitze. Außerdem weigerte er sich, ohne Schlafanzug zu schlafen. Also würde sie dem Bett nun ein Sommerkleid anziehen. Weiter kam sie in ihren Gedanken nicht, weil die Unruhe sie wieder überfiel, und zwar stärker und intensiver als vorher. Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust. Irgendetwas an der Stille des Zimmers beanspruchte ihre Aufmerksamkeit. Etwas fehlte.

Sie schlug die Augen auf. Alles sah so aus wie immer.

Kent lag wie üblich da und schlief, mit dem Rücken zu ihr gewandt. Die Zudecke hatte er zu einem Hügel an seinen Füßen zusammengeschoben. Sie starrte ein paar Sekunden lang auf seinen Rücken. Und da wurde ihr klar, was nicht in Ordnung war. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Kents normalerweise seufzende Atemzüge waren verstummt. Das Einzige, was man im Zimmer hörte, waren ihr eigenes Atmen und ihr pochendes Herz. Sie legte ihre Hand auf Kents Schulter und rüttelte. Keine Reaktion. Die Schulter fühlte sich kalt an, und als sie stärker schüttelte, kippte der Kopf steif vor und zurück. Sie rief seinen Namen. Er antwortete nicht. Ihr wurde schwindelig, eine leichte Übelkeit setzte sich im Magen fest. Mit einem Mal war sie hellwach. Mit einer ziemlichen Kraftanstrengung drehte sie ihn auf den Rücken. Das Gesicht war bleich und leblos. Die Augen offen, große Pupillen starrten mit leerem Blick an ihr vorbei. Da begriff sie für einen Augenblick das Unfassbare. Kent war tot.

An das, was dann passierte, erinnerte sich Birgit Öberg nur verschwommen. Sie hatte den Notruf angerufen. Fragmentarische Bilder von zwei Männern in roter Kleidung, die einen erfolglosen Wiederbelebungsversuch durchführten. Nach einer Weile, als sie völlig verwirrt Kaffee für sie gekocht hatte, kam ein Arzt und stellte den Tod fest. Er sagte etwas von einer eventuellen Obduktion. Danach hatte er sie gefragt, ob sie Angehörige habe. Sie hatte dann ihre Schwester angerufen, die sofort ins Auto gesprungen und losgerast war, fast hätte sie einen Unfall gehabt.

Der restliche Tag war ein einziger Trümmerhaufen aus Trauer und Tränen. Erst am nächsten Tag begann Birgit Öberg, sich an die Erlebnisse der vorherigen Nacht zu erinnern. Sie fragte sich, woher dieses Unbehagen und die Angst stammten. Warum war sie beim Aufwachen so unruhig gewesen?

Das Einzige, was ihr einfiel, war, dass sie während der Nacht zwischen Traum und Wirklichkeit gemerkt hatte, dass ein Schatten über Kent gebeugt stand. Es war ein undeutliches Bild, aber jedes Mal empfand sie dasselbe Unbehagen. War während der Nacht jemand im Schlafzimmer gewesen?

Kent war sein Leben lang gesund gewesen und gerade erst fünfzig. Sicher, er war ein bisschen übergewichtig und rauchte manchmal. Und doch. In letzter Zeit hatte es keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass er krank war.

Als das Obduktionsergebnis zwei Wochen später feststand, hieß es, dass Kent an plötzlichem Herztod gestorben sei, verursacht durch verkalkte Herzkranzgefäße. Birgit Öberg fiel es schwer, sich damit abzufinden. Die Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum, ohne dass sie eine Ordnung hineinbringen konnte. Manchmal hatte sie das Gefühl, verrückt zu werden. Dieser nächtliche Schatten tauchte immer wieder in ihrem Innern auf und schließlich erzählte sie ihrer Schwester davon. Die hatte sie auf ihre sanfte Weise beruhigt und erklärt, dass das eine ganz normale Reaktion sei. Dass es eine nachträgliche Interpretation sei, ein Versuch, Kents Tod zu verarbeiten. Birgit Öberg glaubte ihr und bemühte sich, es zu vergessen. Sie entschloss sich, über die Sache kein Wort mehr zu verlieren. Das Letzte, was sie wollte, war verwirrt und paranoid zu erscheinen. Ihre Schwester hatte bestimmt Recht, wie üblich.

Alles war nur ein unangenehmer Traum gewesen.

Kapitel sechs

Axberg klappte sein Laptop auf.

Er hatte die Ermittlungen wegen der häuslichen Gewalt in Timrå endlich abgeschlossen. Jetzt musste er den Fall nur noch zusammenfassen und versuchen, ein paar überzeugende Schlusssätze zu formulieren. Etwas, das er nach jeder Ermittlung tat, einige Zeilen schreiben, um jenseits des üblichen Papierkrams die wichtigsten Einzelheiten zu notieren. Wenn er dann später feststeckte, griff er auf diese Notizen zurück, um sich Anregungen und Ideen zu holen. Das war sein achter Fall von häuslicher Gewalt dieses Jahr gewesen, und er unterschied sich nicht sehr von den vorherigen. Außer, dass der Täter gestanden hatte.

