Heute hier morgen fort - Sophie Herrndorf - E-Book

Heute hier morgen fort E-Book

Sophie Herrndorf

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Beschreibung

Mia ist gerne an diesem einsamen Ort mitten in Finnland. Das Resozialisierungsprojekt ist für sie zu einem Zuhause geworden. Die Bewohnerinnen sind ihre Freundinnen und in einer von ihnen, Leonie, hat sie eine große Liebe gefunden. Ihrer Betreuerin Su vertraut sie und die Natur, die Abgeschiedenheit und die Tiere im Stall tun ihr gut. Dennoch lastet tiefe Traurigkeit auf Mias Alltag in Schnee und Dämmerlicht. Sie gilt ihrer vor der Geburt verstorbenen Tochter Tilda. Als eine Neue im Projekt auftaucht, verbreitet sich Zwietracht, Chaos und Angst auf dem Hof. Letztlich ist die größte Herausforderung für Mia, Leonie und Su jedoch nicht die neue Bewohnerin Sarah, sondern die schweren Schatten der Vergangenheit. Es wird Zeit, sich ihnen zu stellen. Heute hier - morgen fort ist die Fortsetzung des Romans "Frag nicht nach gestern", der 2017 im Querverlag erschien.

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Liebe Leser*innen,

dies ist die Fortsetzung des Romans "Frag nicht nach gestern". Vielleicht habt ihr ihn gelesen, vielleicht aber auch nicht, vielleicht ist es lange her, vielleicht aber auch nicht und vielleicht könnt ihr euch Namen noch schlechter merken als ich – nein, das ist eigentlich ausgeschlossen! Hier eine kurze Zusammenfassung des Vorgänger-Romans für alle, die es interessiert: Mitten in Finnland gibt es viele Seen, unberührte Natur, lange Tage im Sommer und Schnee im Winter – bis in den Mai hinein. Dort liegt ein fiktives Resozialisierungsprojekt, das jungen Frauen aus deutschen Justizvollzugsanstalten die Möglichkeit bietet, den Rest ihrer Strafzeit in einer kleinen Gemeinschaft zu verbringen. Su leitet das Projekt. Das Zusammenspiel von Natur, Arbeit und Gemeinschaft ist ihr Geheimrezept, um den Frauen zu helfen. Der Versuch, die Therapeutin Bettina mit ins Boot zu holen, ist zuletzt gescheitert – und somit auch die Beziehung zwischen Su und ihr.

Als Leonie nach Finnland kommt, will sie nur eines, nämlich fliehen. Mit der Zeit entdeckt sie, 3dass ihr dieses Projekt eine Chance bietet. Die erwachende Zuneigung zu ihrer Zimmernachbarin Mia ist hierfür ein besonderer Grund.

Auch Mia verliebt sich und die beiden werden ein Paar. Lange wissen sie nicht, weshalb die jeweils andere ihre Strafe absitzt, doch dann offenbart sich Mia: Sie wurde von Nazis zusammen geschlagen, als sie schwanger war und verlor ihr Kind. Der Anführer des Nazitrupps wurde hierfür nicht verurteilt und so erstach sie ihn und ließ sich verhaften. Leonie behält ihr Geheimnis bislang noch für sich, doch aufmerksame Leser:innen werden sich gewiss noch an ihre Geschichte erinnern.

Inhaltsverzeichnis

Mia

Mia

Su

Mia

Tilda im Süden

Su

Mia

Su

Mia

Tilda im Westen

Su

Mia

Tilda im Norden

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Tilda im Osten

Su

Mia

Su

Mia

Tilda im Süden

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Mia

Su

Tilda im Norden

Epilog

Danke

Mia Mit einem geheimnisvollen Lächeln ist Leo in ihrem Zimmer verschwunden. „Ich hab da so eine Idee. Aber mehr verrate ich nicht.” Die Wand ist dünn. Ich höre, wie sie ein Blatt in die Schreibmaschine aufzieht, dann lange nichts und nun klackern die Tasten, unterbrochen nur vom sssst-ping, wenn eine neue Zeile beginnt.

Die vier Leben der Tilda

Eine Geschichte von Leonie Brandt

Für Mia

Als Tildas Körper starb, rebellierte ihre Seele. Sie war noch nicht so weit. Die Monate im Bauch ihrer Mutter hatten ihren Durst nach Leben gerade erst entfacht. Es war noch nicht an der Zeit gewesen, die schützende Hülle zu verlassen. Sie verstand nicht, warum ihr Gewalt angetan wurde, obwohl weder sie noch ihre Mutter irgendetwas anderes getan hatten, als zu sein, wer sie schon immer waren, sein sollten und werden wollten.

