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**Stelle dich dem Elfenfeind und erringe den Frieden** Das friedliche Zusammenleben der magischen Völker ist noch immer durch das Phantom und seine finsteren Machenschaften bedroht. In der Freien Stadt Antochtnar versucht die junge, unerschrockene Spionin Esava das drohende Unheil abzuwenden. Ihr zur Seite stehen Thorn und Diangar, zwei Männer, die sie schier in den Wahnsinn treiben. Während Thorn, ein charmantes Schlitzohr, es immer wieder schafft, Esava für sich einzunehmen, scheint Diangar hinter seinem Mut ein Geheimnis zu verbergen. Auf dem anstehenden Nationenball, bei dem Menschen, Sidhe, Zwerge, Hexen und die anderen Wesen der Königreiche gemeinsam feiern wollen, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu und der Krieg scheint unausweichlich… Mit ihrer Reihe »Mysterious« entführt Jess A. Loup ihre Leser in eine zauberhafte High-Fantasy-Welt, die man bereits aus ihrer Bestseller-Trilogie »Enchanted« kennt und die nun mit einer neuen Generation eine ganz neue, wunderbar romantische Geschichte zu erzählen hat. Die »Mysterious«-Trilogie kann separat gelesen werden und benötigt keinerlei Vorwissen. //Dies ist ein Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.// //Alle Bände der zauberhaften »Mysterious«-Trilogie: -- Mysterious 1: Zwergenerbe -- Mysterious 2: Druidenkraft -- Mysterious 3: Hexensturm// Die »Mysterious«-Reihe ist abgeschlossen. //Alle Bände der magischen »Enchanted«-Trilogie: -- Enchanted 1: Elfenspiel -- Enchanted 2: Prinzenfluch -- Enchanted 3: Drachenwut// Die »Enchanted«-Trilogie ist abgeschlossen.
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Dark Diamonds
Jeder Roman ein Juwel.
Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.
Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.
Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.
Jess A. Loup
Hexensturm (Mysterious 3)
**Stelle dich dem Elfenfeind und erringe den Frieden** Das friedliche Zusammenleben der magischen Völker ist noch immer durch das Phantom und seine finsteren Machenschaften bedroht. In der Freien Stadt Antochtnar versucht die junge, unerschrockene Spionin Esava das drohende Unheil abzuwenden. Ihr zur Seite stehen Thorn und Diangar, zwei Männer, die sie schier in den Wahnsinn treiben. Während Thorn, ein charmantes Schlitzohr, es immer wieder schafft, Esava für sich einzunehmen, scheint Diangar hinter seinem Mut ein Geheimnis zu verbergen. Auf dem anstehenden Nationenball, bei dem Menschen, Sidhe, Zwerge, Hexen und die anderen Wesen der Königreiche gemeinsam feiern wollen, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu und der Krieg scheint unausweichlich …
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Vita
Danksagung
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© privat
Jess A. Loup versteht Deutsch, obwohl sie in Bayern lebt. Wenn sie nicht im Kopf mit imaginären Leuten spricht (oder über sie schreibt), ist sie auf dem Bogenparcours zu finden, lässt sich von ihren Katzen terrorisieren oder fotografiert wilde Tiere in Afrika. Solange der Brief aus Hogwarts verschollen bleibt, erschafft sie ihre eigenen magischen Welten.
Meinem Freund Wolfie gewidmet, der euch in dieser Trilogie als Wolfer Botek begegnete.
Die Jungs, die unter der niedrigen Treppe so tief in der Ecke hockten, dass man sie weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick leicht sah, hätten unterschiedlicher kaum sein können. Allerdings hätte es einer Laterne bedurft, um das zu erkennen. Die Haare des Kleineren schimmerten so blond, dass ein geringer Lichtschein genügte, um sie wie die Sonne aufleuchten zu lassen, er hatte helle Haut, ein schmales Gesicht und zarte Glieder. Der andere Junge war so tiefschwarz wie die Nacht und es fiel schwer zu entscheiden, wo sein kurzes Haar in der Farbe von Rabenfedern begann und wo die Haut endete. Im starken Kontrast dazu standen seine auffällig leuchtenden blauen Augen. Nur wenig größer als sein Freund bewegte er sich geschmeidig wie ein junges Raubtier, wenn er etwas unternahm.
Doch tatsächlich hielten die beiden still, wagten kaum zu atmen ‒ horchten, lauschten, versuchten, jedes Geräusch aufzunehmen und einzuordnen. Alles blieb ruhig.
»Ich möchte nicht, dass er mich weiterhin auswählt, Dian«, flüsterte der Blondschopf. »Es tut zu weh. Er sagt, ich sei etwas ganz Besonderes, aber ich will das nicht. Ich will nicht zu Höherem bestimmt sein!«
Der dunkle Junge legte ihm einen Arm über die Schulter. Hier im Waisenhaus nannten sie ihn Diangar und er galt als der Älteste auf der Etage der Acht- bis Zehnjährigen. »Ich auch nicht, Thorn«, murmelte er erschöpft. Er hatte die Augen trotz der Dunkelheit zusammengekniffen und ab und zu durchlief ihn ein Zittern. Erst vor einer Stunde hatte ihn der Kurator des Waisenhauses gehen lassen und es war eine lange Nacht gewesen, in der er Wadil Safa als Testobjekt für seine wissenschaftlichen Experimente gedient hatte. Mittlerweile konnten weder er noch die anderen Kinder zählen, wie oft sie nachts in das Labor gebracht und seltsame Geräte und klickende Maschinen an ihnen angeschlossen worden waren. Der Kurator hatte ihnen übelschmeckende Tränke gegeben, Spritzen verpasst, Blut entnommen, sie mit Kälte und Hitze traktiert und zugesehen, wenn sie sich dank seiner Medizin und undefinierbarer Mittel vor Schmerzen am Boden wanden. Sie hatten Operationen überstanden und Nächte überlebt, in denen sie sich ununterbrochen übergeben mussten. Und manche derjenigen, die mit ihnen im Waisenhaus lebten, waren nicht wieder aufgetaucht, nachdem sie zu Auserwählten erklärt worden waren.
»Irgendwann haue ich ab«, versicherte Thorn plötzlich mit aufwallender Wut. »Ich werde mich unsichtbar machen und einfach durch die Pforte rausgehen und dabei werde ich den verdammten Tormeister noch mit Löwenscheiße bewerfen und lachen.«
Auch Diangar lächelte schwach. »Und ich werde wegfliegen. Er sagt, ich sei ein Gargoyle, weißt du? Als wir letztens in der Großen Bibliothek putzten, habe ich heimlich nachgesehen, was das ist.«
»Ein Gargoyle?«, wiederholte Thorn. Seine Stimme klang dünn und wie von jemandem, der sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten konnte. Er ließ sich stärker gegen Diangars Schulter sinken.