Nach einer Woche intensiver Vernehmungen des Tatverdächtigen war es zu einem Geständnis gekommen. Axberg hatte ihn mit mehreren unabhängigen Zeugenaussagen konfrontiert und mit einem detaillierten Bericht des Rechtsmediziners inklusive Fotos der Verletzungen. Schließlich war Lars Karlsson eingeknickt und hatte widerwillig erzählt, wie er seine Frau misshandelte. Ansonsten war es dasselbe Elend wie immer.

Jahrelanges Überschreiten der Grenzen durch Schläge und Drohungen, und erhöhter Alkoholkonsum ließ es immer häufiger geschehen. Eine Frau, die stur alles, was passierte, leugnete. Ein Mann, der offensichtlich von seinem Leben frustriert war. Axberg seufzte und hoffte, dass die Strafe nicht zu mild ausfiele. Er selbst hatte noch nie eine Frau geschlagen und würde es auch niemals tun.

Er stand auf, ging ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Da draußen flimmerte die Luft noch vor Hitze. Seit mehreren Wochen war die Sonne der unbestrittene Herrscher gewesen. Die Durchschnittstemperatur und der Eisverkauf erreichten täglich neue Rekordhöhen. Alles lief ein bisschen langsamer ab, die Menschen waren offener und lachten mehr. Seine Gedanken schweiften zu Carolina und den zwei fantastischen gemeinsamen Wochen. Seit ihrem erlösenden Anruf hatten sie sich jede freie Minute getroffen.

Bäder im Meer, die Sonne, seine Zunge auf ihrer salzigen Haut.

Axberg zog an der Zigarette. Trotz all des Wunderbaren empfand er eine drängende Unruhe. Es könnte zu viel des Guten sein. Letzte Woche war Carolina mehr oder weniger bei ihm eingezogen. Es wurde enger, die Schlinge der Zweisamkeit zog sich zusammen. Als sie gestern gefragt hatte, ob er am Sonntag zum Mittagessen zu ihren Eltern mitkommen würde, klingelten bei ihm die Alarmglocken. Das würde sofort eine Fessel um den Fuß bedeuten.

Bitte schön! Hier das ganze Paket mit Hochzeit und Kindern. Unterschreiben Sie hier.

Axberg streckte sich und gähnte. Vielleicht war er zu extrem. Er liebte Carolina und würde dieses Mal vorsichtig sein. Er wusste, wie es sonst laufen konnte. Aber die Rastlosigkeit war wie ein Fieber in seinem Blut. Er brauchte seine Freiheit und würde wahrscheinlich nie dauerhaft mit einem anderen Menschen unter einem Dach leben können.

Ein wohlbekanntes Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken. Monika Roos trat lächelnd ein. Sie war die Sekretärin der Abteilung und das Zentrum, um das sich alles drehte, sie hatte die Kontrolle über alles und alle. Und das betraf nicht nur die Arbeit. Wollte man sich jemandem anvertrauen, dann war Monika Roos definitiv die falsche Person. Aber die Sekretariatsaufgaben erledigte sie rasch und fehlerfrei und immer mit dem kompletten Service.

»Hallo, Johan.«

Axberg nickte zum Gruß.

»Gibt’s was Neues?«

Er hatte den Zettel in ihrer Hand schon gesehen, und die Frage war eher rhetorisch.

»Nichts Besonderes. Dieser Pfarrer hat wieder angerufen … Und natürlich auch deine Oma. Sie war sehr ärgerlich, dass die Zentrale sie nicht weiterverbunden hat.«

Axberg lächelte.

»Sie hat Schwierigkeiten, sich die Durchwahl zu merken. Was wollte der Pfarrer?«

»Mit dir reden. Mit keinem anderen. Er hat den Diebstahl einer Uhr angezeigt.«

»Ach ja?«

»Und dann wollte er noch wissen, warum ihr nicht weiter im Fall seiner Mutter ermittelt.«

Axberg überkam eine lähmende Müdigkeit.

»Ich verstehe.«

Monika Roos verließ das Zimmer und schaute neugierig auf die halboffene Tasche mit der Sportbekleidung, die direkt hinter der Tür stand. Axberg sah auf den Zettel, knüllte ihn zu einem Ball zusammen und warf ihn weg. Er schaffte es nicht, Pfarrer Ekstedt anzurufen, um ihm die Situation ein weiteres Mal zu erklären. Dass die Polizei keine Verbrechen aufklären kann, die nur in der Fantasie existieren. Mit oder ohne Uhrendiebstahl. Gleichzeitig war es seltsam, dass der Pfarrer sich bei etwas so sicher war, das so völlig unsinnig wirkte. Wahrscheinlich eine Art Trauerreaktion, dachte Axberg und trank ein Glas Wasser aus, das auf dem Schreibtisch stand. Obwohl das Glas höchstens eine halbe Stunde dort gestanden hatte, war das vorher eiskalte Wasser bereits lauwarm.

Er fragte sich, wie es seiner Oma bei der Hitze ging und wählte ihre Nummer. Nachdem er es fünfzehn Mal hatte klingeln lassen, legte er auf und versuchte es noch einmal. Keine Antwort. Hoffentlich ist sie nicht gestürzt, dachte er besorgt.