In ihrer Unwissenheit war ihr Überlebenswille stark und als ihre Seele den Körper verließ, zerschlug es sie in vier gleiche Teile. Jeder von ihnen schimmerte in allen Regenbogenfarben und zugleich wie flüssiges Licht oder gasförmiges Metall.

Für einen Moment standen sie über der Szene. Mia lag zusammengekrümmt auf dem harten Boden, die Hände noch schützend an ihren Bauch gepresst. Einen Meter neben ihr lag eine zweite Frau, Alex, die, während sie mit dem einen Arm versuchte ihr Gesicht zu schützen, den anderen in Mias Richtung streckte. Die Hilfeschreie der Frauen waren längst in Hoffnungslosigkeit erstickt. Beide dachten an das Kind, welches sie schützen wollten und wussten nicht, dass es bereits zu spät war.

Im nächsten Augenblick fluteten die Anteile Tildas Seele als Energiesäulen in alle vier Himmelsrichtungen davon. Ohne Körper waren die Kräfte schutzlos und so machten sie sich auf, ein neues Heim zu finden.

Der Teil ihrer Seele, der sich gen Osten wandte, wurde sogleich fündig. Eine Birke stand auf dem Hügel in dem Park. Ihre Wurzeln hatten lange nach Wasser gesucht, doch dieser heiße Sommer nach einem trockenen Frühling gab ihr den Rest. Sie war müde. Ihre Energie wich langsam, aber kontinuierlich aus der spröden Hülle.

Tilda grüßte sie und erschauderte ehrerbietig vor ihrer Erfahrung. Die Birke sah die junge Seele, ihre Frische, ihre Gier nach Leben, seufzte vor Erleichterung und mit einem Windhauch war sie fort.

Tildas Seele schlüpfte in den Stamm und ihre Kraft strömte nach unten in die Wurzeln. Dort war es kühl. Sie stieß gegen harte Steine und durch trockene Erde und streckte sich immer weiter in die entlegensten Adern. Erst in den letzten Spitzen spürte sie Feuchtigkeit. Sie trieb ihre neu gewonnenen Wurzeln an, weiter zu wachsen, weckte die verschlafenen Enden und ließ sie tiefer ins Erdreich eindringen. Sie spürte das Leben hier unten, die vielen Würmer und Käfer und die abertausend Kleinstlebewesen, die in Scharen das Reich der Schatten bevölkerten.

Nachdem Tilda einige Stunden damit verbracht hatte, neue Wasservorräte aufzutun und nach oben fließen zu lassen, versammelte sie ihre Gedankenim Stamm und kam zur Ruhe. Unbemerkt war die Nacht hereingebrochen. Sie atmete die frische, abgekühlte Luft. In der Ferne hörte sie Musik, Lachen, das Klirren von Glas. Es waren die Geräusche eines Festes, auf dem niemand wusste, dass an diesem Abend zwei junge Frauen von Nazis angegriffen und so zusammengetreten worden waren, dass Tilda den Leib ihrer Mutter verlassen musste.

Einen Moment lang vermisste sie die Wärme und Geborgenheit, das rot schimmernde Licht und die Vertrautheit. Doch dann ließ sie sich von der Heiterkeit des Festes ablenken und vergaß für einen Moment die Fragen, die sie sich die ganze Zeit gestellt hatte: Wie erging es den anderen Teilen ihrer Seele? Hatten sie auf ihrer Reise einen neuen Körper gefunden? Und wo war ihre Mutter?

Mia Das Klackern der Schreibmaschine im Zimmer nebenan vermischt sich mit dem Geräusch dicker Regentropfen, die gegen die Fensterscheibe klopfen. Auf der Oberfläche des Sees dahinter entstehen Kreise, die sich schnell überlagern, so dass sie ein bewegtes Mandalabilden.

Die Sonne steht fahl hinter grauen Wolken, nur eine Handbreit über den Baumwipfeln. Sie ist erst nach dem Frühstück aufgegangen und gegen vier wird bereits die Dämmerung wieder einsetzen. Ein paar Wochen lang wird der Regen mit wenigen Pausen unerbittlich auf die Dächer prasseln.

In den letzten Jahren mochte ich diese Zeit. Es war gemütlich, im Schein der Öllampen beieinander zu sitzen, erfüllt von einer mir früher unbekannten Ruhe. Diese Zufriedenheit mit dem, wie es ist, habe ich erst hier in Finnland kennengelernt.