»Ja«, raunte sein Freund. »Das ist ein Monster und zwar ein starkes, es muss vor niemandem Angst haben und es hat Flügel und so viel Kraft, dass es seine Freunde bis ans Ende der Welt tragen kann. Wir könnten einfach hier rausfliegen, wenn das stimmt.«
Eine Weile schwieg Thorn. »Und wir werfen dann einfach die Löwenscheiße von oben auf den Kurator und den Tormeister«, schlussfolgerte er.
Diangar war atemlos. »Heißt das, es macht dir nichts aus, wenn ich zu einem Monster werde?«
»Spinnst du? Ich wäre froh, wenn du es wärst. Du bist jetzt schon so stark, Dian, aber wärest du ein fliegendes Monster, das stärker als alle anderen ist … das fände ich schön. Wir könnten raus. Nicht nur zum Putzen in den Häusern …«
»In der Bibliothek bin ich eigentlich gern.«
Thorn nickte und obwohl es sein Freund in der Dunkelheit nicht sah, spürte er die Bewegung. »Ja, ich auch. Dekan Ences ist immer freundlich zu mir.«
»Er hat mich vorgestern erwischt, als ich gelesen statt geputzt habe, und hat nur gelächelt, als er vorbeiging.« Diangar fuhr sich über die enganliegenden Haare.
»Der Dekan ist anders als die anderen Erwachsenen«, bekräftigte Thorn. »Niemals schreit er und ich habe ihn auch noch nicht zornig erlebt. Und geschlagen hat er mich auch noch nie. Ich wünschte, sie wären alle so.«
Eine Zeit lang schwiegen sie und träumten vor sich hin. Die Erfahrung hatte sie in ihrem jungen Alter schon vieles gelehrt. Die wichtigste Lektion dabei lautete: Traue keinem Erwachsenen. Die hatten Macht und sie nutzten sie. Wenn es ihnen einfiel, konnten sie Kinder hungern, frieren und Schmerzen empfinden lassen. Dabei war es egal, ob diese etwas angestellt hatten oder nicht. Vor allem der Kurator des Rosenholz-Waisenhauses, Wadil Safa, besaß zwei Gesichter. Sie hatten es beide erlebt. Als sie angekommen waren, nahm er sich viel Zeit für jeden Einzelnen. Er fragte sie freundlich über ihr bisheriges Leben aus, erkundigte sich, was sie von ihren Eltern wussten, ob es ihnen gut ging. Danach teilte er sie in Gruppen ein. Die Glücklichen unter ihnen zählten nicht zu den Auserwählten. Sie mussten zwar wie alle Zöglinge des Waisenhauses der Gesellschaft für ihre Erziehung und Nahrung etwas zurückgeben – was in der Regel bedeutete, dass sie in Kolonnen loszogen und öffentliche Gebäude reinigten. Doch sie erlebten nicht die Schmerzen und die Angst in den Laboren des Kurators und allein deshalb konnten sie sich nach Thorns und Diangars Meinung glücklich schätzen.
»Wir müssen langsam los. Wenn wir nicht pünktlich zum Appell antreten, gibt es nur wieder Ärger.« Thorn zog die Schultern hoch.
Erneut durchlief ein Zittern den Körper Diangars, aber er erhob sich und strich mit den Händen über den groben, festen Stoff der Heimkleidung, die alle Waisen einheitlich kennzeichnete. Sie duckten sich unter dem Bogen der Treppe hindurch und Diangar warf einen Blick zurück, als sein Freund hinter ihm scharf die Luft durch die Nase zog. »Dein Rücken!«, flüsterte der Blondschopf. »Da ist überall Blut.«
»Dann sind die Wunden wieder aufgegangen.« Der dunkle Junge versuchte, über seine Schulter zu schielen, doch die Schmerzen, die ihn durchzuckten, hielten ihn davon ab, sich mehr als nötig zu bewegen.
»Ich will ihm wehtun!«, schwor Thorn. »Wenn ich nicht so feige wäre, würde ich es tun!«
»Du bist kein Feigling«, widersprach Diangar und zerrte eine abgetragene Kutte aus dem Versteck unter der Treppe hervor, um die Flecken auf seiner Kleidung zu verbergen. Die Betreuer fragten nicht danach, woher die Verletzungen stammten, sie bestraften jeden, den sie mit schmutzigen Sachen erwischten.
Thorn half ihm beim Überstreifen des zerschlissenen Umhangs. »Doch. Ich habe immer so viel Angst. Jedes Mal im Unterricht, beim Putzdienst und am meisten, wenn ich auserwählt bin!« An den letzten beiden Worten verschluckte er sich nahezu.
Sie sahen sich an, unwillig, ihre trügerische Sicherheit aufzugeben. »Hast du von Aklu aus dem vierten Stockwerk gehört?«, fragte Diangar leise.
Thorn riss seine strahlend grünen Augen auf. »Jaaaa …«, hauchte er. »Angeblich hat er auf einmal keine Luft mehr bekommen, da haben sie ihn in den Teich hinter den Gärten geworfen. Und er konnte unter Wasser atmen!«
»Es ist wahr«, sagte der dunkle Junge düster. »Ich hab’s gesehen, als ich das Futter für die Löwen rausbrachte, außerdem habe ich ein bisschen was von dem gehört, was der Kurator und Aklus Betreuer sagten. Er war kurz zuvor unten gewesen. Das Experiment verlief erfolgreich. Safas Worte. Doch Aklu ist seitdem weg!«
Wieder zog Thorn seine schmalen Schultern hoch. »Glaubst du, er ist gestorben?«
»Das weiß ich nicht. Aber falls wirklich irgendwas klappt und die Götter wissen, es wäre eine abscheuliche Ungerechtigkeit, wenn wir all die Angst und die Schmerzen umsonst erdulden müssten … also, wenn irgendwas von dem geschieht, was dieser …« Er brach ab. Etwas Ungehöriges über den Kurator zu sagen, wurde mit drei Tagen Dunkelzelle, trocken Brot und Wasser bestraft. Obwohl sie hier sehr wahrscheinlich von niemandem beobachtet wurden, ging er kein Risiko ein. So ein Haus hatte überall Mäuschen, die alles weitertrugen, was sie hörten. Er beugte sich ein wenig nach unten, damit er in Thorns Ohr wispern konnte: »Wenn er Erfolg hat und aus mir einen echten Gargoyle macht … bringe ich uns hier raus. Das verspreche ich dir.«
»Und vorher tötest du ihn!« Thorn bewegte kaum die Lippen, so sehr erschreckte ihn seine eigene Absicht.
