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Enthält eine Leseprobe vom fünften und somit letzten Band der Raben-Saga. Es wird dringend empfohlen Teil 1 bis 4 gelesen zu haben, da sonst einiges vorweggenommen wird und vieles auch nicht verstanden werden kann.
Mein Name ist Mary Willows. Ich bin eine Hexe. Mein Leben lang habe ich versucht, die Missetaten meiner Schwester wiedergutzumachen. Ich hatte lange an sie geglaubt und sie nicht aufgegeben. Doch nun scheint alles verloren zu sein. Um die Menschen zu schützen, die mir am meisten bedeuten, muss ich das ultimative Opfer bringen. Doch für die Liebe ist kein Preis zu hoch. Auch wenn es bedeutet, dass ich sie für immer aufgeben muss.
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E-Book, erschienen im Oktober 2017
Copyright © Marcel Weyers, 2017
www.marcel-weyers.de
Lektorat:
Christina Schuster
Covergrafiken:
© Honored - depositphotos.com
© milalala - depositphotos.com
© Den.Barbulat - depositphotos.com
© All-about-Flowers - depositphotos.com
© Honored - depositphotos.com
Coverbearbeitung und -gestaltung:
BUCHGEWAND | www.buch-gewand.de
Marcel Sohrmann
Hechtstr. 83c
01097 Dresden
Alle Rechte vorbehalten.
Sämtliche Personen und Geschehnisse in dieser Geschichte sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Jegliche Ähnlichkeiten sind rein zufällig.
Marcel Weyers ist ein Autor, Übersetzer, Lektor und Videospielentwickler. 2011 erschien mit „Schatten“ sein Debütroman, welcher Auftakt einer Trilogie war.
Mit der Raben-Saga erschien im August 2014 sein erstes Werk im Eigenvertrieb. Die Hexen-Saga ist eine kostenlose Spin-off-Serie und ergänzt die Raben-Saga mit Hintergrundinfos über einige Hexenfiguren, die in der Serie eine tragende Rolle spielen.
Für zahlreiche Videospielfirmen übersetzte er sowohl freie als auch kommerzielle Videospiele ins Deutsche, darunter insbesondere Visual Novels.
Seine Videospielserie „Sleepless Night“ wurde in über 10 Sprachen übersetzt. Für weitere Informationen besucht die Raben-Saga auf Facebook oder geht auf www.marcel‑weyers.de.
Auch von Marcel Weyers:
Die Schatten-Trilogie
Schatten
Schattenjäger
Schattenland
Die Raben-Saga
Rabenblut – In dunkelster Nacht erwacht
Rabentränen – Bis Mitternacht verloren
Rabengift – Auf ewig verdammt
Rabentod – Im Mondlicht gestorben
Rabenparadox – Wem die Stunde schlägt
Depths of Forever
Salem, Massachusetts im 17. Jahrhundert
Die Hoffnung aufgeben, so etwas kommt für mich nicht infrage. Es steckt Gutes und Böses in jedem von uns. In manchen das eine mehr als das andere. In dieser Hinsicht waren ich und meine Schwester wohl zwei Gegenpole. Und während sie sich vom Bösen hat verderben lassen, wurde mir meine Gutmütigkeit zum Verhängnis. Zwei Extreme, die unfähig waren, den Mittelpunkt zu finden oder aufeinander zuzugehen. Ja, so könnte man unsere Geschwisterbeziehung beschreiben. Und um das Gleichgewicht in der Natur wiederherzustellen, muss ein Opfer gebracht werden.
Wie dem auch sei. Ich möchte euch meine Geschichte erzählen. Eine Geschichte voller Liebe, Schmerz und Eifersucht. Eine Geschichte, in der ich ein selbstloses Opfer brachte und meinen größten Schatz verlor.
Mein Name ist Mary Willows, ich bin eine Hexe.
In Salem angekommen ändern wir unsere Identität. Ich bin nicht länger Maria Winterberg. Von jetzt an heiße ich Mary Willows. Es wird eine Weile dauern, ehe ich mich daran gewöhnt habe, nicht mehr Deutsch zu sprechen, doch das Englische ist für mich kein Problem. Ich mag es seit jeher, Englisch zu sprechen. Vater hat uns immer dazu gedrängt, es zu lernen; sogar schon bevor … na ja, bevor das alles mit meiner Schwester passiert ist.