Doch nun ist alles anders. Die Trauer hat sich ihren Weg gesucht, eine Trauer, so groß und überwältigend, dass ich nicht mit ihr umzugehen weiß. Es hat lange gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass der Verlust meiner Tochter, die ich nie kennenlernen durfte, mich stärker trifft, als ich es gerade verkraften kann.

Zum Glück habe ich Leonie. Gestern erst hat siemeine Schicht übernommen und ist mit Tatze im Boot zum Laden gefahren, um die Einkäufe zu erledigen. Die beiden haben sich in dicke gelbe Regenjacken gehüllt, die Kapuzen über die Köpfe gezogen. Sie haben herumgealbert und gelacht, aber ich weiß, dass sie die Show mir zuliebe abziehen. Sie wollen mir zeigen, dass das Leben weiter geht.

Ja, mein Leben geht weiter, aber das meiner Tochter nicht. Tilda wollten wir sie nennen. Jetzt wäre sie vier Jahre alt und würde quasseln wie ein Wasserfall. Sie würde gerne Eis essen und ins Schwimmbad gehen. Abends würde ich ihr Astrid-Lindgren-Geschichten vorlesen. Ich würde sie in heile Welten entführen, die es nicht gibt. Der Beweis dafür ist der Konjunktiv: würde, würde, würde. Wir werden es nie erleben.

Lange Zeit habe ich alle Gedanken an meine Tochter weggeschlossen. Ich habe mich mit anderen Dingen, anderen Menschen und ihren Problemen beschäftigt, bis Leonie kam und in mir die Schutzmauer, die ich so lange und sorgsam aufgebaut hatte, zusammenbrach.

Auf dem Hof erscheint Su und reißt mich aus den Gedanken. Im Gehen winkt sie mir zu und ich habe das Gefühl, ich müsse all meine Kräfte zusammennehmen, nur um die Hand zu heben. Sie hält einen Moment inne und bedeutet mir mit einer Geste, dass sie hoch kommt.

Es trappelt auf der Treppe, dann steht sie auch schon neben mir und ohne etwas zu sagen, schauen wir gemeinsam auf das immer gleiche und immer neue Muster der Regentropfen auf der Wasseroberfläche. Schließlich seufzt sie: „Dieser November macht mich fertig.”

Seit Bettina weg ist, hat sich Su verändert. Ich kann verstehen, dass Bettina es nicht mit ihr ausgehalten hat. Als Therapeutin muss es schwer gewesen sein, Sus verschlossene Art zu ertragen. Wenn die Sozialpädagoginnen im Knast mal Zeit hatten, wollten sie immer über meine Gefühle reden. Das hat Su nie gemacht. Sie organisiert alles super hier und beobachtet die Gruppe sehr genau, aber bei unserem Gefühlskram hat sie sich immer rausgehalten.

Nun ist Su weicher geworden, aber auch weniger aufmerksam. Manchmal ist sie ganz in sich gekehrt, so auch jetzt. Nach einer Weile atmet sie tief durch und ich spüre ihren Blick auf mir ruhen. Dann legt sie einen Arm um mich. Ich fühle mich ganz steif. Mein Körper spürt Sus Arm, der meine Schulter umfasst. Mein Geist ist weit entfernt.

„Mia, ich mache mir Sorgen.” Ich bleibe versteinert. „Hörst du mir zu? So geht es doch nicht weiter!” Ihre Stimme dringt in mein Ohr, aber ihre Worte prallen von mir ab. Dann zieht sie mich zu sich und ich verliere die Balance, außen wie innen, lasse mich in ihren Arm fallen und beginne zu weinen. Sie wartet und hält mich fest, bis ich ausgetrocknet bin. In mir ist noch so viel Trauer, doch die Tränen sind leer.

Su Wieder mal ein Scheiß-Tag. Seit wann besteht mein Leben aus Scheiß-Tagen? Einfache Frage, einfache Antwort: Seit Bettina fort ist. Nach unserem Streit habe ich kein Wort mit ihr geredet, sie nicht angerufen und ihr nicht geschrieben. Irgendwann bin ich zu ihr gefahren und als ich kein Boot am Steg sah, habe ich dort angelegt und bin um das Häuschen herum gegangen. Alles war verriegelt und durch einen Spalt zwischen den geschlossenen Vorhängen konnte ich sehen, dass es bis auf die Möbel leer geräumt war.