Diangar schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, das könnte ich nicht. Aber wenn ich hier rauskomme, will ich ein Mitglied der Pfeilgarde werden. Die bekämpfen Verbrecher. Ich hörte es Dekan Ences sagen. Sie fangen sie und bringen sie vor ein Gericht. Und dann werden sie eingesperrt, die Verbrecher. Das will ich tun. Er soll in ein schwarzes Loch gesperrt werden und dort darüber nachdenken, wie gemein er ist!«
Thorn blinzelte nachdenklich. »Ich glaube, das würde mir gefallen«, murmelte er schließlich.
15 Jahre später
Sie kauerte am Rand des von Trümmern und Gesteinsbrocken bedeckten Platzes, der vor drei Tagen das Zentrum von Antochtnar ausgemacht hatte. Noch immer stiegen schwarze Rauchwolken in den Himmel und in ihrer Nase kribbelten Staub und der schweflige Gestank von etwas, das vermutlich der Auslöser der Explosion gewesen war. Esava wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das Ausmaß der Katastrophe erschreckte sie. Ein Grund mehr, alles über Wadil Safa herauszufinden und ihm das Handwerk zu legen. Der Hauptmann der Pfeilgarde hatte ihrem Freund Lyk mitgeteilt, dass es über einhundert Tote und Vermisste gab. Die Freie Stadt hatte auf einen Schlag über die Hälfte seines Bürgerrats verloren und stand unter Schock. Es würde dauern, bis die Führung von Antochtnar wiederhergestellt war, und bis dahin würden Opportunisten die Gelegenheit nutzen, so viel Schaden wie möglich anzurichten. Safa hatte für größtmögliches Chaos gesorgt, und obwohl Esava mittlerweile sicher war, er steckte auch hinter den Seelenlosen, ging sie davon aus, dass er noch viel mehr Unheil plante.
Lyk hatte behauptet, Safa sei derselbe, der einst als Kanzler unter dem alten Fürsten diente. Deshalb hatte sie sofort einen Botenvogel an Rupard und Heliarkos geschickt und wartete auf dessen Rückkehr. Sie musste alles über den Mann erfahren, was die beiden Herrscher wussten, bis dahin war sie auf sich allein gestellt.
Nur kurz hatte sie die Möglichkeit gehabt, Lyks Anwesenheit zu genießen, und die Erinnerung daran versetzte ihr einen Stich. Ihr Freund – der beste und teuerste, den sie hatte ‒ war ganz offensichtlich verliebt. Und das ausgerechnet in eine Sidhe, die so viel Autorität ausstrahlte, dass Esava sie schon auf den ersten Blick nicht leiden mochte. Das wäre kein Problem, wenn sie die Zuneigung Lyks nicht erwidert hätte, doch Esava hatte Augen im Kopf und sie hielt nichts davon, sich selbst zu belügen. Die Sidhe-Offizierin konnte noch so unbeteiligt tun, ihre Körpersprache erzählte etwas anderes. Sie fühlte sich von Lyk genauso angezogen wie er sich von ihr.
Missmutig sprang sie auf die Beine. Es war sinnlos, sich ausgerechnet jetzt mit ihren Gefühlen zu beschäftigen; es war unmöglich, ihren Freund zu zwingen, sie mehr zu mögen, als er es tat. Wobei es ja nicht einmal am »mögen« scheiterte. Sie seufzte leise.
Anscheinend nicht leise genug. »Welcher Kummer betrübt dein Herz, Lady Sturm?«
Fast hätte sie sehr undamenhaft geflucht. »Thorn!«
»Der Eine und Einzige.« Er verbeugte sich.
Man müsste ihm eine Kuhglocke um den Hals hängen, dachte sie grimmig. »Wie hast du mich gefunden und was willst du?«
Er presste seine Hand ans Herz. Die auffällig grünen Augen in seinem hübschen Gesicht funkelten. »Es schmerzt mich, so von dir behandelt zu werden, obwohl ich nur hier bin, um dir zu helfen und zu dienen.«
»Sicher.« Sie wandte sich von dem Trümmerfeld ab und trabte davon, ohne sich darum zu kümmern, was er tat. Der vorläufige Gildenvorstand hatte ihre Mutter gebeten, ihren Aufenthalt zu verlängern, bis in die reichen Kaufmannsfamilien wieder genügend Ordnung gekommen war, um ihre außergewöhnlichen Sachen gebührend zu bewundern. Schließlich würden ein paar Tote mehr oder weniger in der Stadt niemanden von Rang und Namen davon abhalten, nach Kopays zu reisen und an dem Ball teilzunehmen. Lyk hatte in Erwägung gezogen, den Fürsten zu bitten, den Ball zu verschieben oder gar ganz abzusagen. Doch ihm war sofort klar geworden, wie unmöglich das sein würde. Bereits in drei Wochen sollte er stattfinden und in der Zeit würden es die Boten kaum schaffen, alle Gäste wieder auszuladen. Sie wollte sich gar nicht erst die diplomatischen und politischen Verwicklungen vorstellen, falls jemand erfuhr, dass er nicht kommen sollte, aber andere eingetroffen waren, die nicht mehr rechtzeitig vom Ausfall des Nationenballs benachrichtigt worden waren.
»Nein«, hatte Lyk grübelnd erklärt. »Das ist leider keine Option. Einen Anschlag von Safa alias Sirus zuzulassen jedoch genauso wenig. Wir müssen ihn aufhalten, komme, was wolle!«
Ein Vorhaben, das erforderte, dass sie sich trennten und Esava auf sich allein gestellt war. So allein wie man sein konnte, wenn ein nächtliches Monster und dessen Freund anscheinend beschlossen hatten, ihr den letzten Nerv zu rauben. Thorn jedenfalls war in den letzten drei Tagen immer wieder unverhofft neben ihr aufgetaucht, wenn sie durch die Stadt streifte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Heute war es ihr zum ersten Mal gelungen, überhaupt zum Platz des Anschlags vorzudringen, bis dahin hatten sie jedes Mal Stadtwachen oder Leute von der Pfeilgarde davon abgehalten.
»Was geht in deinem hübschen Kopf vor?«, erkundigte sich Thorn, der mit seinen langen Beinen keinerlei Mühe hatte, ihr Tempo mitzuhalten.
»Warum bist du so aufdringlich?« Abrupt hielt sie an und wirbelte herum, um ihn kalt anzustarren. Natürlich war sie kleiner als der Dieb, aber das hinderte sie nicht daran, ihn von oben herab zu mustern.
Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, für das andere Frauen sicherlich morden würden. Esava gab zu, dass Thorn nicht nur ein gutaussehender Mann, sondern geradezu schön war. Hochgewachsen und schlank wie ein junger Baum und ausgestattet mit diesen leuchtenden Augen, dem blonden Haar, das nur eine Schattierung dunkler war als ihr eigenes, und seiner lockeren Art, die er wahrscheinlich für witzig hielt, vermochte er simple Gemüter durchaus zu beeindrucken. Doch sie ließ sich nicht täuschen. Das immer bereite, schnelle Lächeln erreichte nie seine Augen und unter dem harmlosen, lichten Äußeren verbarg sich eine Dunkelheit, die schwärzer war als die Haut des Kommandanten der Nachtwache. Nein, Thorn konnte man nicht trauen, auch wenn er Lyks Freunden geholfen hatte, bei Safa einzubrechen.
»Ach, Lady Sturm«, seufzte er. »Ich wäre so gern einmal wirklich aufdringlich, wenn du mich nur lassen würdest.«
Sie überlegte, ob sie ihm in die Weichteile treten sollte, ließ es aber. Aufmerksamkeit zu erwecken war das Letzte, was sie wollte. Stattdessen wandte sie sich ab und hielt sich in Richtung des Meeres. Die Straßen erwiesen sich als weniger voll als bei ihrer Ankunft in Antochtnar; sie wusste, dass viele Besucher nach dem Anschlag überstürzt abgereist waren – und wer konnte es ihnen verdenken?
»Bist du eigentlich jemals ernst und nützlich?«, erkundigte sie sich lieblich, als ihr ein Gedanke kam.
Thorn verzog das Gesicht übertrieben schmollend und sie musste tatsächlich ein Lachen unterdrücken. Er war ein geborener Hofnarr und unter anderen Umständen hätte sie sich gern von ihm ablenken lassen.
Ablenken wovon? Sie schüttelte den Kopf und rieb sich über das Brustbein. Der Dolch, der sich dort so mühelos versenkt hatte, als sie Lyk mit der Sidhe-Kriegerin sah, bohrte und schmerzte. Sie musste ihn loswerden, schon allein, um ihre Aufgabe zu erledigen.
»Ich bin ein äußerst nützliches Mitglied der Gemeinschaft von Antochtnar«, behauptete Thorn. »Und tatsächlich habe ich dich heute aufgesucht, weil mich ein möglicherweise noch nützlicheres Mitglied der Gemeinschaft darum gebeten hat, dich ihm vorzustellen.«
Im letzten Moment hielt sie sich davon ab, frustriert in ihren Haaren zu wühlen oder gar mit dem Fuß aufzustampfen. Es würde nicht den Eindruck vermitteln, den sie sich erhoffte, nämlich den einer erwachsenen und in sich ruhenden Frau. »Hör mal, du Windhund. Wenn du mit mir nicht so reden kannst, dass ich dich sofort verstehe, dann verschwinde. Wieso hast du überhaupt jemandem von mir erzählt? Und vor allem: was?« Sie wusste, es war ein Fehler gewesen, so offen zu sein, und das vor so vielen fremden Leuten wie in dem Rundturmzimmer. Natürlich hatte Lyk sofort eins und eins zusammengezählt und die anderen schienen auch nicht dümmer zu sein, zumal Thorn bereits bei ihrer ersten Begegnung Verdacht geschöpft hatte.
Als erriete er ihre Gedanken, hielt er sie sanft am Arm fest, sodass sie stehen bleiben und sich ihm zuwenden musste. »Lady Sturm, ich verspreche dir, er ist ein Freund.«
»Wessen?«, erkundigte sie sich misstrauisch.
»Meiner, deiner, aber auch der deines Fürsten und dessen Gefährten. Er bat mich, dich vorbeizubringen. Von ihm stammte die ursprüngliche Nachricht an Rupard, soll ich dir sagen. Wenngleich ich mir denken kann, was diese ursprüngliche Nachricht aussagt, habe ich sie doch nie gesehen. Hast du zufällig eine Ahnung, wen ich meine?«
Die hatte Esava tatsächlich, zumal sie Thorn ohnehin bitten … nun, ihm eher befehlen wollte, sie zur Großen Bibliothek von Antochtnar zu bringen. »Warum sagst du das nicht gleich? Los, eil dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!« Sie versuchte, ihren Arm aus seinem Griff zu lösen, doch statt loszulassen, zog er ihre Hand durch seine Armbeuge und bedeckte sie mit der seinen.
»Du möchtest nicht auffallen, oder, Lady Sturm? Lass uns ganz gemütlich zu unserem Ziel schlendern, als wären wir die zwei wunderbarsten, schönsten und schlauesten Menschen in der Freien Stadt.«
»Du hast noch vergessen zu erwähnen, dass wir auch die bescheidensten sind«, ergänzte Esava, machte jedoch keine Anstalten, sich zu befreien. Es war nicht schwer, Thorn amüsant zu finden, und wenn man ihn ließ, konnte er durchaus angenehm plaudern. Wie ein offiziell eingesetzter Stadtführer wies er sie auf diese oder jene Sehenswürdigkeiten hin, erzählte die Geschichte einiger bekannter Bauwerke und Gebäude. Er schaffte es dabei tatsächlich, interessant zu klingen, auch wenn Esava überzeugt war, dass er sich die Hälfte davon ausdachte.
Mindestens.
Schließlich zog er sie in eine schmale Gasse … falls man das so nennen wollte. Es war kaum ein Durchgang zwischen zwei gewaltigen Balkons, die sich über der Straße spannten wie eine Brücke. Sie überlegte, ob er vielleicht irgendetwas vorhatte, das ihr schaden konnte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Wenn Thorn gewollt hätte, wären seine Möglichkeiten bis hierhin nahezu unendlich gewesen. Er verschwand eine Treppe hinunter, die fast unsichtbar rechts von ihr abzweigte. Als sie ihm nach einem kurzen Blick, ob sie beobachtet wurden, folgte, kauerte er vor einer hölzernen Pforte, die kaum hoch genug war, um im Entengang hindurchzuwatscheln.
»Im Ernst?«, flüsterte sie. »Ich habe schon von Dienstboteneingängen gehört oder von Zugängen, die nur von Verbrechern genutzt werden, aber das hier!« Sie fuchtelte mit der Hand. »Das ist doch ein Scherz, oder?«
Im selben Moment öffnete sich die winzige Tür und ließ einen Blick in undurchdringliche Dunkelheit zu. Thorn packte ihre Hand, verschränkte seine Finger mit den ihren und zog sie hindurch. Die Tür fiel zu und ließ sie in einer grauenvollen Schwärze zurück. Esava wich zurück und stieß sich prompt an der niedrigen Decke. Sie fluchte leise und benutzte die schlimmsten Schimpfworte, die sie je von Lyks Ziehvater Keirie gelernt hatte.