Er war schon immer sehr erpicht darauf, uns kulturell, geschichtlich und gesellschaftlich weiterzubilden. Schon als kleines Mädchen lernte ich viel über unsere Geschichte, auch über die von Amerika. Wir besuchten die Oper, erfreuten uns an Festspielen und lernten dabei die Gepflogenheiten und Eigenarten des Großbürgertums kennen – oder wie man hier sagen würde: upper-class. Elisabeth, ich meine natürlich Elizabeth, schien nie besonders an diesen kulturellen Zusammenkünften interessiert zu sein, sondern eher an … anderen Dingen. Auch Mutter hat Vaters Drängen, uns etwas beizubringen, nicht wirklich gutgeheißen – natürlich nicht, gilt doch noch immer die Ansicht, Frauen haben in der Schule nichts verloren und sollen sich um die Hausarbeit kümmern. Doch Vater war in der Hinsicht schon immer anders und hat mich eines Besseren gelehrt: Wissen ist Macht.
Seit ich denken kann, interessiere ich mich für alles Mögliche. Ich will mehr wissen, mehr erfahren, mehr erleben. Ich will nach den Sternen greifen so wie Frau Eimmart. Doch ob das auch hier möglich sein wird – in Salem?
Es wird nicht leicht mit meiner Schwester, aber eine Sache, nach der ich mich schon immer mehr verzehre als Wissen, ist Harmonie. Ich möchte, dass alles wieder so wird wie früher. Ich möchte mit meiner Schwester fröhlich sein. Mit ihr singen, tanzen, spielen, lachen … Doch all das scheint sie nicht mehr zu interessieren. Sie hat eine neue Leidenschaft entdeckt, aber sie merkt nicht, dass sie von ihr immer tiefer in die Dunkelheit gezerrt wird. Was kann ich tun, um es aufzuhalten? Wie kann ich mit ihr reden, ohne dass sie mir wieder Vorwürfe macht?
Seit einiger Zeit sieht sie nur noch das Schlechte. Als wollte ihr jeder nur Böses und egal wie sehr ich mich anstrenge, letzten Endes erweckt es bei ihr doch nur den Anschein, als wollte ich sie bekehren. Sie sieht mich nicht mehr als ihre geliebte Schwester, sondern als Rivalin. Ich bin das brave Vorzeigekind und sie der verrückte Freak. Das denkt sie zumindest. Aber ich habe das nie so gesehen; ich weiß, dass das nicht wahr ist und was wirklich hinter diesem jugendlichen Trotz steckt – eine mitfühlende Schwester. Ich hoffe so sehr, dass es wirklich nur eine vorübergehende Trotzphase ist. Dass sie wieder so wird wie früher. Aber irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl.
In unserer alten Heimat hatte ich viele Freunde. Mir hat es dort gefallen; es ist immerhin der Ort, wo ich aufgewachsen bin. Trotzdem versuche ich, die negativen Dinge zu verdrängen und mich aufs Positive zu konzentrieren. Bestimmt wird es auch hier sehr schön, sobald wir uns eingelebt haben. Ein neues Zuhause verspricht eine neue Herausforderung. Und ich bin voller Tatendrang und mehr als bereit, mich auf dieses Abenteuer einzulassen!
Unser Zuhause ist kleiner als das in unserer alten Heimat, aber trotzdem sehr geräumig mit vielen Zimmern. Unser Geld wird allmählich knapp, aber Vater ist guter Dinge, schon bald mehr zu verdienen. Ich vermisse unser Hausmädchen, auch wenn sie es oft nicht gutgeheißen hatte, wenn ich ihr bei der Hausarbeit geholfen habe. Für mich war sie mehr als eine Bedienstete. Sie war eine Freundin. Schlimm genug, dass sie von Elisabeth – ich meine Elizabeth – ständig schikaniert und herumkommandiert wurde. Sie hat es immer genossen, bedient zu werden. Aber noch mehr, sie zu demütigen und niederzumachen … Bei den Erinnerungen wird mir ganz flau im Magen. Ich verdränge die traurigen Gedanken an früher und konzentriere mich lieber auf das Hier und Jetzt.