Sie war geflogen und ich hatte die Chance vertan, mich mit ihr zu versöhnen. Ich habe gelesen, dass Menschen an ihrem Lebensabend oft bereuen, bestimmte Dinge nicht getan zu haben. Viel seltener ärgern sie sich darüber, etwas getan zu haben, was sie besser gelassen hätten. Auch ich sollte mutiger sein. Vielleicht ist jetzt der Moment, damit anzufangen.

Ich gieße mir ein Glas Wein ein und nehme mein Handy. Bettinas Nummer habe ich gelöscht, aber ich kann sie auswendig. Ich tippe sie ein und wähle dann "Nachricht schreiben".

Plötzlich erscheint ihr Profilbild auf meinem Display und ich erschrecke mich, weil ich nicht damit gerechnet habe. Ich tippe es an und sehe sie nun größer: Ihre Haare stehen in einer wilden Mähne vom Kopf ab, so, wie ich sie kenne, allerdings haben sie einen anderen Farbton. Es ist nur eine Nuance, aber es reicht, um mir zu verdeutlichen, wie weit sie weg ist. Es ist ein liebevoller Blick, der mir da entgegenstrahlt und einen Moment lang wird mir warm ums Herz. Dann fällt mir auf, dass dieser Blick nicht mir gilt, sondern der Fotografin und ich erschrecke.

Schnell schließe ich die App und lege das Handy beiseite. Was, wenn sie bereits eine Neue hat? Ich bin überrascht, wie sehr mir dieser Gedanke einen Stich versetzt. Es kann mir doch egal sein. Bettina ist weg und darüber sollte ich froh sein. Ihr Einmischen ging mir doch total auf den Nerv.

Nachdem ich einen Schluck getrunken habe, nehme ich das Handy wieder zur Hand. Es geht ja nicht um mich, sondern um Mia. Seit zwei Monaten sehe ich nun zu, wie es ihr immer schlechter geht. Sie ist in sich gekehrt und hat abgenommen. Diese Woche ist sie nicht einmal bei der Vollversammlung erschienen und das will wirklich was heißen.

Ich öffne die App und bevor ich es mir anders überlegen kann, habe ich eine kurze Nachricht an Bettina abgeschickt. Ich brauche deine Hilfe.

Ich starre den Satz an und merke, wie untypisch er für mich ist. Ich bitte um Hilfe. Es fällt mir so schwer und doch weiß ich, dass es richtig ist. Als endlich die Antwort kommt, habe ich mir gerade den letzten Schluck aus der Flasche eingeschenkt und zum zehnten Mal bereut, dass ich geschrieben habe. Hastig greife ich zum Handy und werfe dabei fast mein Glas um.

Hallo Su. Schön, dass du dich meldest. Was ist los? Ich muss lächeln, freue mich über ihre Worte, ohne zu wissen warum. Rasch tippe ich: Entschuldige, dass ich dich so überfalle. Wie geht es dir? Ich mache mir Sorgen um Mia. Die Zeit bis zur Antwort erscheint mir ewig. Ich bin wieder einigermaßen gelandet. Es ist alles wie zuvor. Nur ich bin nicht mehr die Selbe. Ein Zwinkersmiley schmückt die Nachricht. Er scheint mir eine versteckte Botschaft zuzusenden, die ich aber nicht entschlüsseln kann. Bevor ich antworte, erscheint schon eine zweite Nachricht: Mia geht es schlecht? Was ist los?

Froh, nicht mehr das Geheimnis des Zwinkerers lüften zu müssen, schreibe ich Bettina, wie Mia sich in den letzten Wochen verhalten hat. Zum Schluss tippe ich: Sie könnte dich jetzt hier brauchen. Doch den Satz lösche ich wieder, bevor ich alles abschicke. Dann nehme ich mein Glas und stelle mich einen Moment ans Fenster. Der Regen prasselt wieder einmal gegen die Scheibe. Die Tropfen vereinen sich beim Hinablaufen.

Die Antwort von Bettina ist lang. Es geht darin um Stabilisierung, einen sicheren Ort, um Dissoziation und Imaginationsübungen. Zuletzt schreibt sie, dass es sich sehr so anhört, als könne Mia eine Therapeutin gebrauchen. Schade, dass ich nicht mehr da bin.

Ich blicke nur auf den letzten Satz, fühle mich hin und her gerissen. Ich will nicht, dass Bettina zurückkommt. Hoffentlich tut sie es trotzdem. Ich schüttele den Kopf und schreibe ein Danke! zurück. Obwohl ich es mit einem lächelnden Smiley versehe, erscheint mir diese Antwort nichtig im Vergleich mit den Gefühlen, die mich durchfluten.

