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Beschreibung

Ob auf Reisen oder zu Haus – man ist besser nicht dort, wo der Mord geschieht! Szenenwechsel inspirieren gerne zu Verbrechen. Denn was hier und heute noch harmonisch und sicher erscheint, stellt sich am nächsten Tag oder an einem neuen Ort plötzlich in ganz anderem Licht dar: Mit einem Mal ist Liebe in Hass, Freundschaft in Rache umgeschlagen. Wer heute den Schauplatz wechselt, kann vielleicht damit morgen schon ein Alibi für den nächsten Tatort aufweisen.Und wenn die Gefühle stark genug sind, lässt sich der Rest schon planen… Spannend, überraschend, gekonnt und voller Nervenkitzel sind die Krimigeschichten, die Newcomer und bekannte Autorinnen und Autoren geschrieben haben – die besten 25 Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2014

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Seitenzahl: 312

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Heute hier, morgen Mord

Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2014

Herausgegeben von Cordelia Borchardt und Sabine Thomas

FISCHER E-Books

Inhalt

»Seit Lucrezia Borgia bin [...]Kleinmann befreit sichBühne freiBad HerzenwerderErbsündeRikscha bitte!Das dreckige SchweinUnzurechnungsfähigFrostDumm gelaufenHome, sweet HomeGefährlicher MutterinstinktSie tanzt in den WellenUnaussprechlichMein allererster KrimiMordsmascheMord in WeißDer Müsli-MordMissbrauchte HändeAmnesieUnterwegs mit HenriVerdächtigIn meinem Herzen bin ich RockerEndstationFliederfleischViva Las VegasAgatha-Christie-Krimipreis 2014

»Seit Lucrezia Borgia bin ich die Frau,

die am meisten Menschen umgebracht hat,

allerdings mit der Schreibmaschine.«

Agatha Christie

Vor über 60 Jahren erschienen bei Scherz die ersten Taschenbücher des deutschsprachigen Buchmarkts: 1943 kreierte Alfred Scherz die berühmte Krimireihe mit den drei Streifen – mit Büchern der »Queen of Crime« Agatha Christie. Aus diesem Anlass schrieb der Scherz Verlag 2003 erstmals den Agatha-Christie-Krimipreis aus. Er wird verliehen für die besten deutschsprachigen Kurzkrimis. Inzwischen erscheint das Werk von Agatha Christie auch im Fischer Taschenbuch Verlag, der deshalb zusammen mit dem Krimifestival München und der Buchhandelskette Hugendubel die Ausschreibung übernahm. Hier sind sie: die Gewinner und alle Nominierten des Agatha-Christie-Krimipreises 2014.

Die Jury:

Dr. Cordelia Borchardt, Lektorin für die Verlage Krüger, Scherz und Fischer Taschenbuch

Andreas Hoh, Geschäftsführer des Krimifestivals München

Nina Hugendubel, Leiterin der gleichnamigen Buchhandelskette

Jörg Maurer, zweifacher Gewinner des Agatha-Christie-Krimipreises und Bestseller-Autor

ERSTER PREIS

Kleinmann befreit sich

Peter Joerg

Jetzt war es zu spät. Wenn er jetzt wieder aufstand, würden sich alle Augen auf ihn richten. Die Wucht der Blicke würde ihn noch vor dem ersten Schritt auf die Holzbank zurückwerfen. Undenkbar, es quer durch den Sitzkreis zu dem anderen noch freien Platz gegenüber zu schaffen. Er lugte über seine Schulter. Der Gekreuzigte hing direkt über ihm an der Wand. Blut quoll unter den Dornen hervor. Es sah echt aus. Kleinmann rutschte unwillkürlich an die Vorderkante der Bank, um nichts abzubekommen. Er musterte die anderen. Niemand sprach laut. Er spürte das Kruzifix wie eine wunde Stelle im Nacken. Morgen würde er sich einen anderen Platz suchen. Nein, hier wollte er ehrlich zu sich sein: Er hatte seinen Platz gewählt, er würde damit leben.

Der Meister kam herein. Er trug eine schwarze Robe. Sein Schädel war kahl, sein Bart weiß, sein Gesicht nicht freundlich. Kleinmanns Unsicherheit wuchs. Stille spannte sich im Kreis. Der Meister schritt mühelos hindurch. Er schloss die Lücke gegenüber von Kleinmann. Damit war das Thema Platzwahl erledigt. Der Meister begrüßte die Teilnehmer und führte die Neulinge in das Zazen ein. Kleinmann verspürte den Drang, mitzuschreiben. Am Ende gab der Meister ein Thema für das Sesshin aus: Die Suche nach dem freien Ich.

Mit dem Abendessen im Refektorium des Klosters begann das Schweigen. Die Lautstärke und Rücksichtslosigkeit, mit der manche Ich-Suchende aßen, erschütterte Kleinmann. Er belegte sein Brot mit Käse. Er mochte keinen Käse, aber Wurstaufschnitt gab es nicht. Nach dem Essen ging Kleinmann auf sein Zimmer. Darin standen ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl. Die Wände waren gekalkt, das Bett war weiß bezogen. Ein schmales Holzkreuz über der Tür störte die perfekte Leere des Raums. Das Fenster ging auf den Klosterhof hinaus. Er konnte die Berge nicht sehen, aber der Himmel dämmerte eifelgrau.

Kleinmann packte aus und räumte seine Sachen in den Schrank, auch die Reisetasche. Er zog sich aus. Die Schuhe stellte er unter den Stuhl, die Kleider hängte er über die Lehne. In Unterwäsche schlüpfte er ins Bett. Die Decke fühlte sich klamm an. Er lag regungslos. Die Verbrühung auf seinem Handrücken juckte unter dem Verband. Er wollte nicht an Karla denken. Er stand wieder auf, nahm seine Kleider vom Stuhl, hob die Schuhe auf und verstaute alles im Schrank. Dann legte er sich wieder hin, auf den Rücken, ganz gerade. So war es besser.