Als ich eines Tages das Zimmer von Elizabeth betrete, kann ich meinen Augen nicht trauen. Der Raum ist in Dunkelheit gehüllt, schwarze Schatten tanzen an der Wand und das Schlimmste: Sie sitzt reglos auf ihrem Bett und starrt mit leeren, toten Augen durch mich hindurch. Das Weiß ihrer Augäpfel ist so hell, dass es einen starken Kontrast zum Rest des Raumes darstellt, und es jagt mir eine Angst ein, die ich so noch nicht gekannt habe.
Trotzdem reiße ich mich zusammen und gehe auf sie zu. Ich packe sie an der Schulter und schüttle sie. »Wach auf, Elizabeth! Was ist mit dir?«, frage ich verzweifelt, doch von ihr kommt keine Reaktion. Schwarzer Rauch breitet sich immer weiter aus und sie fängt an, seltsame Worte zu flüstern – fast so, als würde sie die Schatten befehligen.
Ich stürme aus dem Zimmer und stoße fast mit meiner Mutter zusammen. »Was ist los, Mary? Ich wollte euch gerade sagen, dass das Abendessen fast fertig ist«, sagt sie mit einem Stirnrunzeln. Ich stammle vor mich hin und wische mir dabei den Schweiß von der Stirn. Als ich endlich wieder zu Atem komme, sage ich: »Schon gut, Mom. Elizabeth ist in ihrem Zimmer, ich hole sie gleich.«
»Sie macht doch nicht schon wieder etwas … Verbotenes?«, fragt sie skeptisch nach, aber ich schüttle schon vehement den Kopf.
»Nein, alles bestens. Sie ruht sich nur aus«, versichere ich ihr.
Sie sagt es nicht, aber ich sehe ihr die Erleichterung an. Als sie wieder die Treppe runtergeht und mich allein im Flur zurücklässt, kann ich ein Seufzen nicht unterdrücken. Elisabeth, was machst du nur? Ich will dich doch nur schützen.
Ein paar Minuten später sitzt sie mit uns am Esstisch und isst zu Abend. Ihre Augen sind wieder normal und nichts erinnert mehr an die grauenhafte Szene, die sich noch eben in ihrem Zimmer abgespielt hat. Während ich appetitlos in meinem Essen herumstochere, grinst sie mich an. Weiß sie überhaupt, wie sehr sie in dieser Dunkelheit schon gefangen ist? Ist ihr klar, was eben passiert ist? Doch als ich ihrem Blick begegne und sie mich nur verwirrt ansieht, fährt mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie weiß es nicht.
Die Tage werden zu Wochen, die Wochen zu Monaten. Nichts hilft, nichts dringt zu ihr durch. Meine Schwester ist verloren und mit ihr ein Teil von mir. Sie hat Furchtbares getan und ich bin enttäuscht und verletzt. Doch aufgeben kann ich sie nicht. Niemals. Sie ist meine Schwester.
Ein paar Wochen später lerne ich einen stattlichen jungen Mann kennen: Wilbur Stoughton. Er ist Mitglied im Stadtrat und ganz der Gentleman; eine vorteilhafte Partie, wie meine Eltern sagen würden. Bei unserem Kennenlernen bei einem Bankett meines Vaters küsst er mir zur Begrüßung die Hand. Ich erröte leicht und wir beginnen ein Gespräch auf Augenhöhe. Aus dem Augenwinkel sehe ich den Umriss einer Person, die uns aus dem angrenzenden Zimmer – verborgen im Dunkeln – beobachtet.
Ich denke mir nichts dabei und unterhalte mich mit Wilbur über ein Buch, das ich vor Kurzem gelesen habe. Er ist beeindruckt von all meinen Talenten und lobt meinen Ehrgeiz und meinen Wissensdurst. Wir verstehen uns so gut, dass wir die Zeit ganz vergessen und als mein Vater zum Abendessen ruft, schelte ich mich selbst, ihn so lange aufgehalten zu haben.