Als ich im Bett liege, denke ich, dass ich übertrieben reagiert habe. Es ging nur um Mia. Ich lese den therapeutischen Kram noch einmal und frage mich, ob ich so etwas umsetzen könnte. Es zu probieren schadet wohl nicht.

Mia Tiere helfen immer noch. Im Stall ist es eng geworden. Draußen ist es so kalt und nass, dass alle Hühner, Ziegen und meine Lieblinge, die Pferde Lasse und Bosse, sich hier drinnen aufhalten. Die Ziegen in einer Ecke, die Pferde in einer anderen. Die haben wohl noch nie von Inklusion gehört, denke ich und muss lächeln.

Heute ist ein guter Tag. Auch die gibt es. Ich bin zwar nachts ein paar Mal aufgewacht, doch ich konnte jedesmal bald wieder einschlafen. Leo war da und hat mich schlaftrunken gestreichelt.

Heute Vormittag habe ich Stalldienst und das klappt gut. Lucie redet wie immer ohne Punkt und Komma. Sie lenkt mich ab. Sie hält mich in der Welt.

Gerade holt sie uns einen Tee und während dessen genieße ich es, mit den Tieren alleine zu sein. Ich stelle mich dicht neben Lasse, sauge seinen Duft ein und spüre die Wärme seines Körpers.

Als Lucie zurückkommt, setzen wir uns ins frische Stroh im Kaninchenstall und die Kleinen hüpfen uns über die Beine und kommen neugierig schnuppernd näher. Himmelblau, ein schwarz-weiß geflecktes Kaninchen mit besonders großer Neugier, kommt mir fast auf den Schoß gekrabbelt und stupst mit der Nase an die heiße Tasse, um dann schnell wegzuflitzen. Lucie und ich müssen lachen.

„Als Kind hatte ich auch ein schwarz-weißes Kaninchen”, erzählt Lucie und während sie von ihrem Cäsar berichtet, stelle ich sie mir als Kind vor, ihr Kaninchen auf dem Schoß. Dann wird ihr Gesicht zu einem anderen. Ich habe es nie gesehen, doch die Vorstellung von meiner Tochter Tilda in der Mitte einer Hasenfamilie ist glasklar.

Und plötzlich kommt die Trauer, als schlügen Wellen über mir zusammen. Ich lasse meine Tasse fallen und der Tee fließt ins frische Stroh. Ich vergrabe meinen Kopf in den Armen. Eben war alles gut und plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich nicht mehr in der Lage, dieses Leben zu führen.

Lucie legt ihre Arme um mich. Sie quasselt was vom Tee und nassen Stroh und dass alles gar nicht so schlimm sei. Mein Körper wird steif in ihren Armen. Es dauert eine Weile, dann steht Lucie auf und geht. Ich bleibe alleine mit meinen Gedanken. Sie kommen mir fremd vor. "Ohne Bezug zu meinen Gefühlen" denke ich und dann "welche Gefühle überhaupt?" In mir Leere.

Kurze Zeit später kommt Su. Sie setzt sich neben mich ins Stroh. Nach einer Weile fragt sie: „Willst du wieder hier sein?” Ich weiß genau, was sie meint. Meine Gedanken sind da. Sie sind klar und ich merke, was um mich herum passiert. Aber meine Gefühle fehlen. Es ist, als seien sie auf einem Ausflug, vielleicht zum Grund des Sees. Ja, ich will gerne wieder da sein.

Ich nicke. Su richtet sich etwas auf und hüstelt merkwürdig. Dann sagt sie: „Nenne vier Dinge hier im Stall, die gelb sind.” Irritiert schaue ich auf. Su blickt unsicher. Ich verstehe nicht, was sie will, aber mein Blick fängt bereits an zu suchen. Das Stroh, die Regenjacke, der Hufkratzer, meine Socken. Dann höre ich Sus Stimme: „Ach, vergiss es. War nur so ein Versuch.” Und ich antworte: „Das Stroh, die Regenjacke, der Hufkratzer, meine Socken", ohne zu wissen warum.

Su schweigt nur einen kurzen Moment und sagt dann: „Jetzt nochmal drei andere Sachen, die gelb sind.” Ich schaue mich um, beginne mich zu drehen und zähle auf: „Die leere Tüte dort in der Ecke, deine Armbanduhr, die Schrift auf dem Futtersack." Mit festerer Stimme fordert sie mich auf: „Noch zwei gelbe Sachen.” So viele gelbe Dinge gibt es hier im Stall nicht. Das ist schwer.

„Zählen die Füße von den Hühnern?”, frage ich und deute auf die blassgelblichen Krallen von Lotte, die mir am nächsten sitzt.