Ein anschwellendes, blechernes Tönen riss ihn aus dem Schlaf. Es war noch dunkel. Er hatte es sich schöner vorgestellt, von einem Gong geweckt zu werden. Er sprang auf, zog sich rasch an. Trotzdem war er der Letzte auf dem Gang. Hatten die anderen in ihren Kleidern geschlafen?

Auch die Meditation begann mit einem Gong. Viele knieten im Seiza, dem Fersensitz, auf ihrem eigenen Kissen. Kleinmann hatte kein Kissen. Er konnte auch nicht knien. Er saß auf der breiten Holzbank, die Füße auf dem Boden, den blutenden Jesus im Nacken, die Augen halb geschlossen. Seine Lider zitterten. Er schloss sie ganz. Er betrachtete den Fluss seines Atems, seiner Empfindungen und Gedanken. Der Mann neben ihm atmete lauter und brachte Kleinmann aus dem Rhythmus. Er ärgerte sich und sah Karlas verächtliches Lächeln vor sich. Er öffnete seine Augen. Jeder im Raum war hochkonzentriert, der Meister eine Statue achtsamer Stille. Kleinmann versuchte es erneut. Als der Gong die Stunde beendete, war Kleinmann sicher, dass keiner so gründlich versagt hatte wie er.

Nach dem Frühstück, wieder in wortlosem Lärm, stand für alle Samu an, meditative Arbeit. Kleinmann hatte sich für die Küche gemeldet. Eine riesige Schüssel voller Kartoffeln stand zwischen ihm und einer Frau. Er hasste Küchenarbeit, aber er war geübt darin. Er schälte schnell und sauber. Die Frau lächelte ihn an. Sie war nur halb so alt wie er. Er mochte ihr Lächeln nicht. Sie nahm eine Kartoffel, die er geschält hatte, wieder aus dem Kessel und entfernte ein Auge, das er übersehen hatte. Sie lächelte die ganze Zeit. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, rollte wie ein Welle über ihn hinweg. Er wollte sorgfältiger arbeiten. Das klappte nicht, es klappte nie, er wurde nur fahrig. Die Frau fand weitere Makel. Er zeigte Gleichmut. Sie glaubte ihm nicht, das sah er.

Das meditative Gehen im Klosterhof gefiel Kleinmann. Die Herbstluft schmeckte würziger als das Mittagessen. Danach saßen sie wieder. Seine Augen machte er gleich ganz zu. In seinem Nacken kribbelte das Kreuz. Seine Wunde juckte. Er lenkte seine Konzentration auf seine Atemzüge. Er zählte sie. Er passte sich dem Rhythmus seines Nachbarn an. Er suchte seinen eigenen Rhythmus. Er ließ seine Gedanken vorbeifließen. Er zählte sie. Er ignorierte seine Gedanken. Er gab auf und öffnete die Augen. Erschöpft ließ er seinen Blick schweifen. Wieder war er der einzige Versager. Er wünschte sich einen Fernseher mit Fernbedienung. Er fand ein Gemälde. Es war noch blutrünstiger als das Kruzifix. Der Zen-Meister saß direkt darunter, aber er war Lichtjahre von all dem Blut entfernt.

Kleinmann betrachtete das Bild. Eine üppige, junge Frau in einem golden schimmernden Kleid schnitt einem bärtigen Mann die Kehle durch. Sie hatte Hilfe von einer zweiten, einfach gekleideten Frau, die halb auf dem Bärtigen kniete und ihn auf sein Bett niederdrückte. Der Mann war nackt, nur bedeckt von einer samtenen Decke. Die Frauen hatten ihn im Schlaf überrascht. Seine Gegenwehr erlahmte in diesem Augenblick. Die Üppige hielt seinen Kopf mit kräftiger Hand fest an Haar und Bart gepackt. Mit der anderen Hand hatte sie ihr kurzes Schwert schon halb durch seinen Hals getrieben, und sie sah nicht aus, als wollte sie aufhören. Sie würde den Kopf abtrennen, Kleinmann war sicher. Sie arbeitete mit ausgestreckten Armen, um ihr Kleid zu schonen. Das Blut schoss in Strahlen aus der Wunde, das zerwühlte Laken war durchtränkt. Beide Frauen wirkten sachlich und konzentriert. Kleinmann schloss seine Augen wieder. Er atmete ein und aus. Nach dem siebzehnten Atemzug ertönte der Gong.

In der Nacht wanderten die Mörderinnen durch seine Träume. Er wollte Sex mit der Dicken, erwachte aber vorher mit schlechtem Gewissen und schlief nicht wieder ein. Den ganzen Tag war er müde. Beim Zazen machte er viele Pausen. Seine Augen suchten immer wieder das alte Gemälde. Er wusste nicht, warum. Er hatte keine Ahnung von Kunst, und es gefiel ihm nicht einmal. In der Küche putzte er Gemüse mit der jungen Frau. Wieder besserte sie seine Arbeit nach, wieder lächelte sie die ganze Zeit. Er wurde wütend. Auf das Bild, die Küchenfrau, den Mann, der so laut atmete, auf sich selbst. Warum hatte er keinen anderen Sitzplatz gewählt? Warum hatte er sich Küchenarbeit ausgesucht? Wieso setzte er sich nicht einfach um? Seine Wut hielt ihn abends noch lange wach.

Am nächsten Morgen weckte der Gong ihn aus tiefem, traumlosem Schlaf. Kleinmann trat als einer der Ersten auf den Gang. Er fühlte sich lebendig. Dieses Gefühl hatte er so lange nicht gehabt, dass er es erst nicht erkannte. Dann freute er sich. Das erste Sitzen endete nach 387 Atemzügen. Gut, er hatte gezählt, aber er hatte sich nicht aus dem Rhythmus bringen lassen. Beim Frühstück schmeckte ihm sogar der Käse. In der Küche organisierte er sich eine eigene Schüssel für sein Gemüse. Als die Lächlerin hineingreifen wollte, entzog er sie ihr reaktionsschnell und lächelte zurück. Nach getaner Arbeit überreichte er die Schüssel persönlich der Köchin. Dann ging er sich die Hände waschen.