Ein amüsiertes Lachen klang an ihr Ohr und warmer Atem strich über ihr Gesicht. »Warum bin ich nicht erstaunt, dass du auf Zwergisch zu fluchen vermagst, Lady Sturm?«
»Ich bin schon erstaunt, dass du Zwergisch erkennst«, murrte sie leise. »Ich sehe überhaupt nichts, es stinkt und es ist muffig und unangenehm. Da werden mir doch wohl Zweifel an dir und dem angeblich wichtigen Freund gestattet sein.« In einer Hinsicht log sie. Es war zwar stickig und eng hier unten, doch es stank nicht. In der Tat roch es sogar äußerst angenehm und sie brauchte mehrere Herzschläge, bis sie begriff: Der Duft kam von Thorn. Herb, männlich, wie eine Kräuterwiese und Sommerregen. Absolut nicht muffig.
Thorn antwortete nicht, sondern raschelte herum. Ein dünner Lichtstrahl glomm auf, dann leuchtete eine kleine Grubenlaterne den Gang vor ihnen aus.
»Komm, hübsches Mädchen«, schnurrte er. Seine Zähne blitzten, als er grinste. »Es ist nicht weit, aber ein Weg, den nur wenige kennen. Leprechaunmagie sorgt dafür, dass nur auserwählte Leute diesen Eingang überhaupt finden.«
Esava hatte noch nie von einer solchen Magie gehört und auch Leprechauns kamen lediglich in den Erzählungen der alten Mamsell Saldie vor. Kleine, flinke Wesen, die auf irgendeine Art und Weise ihre Haut wechseln konnten, wenn ihnen Gefahr drohte. Klein würde zumindest erklären, warum die Decke so niedrig war, dass sie gebückt hindurchgehen mussten. Während sie nur den Kopf ein wenig senkte, um ihn nicht anzustoßen, musste Thorn seinen langen, schlanken Körper ziemlich weit nach vorn klappen, was nicht sehr bequem sein konnte. Allerdings hatte es einen entscheidenden Vorteil, der Esava sogar ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Sie ließ es zu, da ihr Begleiter es ohnehin nicht sah. Sein fester, knackiger Hintern schwebte direkt vor ihr durch die Düsternis ihres Weges und wann bekam eine Frau schon einmal die Gelegenheit, ein so hübsches, männliches Attribut so ausgiebig anzustarren? Natürlich schickte sich das nicht, doch wo kein Scharfrichter, da auch kein Schwert.
Thorn blieb so unvermittelt stehen, dass sie beinahe mit ihrer Nase an das von ihr bewunderte Körperteil gestoßen wäre. »Wir werden jetzt einige Zeit aufwärtssteigen müssen, aber dann sind wir schon da, Lady Sturm«, erklärte er. Statt einer Tür schob er einen Teil der Wand zur Seite und sie gelangten auf eine breite Wendeltreppe.
Mit Treppen und Türmen hatten es die Antochtnarer, dachte Esava und stapfte hinter dem blonden Mann her. Es war keine Übertreibung, sie zählte bis fünfhunderteinunddreißig, bevor sie die letzte Stufe erreichten.
Thorn betätigte einen bronzenen Klopfer, wartete jedoch nicht auf die Aufforderung einzutreten. Hinter ihm schlüpfte Esava in den Raum, an dessen Wänden sich Regale über Regale zogen mit mehr Büchern, als sie selbst auf Schloss Kopays je gesehen hatte. Dazu kam die Aussicht eines gewölbten Fensters auf der gegenüberliegenden Seite, die offenbar die gesamte Freie Stadt und einen Teil des Meeres erblicken ließ. Esava konnte nicht anders, als zu starren. Es schien, als befände man sich auf dem höchsten Punkt eines Gipfels und die ganze Welt läge einem zu Füßen. Sie sah Häuser über Häuser, selbst den Rauch, der noch immer von der Unglücksstelle emporstieg, doch auch goldene Kuppeln, Kirchtürme und weiter hinten die Masten von unzähligen Schiffen. Möwen segelten vor dem Fenster vorbei und rissen kreischend ihre Schnäbel auf, ohne dass überhaupt ein Laut in diesen Raum drang. Ein einzigartiger Anblick, dachte sie und holte tief Luft.
Der Schreck zuckte ihr durch alle Glieder, als direkt neben ihr eine volltönende Stimme erklang. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim, junge Lady!«
Ganz sicher war der Platz dort eben noch leer gewesen. Thorn hatte sich bereits in einen der Sessel vor dem ausladenden Schreibtisch fallen lassen, als gehörte dieses wunderbare Arbeitszimmer ihm. Doch da war ein Schimmer neben ihr und dann blickte sie einem gutaussehenden Mann von etwa Mitte dreißig ins Gesicht, der so plötzlich neben ihr stand, als hätte ihn eine Hexe aus dem Nichts beschworen. Oder als reiste ein Schwarzmagier durch die Schatten. Beinahe ohne ihr Zutun umschlossen die Finger ihrer rechten Hand den ausziehbaren Kampfstock; im letzten Moment hielt sie sich zurück, als ihr klar wurde, wer der Fremde war.
Respektvoll neigte sie den Kopf. »Dekan Ences. Ich freue mich, Euch kennenzulernen. Ich habe nicht viel, aber nur Gutes von Euch gehört.«
Seine Rechte berührte den Brustkorb, dort, wo bei einem Menschen das Herz schlug. Esava wusste, dass Ences kein Mensch war, aber Fürst Rupard und Lord Heliarkos vertrauten ihm, das reichte ihr.
Der schöne Mann lächelte nicht und doch funkelten seine Augen und seine Miene zeigte nichts als Freundlichkeit und Interesse.
»Mir scheint, Ihr nehmt mir die Worte aus dem Mund, junge Lady. Bitte setzt Euch, es gibt einiges zu besprechen.«
Demonstrativ wandte sie den Kopf und sah Thorn an, der ausnahmsweise keinen lockeren Spruch auf den Lippen hatte.
Ences bewegte einladend die Hand. »Ich vertraue Thorn mit meinem Leben; was immer wir hier besprechen, sollte auch er wissen.«
Das war mal ein Kompliment an den Blondschopf, wenn sie je eines gehört hatte. Zögernd setzte sich Esava und verschränkte Hände und Füße so sittsam wie eine junge Dame aus dem Adel, die zu ihrem ersten Tanztee geladen wurde. Einen Moment lang dachte sie darüber nach. Nur weil der Dekan Thorn vertraute, musste sie es noch lange nicht tun. Doch dann fiel ihr ein, wie er sich vor drei Tagen, während die Explosion das Haus des Widerlings Nestus Conferustas erschütterte, über sie geworfen hatte, als die Decke herunterkam. Er hätte sich genauso gut in Sicherheit bringen können, stattdessen riskierte er zumindest seine Gesundheit, um ein ihm fast fremdes Mädchen zu schützen. Er war vielleicht nicht so sehr der Windhund, als der er sich selbst präsentierte.