Axbergs Großmutter hatte vor vielen Jahren eine entscheidende Rolle in seinem Leben gespielt. Als er zwölf Jahre alt war, kamen seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben, einem Frontalzusammenstoß mit einem Lastwagen außerhalb von Gävle. Sie waren auf dem Heimweg nach einem Wochenende bei Bekannten in Stockholm. Axberg hatte bei seinen Großeltern auf Frösön bei Östersund geschlafen. Er erinnerte sich daran, dass er in der Küche saß und Rhabarberkompott aß, als der Anruf kam. Die Zeit danach war turbulent und verwirrend. Er war bei den Eltern seines Vaters geblieben, die auch das Sorgerecht für ihn bekamen. Sie wurden während seiner Jugend zu seinen Leitfiguren und seiner Stütze. Seit sein Großvater vor acht Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, gab es nur noch Oma Rosine – ein schwacher Schatten der Frau, die seine Großmutter früher einmal gewesen war.

Axberg sah sie vor sich. Wie sie unsicher durch seine Wohnung tappte und dabei ihre Hände fast krampfhaft um die Gehhilfe krallte. Sehr lange hatte sie sich geweigert, die Gehhilfe zu benutzen. Sie nannte sie »Teufelsmaschine«, mit deren Hilfe sie direkt ins Fegefeuer marschieren würde. Axberg beschloss, in einer Stunde noch einmal anzurufen.

Es klopfte drei Mal an der Tür, und Sankari kam herein. Axberg fiel auf, dass sein kahler Kopf rot vor Sonnenbrand war. Dadurch bekam der ansonsten so beruhigende Anblick des Kollegen etwas fast Boshaftes.

»Hallo«, sagte Axberg. »Wie geht’s?«

Sankari setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Er kratzte sich am Bart und blinzelte mit den Augen. Axberg wusste schon lange, dass Sankari gute Nachrichten brachte, wenn er so zufrieden aussah.

»Möglicherweise haben wir was in dem Drogenfall entdeckt …«

Sankari sprach langsam, als wollte er es noch eine Weile auskosten.

»Wir haben am Hedengrenska Gymnasium eine Lehrerin gefunden, die glaubt, etwas gesehen zu haben.«

Axberg nickte.

»Ein Auto«, fuhr Sankari fort. »Genauer gesagt, einen schwarzen BMW, der an zwei aufeinanderfolgenden Freitagen um die Schule herumfuhr. Beide Male am Nachmittag, als die Schule zu Ende war und die Schüler nach Hause gingen.«

Sankari lehnte sich zurück und machte eine Pause.

»Sprich weiter«, sagte Axberg.

»Da sie wusste, dass die Schüler in letzter Zeit mehr Drogen nehmen, schrieb sie sich die Autonummer auf.«

»Hat sie den Fahrer gesehen?«

»Nein, die Scheiben waren dunkel. Außerdem war sie sich auch nicht sicher, ob der Wagen überhaupt angehalten hat. Sie war nämlich in ihrem Klassenzimmer und hatte keine komplette Übersicht.«

Axberg verzog müde das Gesicht.

»Wem gehört das Auto?«

»Warte, dazu komme ich noch …«

Sankari rieb sich ein paar lose Hautschuppen vom Nasenrücken.

»In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der Wagen auch bei dieser großen Raveparty in der aufgegebenen Reifenfabrik am Hafen diesen Winter gesehen wurde. Damals gehörte der BMW zu den Autos, die uns verdächtig vorkamen. Es wurde zwar nichts beschlagnahmt, aber wir haben ein paar Jugendliche erwischt, die was anderes im Blut hatten als nur Sachen aus Papas Bar.«

»Ich erinnere mich daran«, sagte Axberg. »Alle haben sich geweigert zu erzählen, was sie genommen haben und woher sie es hatten.«

»Genau«, sagte Sankari und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »Verdammt warm. Kannst du noch ein paar Fenster aufmachen?«

Axberg öffnete alle Fenster und ließ Luft hinein, die fast noch stickiger war als die drinnen.

»Der Wagen gehört einem gewissen Ralf Sedin«, fuhr Sankari fort.

»Klingt bekannt. Was haben wir über ihn?«

»Ein Kleinkrimineller mit dem üblichen Kram. Misshandlungen, Hehlerei, Autodiebstahl. Für Geld macht er fast alles. Aber keine schweren Verbrechen.«

»Wo befindet er sich jetzt?«

»Hier in der Stadt und fährt in ebendem Auto durch die Gegend. Wenn wir Glück haben, taucht er heute vielleicht noch einmal auf. Aber bei diesem Durcheinander müssen wir ganz vorsichtig an den Fäden ziehen. Sonst wird das ganze Knäuel zu einem Knoten, der sich nicht mehr entwirren lässt.«

Axberg stand auf.

»Klingt, als bekämen wir vielleicht trotzdem den Weg hinein, den wir brauchen. Sag mir Bescheid, sobald etwas passiert.«

»Aber sicher«, sagte Sankari und trottete davon.

In der Tür drehte er sich mühsam um.