Auf dem Rückweg von der Toilette kam er wieder an der Küche vorbei. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Die Köchin schnitt seine Möhrenstifte feiner. Als sie ihn bemerkte, lächelte sie. Betäubt folgte Kleinmann den anderen in den Meditationsraum. Als der Gong die Stunde beendete, hatte er nicht einen Atemzug bewusst erlebt. Er hatte die ganze Zeit nur auf das Gemälde gestarrt.

Am Abend fand Kleinmann nicht die Kraft, mit den anderen zu essen. Er kroch in sein Bett. Seine Kleider ließ er liegen, wo er sie sich vom Leib gezerrt hatte. Er drehte sich zur Wand. Karla hatte recht behalten, er war lächerlich. Ein lächerlicher Schlappschwanz. Die Wunde auf dem Handrücken juckte wieder. Auch sie würde bald vernarben. Ob er schneller sein würde, wenn sie ihm das nächste Mal brühend heißen Tee einschenken wollte? Würde sie sich etwas Neues einfallen lassen? Würde sie wieder über ihn lachen? Es wurde dunkel. Kleinmann hörte Zimmertüren auf- und zugehen. Dann wurde es still zwischen den alten Mauern. Bald hörte Kleinmann nur noch seinen eigenen Atem. Mitten in der Nacht stand er auf. Er machte kein Licht. Er streifte Hose und Pulli über, die Schuhe fand er nicht.

Seine Füße waren eiskalt, als er vor das Gemälde trat. Er stellte die Kerze, die er unter einer Marienstatue gefunden hatte, auf die Holzbank. Er kniete nieder, legte seine Hände in den Schoß und betrachtete das Gemälde. Er musterte die Mörderin, begutachtete ihr üppiges Dekolleté, studierte die Miene der Dienerin, die aufgerissenen Augen des Opfers. Er sah sich das Bild an, bis er es nicht mehr sah, bis es nur noch da war, bis er nur noch da war, bis er nur noch saß, von ganzem Herzen. Kleinmann hörte die anderen hereinkommen. Es war nicht wichtig. Dann legte jemand sanft eine Hand auf seine Schulter. Der Meister stand hinter ihm und sagte nur ein Wort: Satori. Kleinmann wusste nicht, was es bedeutete, aber er bemerkte die Ehrfurcht in den Blicken der anderen. Dann sah er, dass es Tag geworden war.

Er verließ das Gästehaus als einer der Letzten. Seine Knie taten höllisch weh. Auf dem Innenhof umarmte ihn die Lächlerin und dankte ihm wortreich unter Tränen. Er verstand nicht, wofür. Andere klopften ihm auf die Schulter oder wollten seine Hand schütteln. Dann war er allein. Er fühlte sich wohl. Auf dem Weg zur Straße kam er am Klosterladen vorbei. Anlässlich des Sesshins war das Schaufenster japanisch dekoriert mit Kalligraphien, Teegeschirr und einem kurzen, leicht gebogenen Schwert. Kleinmann blieb stehen. Er betrachtete das Schaufenster. Dann holte er sein Handy hervor und rief seine Ehefrau an.

»Was willst du?«, schrillte Karlas Stimme in sein Ohr.

»Hallo Liebling. Ich komme mit dem Zug um halb zwei«, sagte Kleinmann.

»Wehe, du störst meinen Mittagsschlaf!«

Sie legte auf. Er blickte zu dem Schwert. Ein kleines Papierschild wies es als Wakizashi aus. Es sah sehr scharf aus. Sie würde im Bett liegen und schlafen. Kleinmann steckte sein Handy wieder ein und ging in den Laden.

Ende

ZWEITER PREIS

Bühne frei

Sarah Geraldine Nisi

Dem toten Fuchs fehlte ein Eckzahn. Von dem Präparator bis in alle Ewigkeit zu einem hämischen Grinsen verdammt, legten die hochgezogenen Lefzen das fehlerhafte Gebiss in aller Schonungslosigkeit frei. Vom Rest seines Körpers getrennt, hing der Fuchskopf über der Eingangstür des »Angel and Crown« in der St. Martins Lane. Die ausgestopften Tiere an den Wänden des Pubs stellten einen irritierenden Kontrast zu dem modernen Parkett aus Nussbaum und den weißen Sprossenfenster dar. »Erlegt 1934« stand in kaum lesbaren Buchstaben auf einem von Rissen durchzogenen Holzschild unter den Kinnhaaren des Fuchses. Marnie starrte in seine trüben Pupillen aus Glas und stellte sich die Augen ihrer Schwester vor. Nicht mehr lange …

Ihre Finger tasteten nach der Ampulle in ihrer Jackentasche. Hart und kalt lag sie in ihrer Hand.

Mit einem Nicken zu dem Fuchs schlenderte sie an der Theke vorbei Richtung Fenster. Von dort hatte sie eine gute Sicht nach draußen: auf den Gehweg und das Noel Coward Theatre auf der anderen Straßenseite. Sie setzte sich auf einen Hocker und versuchte möglichst entspannt zwischen den anderen Besuchern der Kneipe auszusehen. Das »Angel and Crown« war um diese Uhrzeit allerdings nicht voll: Zwei Frauen mit Einkaufstüten saßen gestikulierend in einer Ecke, beide ein gefülltes Pintglas vor sich stehend. Ein Mann Anfang sechzig diskutierte mit dem Kellner an der Bar über die Vorzüge des Tanqueray Gins.

Regentropfen rannen nur wenige Zentimeter an Marnie vorbei, so nah war die Scheibe. Die Sicht war dennoch passabel, wenngleich der Regen sich am Abend in einen leichten Nebel verwandelt hatte. Vereinzelte Touristen waren in den Straßen des Londoner West Ends zu sehen – ihre erschöpften Füße unermüdlich zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt oder in die Restaurants und Theater zwingend.