»Ich möchte nicht drum herumreden«, begann sie. »Ihr habt Fürst Rupard eine Nachricht über Seelenlose geschickt. Niemand hier kümmert sich um sie, weil diese Leute aus den Teilen der Bevölkerung stammen, die eher unterprivilegiert sind.« Sie hatte das Gefühl, dass Thorn die Ohren spitzte, aber er mischte sich nicht ein. »Vielleicht wisst Ihr von den Problemen, die auch die Sidhe mit den Seelenlosen haben?« Ences nickte nur. »Nun, es gibt zwei Sachen, die ich mit Sicherheit dazu sagen kann, und diese Erkenntnisse habe nicht einmal ich selbst gewonnen. Erstens: Die Seelenlosen sind Menschen, denen etwas verabreicht wurde, das ihnen den freien Willen nimmt. Sie sind nur noch dazu da, den Befehl einer einzigen Person auszuführen. Der Name des Verantwortlichen lautet Wadil Safa und er war früher bekannt als Kanzler Sirus von Kopays.« Ences’ Augen weiteten sich einen Moment, doch seine Überraschung verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war. »Und zweitens: Safa hat das Mittel verbessert. Während seine Opfer früher Schmerzen empfanden, fühlen sie mittlerweile gar nichts mehr und kämpfen auch mit schweren Verletzungen ungerührt weiter. Sie stoppen nur, wenn sie tot oder bewusstlos sind.«
Der Dekan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände ineinander. »Das ist schlimmer als wir vermutet haben, hm, Thorn?«
Der Mann, bei dem sich Esava noch immer nicht sicher war, ob er ein Dieb, ein Einbrecher, sonst eine Art Krimineller oder tatsächlich nur ein Spion war, zuckte mit den Schultern. »Das Vermuten und Denken überlasse ich anderen.«
Obwohl sich Ences’ Blick scharf auf ihn richtete, sprach er mit Esava. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, den Seelenlosen Einhalt zu gebieten?«
Sie dachte an das, was sie von Lyksan erfahren hatte. »Ich weiß nicht, ob es sich um Zufall handelt oder nicht. Aber vielleicht kann man die Insulaner umkehren. Ich nehme an, Thorn hat Euch von Connark erzählt?«
»Der Mann von Suatie, nicht wahr?«
Unwillkürlich war Esava beeindruckt. Der Dekan wusste nicht nur über den Insulaner Bescheid, er kannte sogar seine Heimatinsel. »Richtig. Ihm ist es gelungen, einen seiner Stammesgefährten ‒ wie nenne ich das? ‒ zurückzuholen. Umzudrehen. Wieder menschlich werden zu lassen.«
Ences, der angefangen hatte zu kippeln wie ein junger Bursche, ließ abrupt seinen Stuhl nach vorn krachen und sah sie an. Seine Augen funkelten. »Ist das wahr? Und wäre es …«
»Nein. Es ging wohl nur, weil Connark und der andere Barbar von derselben Insel stammten und dieselben Werte oder denselben Stammesstolz vertreten.« Nicht einmal Lyk war sich darüber im Klaren, warum es bei Connarks Freund gelungen war, ihm seinen Verstand wiederzugeben, und bei dem anderen Insulaner nicht. Aber seine Vermutungen waren in der Regel recht genau und er nahm an, dass andere Freunde oder Familienangehörige ihre Brüder und Gefährten zurückzuholen vermochten.
»Thorn hat mir von den Kindern berichtet«, warf Ences ein, doch Esava kam es vor, als dächte er laut nach.
Sie seufzte. »Das ist ein fast noch perfideres Spiel als mit den Barbaren. Sie sind Waisenkinder ohne Angehörige, die wenigsten von ihnen dürften jemand Nahestehenden haben. Ich habe keine Ahnung, was wir in dieser Hinsicht tun könnten.«
Der Blondschopf neben ihr räusperte sich. Er hatte noch kein einziges Mal gelächelt seit sie hier waren und sie fragte sich, woran das liegen mochte. Ihr schien, dass dieses schnelle, flüchtige Grinsen, das er sonst anscheinend jederzeit aufsetzte, für ihn wie eine Art Mantel oder Waffe war – eingesetzt, um sich oder seine Gefühle zu schützen. Brauchte er das hier nicht? War es ihm möglich, sich bei dem Oberhaupt der Großen Bibliothek von Antochtnar wie er selbst fühlen? Sie schüttelte den Gedanken ab – was ging sie Thorn an? Nicht, dass es sie je davon abgehalten hatte, einer Sache auf den Grund zu gehen, die sie interessierte, nur weil das etwas war, wohin sie eigentlich ihre Nase nicht stecken sollte.
»Seit wann so schüchtern, Thorn?« Ences sah zwischen ihnen hin und her und nickte, als wäre er zu einer Einsicht gekommen. »Ah, ich verstehe. Die Schriften.«
Sie horchte auf. »Das geklaute Zeug aus den Herrenhäusern?«
»Ihr habt von meinem jungen Freund einen völlig falschen Eindruck«, beschied Ences sie milde. »Wäre Thorn nicht so gut in dem, was er tut, wäre ich fast ein wenig enttäuscht, dass Ihr ihn nicht durchschaut.«
Im ersten Moment wollte sie aufbrausen. Sie war eine gute Beobachterin und wusste das auch, doch wieder kamen ihr die Abschiedsworte Thorns bei ihrer ersten Begegnung in den Sinn. Zwar konnte sie nicht so wortgetreu alles wiedergeben, was sie je gehört hatte, aber ihr Gedächtnis funktionierte tadellos. Er hatte gemeint, sie würde erkennen, was er tat, weil dasselbe auch ihre Aufgabe sei. Das würde bedeuten …
Sie wandte den Kopf, um den Windhund aufmerksam zu mustern. Es schien so, als bemerkte er ihren Blick nicht, um seine Lippen spielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln. »Ihr behauptet, Thorn sei ein Spion? In wessen Auftrag? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bürgerrat seine eigenen Mitglieder ausspionieren lässt.«
»Der Bürgerrat!«, spuckte Thorn wütend aus.
Ences hob die Hand. »Der Bürgerrat war einst eine ganz hervorragende Institution, die dem ursprünglichen Gedanken, alle Menschen und andere Völker in Antochtnar seien einander gleich, eine Stimme verlieh. Seitdem ist jedoch viel Zeit vergangen und Korruption und Machtgier haben um sich gegriffen.«
»Obwohl alle zwei Jahre neu gewählt wird?«, warf Esava ein.