»Kommst du mit zum Kiosk, um ein Eis zu kaufen?«

Sie verließen gemeinsam das Zimmer, ohne die Tür hinter sich zuzumachen.

Kapitel sieben

Die Mittsommerzeit bedeutet Chaos.

Diese Tatsache wurde in der Notaufnahme des Krankenhauses in Sundsvall jedes Jahr aufs Neue bestätigt. Dass diese unglaubliche Hitzewelle die Stadt diesen Sommer ans Mittelmeer verlegt hatte, machte die Sache nicht gerade besser. Die Leute waren durch die Hitze wie verrückt.

Es ging auf vier Uhr zu, und der Dienst habende Arzt Erik Jensen hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Er sah auf die Liste der wartenden Patienten. Es war das Übliche: drei Brustschmerzen, zwei mit akutem Schwindel, ein Asthmaanfall und vier betrunkene Jugendliche, die auf ihren Liegen eingeschlafen waren.

»Wen soll ich mir jetzt ansehen?«, fragte Jensen eine Krankenschwester, die mit einer Infusionsflasche in der Hand an der Anmeldung vorbeiging.

»Weiß ich nicht, ich hatte gerade Pause«, antwortete die Krankenschwester und verschwand durch das Gewühl von Patienten und Personal.

Jensen beschloss, sich einen der drei Brustschmerzen vorzunehmen, und hoffte, dass vor dem Zimmer des Patienten ein EKG-Gerät mit dazugehörigem Blutdruckmessgerät stand. Als er gerade um die Anmeldung bog, wurde der Vorhang zu einem der Überwachungsbetten zurückgezogen. Schwester Helen sah ihn an.

»Könntest du mal kommen?«, fragte sie. »Die Patientin hat Atemprobleme, die Sauerstoffsättigung fällt.«

Jensen schaute auf die ältere, abgemagerte Frau, die halb auf dem Bett saß. In ihren Augen stand Panik, ihre Lippen waren bläulich und ihre Atmung angestrengt. Obwohl sie bereits fünf Liter Sauerstoff durch einen Schlauch bekam, blinkten die Zahlen, die die Sauerstoffsättigung in ihrem Blut registrierten, zwischen 76 und 78 Prozent.

Jensen nahm die Hand der Frau und redete beruhigend mit ihr, während er gleichzeitig ihr Herz und ihre Lunge mit dem Stethoskop abhörte. Der Brustkorb der Frau hob und senkte sich wie bei einem Vogelküken.

»Wie hoch ist der Blutdruck?«, fragte Jensen.

Schwester Helen blätterte in den Papieren.

»150 zu 90. Kein Fieber. Keine früheren Krankheiten abgesehen vom Asthma.«

»Gibt es eine aktuelle Medikamentenliste?«

Helen öffnete den Mund, um zu antworten. Genau in diesem Augenblick schrillte der Notfallalarm. Eine Sekunde lang stand jegliche Aktivität still. Dann begann eine erstaunlich gut organisierte Handlungskette. Das Chaos war wie weggeblasen, und alle schienen sich genau an dem Platz zu befinden, an dem sie am nützlichsten waren. Jensen sah, wie sich mehrere Krankenschwestern um das Telefon versammelten, um den Bericht des Krankenwagens entgegenzunehmen. Einer der wenigen männlichen Krankenpfleger nahm das Gespräch an. Nach ein paar Sekunden drehte er sich um und rief: »Ein Herzstillstand. Sie sind in fünf Minuten hier.«

Das war Erik Jensens dritter Patient mit Herzstillstand, seit er um sechs Uhr mit der Nachtschicht begonnen hatte. Er hoffte, dass der Ausgang dieses Mal glücklicher sein würde als die vorigen Male.

»Ich komme«, antwortete er.

Er schrieb ein Rezept für den Asthmaanfall und gab es Schwester Helen.

»Es wird gut werden«, sagte er zu der Frau auf dem Bett und klopfte ihr auf die Schulter.

Dann ging er zum Alarmtelefon.

»Bereiten Sie den Notfallraum vor, ziehen Sie Adrenalin auf und überprüfen Sie den Defibrillator«, ordnete er an.

Jensen bekam den Bericht und warf einen Blick auf das Papier.

»Maria Backlund. Erst vierunddreißig? Haben wir Krankenunterlagen?«

»Hier! Ich habe sie gefunden«, rief eine Hilfsschwester, die etwas entfernt an einem Schreibtisch vorm Computer saß.

Jensen lief hin und las.

»Bei uns ist sie anscheinend bisher noch nicht gewesen«, stellte er fest. »Vor einigen Jahren war sie mal beim Chirurgen wegen der Galle.«

Er wandte sich noch einmal dem Krankenpfleger zu.

»Hat der Krankenwagen noch was gesagt?«

»Eine Angehörige, die die Patientin leblos im Bett gefunden hat, hat schon zu Hause mit der Herzmassage begonnen …«

Die näher kommende Sirene unterbrach sie. Das Blaulicht fiel auf die Fenster in der Eingangstür. Jensen zog ein Paar Gummihandschuhe an und ging ihnen entgegen.