Su nickt. „Dann die Krallen von Lotte und die von Brunhilde.” Su sieht mich gespielt streng an: „Du schummelst! Na gut, noch eine Sache – keine Hühnerfüße!” Ich drehe mich hin und her, aber so sehr ich auch suche, ich kann nichts Gelbes mehr entdecken. Schließlich muss ich lachen: „Die Punkte auf meiner Unterhose!” Ich ziehe sie ein kleines Stück unter meinen vielen Kleiderschichten hervor und wir grinsen uns an.

Das Spiel geht noch weiter. Als nächstes braun, was leicht ist, dann grün und schließlich kapituliere ich bei blau. Doch das ist mittlerweile egal. Ich bin wieder da. Ich streichele die Kaninchen und sehe Su in die Augen: „Wie funktioniert das?” Doch die zuckt mit den Schultern. Dann erzählt sie mir, dass ihr Bettina diese und ein paar andere Ideen geschickt hat.

Obwohl ich weiß, dass es mich nichts angeht, sage ich überrascht: „Ihr habt Kontakt?” Su nickt und grinst dabei, wie es nur Verliebte tun. Soso. Ich muss ebenfalls lächeln. Verliebt zu sein ist ein wunderbares Gefühl! Su steht auf und klopft sich das Stroh von der Hose. Dann wuschelt sie mir durch die Haare und verlässt den Stall. Therapeutische Spielchen und Haarewuscheln – Su hat sich wirklich verändert.

Ich gehe zu Lasse und schnappe mir eine Kardätsche. Der Arme ist ganz schlammverkrustet. Ich kann richtig sehen, wie sehr er die Massage mit der Bürste genießt. Während ich mich vom Hals zum Po vorarbeite, muss ich daran denken, wie verknallt ich war, als ich Leo kennenlernte.

Ein halbes Jahr ist es her, dass sie hier auf dem Hof aus dem Wagen stieg. Allen blieb die Luft weg, als sie wegen der blonden Mähne, der kräftigen Figur und den schwarzen Klamotten Kristina zu erkennen glaubten. Mit der hatten wir nicht gerade das gehabt, was man eine gute Zeit nennt. Erst als mit einer Kopfbewegung ihre Haare zur Seite fielen, sahen wir, dass sie es gar nicht war. Alle standen wie versteinert um sie herum und keine sagte einen Ton.

Später habe ich Leo dann auf ihr Zimmer gebracht, wo sie hinter sich die Tür zuknallte. Sie tat mir leid, so einsam in der Fremde und dann solch ein Empfang. Ich nahm mir vor, mich um sie zu kümmern.

Am nächsten Abend hat sie einen Wutanfall bekommen. Ich erinnere mich gar nicht mehr, warum. Auf jeden Fall rannte sie hinaus in den nächtlichen Wald. Gemeinsam mit Su wartete ich auf dem Hof. Mein Herz schlug mir gegen die Brust und ich überraschte mich bei dem Gedanken: „Lass ihr nichts passiert sein! Nicht ausgerechnet ihr.” Als ihre Konturen aus der Dunkelheit auftauchten, traten mir vor Erleichterung Tränen in die Augen. Ich musste mich zurückhalten, um nicht zu ihr zu rennen.

Dann habe ich sie umarmt, um sie zu wärmen. Es war das erste Mal, dass ich ihren Körper gerochen habe. Sie hat einen ganz eigenen Geruch, den ich nicht in Worte fassen kann und den ich noch heute an ihr liebe.

Ich habe sie ins Bett gebracht und mich einfach neben sie gelegt. Sie muss mich für total bescheuert gehalten haben, aber ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Irgendetwas hat mich sofort in ihren Bann gezogen.

Ich habe später, als Leo und ich ein Paar waren, mit Tatze darüber gesprochen. Sie hat nur gelacht. „Na klar, dein Lesben-Radar ist angesprungen. Ich habe auch gleich gedacht, dass sie wahrscheinlich lesbisch ist, mindestens aber bi. Sie hat so eine Art sich zu bewegen, wie sie geht, steht, sitzt. Und du warst eben ausgehungert!”

Nicht sehr romantisch, diese Sichtweise, aber vielleicht ist etwas dran. Auf meine Annäherungsversuche ist Leo nicht wirklich eingestiegen und es gab eine Zeit, in der die Anziehungskraft abnahm.

Ich denke gerne daran zurück, wie sich Leo den Pferden annäherte. Zuerst blieb sie auf Abstand, aber jedes Mal traute sie sich ein wenig näher heran, bis sie sich schließlich ziemlich ungeschickt in den Sattel schwang und wir einen wunderschönen Ausritt wagten.