»Wenn immer dieselben oder Marionetten derselben im Rat erscheinen? Auf jeden Fall.« Ences ließ sich nicht beirren. »Ich beobachte diese Entwicklung seit Jahren mit Besorgnis. Und jetzt, nach diesem Anschlag, droht Chaos über unsere Heimat einzubrechen. Noch immer ist nicht bekannt, wer vom Rat überlebt hat und doch kriechen schon die Ratten aus ihren Löchern, um diese Zeit der Unordnung zu nutzen. Im und um das Rathaus herum, im ganzen Norevad-Viertel, kommt es zu Plünderungen.«
»Schön und gut, was hat das mit dem Diebesgut zu tun?«
Ences schlug ein Bein über das andere. »Mein Freund Thorn hilft mit seiner einzigartigen Begabung seit Jahren, die schlimmsten Individuen des Rates in Schach zu halten, indem er Informationen über sie besorgt, die nicht einmal unsere Stadtwachen ignorieren können.«
Einerseits war Esava beeindruckt, dass sich Ences und Thorn so für ihre Heimat einsetzten, andererseits fragte sie sich, mit welchem Recht der Dekan sich herausnahm, eine Art Gesetz über dem Rat zu sein.
Als hätte Ences ihre Gedanken gelesen, nickte er. »Ihr seid skeptisch, junge Lady, das verstehe und respektiere ich. Vielleicht erscheine ich Euch arrogant, doch in all der Zeit, die ich bereits lebe – und das ist bedeutend länger, als mein Aussehen vermuten lässt ‒, habe ich stets nur danach gestrebt, gerecht zu sein. Mir geht es um Wissen, um Lernen, darum, dass sich Menschen und andere Rassen miteinander verstehen und gemeinsam wachsen können. Ein guter Freund, der erst kürzlich verstorben ist, hat all seine Fähigkeiten und sein Leben dem Recht und Gesetz gewidmet und von ihm habe ich sehr viel gelernt und bin bestrebt, ihm nachzueifern. Sein Name war Thomaris und er war einer der seltenen Drachenwandler.«
Wenn dieser Thomaris nur halb so gerecht und ehrbar gewesen war wie Lord Heliarkos, dann konnte sich Esava gut vorstellen, welchen Einfluss er auf Ences gehabt haben mochte.
Trotzdem würde sie den Botenvogel zum Fürsten und seinen Gefährten schicken und sich über ihn erkundigen. Natürlich, die beiden vertrauten Ences ohnehin, aber es schadete nicht, sich eine eigene Meinung zu bilden.
»Und Ihr hattet keinen Verdacht gegen Nestus geschöpft?«
»Ich war, wie du selbst weißt, erst seit Kurzem dabei, den Fettwanst zu überprüfen«, warf Thorn ein.
Der Dekan erhob das Wort. »Zurück zu den Schriften. Die meisten sind weniger brisant, als man annehmen möchte und mein junger Freund hier bringt sie genauso unbeschädigt zurück, wie er sie … sich ausgeborgt hat. Doch oft genug gibt es richtig schwarze Schafe unter denen, die eine Vorbildfunktion einnehmen und Antochtnar regieren sollen. Solche wie der ehrenwerte Nestus Conferustas.«
Esava schüttelte sich. Hauptmann Botek war es gewesen, der diesen Mann festnahm, und sie hatte nichts über die Ergebnisse seines Verhörs mitgeteilt bekommen. Andererseits hielt man sie für die unbedeutende Gehilfin der berühmten Näherin Rativa Keeser, sodass sich kaum jemand bemühen würde, ihr etwas anzuvertrauen. Vielleicht gab es aber auch keine Erkenntnisse, die Botek als teilenswert einschätzte.
»Wie dem auch sei: Unter den letzten Pergamenten fanden sich einige, auf die wir uns keinen Reim machen konnten, da sie eine seltsame Krankheit und deren Heilung betraf. Nicht einmal eine bekannte Heilerin aus dem Wissenschaftsviertel war in der Lage zu sagen, welch ein Rezept das sein sollte und wir hatten es daraufhin als unwichtig eingestuft. Doch jetzt frage ich mich …« Ences brach ab und schien in tiefes Grübeln zu versinken.
»Ihr meint diese Unsinnsschrift?«, fragte Thorn.
»Richtig. Jene, die wir dem Aberglauben zuordneten, auch wenn wir uns nicht erklären konnten, warum sich so etwas in einem der Tresore von Conferustas fand.«
Esava fühlte sich übergangen. »Würde es einem der beiden edlen Lords etwas ausmachen, mich einzuweihen?« Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt, doch Geduld war eine Tugend, die sie sich hart antrainiert hatte und die nicht immer zu tragen kam.
»Besser, ich zeige es Euch.« Wie ein junger Bursche sprang Ences auf und trat an einen walnussbraunen, unscheinbaren Schrank auf der anderen Seite des Zimmers. Er öffnete ihn – und verschwand.
Esava blinzelte. Eben noch hatte der Dekan nur wenige Fuß von ihr entfernt gestanden und plötzlich war er weg! Misstrauisch warf sie Thorn einen bitterbösen Blick zu, doch der hob nur die Hände in einer kapitulierenden Geste. »Dafür kann ich nichts. Der ehrenwerte oberste Bibliothekar von Antochtnar beherrscht diese Fähigkeit schon länger, als ich auf der Welt bin.«
»In der Tat.« An der Stelle, an der Ences’ Stuhl stand, flimmerte es und der Dekan erschien wieder, ein entwaffnendes Lächeln auf den Lippen. »Was auch immer Safa mit meinem jungen Freund angestellt hat, ich vermute, er nutzte dafür etwas aus einem Teil meiner Herkunft. Doch das ist ein Thema für ein anderes Mal.« Er wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite und legte ein Bündel Papiere auf dem Schreibtisch ab. »Hier ist, was ich suchte. Seht selbst, junge Lady.«
Zögernd nahm sie ihm das Pergament ab und begann zu lesen, nur um ungläubig aufzusehen. »Seid Ihr sicher, dass es sich hierbei um ein Rezept handelt und nicht um eine alberne Beschwörung aus alten Zeiten, als die Menschen noch in ungegerbten Tierfellen herumliefen und kaum mehr als zehn Worte kannten?«
Ences schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Obwohl man entgegenhalten könnte, allein dort schon mehr als zehn Worte zu sehen.«
Das stimmte, machte es aber nicht wahrscheinlicher, dass es sich hierbei um etwas Nützliches handelte. Langsam rezitierte sie:
»Schwarze Augen, schwarzes Herz,
denke nichts, fühl keinen Schmerz.
Tue, was dir aufgetragen,
kein Verstand und keine Fragen.
Helfen kann dir nur das Blut,
fünffach jung und alter Brut.
Frei gegeben, frei verbunden,
rettet es des Geistes Wunden.