»Das ist doch kein Problem, Teuerste. Ich werde bald noch ausreichend Geschäftliches zu tun haben, da kommt mir ein nettes Gespräch mit solch einer bezaubernden Dame gerade recht.« Wieder erröte ich und begleite ihn zum Esstisch.
Nach dem Abendessen verabschieden sich die Gäste. Bei unserer Verabschiedung steckt mir Wilbur einen kleinen Zettel unauffällig in die Hand. Ich sehe ihn verwirrt an, aber statt einer Antwort, legt er geheimnistuerisch einen Finger auf seinen Mund und zwinkert. Ich lächle und sehe ihm nach, während er und die anderen Gäste gehen und es plötzlich sehr still im Haus wird. Als es Zeit für die Bettruhe ist, lasse ich mich verträumt auf meiner Matratze nieder. Es war ein gelungener Abend und sicherlich auch ein bedeutungsvoller Schritt für meine Eltern, was unsere Zukunft hier in Salem betrifft.
Ich entfalte den Zettel von Wilbur und bin schon ganz aufgeregt, was für eine Botschaft er mir hinterlassen hat. »Es hat mich sehr gefreut, Mary.« Dieser kurze Satz scheint so unbedeutend, doch in meinen Ohren klingt er wundervoll.
Während der nächsten Tage schaue ich hin und wieder beim Stadtrat vorbei, in der Hoffnung Wilbur zu treffen. Manchmal sieht er mich und lächelt mir zu oder wir wechseln zwei Sätze. Doch meist hat er wenig Zeit; sein Aufstieg in den Magistrat steht kurz bevor. So wie er es angekündigt hat: Er hat ausreichend zu tun. Vor allem mit meiner Schwester, wie ich schon bald feststellen muss. An einem sonnigen Morgen habe ich die beiden zusammen vor dem Bürgerhaus gesehen. Es ist nichts Verwerfliches passiert, kein Kuss, kein Berühren. Und doch ist da eine Vertrautheit zwischen den beiden, die mir das Herz bricht.
Kurz darauf gerate ich mit Elizabeth in einen heftigen Streit. Dass es dabei um einen Mann geht, hätte ich mir früher nie vorstellen können. Sie will Wilbur für sich und macht mir das mehr als deutlich. Doch tief im Inneren weiß ich, sie will ihn nicht für sich. Sie will ihn, um mir etwas wegzunehmen. Um mich zu demütigen. Sie setzt alles daran, dass ich anfange, sie zu hassen, aber ich verstehe nicht warum. Ich werde sie nie hassen, ich werde sie nie verurteilen für die furchtbaren Dinge, die sie tut. Sie ist meine Schwester.
Um ihretwillen gebe ich Wilbur auf. Ich erkläre ihm meine missliche Lage und mache ihm deutlich, dass ich nie damit leben könnte, meine Schwester so zu verletzen. Auch wenn er mir sagt, dass er kein Interesse an ihr hat, dass ihm nichts an ihr liegt … Es ändert nichts an den Tatsachen. »Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen, Mr. Stoughton«, sage ich mit entschlossener Stimme und wende mich ab. Die Tränen, die sich in meinen Augen gebildet haben und jetzt in Strömen über meine Wangen fließen, sieht er nicht mehr.
Und ab diesem Moment geht alles schief.
Die kommenden Jahre sind der blanke Horror. Elizabeth richtet Chaos an und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Die Geschichten, die mir zu Ohren kommen, sind erschreckend. Brandstiftung und Mord sind noch fast die kleineren Schreckensnachrichten. Sie hat sich von mir und unseren Eltern abgewandt und steckt so tief in ihrem Okkultismus, dass es kein Zurück mehr gibt. Sie hat neue Wesen erschaffen: Hexen. Die Straßen sind nicht mehr sicher, ich fühle mich nicht mehr wohl in Salem. Wilbur mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zu sehen, ist unerträglich für mich. Jeaniene Stoughton ist bildschön und scheint sehr nett zu sein; er hat solch eine Frau verdient.