Ich merkte, dass ich mit ihr anders reden konnte als mit den anderen. Die Gespräche gingen mir nah und mein anfängliches Interesse keimte intensiver wieder auf als zu Beginn.

Einmal machten wir einen Ausflug mit dem Boot zu einer kleinen Insel. Fast hätte ich sie geküsst. Fast. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass sie nicht mehr von mir wollte und ich traute mich nicht. Ich dachte auch zum ersten Mal darüber nach, ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen. Doch mir fehlten die Worte. Ich hatte nie davon gesprochen.

Ich fürchte, ich habe mich in dieser Zeit ziemlich um mich selbst gedreht, um meine Verliebtheit und um die Frage, ob Leo nicht doch vielleicht mehr als Freundschaft für mich empfand. Oft saß ich auf meinem Bett, grübelnd oder träumend, das vertraute Klappern ihrer Schreibmaschine im Hintergrund. Dabei übersah ich völlig, dass ihre Unzufriedenheit mit der Situation als Gefangene sich nur scheinbar gelegt hatte.

Als sie eines Morgens mit den Booten verschwunden war, brach alles aus mir heraus. Ich war verzweifelt vor Sorge und erzählte Tatze heulend, was ich wirklich für Leo empfand. Ihr trockenes „Ich weiß” und ihr mitfühlendes Schulterklopfen ließen mir den Mund offen stehen. Als sie mir dann auch noch offenbarte, dass sie durchaus der Meinung sei, dass meine Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten, hätte ich ihr am liebsten den Hals umgedreht!

Sie erklärte, sie hätte mehrmals versucht, mich darauf anzusprechen, aber ich hätte jedesmal "dicht gemacht".

Die nächsten zwei Tage, in denen Leo verschwunden blieb, waren der Horror. Ich erinnere mich so daran, wie man sich morgens an einen Albtraum erinnert. Die Details verschwimmen und die Zeit verliert ihre Kontinuität, aber der Schrecken ist präsent.

Schließlich dann ein Anruf: Leonie sei mit Su unterwegs zurück zum Hof, stark unterkühlt und mit einem verknacksten Fuß, aber sonst wohlbehalten. Ich wich nicht mehr von ihrer Seite. Das Fieber kam und ging und ich saß neben ihr und schickte jede weg, die mich ablösen wollte. Ich weinte und redete mit ihr, während sie schlief. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte. Das alles weiß Leo bis heute nicht.

Als sie zum ersten Mal die Augen aufschlug, ohne dass sie fiebrig glänzten und ihr nun klarer Blick auf mir ruhte, war ich hin und her gerissen. Am liebsten hätte ich sie einfach geküsst, aber ich hatte Angst vor ihrer Reaktion.

Dann hob sie ihre Bettdecke an, eine Einladung, die meine Hormone verrückt spielen ließ. Ich konnte nicht anders. Als ich ihren warmen, weichen Körper spürte, ihre Rundungen, ihre Brüste, da musste ich sie küssen. Zuerst ganz sacht auf die Schläfe. Ich sah ihr Lächeln in den Mundwinkeln und wurde mutiger.

In diesem Moment hätte ich am liebsten alles gleichzeitig getan: gelacht, geheult, gesungen, getanzt und die Welt umarmt. Ich konnte mein Glück kaum fassen und so geht es mir bis heute.

Immer wieder haben wir solche vollkommenen Momente, in denen es nur uns zwei gibt. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Keine Fragen, keine Unklarheiten.

Tilda im Süden

Der Teil von Tildas Energie, der gen Süden stob, war der wildeste. Er raste dahin und nahm immer weiter an Fahrt auf. Die Häuser der Stadt mit ihren vielen Menschen, den dicht verwobenen Bändern ihrer Seelen, ließ er rasch hinter sich. Tilda schoss über Felder, Wiesen und Wälder hinweg. An einem See stob sie Wasser spritzend in die Tiefe, glitt durch Schilf, an Fischen vorbei bis zur unbelebten Mitte und weiter am Steilufer der anderen Seite empor. Einmal ahnte sie die fliehende Seele eines Käfers, doch ihr brennendes, rasendes Ich passte nicht in seine kleine, langsame Hülle.

Und so setzte sie ihre Reise ohne Pause fort. Hohe Berge wirbelte sie hinauf und stürzte dann zu den Dörfern, die tief in den Tälern lagen. Die Sprache der Menschen veränderte sich, doch die Gesänge ihrer Seelen blieben gleich.