Theater. Wieder fiel Marnies Blick auf das Noel Coward Theatre gegenüber. Weiße Torbögen umrahmten die mit Schnitzereien verzierten Holztüren, die in das Innere führten. Die Uhr über dem beleuchteten Werbeplakat für die aktuelle Show zeigte kurz nach sechs. Morgen Abend würde eine Premiere stattfinden. Das neue Stück von Phoebe Parker. Die Presse war jetzt schon begeistert. Phoebe hatte den Dreiakter selbst geschrieben. Selbst Regie geführt. Und – große Überraschung: Sie würde sogar die Hauptrolle übernehmen. Das Plakat zeigte Phoebe auf der Bühne, die Arme gen Himmel gehoben, die roten Haare in alle Richtungen abstehend. Es war ihr »Alles oder nichts«-Stück, wie die Zeitungen es nannten. »Parkers Chance für den Durchbruch.« Die Kritiker warteten gespannt, optimistisch. Nur die Ticketverkäufe ließen noch etwas zu wünschen übrig.

Marnies Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken an den Lobgesang über ihre Schwester. Statt ihr, Marnie, die Hauptrolle in dem Stück oder zumindest einen anderen Part zu geben, hatte Phoebe sie lediglich als zweite Besetzung engagiert. Zweite Besetzung! Die eigene Schwester! Angeblich reichte Marnies Repertoire nicht aus. Darüber hatte Marnie nur lachen können – sie hatte die Erfahrung diverser Inszenierungen. Aber jeder Versuch, ihre Schwester zu überzeugen, war gescheitert. Am Ende hatte Marnie die Wahl gehabt zwischen dem Erlernen drei verschiedener Rollen – für den Fall der Erkrankung einer der Schauspielerinnen – oder der Alternative, in der Show überhaupt nicht dabei zu sein. Sie hatte sich für die Zweitbesetzung entschieden und beschlossen ihrem Glück auf die Sprünge zu helfen. Es war an der Zeit, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Diese Hauptrolle würde der Schlüssel dazu sein!

Noch immer umklammerten Marnies Finger die Ampulle. Unter einem Vorwand hatte sie Phoebe ins Pub bestellt, angeblich um die Spannungen der letzen Wochen beizulegen. Und um sie ein wenig vom Schrecken des Vorabends einer jeden Premiere abzulenken. Nun, auf eine gewisse Weise würde sie das tun. Sie musste nur den richtigen Moment abwarten. Geduld war der wichtigste Faktor für das Gelingen ihres Plans. Sie durfte keinesfalls nervös werden und übereilt handeln. Danach würde alles seinen Gang nehmen. Das Verhalten ihrer Schwester war so vorhersehbar wie der Erfolg des Stücks. Marnie wusste: Das Einzige, was Phoebe heute Abend im Kopf haben würde, waren die Ticketverkäufe. Ihr Durchbruch war alles, was zählte. Und Phoebe unterschätzte sie. In allen Belangen. Bereits heute Abend würde Marnie eine perfekte Vorstellung abliefern. Eine Farce; Marnie würde etwas vortäuschen, spielen – genau wie auf der Bühne. Alles war vorbereitet. Später dann würde das Medikament seinen Dienst tun. Phoebes Blutdrucksenker. Überdosiert. Es war verblüffend, wie einfach alles schien.

 

Zwanzig nach sechs. Wie immer war Phoebe zu spät. Marnie hatte es nicht anders erwartet. Sie starrte die Straße hinauf. Vor dem Noel Coward Theatre stand eine Frau mit Turnschuhen und kräftigen Waden, angestrengt auf einen Stadtplan schauend. Der Größe ihrer Fototasche nach zu urteilen, handelte es sich entweder um eine Fotografin oder eine Touristin. Marnie tippte auf Letzteres. Suchend schaute die Dicke sich um. Das Durcheinander an Gassen, Seitenstraßen und Hinterhöfen in Covent Garden war selbst für Alteingesessene eine Herausforderung. Marnie hingegen war das gesamte Londoner West End vertraut. Nicht nur die Architektur betreffend.

»Inspiriert?«

Marnie zuckte zusammen, als wie aus dem Nichts Phoebe neben ihr stand. Statt einer Umarmung zeigte der Finger ihrer Schwester raus auf das Plakat mit ihrem eigenen Konterfei. »Deine Zeit wird noch kommen«, ergänzte Phoebe. Ein gönnerhaftes Lachen.

»Sicher«, sagte Marnie. Phoebe hatte ja keine Ahnung, wie recht sie hatte …

Misstrauisch beobachtete Marnie, wie Phoebe sich setzte, nur um einen Augenblick später aufzuspringen und einen weiteren Barhocker neben den ihren zu ziehen. Marnie spürte Hitze durch ihre Adern schießen. »Was …«

»Für meinen Mantel«, unterbrach Phoebe sie mit der Marotte, ihrem Gegenüber stets bei einer Frage über den Mund zu fahren. Phoebe breitete ihren dunkelroten Tweedmantel über dem Hocker aus. Dann schaute sie Marnie an: »Kannst du glauben, dass es morgen so weit ist?« Sie lächelte. Es wirkte beinahe ehrlich. Doch Phoebes Lächeln war nicht echt. War es nie. Schon gar nicht abseits der Bühne.

 

Eine Stunde später saßen sie noch immer beieinander. Marnie hatte sich Mühe gegeben, so gut sie konnte; hatte die Rolle einer interessierten Schwester gespielt. Hatte mit Phoebe sogar über das Talent der anderen Schauspieler diskutiert. Doch allmählich konnte sie die Gesellschaft ihrer Schwester keine Sekunde länger ertragen.

Bisher hatte sich keine Gelegenheit für die Ampulle ergeben. Und das Pub hatte sich gefüllt. Proportional dazu war auch der Alkoholpegel der Gäste gestiegen. Der Gin trinkende Mann saß inzwischen wenige Meter von ihr und Phoebe entfernt, den Blick auf den Po einer Brünetten geheftet, in seiner Hand ein halbvolles Glas. Für die Menge an Alkohol, die er bereits intus haben musste, hielt er sich erstaunlich gut.