Jahre später.
Ich erkenne Salem nicht wieder. Und mich selbst auch nicht. Meine Schwester hat mich ebenfalls in eine Hexe verwandelt, doch ich habe nicht vor, mein neues Dasein für böse Zwecke auszunutzen. Wilbur ist mittlerweile der Anführer der sogenannten Inquisition und mit Elizabeth in einen schier endlosen Kampf verstrickt. Soweit ich weiß, ist sie für das Verderben seiner ganzen Familie verantwortlich. Meine Versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen, habe ich bereits vor Jahren aufgegeben. Ich habe Angst vor ihr. Sie hat so viele Unschuldige getötet. Ich glaube nicht, dass sie vor mir Halt machen wird. Nein, ich weiß es sogar: Bei unserem nächsten Treffen wird sie auch mich töten. Und diesen Gedanken kann ich einfach nicht ertragen. Ich gebe sie auf. So wie ich einst Wilbur aufgegeben habe. Es scheint, als wäre ich dazu verdammt, alles und jeden hinter mir zu lassen und ewig einsam zu sein.
Eine Zeit lang lebe ich im Verborgenen, aus Angst Elizabeth könnte mich finden. Doch mit den Jahren schwindet diese Angst. Nicht dass ich meine Schwester vergessen würde, ganz zu schweigen von den Dingen, die sie getan hat. Ich bin dieser ständigen Furcht einfach nur überdrüssig und beschließe, wieder zu leben.
Zurück in Salem ziehe ich in ein schönes, kleines Häuschen und lebe ein normales Menschenleben. Die Jahre der Angst und des Schreckens scheinen vorbei zu sein, doch manchmal, an Tagen wie diesen, wenn der Wind stillsteht und der graue, wolkenverhangene Himmel aufreißt, um einem Sturzbach aus Regen Weg zu machen … da fühle ich, etwas liegt in der Luft. Nichts Greifbares, nur ein Gefühl. Aber es ist genug, um mich wissen zu lassen, dass ich mich besser zurückziehe.
Eines Tages werde ich eines Besseren belehrt: Ich bin nicht dazu verdammt, ein Leben in ewiger Einsamkeit zu führen. Dieses Schicksal hat eine andere erlebt: Emily Stoughton. Ich habe das verlorene Ding auf der Straße aufgegabelt. Erkannt habe ich sie sofort; sie sieht Wilbur so ähnlich.
»Ich dachte, du seist tot«, sage ich zu ihr. Sie ist verwirrt und auch erst seit Kurzem nach Salem zurückgekehrt – sie hielt mich erst für Elizabeth. Wie sich herausstellt, ist auch sie eine Hexe. Sie wurde so geboren und anscheinend nicht von Elizabeth verwandelt.
Es war klar, dass ich in Salem wieder Hexen zu Gesicht bekommen würde. Seit Ewigkeiten hat sich keine mehr gezeigt und ich habe mich schon gefragt warum.
Emily ist in die verlassene Villa ihres Vaters gezogen, doch eigentlich wohnt sie eher bei mir, so oft wie sie da ist. Mir macht es nichts aus und ich bin froh, endlich etwas Gesellschaft zu haben.
Gemeinsam beginnen wir, ihre Zauberkräfte weiterzuentwickeln und auszubauen. Uns beschleicht das Gefühl, dass wir sie eines Tages gut gebrauchen könnten, sollte Elizabeth zurückkehren und ihre Schreckensherrschaft fortsetzen.
Samuel. Das ist sein Name. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich mich noch einmal verlieben könnte, aber es ist doch geschehen. Er ist ein junger Lehrer und kommt ursprünglich aus Boston. Jetzt unterrichtet er an der Salem High School Geschichte.
Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist es anders als mit Wilbur. Er ist ruhiger, zurückhaltender; weniger forsch und doch romantisch. Er ist jemand, mit dem ich mir ein Leben vorstellen kann. Aber während wir uns immer näherkommen, wird mir doch eines bitter bewusst: Er ist ein Mensch und wird nicht ewig leben wie ich. In ein paar Jahren wird er Fragen stellen, meine jugendliche Schönheit infrage stellen und mich mit misstrauischen Augen sehen. Ich beschließe, ihm die Wahrheit zu sagen. Mit entsetzten, weit aufgerissenen Augen hört mir Samuel zu. Nach einem langen Moment der Stille nimmt er mich jedoch in seine Arme, so als wollte er mich nie mehr loslassen.