Auf der Liege, die hereingefahren wurde, lag eine junge Frau mit langen roten Haaren. Die Haut war blauweiß marmoriert. Einer der Sanitäter ging neben der Liege her und presste immer und immer wieder mit ganzer Kraft auf den Brustkorb der Patientin. Eine aufgeregte Frau, von der Jensen annahm, dass sie die Angehörige war, trug ein Infusionsgestell. Ein Notfallteam versammelte sich um die Liege.

»Sofort in den Notfallraum«, ordnete Jensen an. »Was ist passiert?«

Der andere der beiden Sanitäter gab ihm den Berichtsbogen. »Die Schwester der Patientin war gerade auf der Toilette. Als sie zurückkam, bemerkte sie, dass die Patientin nicht atmete. Sie hatte auch keinen Puls. Sie begann sofort mit der Wiederbelebung. Der Notruf kam vor ungefähr zehn Minuten. Im Wagen gab es keine Herzaktivität.«

Als sie den Wiederbelebungsraum betraten, öffnete sich die Tür auf der anderen Seite und der Dienst habende Anästhesist kam wie üblich ganz ruhig hinein. Jensen fasste die Situation für ihn zusammen, gleichzeitig nahm er die Paddles des Defibrillators und legte sie auf den Brustkorb der Patientin. Sie arbeiteten schnell und reibungslos. Eine Hilfsschwester führte die Schwester der Patientin in einen nahen Angehörigenraum.

»Kammerflimmern. Ich schocke. Weg von der Liege!«

Jensen presste die Paddles auf den Brustkorb und vergewisserte sich, dass sie gut auflagen, bevor er abdrückte. Der Oberkörper der Frau hob sich einige Zentimeter von der Liege. Es folgten ein paar Sekunden gespannten Wartens, als die EKG-Kurve verschwand. Dann kam der grüne Lichtstrahl wieder, zackiger und bösartiger als vorher.

»Okay. Fünf Einheiten«, sagte Jensen.

Eine Schwester folgte seiner Anweisung und zählte laut bis fünf. Der Anästhesist schob geübt einen Schlauch in den Hals der Patientin und begann, sie mit einem Beutel zu beatmen. Jensen stellte den Schalter auf 360 Joule und schickte noch einen Stoß durch die Brust der Frau. Nichts passierte.

»Wir probieren es noch einmal, bevor wir wieder reanimieren. Ziehen Sie ein Milligramm Adrenalin auf.«

Eine Schwester nickte, hielt eine Spritze vor die Lampe und drückte ein paar überflüssige Tropfen aus der Kanüle. Jensen legte die Paddles auf den Brustkorb und korrigierte deren Lage, damit die maximale Stromstärke direkt ins Herz ging.

»Weg!«

Er drückte ab. Alle Blicke waren auf die EKG-Anzeige gerichtet. Die Pulskurve kam zurück und die EKG-Kurve normalisierte sich. Jensen fühlte mit dem Zeigefinger am Handgelenk der Frau. Der Puls war kräftig und regelmäßig.

»Aller guten Dinge sind drei«, sagte der Anästhesist vom Kopfende der Patientin her.

Jensen musste unwillkürlich lächeln über den seltsamen Witz. Als die Patientin stabil genug war, zog der Anästhesist den Tubus, und Maria Backlund erwachte mit ein paar tiefen Atemzügen zum Leben. Sie schlug die Augen auf und sah sich erschrocken um. Die ruhigste Schwester der Notaufnahme sah sie an und sprach besänftigend auf sie ein. Dann wurde Maria Backlund auf die Herzintensivstation gebracht. Nachdem Jensen die Patientin und einen Bericht übergeben hatte, ging er zurück in die Notaufnahme. Er machte sofort mit der Warteliste weiter, die zum Glück noch nicht weiter angewachsen war. Die Frau mit dem Asthmaanfall war beschwerdefrei und wurde zur Beobachtung in die Lungenklinik überwiesen.

Jensen erledigte seine Aufgaben routiniert, jedoch ohne mit den Gedanken voll dabei zu sein. Er musste immer noch an den Fall Maria Backlund denken. Wieso hörte das Herz bei einem so jungen und gesunden Menschen plötzlich auf zu schlagen? Vor allem mitten im Schlaf?

Es gab keinen Zweifel daran, was passiert wäre, wäre die Schwester nicht so geistesgegenwärtig gewesen. Maria Backlund hatte unglaubliches Glück gehabt. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, arbeitete er sich durch die restlichen Patienten. Als er fertig war, sah er auf die Uhr. Viertel nach fünf. Dennoch fühlte sich Jensen kein bisschen müde. Auf die paar Stunden Schlaf, die bis zur Morgenvisite noch blieben, konnte er auch verzichten.

Er ging auf die Herzintensivstation. Maria Backlund und ihre Schwester lagen jede in ihrem Bett in einem Zimmer mit gedämpftem Licht. Jensen fiel auf, dass auch die Schwester rötliche Haare hatte. Er schlich sich in das Zimmer und sah nach, ob alle Elektroden richtig saßen. Danach kehrte er zur Notaufnahme zurück. Alles war noch ruhig. Er ging in den Personalraum, goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich auf die geschwungene Ledercouch. Ein Bezirksarzt, den er flüchtig kannte, lag mit dem Kopf auf der anderen Armlehne und döste. Als er Jensen bemerkte, rieb er sich gründlich die Augen und setzte sich auf.