»Schau, der Straßenkehrer«, Phoebe riss Marnie aus ihren Gedanken. Sie zeigte auf die andere Straßenseite, wo ein Bediensteter der Londoner Straßenreinigung mit einer Warnweste bekleidet den Gehweg vor den Türen des Theaters fegte.

»Ja?« Marnie guckte auf den Besen des Mannes und fragte sich, wann der richtige Zeitpunkt kommen würde. Im Weinglas ihrer Schwester war nicht mehr viel. Ein zweites würde Phoebe nicht bestellen.

»Er hat mich erkannt«, stellte Phoebe zufrieden fest, als der Straßenkehrer einen Augenblick lang in ihre Richtung schaute.

»Auf dem Plakat trägst du eine Perücke.« Marnie schüttelte den Kopf. Wie immer bezog Phoebe das Handeln jeder Person auf sich. Ihre Sucht nach Berühmtheit war lächerlich.

»Für die Premiere muss alles perfekt sein«, sagte Phoebe, ohne auf Marnies Einwand einzugehen. Sie hob eine Hand, und für einen Augenblick dachte Marnie, dass sie dem Mann tatsächlich winken wollte. Doch Phoebe griff lediglich nach ihrer Handtasche. »Entschuldige mich einen Moment.« Als Erklärung diente eine Kopfbewegung hinüber zu den Toiletten. Und schon war sie verschwunden.

Marnie blickte Phoebe hinterher, die mit ihrem geraden Gang immer ein wenig an eine Katze erinnerte. Ergebnis einer Tanzausbildung in jungen Jahren. Langsam lehnte Marnie sich nach vorne und zog Phoebes Glas näher zu sich. Es gab nur diese eine Gelegenheit. Sie wartete einen Moment. Ließ ihren Blick über die anderen Gäste schweifen. Doch niemand im Pub schien ihr Beachtung zu schenken – jeder war mit dem eigenen Glas und den Gesprächspartnern beschäftigt. Sie zögerte. Jetzt? Marnie zog die Ampulle hervor. Sie öffnete den Verschluss. Ein letzter Blick zu den toten Augen des Fuchses. Ja. Sekunden später rann die durchsichtige Flüssigkeit in das Glas. Bevor der letzte Tropfen sich mit dem Chardonnay vermischen konnte, schaute Marnie hoch. Und in das Gesicht ihrer Schwester. Phoebe war aus der Tür der Toilettenräume getreten. Jäh zog Marnie ihre Hand zurück.

Die Ampulle glitt ihr aus den Fingern und zerbrach auf den Holzbohlen des Pubs.

* * *

Der Applaus ließ ihr eine wohlige Wärme über den Rücken laufen. Vereinzelt standen Leute auf. Rufe und bewundernde Pfiffe klangen aus dem Publikum. Standing Ovations!

Zum Dank schenkte Phoebe der Zuschauermenge ihr schönstes Lächeln. Durch das dämmrige Licht im Parkett und die auf die Bühne gerichteten Scheinwerfer schienen die Menschen im Publikum unscharf und auf merkwürdige Weise miteinander verbunden. Fast als wären sie aneinandergewachsen. Die rosafarbene Einrichtung war nur im ersten Rang und in den Logen auszumachen. Dort blendete das Licht nicht. Phoebe kniff die Augen zusammen und erkannte den Theaterkritiker des Guardian in der Mitte der dritten Reihe. Er überragte die amorphe Menge selbst im Sitzen um eine ganze Kopflänge. Sie nahm sich vor, ihn demnächst zum Abendessen einzuladen. Es war mal wieder an der Zeit. Kontakte mussten gepflegt werden.

Phoebe verbeugte sich ein zweites Mal. Noch immer klatschte die Menge. Es war laut. Und es fühlte sich gut an. Ausverkauftes Haus. Die Ereignisse des gestrigen Abends hatte den Kartenverkauf wenige Stunden vor der Premiere sprunghaft ansteigen lassen. Mehr konnte man sich nicht wünschen. Der Mordanschlag auf die Regisseurin beziehungsweise Hauptdarstellerin schien einen Effekt auch auf die folgenden Spieltage zu haben. In den letzen zwölf Stunden waren mehr Tickets als in den vergangenen zwei Wochen verkauft worden.

Mit einer Hand winkte Phoebe in den Zuschauerraum. Es fühlte sich noch besser an, als sie gedacht hatte. Wenn die Presse so begeistert war wie das Publikum, würde ihrer Karriere nichts mehr im Wege stehen. Ihre Idee, mehr Wert auf das Mienenspiel und weniger auf den Dialog zu legen, hatte funktioniert. Das West End war hungrig auf etwas Neues.

Sie drehte sich um. Mit einer Kopfbewegung lud sie die anderen Schauspieler hinzu, die hinter einem Vorhang auf der rechten Seite der Bühne standen. In ihren Kostümen strahlten und lachten sie voller Erleichterung über das Gelingen der Show. Sie liefen zu Phoebe; stellten sich hinter ihr in einer Reihe auf.

Phoebe spürte ihren Herzschlag bis in den Hals. Erst jetzt begriff sie, wie perfekt alles geklappt hatte. Sobald Marnie sie für den Vorabend der Show ins Pub eingeladen hatte, war ihr klar gewesen, dass ihre Schwester versuchen würde, sie umzubringen. Als sie dann auch noch einem glücklichen Zufall verdankend in der Garderobe eine Ampulle mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in Marnies Tasche erspäht hatte, war jeder Zweifel aus dem Weg geräumt. Marnies Stolz und die ewige Eifersucht auf Phoebes Erfolg hatten sie keinen anderen Ausweg sehen lassen.

Phoebe lächelte und winkte noch einmal in das Publikum. Ihr Mund war trocken, sie hatte Durst. Dennoch konnte sie nicht genug bekommen. Denn was Marnie nicht beachtet hatte war, dass Phoebe schon immer schlauer, talentierter und vor allem, immer einen Schritt voraus gewesen war. Phoebe hatte gewusst, dass ihr kleines Theaterstück im – stets um Zuschauer konkurrierenden – West End mehr Publicity brauchen würde. Viel mehr. Ihr Stück hatte keine berühmten Schauspieler, Teenie-Idole oder sonstige Kassenmagneten im Cast, mit denen andere Theater in London aufwarten konnten. Heutzutage legten die meisten Theaterbesucher nur noch Wert auf Namen. Bekannte Namen. Sie garantierten ausverkaufte Häuser.