Emily und ich sehen uns noch ab und zu, aber immer öfter greifen wir auf die technologischen Neuerungen zurück, die das Leben so viel einfacher machen. Ich berichte ihr von meiner Schwangerschaft und dass sich von jetzt an vieles ändern wird.
Es war eine gute Entscheidung, Samuel die Wahrheit zu sagen. Wer weiß, ob mein kleines Mädchen vielleicht genauso geboren wird wie Emily. Die Fähigkeiten einer Hexe sind sowohl Fluch als auch Segen. Es kann passieren, dass sie genau wie Emily und ich nicht altert, sobald sie ihre volle Reife erreicht. Wie wird sie damit umgehen? Wie werden wir damit umgehen? Eines Tages würden wir Samuel verlieren. Dann hätten wir nur noch uns.
Am 23. Dezember wird unsere kleine Abigail geboren. Es kommt mir vor wie ein Wunder. Sie ist so ein liebes Kind, unschuldig und rein. Endlich sind wir eine Familie und können ein ganz normales Leben führen.
Einige Jahre später.
An einem sonnigen Tag im Mai sollte unser Familienidyll zerstört werden. Als ich an jenem Morgen aufwache, spüre ich, dass etwas nicht richtig ist. Es wird etwas Furchtbares geschehen und ich werde es nicht aufhalten können. Ich überlege kurz, Emily um Hilfe zu bitten, aber ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen und will sie nicht unnötig in Gefahr bringen. Das ist etwas, womit wir allein zurechtkommen müssen.
Dieses Gefühl, das ich habe, ist dasselbe wie damals. Zu jener Zeit, als ich in Angst und Schrecken gelebt habe. Das kann nur eines bedeuten: Elizabeth ist zurück. Und sie kommt wegen mir. Nein, wegen uns. Sie will uns zerstören. Wie hat sie uns gefunden? Bei all meinen Schutzzaubern und nach all den Jahren …
Es hat keinen Zweck. Wir müssen vorbereitet sein, wenn sie kommt. Und auch, wenn das bedeutet … Nein, ich darf gar nicht daran denken! Aber es gibt keinen anderen Ausweg. Samuel und ich, wir müssen Abigail schützen. Und zwar um jeden Preis!
Als ich ihm von meinem Plan erzähle, kann er seine Tränen nicht zurückhalten. Aber er versteht, dass es wichtig und für unsere aller Wohl notwendig ist. Ich versuche, stark zu sein. Doch wenn ich an all die schönen Zeiten zurückdenke und an die Momente in Abigails Leben, die wir nicht mehr miterleben würden, muss auch ich weinen.
»Es ist ein Schutzzauber, ein sehr mächtiger. Ich habe heimlich geübt, für den Fall der Fälle«, erkläre ich meinem Mann. Er runzelt nur die Stirn. »Wir können unser Leben eintauschen, um Abigail zu schützen – doch wir müssen uns dieser Sache sicher sein.« Ich halte kurz inne und werfe einen Blick in Richtung von Abigails Zimmer. Sie darf es nie erfahren. Sie darf nicht wissen, was wir tun werden. Eines Tages wird sie verstehen. Sie wird herausfinden, was sie ist, und vielleicht wird sie das wieder zu Elizabeth führen. Doch für den Fall haben wir noch einen letzten Trumpf in der Hand.
»Was wird mit uns geschehen, Mary?«, fragt mich Samuel mit zitternder Stimme.
»Du bist ein Mensch … Wenn der Zauber funktioniert, wirst du Abigails Leben schützen, indem du dein eigenes opferst. Elizabeth wird nichts davon wissen und erst wenn Abigail außer Gefahr ist, wird sie wieder erwachen.«
»Und dann? Was wird mit ihr passieren? Wird sie ohne uns klarkommen?« Es ist so typisch für ihn, dass er sich nur um Abigail sorgt anstatt um sich selbst. In der Hinsicht sind wir uns so ähnlich. Und dafür liebe ich ihn.