»Hallo, noch jemand, der wach ist?«, sagte der Mann und gähnte.

»Das ist wohl relativ«, antwortete Jensen und grinste.

»Wie läuft’s bei euch Ärzten?«

»Volles Haus. Das ist das erste Mal, dass ich mich heute Nacht hinsetze.«

»Wir haben auch ziemlich viel zu tun gehabt. Vor allem Kleinkram. Die Leute kommen abends, weil sie tagsüber keine Zeit haben.«

»Viele haben wohl Schwierigkeiten, von der Arbeit wegzukommen«, sagte Jensen und trank zwei Schluck lauwarmen Kaffee.

Sie saßen ein paar Minuten schweigend da und schauten einen Spielfilm in dem Fernseher, der zur Ausstattung des Raums gehörte. Der Ton war ganz leise gedreht, aber keiner von ihnen machte sich die Mühe, nach der Fernbedienung zu suchen. Jensen kehrte in Gedanken immer wieder zu Maria Backlund zurück.

»Ich hatte da eben einen seltsamen Fall«, sagte er. »Ein Herzstillstand bei einer jungen Frau, gerade mal vierunddreißig Jahre alt.«

Er erzählte kurz, was passiert war. Der Kollege auf dem Sofa hörte aufmerksam zu.

»Herzlichen Glückwunsch«, platzte es am Ende aus ihm heraus; er war von der Erzählung sichtlich aufgemuntert. »Man bekommt nicht jeden Tag die Chance, ein Leben zu retten.«

»Nein«, sagte Jensen. »Aber die Voraussetzungen waren gut. Ihre Schwester hat fast sofort mit der Herzmassage begonnen.«

Der Kollege nickte, offensichtlich beeindruckt. Jensen dachte nach.

»Sind Sie nicht auch der Meinung, dass es seltsam ist, wenn ein so junger Mensch im Schlaf einen Herzstillstand hat? Es muss einen tiefer liegenden Grund dafür geben.«

Der Kollege sah ihn nachdenklich an.

»Was Sie da erzählen, erinnert mich an etwas«, sagte er zögernd.

Jensen zog fragend eine Augenbraue hoch. Der Mann machte eine Geste mit den Händen.

»Ich weiß nicht, ob etwas dran ist, aber ich habe das Gerücht gehört, dass es im Zentrum in letzter Zeit sehr viele Todesfälle gegeben hat. Mit ähnlichen Umständen wie in Ihrem Fall, jedoch natürlich mit einem schlechteren Ausgang.«

»Was meinen Sie?«, sagte Jensen.

»Ganz einfach, dass im Augenblick ungewöhnlich viele sterben. Nachts, im eigenen Zuhause. Und da werden wir dann ja gerufen, um den Tod festzustellen.«

Jensen sah ihn forschend an.

»Von wem haben Sie das gehört?«

»Kennen Sie David Nyström?«

»Den Bezirksarzt aus Bergsåker?«

»Genau den, er macht viele Nachtschichten hier oben. Als ich ihn das letzte Mal getroffen habe, hat er von mehreren Todesfällen erzählt, bei denen er gewesen ist. Anscheinend oft völlig unerwartete, ohne einen offensichtlichen Grund. Aber wie gesagt, vielleicht ist das nur ein Gerücht.«

Der Kollege rutschte zurück in seine ursprüngliche Lage, mit dem Kopf auf der Armlehne und fuhr fort:

»Man kann also sagen, dass ich Glück hatte …«

»Wie das?«

»Hätte Ihre Patientin nicht eine so aufmerksame Schwester, hätte ich vielleicht noch mal raus gemusst, um einen weiteren Todesfall aufzunehmen.«

»Ach, dummes Geschwätz«, sagte Jensen und verließ den Kaffeeraum.

Der Gerüchteküche innerhalb des Gesundheitswesens war er schon lange überdrüssig. Dass es eine Verbindung zwischen Maria Backlund und dem geben sollte, wovon der Bezirksarzt gesprochen hatte, erschien ihm unwahrscheinlich. Aber es gab unbestreitbar viele Fragen, die er Maria Backlund stellen musste, sobald sie aufwachte. Es gibt sicher eine natürliche Erklärung, dachte Jensen. Wie immer in der Wissenschaft.

Er ging wieder zum Ärzteschreibtisch. Zwei Hilfsschwestern saßen da und kicherten laut über ein paar Fotos, die sie sofort umdrehten, als er näher kam.

»Alles ruhig?«

»Ja, abgesehen von einer Überweisung aus Station 8. Ein Chirurgiepatient mit Vorhofflimmern.«

»Ich übernehme ihn«, sagte Jensen und nahm den gelben Überweisungszettel in die Hand.