Also hatte Phoebe die Herausforderung angenommen. Hatte beschlossen, den Mordplan ihrer Schwester zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie hatte die Polizei von ihrem Verdacht informiert. Zunächst hatte man ihr nicht geglaubt. Sie belächelt. Am Ende war man immerhin einverstanden gewesen, einen Sergeant im Pub zu platzieren. Das hatte Phoebe allerdings nicht ausgereicht. Sie brauchte Beweise. Fotos. Die Presse sollte den Vorfall aufgreifen. Eine befreundete Fotografin hatte sich daher als Touristin getarnt im Salisbury Pub, neben dem Theater auf die Lauer gelegt. Von dort hatte sie das »Angel and Crown« gut im Blick. Ihr Teleobjektiv hätte selbst eine Fliege in Phoebes Glas abgelichtet.

Der Straßenkehrer, Daniel, war der Assistent des Beleuchters. Er war schüchtern – was wichtig war, denn Phoebe wollte auf keinen Fall riskieren, dass er am Ende Interviews über den Vorfall gab. Allein sie wollte den Zeitungen Rede und Antwort stehen. Außerdem war Daniel ihrer Schwester nie begegnet, weswegen die Wahl schnell auf ihn gefallen war. Auf Phoebes Handzeichen hin – und den kurzen Blickkontakt – hatte er sichergestellt, dass im entscheidenden Moment auf der Straße niemand der Fotografin den Weg versperrte, ihr die Sicht nahm. Zudem konnte ein weiterer Zeuge nie schaden.

Am Ende war der ganze Aufwand nicht nötig gewesen. Sie selbst hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Marnie das Giftin dasGlaskippte. Phoebe hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ihre Schwester so unvorsichtig sein würde. Mit Genugtuung hatte sie Marnie zur Rede gestellt. Sergeant Tanqueray – wie sie den Polizisten getauft hatte – stand ebenfalls sofort parat.

Nun saß Marnie gut verwahrt in Untersuchungshaft. Aufgrund der sichergestellten Beweise würde sie für eine sehr lange Zeit hinter Gittern bleiben.

Zum dritten Mal brandete Applaus auf. An den Händen haltend verbeugte das gesamte Ensemble sich noch einmal gemeinsam. Wieder rann Phoebe ein Schauer über den Rücken. Das Adrenalin in ihren Adern wich einem Glücksgefühl, und endlich konnte sie sich entspannen. Sie hatte alles richtig gemacht. Der Erfolg, ihr Durchbruch war zum Greifen nah.

* * *

Die Stille war seltsam. Kein Geräusch, kein Laut, keine Stimme war in dem Verhörzimmer wahrzunehmen. Entweder war das Gebäude der Metropolitan Police südlich des St. James’s Parksvollständig ausgestorben oder die Wände schallgedämpft. Das Zimmer: Grau, quadratisch. Und voller Staub. Feine Flusen und Staubkörner überzogen den Tisch, den Stuhl, den Fußboden aus anthrazitfarbenen Fliesen.

Marnie wartete nun schon über eine Stunde. Ihr linker Oberschenkel begann zu kribbeln, und sie verlagerte das Gewicht zur Seite. Augenblicklich durchzog Wärme das Bein, floss hinab bis in die Fußspitzen. Ihre Muskeln hatten sich zu sehr verkrampft; sie musste versuchen, ihre Anspannung in den Griff zu bekommen. Sie holte tief Luft, konzentrierte sich auf die Bewegung ihres Brustkorbs. Mit dem Zeigefinger zog sie einen Kreis in den Staub auf dem Tisch.

»Die Untersuchungen im Labor werden einige Tage dauern.« Die Stimme des Sergeants hatte gereizt geklungen, als er sie am Nachmittag aus ihrer Zelle in das Verhörzimmer gebracht hatte. Die Ampulle, die Scherben, der restliche Weißwein und das Glas – alles im Labor. Einige Tage also, bis die Ergebnisse Klarheit über das verwendete Gift brachten. Das Gift, mit dem Marnie Parker ihre Schwester, die Regisseurin und Schauspielerin Phoebe Parker hatte töten wollen. Chemiker auf der Suche nach der Wahrheit. Nun …

Marnie hätte der Polizei sagen können, was in der Ampulle war. Stattdessen hatte sie alles abgestritten und dann jede Aussage verweigert. Man hätte ihr ohnehin nicht geglaubt.

Es war Baldrian. Verdünnt mit Wasser. Vollkommen wirkungslos. Marnie hatte kein Risiko eingehen wollen. Niemand sollte ihr am Ende etwas anhängen können. Ich habe meiner Schwester doch nur helfen wollen. Die Aufregung vor der Premiere. Sie verstehen!

Die Ampulle in der Tasche ihrer Garderobe war die entscheidende Idee gewesen. Sobald Phoebe diese entdeckt hatte, war der Plan ein Selbstläufer. Marnie wusste, das Phoebe über Leichen ging. Im Zweifel sogar über ihre eigene. Ihr war klar gewesen, dass ihre Schwester Marnies geplante »Tat« zu ihrem Vorteil nutzen würde. Publicity bedeutete Erfolg. Und Phoebe hatte ganze Arbeit geleistet. Hätte Marnie geahnt, dass ihre Schwester drei Personen rund um das Pub platzieren würde, hätte sie sich nicht so viele Gedanken über den richtigen Zeitpunkt machen müssen. Zum Gelingen des Plans war es notwendig gewesen, auf frischer Tat ertappt zu werden. Phoebe musste sehen, dass Marnie ihr etwas ins Glas mischte. Es war notwendig gewesen, verhaftet zu werden. Es war notwendig jetzt im Gefängnis zu sitzen. Einige Tage …

Die Tür wurde aufgerissen. »Ich bringe Sie zurück in ihre Zelle.« Der Sergeant blieb im Rahmen stehen. Musterte Marnie.