In der Nacht überquerte Tilda die Spitzen schneebedeckter Gebirgsketten. Hier war kaum ein Lebewesen und ein paar Momente verharrte sie aufatmend in der Stille der Nacht und Einsamkeit. Doch dann spürte sie, dass ihre Zeit begrenzt war.

Sie musste sich beeilen, wollte sie eine neue Heimat finden.

Also ließ sie sich in die Tiefe des nächsten Tales hinabgleiten. Ein türkisfarbener See blitzte im ersten Licht der Sonne, spiegelglatt seine Oberfläche. Nur auf der anderen Seite hatte etwas das Wasser in Bewegung gebracht und von dort zogen sich immer größere Kreise über den See. Wie in einem magnetischen Feld wurde Tilda vom Mittelpunkt angezogen und als sie dort eintraf, sah sie den leblosen, seelenlosen Körper einer Jugendlichen mit dem Gesicht nach unten treiben. Ein Schrei zerriss die morgendliche Ruhe und kurz bevor sie den Körper erreichte, stürzte sich eine Frau ins Wasser und riss ihn an sich.

Tilda schlüpfte in dem Moment in das Mädchen, als deren Mutter mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begann. Sie spürte, wie frische Luft ihre Lungen füllten, die sich im Takt der fremden Atmung weiteten und wieder zusammenfielen. Das Blut begann, angereichert mit Sauerstoff, ihre Bahnen zu durchfließen. Mit ihm floss auch ihre Seele in die einzelnen Zellen ihres neuen Körpers, erkundete die Organe und Extremitäten.

Ihre erste Aufgabe war das Überleben. Es kostete sie all ihre Energie, ihren neuen Körper davon zu überzeugen, dass seine Zeit noch nicht vorbei sei, sie ihn brauchte, er eine zweite Chance bekam. Sie hörte die Sirenen und spürte die Menschen um sich. Sie hauchten ihr mehr Sauerstoff ein und ließen ihr Blut zirkulieren. Mit letzter Kraft schoss sie ins Herz und brüllte ihm zu, es solle schlagen. „Ich brauche dich! Du wirst noch Jahre lang schlagen und vieles erleben, Freude und Leid, wenn du mir jetzt vertraust!" Da tat das Herz einen ersten zaghaften Schlag. Und der Brustkorb öffnete sich und füllte die Lungen nun selbst mit Luft. Tilda spürte die vor Erregung zitternde Energie der Seelen um sich herum und sie schlüpfte in die Augen und öffnete sie.

Su Als ich Mia im Stall zurücklasse, gehe ich ohne Umwege in meine Wohnung und hole mein Handy hervor. Ich halte es in der Hand, als hätte ich entdeckt, dass es zaubern kann. Ich muss sofort Bettina davon berichten, was eben passiert ist.

Als ich den Chat öffne und ihr Profilbild sehe, merke ich, dass ich zögere. Was macht es für einen Eindruck, wenn ich gleich am nächsten Tag begeistert ... ach, scheiß drauf. In überschwänglichen Worten schildere ich die Reaktion, die diese "komische Übung", wie ich es weiterhin nenne, auf Mia hatte. Zurück kommt ein lachender und ein zwinkernder Smiley.

Dann erscheinen die Worte Ich vermisse dich auf dem Display. Ich bin überrascht – von mir selbst, denn ich habe diese Zeile versendet.

Meine Hände fangen an leicht zu zittern und ich trete ans Fenster und lege sie flach ans kühle Glas, um sie zu beruhigen. Draußen wird es schon wieder dunkel. Die Tage sind kurz geworden.

Obwohl ich nur darauf gewartet habe, lässt mich das Vibrieren des Handys so stark zusammen zucken, dass ich es fallen lasse. Dann lese ich Ich vermisse dich auch. Es ist so schön von dir zu hören!

Ich drücke das Gerät an meine Brust und spüre eine Glückswelle durch meinen Körper schießen. Was passiert hier mit mir?

Ein weiteres Vibrieren und Bettina bietet an, mal mit Mia zu telefonieren. Vielleicht kann sie helfen, obwohl sie nun so weit weg ist. Einen Augenblick, kurz wie ein Wimpernschlag, bin ich eifersüchtig. Warum will sie nicht mit mir telefonieren, doch dann antworte ich, dass es ja nicht schaden könne. Ein letzter Nachrichtenaustausch darüber, dass sie nun zum Sport geht und ich auch noch eine Menge zu tun habe, was nicht der Wahrheit entspricht und schon ist unser Austausch beendet.