»Du hast doch eine Schwester. Sarah«, erkläre ich ihm und er nickt, als würde er verstehen.
»Abigail, ich hoffe, du wirst mit deinen zwei durchgeknallten Tanten zurechtkommen«, flüstert er vor sich hin und zeigt mir ein trauriges Lächeln.
»Das wird sie. Dafür sorge ich.«
»Du?« Seine Augen weiten sich.
»Durch meinen Zauber werde ich immer ein Auge auf sie haben können. Ich weiß nicht, ob sie meine Anwesenheit spüren wird, aber ich werde da sein.« Ich beiße mir auf die Lippe, um weitere Tränen zu unterdrücken. »Wenn du heute dein Leben gegen das ihre eintauschst, werde ich sie ein zweites Mal schützen können. Falls Elizabeth zurückkehrt und Abigail in größter Gefahr schwebt, werde ich ihr ein letztes Mal helfen können.«
Samuel lächelt, aber dann fragt er ängstlich: »Und wenn das nicht reicht?«
»Wir müssen hoffen, dass es nie dazu kommt. Oder dass sie stark genug sein wird, um Elizabeth aufzuhalten.«
Im rötlich schimmernden Licht der untergehenden Sonne ist es soweit. Ich bin bei Abigail und Samuel und will es nicht sehen, wie sie durch die Tür kommt. Ich würde den Anblick nicht ertragen. Ihr verzerrtes Gesicht, ihr wahnsinniges Lachen – das ist nicht mehr meine Schwester. Als der Moment kommt, nicke ich Samuel zu und beginne mit meinem Zauber. Mit letzter Kraft nehme ich uns den Schmerz. Während das Haus im flammenden Inferno untergeht, bekommen wir nichts davon mit. Mit einem befriedigenden Gefühl der Genugtuung lächle ich in dem Wissen, dass Elizabeth dieses Mal nicht bekommt, was sie will. Dass sie sich dieses Mal täuscht. Und dass ich dieses Monster, was einst meine geliebte Schwester war, nicht mehr in ihrem Zustand der abgrundtiefen Dunkelheit sehen musste.
Vor den Flammen eines lodernden Infernos.
So endet es also, meine geliebte Schwester. Das Vorzeigekind bekommt endlich, was es verdient. Es macht mich wütend zu wissen, dass du so lange ungeschoren davongekommen bist. Dass du dir dieses Leben aufbauen konntest, was eigentlich mir hätte vergönnt sein sollen. Dass du glücklich warst, während ich in all den Jahren nichts als Leid erfahren musste.
Jetzt ist es vorbei und du und deine Hexen-Tochter werdet mich nicht mehr aufhalten können. Es ist eine Schande, dass ich die Kleine nie kennenlernen konnte. Du hast ja einiges darangesetzt, euch vor mir zu verbergen. Aber leider waren die Zauberkräfte deiner Tochter zu stark, als dass du sie länger hättest verstecken können. Wart ihr die letzten Hexen? Viele können nicht mehr übrig sein.
Endlich ist meine Zeit gekommen. Endlich werde ich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Alle werden mir zu Füßen liegen und niemand wird sich mehr an die erbärmliche Maria Winterberg erinnern.
Jetzt beginnt ein neues Zeitalter!
Ende – aber dies ist nur ein Teil der Geschichte. Ob Marys Opfer vergebens war, erfahrt ihr in der Raben-Saga:
Rabenblut – In dunkelster Nacht erwacht
Exklusive Leseprobe vom fünften und somit letzten Band der Raben Saga im Anhang. Vorsicht: Spoiler! Wer die vorigen Bände noch nicht kennt, sollte nicht weiterlesen! Stattdessen gibt es hier noch mehr kostenlose Hexen-Geschichten:
1. Hexenzauber – Einsame Ewigkeit
2. Hexenfluch – Welkende Rose
3. Hexenfeuer – Lodernder Hass
4. Hexenstunde – Unsterbliche Liebe