»Kein weiteres Verhör?«, fragte sie.

»Morgen.«

»In Ordnung.« Marnie stand auf. Das war gut. Damit würde sie unabhängig von dem Laborergebnis noch eine Weile im Gefängnis bleiben. Das gab dem Blutdrucksenker in Phoebes Wasserflasche genügend Zeit, ihr Herz zum Stillstand zu bringen. Marnies Alibi. Perfekt. Alles lief wie geplant. Wer im Gefängnis saß, konnte niemanden umbringen. Die Flasche stand in Phoebes Garderobe. Vielleicht würde sie das Wasser heute schon trinken. Vermutlich erst morgen. Spätestens dann war alles vorbei. Der Stress und die Aufregung waren einfach zu viel für Phoebes Herz gewesen.

Irgendwann in der nächsten Woche dann würde Marnie für die Rolle ihrer Schwester einspringen. Ihr kreatives Erbe fortführen. Phoebe hätte Marnies Karriere nicht besser in Gang bringen können.

Marnie unterdrückte ein Lächeln, als sie dem Sergeant in den Flur folgte. Mit jeder Sekunde ihres Lebens wurde ihre schauspielerische Leistung besser.

Vorhang

DRITTER PREIS

Bad Herzenwerder

Klaus Berndl

1. Personalausweis

Bundesrepublik Deutschland

Personalausweis 251140324

Name Schultz

Vornamen JÜRGEN

Geburtstag und -ort 29.3.1965, Essen

Staatsangehörigkeit Deutsch

Gültig bis 17.12.16

2. Polizeidienstausweis

Der Polizeipräsident von Nordrhein-Westfalen/DÜSSELDORF

Polizeidienstausweis Nr. 337209

Schultz

JÜRGEN

Polizeivollzugsbeamter im Außendienst

Mordkommission

Gültig bis Ende 2015

Der Polizeipräsident von Nordrhein-Westfalen

 

3. Sechs Briefe

 

Bad Herzenwerder, der 13. September 2010

 

Liebes Anja,

 

der Zug hatte sieben Minuten Verspätung, ich bin also erst um 16 Uhr 35 hier angekommen; planmäßige Ankunft war 16 Uhr 28. Es sind nur fünf Leute hier ausgestiegen. Ich habe gleich am Bahnsteig den Fahrplan mit meiner Fahrkarte verglichen: Es stimmt, der Zug zurück geht am 20. September um 11 Uhr 31 ab; dann werde ich um 18 Uhr 32 in Düsseldorf ankommen. Ich erreiche den Bus um 18 Uhr 35; bereite also das Abendbrot für 18 Uhr 57 vor.

Ein Briefkasten befindet sich außen am Bahnhofsgebäude. Er wird werktags um 16 Uhr geleert.

Die fünf Mitausgestiegenen sind vor mir in den Straßen verschwunden, zwei in der Gerhard-Hauptmann-Straße, eine in der Straße der Freiheit, die anderen in der Seestraße. Sie hatten alle wenig Gepäck, waren also wohl keine Kurgäste. Nachsaison, und ein Montag ist sicher kein Reisetag.

Der Weg zum Hotel führt aus dem Ort raus, durch ein kleines Wäldchen und dann ein Stück das Ufer entlang. Es lief sich doch länger, als ich vermutet hatte, und so kam ich tatsächlich elf Minuten später als erwartet im Hotel an. Ich schwitzte; es war auch ziemlich dampfig. Gut, dass ich ein Hemd mehr als nötig dabeihabe.

Das Hotel ist frisch verputzt, aber an einer Ecke bröckelt der Putz schon wieder. Die Fenster sind alle neu, doch von den Rahmen blättert die Farbe. Alles wie nach der Wende teuer restauriert, und dann blieb der Boom aus, und dann die Wirtschaftskrise, na ja, und so ist nun eben die Lage. Und die Tür stand auch offen. An der Rezeption eine schöne alte Schelle. Doch erst beim dritten Klingeln kam der Hotelier; wischte sich grade die Hände an einer Schürze ab. Ich habe ihn dann nach den Frühstückszeiten gefragt, nach den Mittagszeiten, nach dem Abendbrot. Dass man das alles fragen muss! Aber sonst war er sehr eilfertig; hat mich sogar darauf hingewiesen, dass an der Einfahrt ein eigener Briefkasten ist, der pünktlich um 11 Uhr 45 geleert werden soll. »Zuverlässig pünktlich«, habe ich gefragt. »Zuverlässig pünktlich«, hat er gesagt. Die Post geht gleich nach Neustrelitz und dann über Hamburg weiter; das wusste er, das hat er von sich aus gesagt. Hat mich etwas gewundert, dass er das wusste, aber umso besser.

Diesen Brief hier wirst Du also am Mittwoch in Händen halten. Denke daran, die Papiertonne rauszustellen. Und die drei Kakteen auf der Fensterbank in meinem Arbeitszimmer müssen heute, Mittwoch, auch gegossen werden. Die anderen nicht; ich schreibe Dir morgen wieder und teile Dir mit, was dann zu tun sein wird.

Morgen wird auch die neue mbz kommen. Lege sie rechts auf meinen Schreibtisch.

Aber nun will ich mich endlich mal entspannen. Schließlich bin ich im Urlaub. Ich schreibe Dir also nach dem Abendessen wieder.

 

Habe eben einen kleinen Abendspaziergang hinter mir. Es hat geregnet, und so sind die Wege ziemlich weich. Es kommt überall das Unkraut durch, und zwar offensichtlich schon länger. Den Liegestühlen sieht man es an, dass sie nie abgewischt werden. Aber so ein Nieselregen ist sowieso nicht das Wetter dafür, sich rauszulegen.

Irgendwelche Schleifspuren im Kies, aber ich bin ja nicht im Dienst.