Jensen verbrachte die Stunden bis zur morgendlichen Visite damit, die Patienten zu behandeln, die in der Notaufnahme ankamen und im Haus weiter untersucht werden sollten. Währenddessen überlegte er die ganze Zeit, was hinter dem dramatischen Herzstillstand stecken konnte. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, kehrte immer wieder. Aber er musste sich gedulden.

Der nächste Tag würde sicher Antworten auf seine Fragen im Fall Maria Backlund bringen.

Kapitel acht

Erik Jensen schaffte es, wach zu bleiben, genau wie er es sich vorgenommen hatte.

Er saß im Konferenzzimmer der Notaufnahme 9 und wartete auf die Morgenvisite. Der Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar, und er hatte während der letzten Stunde vier Tassen Kaffee getrunken. Der Effekt war mäßig. Mit müden Augen sah er aus dem Fenster. Zwei Frauen in der offiziellen blauen Arbeitskleidung standen vor der Patientinnenannahme der Geburtsstation und rauchten. Jensen hatte es schon zu oft gesehen, als dass er noch darauf reagierte.

Klinikchef Bolinder kam herein. Er setzte sich auf seinen Platz am Tisch und schlug den ersten Visitenordner auf. Wie immer trug er ein gebügeltes, weißes Hemd und einen stramm gebundenen Schlips. Er zog seinen schwarzen Füller mit einem solchen Ernst aus der linken Brusttasche seines Arztkittels, dass man an einen Ritter erinnert wurde, der im Kampf sein Schwert zieht. Zu beiden Seiten Bolinders saß je eine Schwester mit einem Stapel Krankenberichte.

»Sie sehen aus, als hätten Sie Ihre Pflicht erfüllt«, sagte Bolinder und nickte in Jensens Richtung, während er gleichzeitig demonstrativ den Daumen über den Papierstapel mit den Patientenaufnahmen der Nacht zog.

»Ich habe nicht gerade sanft geschlummert«, antwortete Jensen.

Die Morgenbesprechung des Mittsommertages verlief ohne größere Überraschungen. Jensen bewegte seine Füße unterm Tisch hin und her, um sich wach zu halten. Er antwortete kurz und sachlich auf die wenigen Fragen, die Bolinder stellte. Erik Jensen war ein kompetenter Internist und Kardiologe, der in der Klinik einen sehr guten Ruf hatte, sogar bei Bolinder, der ansonsten in seinem Urteil ziemlich hart war. Jensen würde außerdem bald mit seiner Doktorarbeit fertig sein, die er gemeinsam mit einem Professor vom Karolinska Institut schrieb. Obwohl erst dreiunddreißig, war er der strahlendste Stern in der Klinik und hätte mit Leichtigkeit überall im Land eine Stelle bekommen – und sich damit einen Traum erfüllen können. Das Problem war, dass seine Frau Sara Sundsvall auf gar keinen Fall verlassen wollte. Sie hatte alle ihre Freunde und ihre ganze Familie in der Nähe, besonders ihre Mama. Und seit ihre Tochter Erika vor acht Monaten geboren worden war, stand ein Umzug ohnehin nicht mehr zur Diskussion.

Jensen ließ seinen Gedanken freien Lauf, während er darauf wartete, dass Maria Backlund auf die Tagesordnung kam. Es dauerte zwei Stunden und vierundzwanzig Patienten, bis Bolinder den Daumen befeuchtete und zum letzten Mal in dieser Sitzung umblätterte.

»Maria Backlund, sechsundsechzig geboren«, sagte er mit seiner unermüdlichen Stimme. »Kam im Krankenwagen wegen eines Herzstillstandes.«

Bolinder grübelte lange schweigend über dem Bericht.

»Das haben Sie gut gemacht, Erik«, sagte er schließlich. »Gibt es eine Erklärung für den Stillstand?«

»Nein«, sagte Jensen. »Aber ich hatte noch keine Zeit, mit der Patientin zu sprechen.«

»Merkwürdige Geschichte«, sagte Bolinder und wandte sich den Krankenschwestern zu. »Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?«

Die Gesprächigere der beiden, die ein handgemaltes Namensschild aus Holz mit dem Namen Eva trug, antwortete:

»Eigentlich nicht. Die Patientin war so müde, dass sie sofort eingeschlafen ist. Und die große Schwester so aufgeregt, dass nichts Vernünftiges aus ihr herauszubekommen war. Wir haben ihr dann schließlich fünf Milligramm Oxazepam gegeben, damit sie sich beruhigt.«

Bolinder runzelte die Stirn und vergrub sich wieder in den Bericht.

»Alle Blutwerte sehen gut aus, abgesehen von den üblichen Auffälligkeiten durch zu langes Stauen bei der Blutabnahme, die sich jetzt wieder normalisiert haben. Das EKG zeigt keine Arrhythmien oder andere Abweichungen. Der niedrige Puls kann ein Zeichen dafür sein, dass sie viel Sport treibt. Wurde ein Herzultraschall gemacht?«

Wieder antwortete Schwester Eva.

»Ja, der wurde gemacht. Thorstenson war heute früh da.«

Sie holte ein Blatt Papier hervor, an dessen eine Ecke kleine, schwarzweiße Fotokopien geheftet waren.