Wenn man hier in der Sonne liegt, ist das wahrscheinlich sehr schön: der Blick von der Terrasse den Hang hinunter zum See. Das Laub färbt sich schon ein wenig. Für morgen ist trockenes Wetter angesagt; dann will ich den Abend hier im Liegestuhl verbringen.

Rechts am Ufer steht allerdings ein alter Bauwagen – den sieht man auch von hier oben – und dem sieht man es wirklich an, dass er da schon lange steht. Sie arbeiten da an der Uferpromenade. Eine richtige Befestigung ist das, wie am Meer. Sie gießen parallele Betonstege und dazwischen Quermauern. Wie ein Setzkasten. Aber natürlich viel größer, so wie breite Särge. Jetzt bist Du erschrocken, nicht wahr? Nein, ich denke jetzt nicht an den Dienst.

Auf die Särge bin ich gekommen, weil an jedes Feld ein Schildchen geschraubt ist, Familie so und so. Oder wie Sponsorenschilder. Ob die sich die Promenade auf diese Weise von ihren Kurgästen finanzieren lassen? Das wäre allerdings raffiniert. Illegal ist es aber nicht.

 

Kein Mensch weit und breit. Kein Kurgast. In der Ferne habe ich jemanden im See schwimmen sehen. Ich dachte zwar, das wäre Privatgrund; aber gut. An der Promenade wird auch nicht weiter gearbeitet; da bin ich aber eher froh drüber. Das würde den Urlaub wirklich stören. Dabei ist die vorletzte Wabe erst zur Hälfte fertig gepflastert; bei der letzten sind die Wände noch verschalt. Die Betonstege bleiben sichtbar: Sie gliedern dann das Pflaster. Die Zwischenräume werden eben gepflastert. Sieht eigentlich ganz gut aus, wo es schon fertig ist – aber nun haben sie es einfach liegen lassen.

In diesem Haus fehlt eindeutig die Planung.

Mein Handy hat hier übrigens kein Empfang. Uckermark eben. Aber so wird es auf jeden Fall ein ungestörter Urlaub.

Dein Dich liebender

JÜRGEN

 

Bad Herzenwerder, der 14. September 2010

 

Liebes Anja,

 

heute ist der Einkauf bei Aldi fällig. Zwei von den weißen ROYAL CLASS® SELECTION Herrenhemden, und vergiss die WC-FIX® Duo-Duftspüler nicht; wir brauchen fünf Stück.

Heute sind die Kakteen im Gang zu gießen. Die Orchideen im selben Fenster mit der grünen Gießkanne. Nicht umgekehrt! Die grüne Gießkanne füllst Du dann halb auf, und Orchideendünger bis zum ersten Deckelstrich hinein.

Vergiss nicht die Biotonne. Leere den Kücheneimer aus und schaffe die Tonne am Abend vor die Tür.

 

Nun will ich Dir aber von hier erzählen. Ich bin tatsächlich derzeit der einzige Gast. Und das wird momentan alles von einem einzigen Mann gemanagt. Das war dieser etwas schlaffe Kerl gestern an der Rezeption. Dem gehört das alles, hat er erzählt, und es ist genau so, wie ich vermutet habe. Nach der Wende übernommen, restauriert, ordentlich überschuldet und dann blieb der Boom aus. Ich habe ihm ein paar Takte gesagt, er soll doch einen Kredit aufnehmen, dann ordentlich ranklotzen … die Aussicht, der See, da kann man doch was draus machen! Und da pfuscht der da alleine an dieser Uferbefestigung rum … ich habe ihm natürlich gleich die Adresse vom Andreas gegeben; der macht das ratzfatz, habe ich ihm gesagt, in einer Woche ist das fertig, und die Gäste können kommen! Er schien das aber nicht so recht zu wollen.

Heute bin ich noch einmal in den Ort gegangen. Sie haben hier nur einen Edeka, mit völlig überhöhten Preisen. Aufs Geldschneiden verstehen die sich hier alle. Ich habe ja gesehen, was Du für diese Reise als Anzahlung überwiesen hast. Wobei ich Dich aber wirklich einmal loben muss: Das war sehr klug, hier nur eine Anzahlung zu leisten. Der Service entspricht dem Preis wirklich nicht. Ich notiere mir das alles; wir werden das nachher alles reklamieren.

Woher Bad Herzenwerder sein »Bad« hat, verstehe ich auch nicht. Da war sicher Bestechung im Spiel. Das sind nur drei, vier Häuser, ein Kiosk mit Ausschank, der Edeka, und der war früher mal ein Konsum, hat die Kioskfrau erzählt. Kaum ein Mensch auf der Straße – der Rest sind ja lauter Schlafstraßen; war auf dem Plan schon zu erkennen. Dass die Saison vorbei ist, kann es aber nicht sein; das wird einfach die Mentalität hier sein: »Mein Feind, der Kunde«; die vergraulen die Gäste hier ja gezielt. Zum Beispiel, als ich durch die Tür zu diesem Edeka trete, da brüllt mich dieses Kassenweib an: »Gu-ten-Tag!« »Guten Tag«, sage ich, ganz betont. Immerhin habe ich hier das Schuppenshampoo bekommen, das Du vergessen hast einzupacken.

Wie bist Du bloß auf diesen Kurort gekommen? Wie auch immer, in den Ort gehe ich nicht mehr. Ich werde hier draußen am See entspannen, bin ja im Urlaub.

Ich schreibe Dir morgen wieder.

Dein Dich liebender

JÜRGEN

 

Bad Herzenwerder, der 15. September 2010

 

 

Liebes Anja,

 

hol die Biotonne rein. Wenn Du gestern bei dem vorhergesagten Regen nicht beim Aldi warst, dann versuche es heute in der Kronenstraße, da haben sie die Sonderangebote oft noch etwas länger. Heute sollte es auch nicht regnen. Du weißt, zwei von den weißen ROYAL CLASS® SELECTION Herrenhemden und fünf WC-FIX® Duo-Duftspüler.

Heute sind die Kakteen im Wohnzimmer dran, der Reihe nach. Fang links an, mit der großen Gießkanne. Die mit dem schwarzen Punkt kriegen mehr Wasser.