»Völlig normale Werte«, stellte Bolinder fest.

Er tippte mit dem Stift auf den Tisch und dachte nach.

»Kniffliger Fall. Mit ihrem Herz ist jedenfalls alles in Ordnung. Sie kann nach Hause gehen und soll in zwei Wochen zur Nachuntersuchung in meine Sprechstunde kommen.«

Jensen reagierte instinktiv.

»Sollte sie nicht zur Beobachtung bleiben? Wäre es nicht sinnvoll, nach einem Grund zu suchen, bevor wir den Fall ruhen lassen?«

Bolinder hob den Blick. Die Augenbrauen nahmen wieder ihre spitze Form an.

»Sie wissen genauso gut wie ich, wie sehr wir überbelegt sind. Wir haben einfach keinen Platz für gesunde Patienten.«

Jensen sah ein, dass es keine gute Idee wäre, den Beschluss in Frage zu stellen. Bolinder setzte die Kappe auf seinen Füller und steckte ihn wieder in die Brusttasche. Alle am Tisch wussten, dass dies das Signal zum Ende der Besprechung war und dass nun die vormittägliche Kaffeepause anstand. Rund um den Tisch hörte man kleine Aufbruchsgeräusche, Stuhlbeine wurden über den Boden geschoben, Notizbücher und Ordner raschelnd eingesteckt.

Die beiden Krankenschwestern nahmen jeweils ihren Visitewagen, und als sie an Jensen vorbeikamen, schnappte er sich Maria Backlunds Unterlagen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Bolinder in Richtung des Flurs marschierte, mit seinem Hofstaat im Schlepptau.

Jensen fand die richtige Tür und schaute durch das rechteckige Plexiglasfenster hinein. Maria Backlund und ihre Schwester saßen jeweils auf ihrem Bett und sprachen miteinander. Jensen klopfte an und trat ein.

»Guten Morgen, mein Name ist Erik Jensen. Ich bin Arzt hier und habe Sie gestern Nacht behandelt.«

Maria Backlund, die näher an der Tür saß, hob ein leeres Frühstückstablett vom Bett.

»Hallo. Kommen Sie doch herein.«

Jensen setzte sich in den einzigen Besuchersessel des Zimmers. Obwohl die Jalousien heruntergezogen waren, schien die Morgensonne hinein und warf Flecken auf die gelben Gipswände. Jensen fiel auf, dass Maria Backlund fast genauso blass war wie bei der Einlieferung in die Notaufnahme. Sie war klein und schmal, sah sehnig und durchtrainiert aus. Ihr Gesicht strahlte Stärke aus, der Blick war ehrlich und wach. Große, rote Locken fielen auf ihre Schultern. Jensen konnte sich nicht erinnern, je so auffallende Haare gesehen zu haben. Maria Backlund goss Hagebuttentee aus einer rostfreien Kanne, die auf dem Nachttisch stand und nippte nachdenklich daran.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was passiert ist«, sagte sie. »Sie haben gesagt, dass ich eine Weile weg war?«

Jensen lächelte kurz.

»Das ist das Mindeste, was man sagen kann …«

Dann erklärte er detailliert, was passiert war. Maria Backlund hörte aufmerksam zu, ohne etwas zu sagen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen Überraschung und Angst.

»Sie werden verstehen, dass ich viele Ihrer Fragen im Augenblick nicht beantworten kann«, sagte Jensen abschließend. »Aber vielleicht verfügen Sie selbst ja über einige der Antworten?«

Er sah von einer Schwester zur anderen. Sie saßen still da und dachten nach. Das einzige Geräusch, das man hörte, war die Lüftung, die an einem unbestimmbaren Platz im Zimmer surrte. Jensen wandte sich mit der nächsten Frage an Maria.

»Abgesehen von den Problemen mit der Galle sind Sie also völlig gesund?«

»Ja. Außerdem habe ich die sehr selten, nur wenn ich etwas Falsches gegessen habe.«

»Und Sie haben in letzter Zeit keine Medikamente genommen?«

Sie schüttelte den Kopf. Die roten Locken tanzten um ihre Ohren.

»Maria ist einer der gesündesten Menschen, die ich kenne«, warf ihre Schwester Berit ein und rückte ihre runde Brille zurecht. »Sie ist fast nie krank.«

»Hatten Sie in den letzten Wochen eine Erkältung oder irgendeine andere Infektion?«

»Nein, gar nichts.«

Jensen schrieb eine Null auf seinen Notizblock.

»Wie fühlten Sie sich gestern Abend, bevor Sie ins Bett gingen?«

»Gut. Sehr gut. Wir haben Surströmming gegessen, gegorenen Hering, und Karten gespielt. Ungefähr gegen halb zwölf sind wir ins Bett gegangen, und ich bin sofort eingeschlafen. Dann erinnere ich mich an nichts mehr, bis ich hier im Krankenhaus aufgewacht bin.«

»Haben Sie Alkohol getrunken?«

Die Schwestern wechselten schnell einen Blick. Berit nickte ernst.

»Jede einen Schnaps und ein Bier«, sagte Maria und sah ihn besorgt an. »Glauben Sie, dass das der Grund …«