Magisch’ Kräfte vereint nur sind
durch Feuer gezeichnetes Flammenkind.
Das Elixier brennt heiß und hell
und bringt zurück der Seele Quell.«
Thorn zog die Schultern hoch und Esava verstand gut, was er empfand. »Es klingt wie der schlechte Versuch eines betrunkenen Poeten, der sein erstes Werk verfassen wollte und dann erkannte, dass diese Berufung doch nicht die seine war«, stellte sie fest. Gleichzeitig überlief sie ein Schauer.
Zumindest die ersten vier Zeilen beschrieben die Seelenlosen genau so, wie es Lyk und auch Fürst Rupard getan hatten. Sie las die Verse ein zweites Mal. Und ein drittes. Es wurde nicht besser.
»Also gut«, sagte sie schließlich. »Nur mal angenommen, es handelt sich wirklich um ein Rezept gegen die Seelenlosen. Warum befand es sich dann im Besitz von Nestus?«
»Das wissen wir nicht.« Ences spreizte die Finger. »Möglicherweise als Rückversicherung, falls es zu Unstimmigkeiten mit Safa kommt. Der Kurator hat es bestimmt nicht von sich aus herausgegeben. Es scheint sich um eine alte Übersetzung aus der Hochsprache der Walddryaden zu handeln, man erkennt bei genauem Hinsehen auf dem Pergament verblasste Worte, die darauf hindeuten, dass auf dem Ursprungsrezept diese Übersetzung verfasst wurde.«
»Wäre ich Safa, hätte ich mindestens einen Fehler eingebaut, bevor ich es meinem Partner gebe«, wandte Esava ein. »Er ist bekannt dafür, alle um sich herum zu betrügen. Also was, wenn es sich um eine Fälschung oder unvollständige Übersetzung handelt?«
»Das lässt sich herausfinden«, versicherte der Dekan. »Ich kenne den ein oder anderen Dryaden, der mir sicherlich behilflich sein wird.«
»Und dann was? Vertrauen wir einem Stück Pergament aus einer dubiosen Quelle?«
»Das haben wir vor zwanzig Jahren auch getan und das war nicht das Schlechteste, was uns passieren konnte.«
Er spielte auf die Seelenpartner an. Esava kannte die Geschichte ihres Fürsten, seines Gefährten und der anderen beiden Seelenpaare. Damals hatte es sich um eine Art Prophezeiung gehandelt, wenn sie sich nicht irrte. Eigentlich hatte sie diesen Teil immer für ein Märchen gehalten, das man abends erzählte, um die Geschehnisse vor zwei Jahrzehnten dramatischer wiederzugeben.
Erneut schien es, als belauschte Ences ihre Gedanken. »Es mag mittlerweile eine Legende sein«, sagte er. »Doch in jeder Legende steckt ein Fünkchen Wahrheit.«
»Na dann.« So ganz gelang es ihr nicht, den Spott zu unterdrücken. »Was bedeutet diese Blut-Brut-Sache? Müssen wir fünf Vertreter verschiedener Rassen finden, sie aufschlitzen und ausbluten lassen? Selbst wenn wir damit die Kinder und die Verschwundenen retten könnten, wären wir keinen Kupferling besser als Safa selbst.«
Dieses Mal widersprach Thorn. »Ich verstehe es so, dass das Blut freiwillig gegeben werden muss. Niemand würde sich töten lassen, schon gar nicht für fremde … ungewollte Waisenkinder.«
Ences tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe. »Vielleicht ist das nicht nötig«, sagte er langsam. »Möglicherweise brauchen wir nur ein bisschen Blut verschiedener Rassen und dann … ja, wer weiß? Es gibt vielleicht eine Möglichkeit. Darüber muss ich nachdenken und einen Botenvogel an jemanden schicken.«
Er fragte nicht, ob er sie begleiten dürfte, sondern tat es einfach. Thorn ließ sich auch nicht davon abhalten, als sie ihre Schritte beschleunigte. Irgendwann fuhr sie zu ihm herum und funkelte ihn an. In ihren hellen Augen standen Zorn und Blitze. Gut, dass sie diese nicht schleuderte, er würde innerhalb kürzester Zeit in Flammen stehen!
»Hast du kein Zuhause?«, fuhr sie ihn an. »Du kannst mich nicht auf Schritt und Tritt verfolgen!«
Doch, das konnte er. Übertrieben tief verbeugte er sich. »Ich möchte nur sichergehen, dass du unbehelligt deine neue Unterkunft erreichst.« Natürlich wusste er, dass man sie und die anderen Gäste aus Kopays sofort in ein anderes Anwesen verlegt hatte, da Nestus’ Haus heftige Schäden abbekommen hatte. Auch der Vorsitzende der Kaufmannsgilde selbst war nicht unbeschadet davongekommen und würde es schwer haben, sich freizukaufen, selbst wenn ihm die Offiziere des Rats oder der Pfeilgarde keine Verbindungen zu dem Anschlag nachweisen konnten. Waffen zu bauen war nur einer Gilde vorbeihalten und Nestus hatte klar gegen dieses Gesetz verstoßen.
»Du bist nicht mein Wachhund!«
»Für dich würde ich es gern sein«, behauptete er zwinkernd. »Solange du nicht erwartest, dass ich mit dem Schwanz wedle.«
Das Mädchen überraschte ihn. Eigentlich hatte er erwartet, sie würde erröten oder verlegen sein. Stattdessen ließ sie demonstrativ ihren Blick über seine Gestalt wandern und ihn länger auf seiner Körpermitte liegen, als schicklich war. »Oh, ich weiß nicht«, antwortete Esava und sie sprach so süßlich wie eine verdorbene Frucht. »Ob du dazu wohl fähig wärest?«
Fast verschlug es ihm die Sprache. Doch der Tag, an dem er nichts mehr zu erwidern fand, wäre derselbe Tag, an dem er vom Rande der Welt stürzte. »Wenn du lieb bittest …«, begann er, aber sie unterbrach ihn sofort.
»Mach dir keine Hoffnung, ich habe weder Zeit noch Lust, mich in irgendeiner Form mit dir zu amüsieren.«
»Vielleicht solltest du deine Meinung über Amüsement allgemein überdenken?«, schlug er vor. Solange es ihm gelang, sie mit einer verbalen Rauferei abzulenken, versuchte sie wenigstens nicht, ihn loszuwerden. Obwohl er auch nichts gegen ein körperliches Handgemenge mit der hübschen jungen Frau einzuwenden hätte, allerdings nur, wenn sie ihren hinterhältigen Knüppel nicht mehr dabeihatte. Oder mit seinem spielte.
Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten. »Im Ernst jetzt!«, forderte sie. »Was willst du?«
»Dasselbe wie du, würde ich meinen. Herausfinden, wie wir mit den Untoten umgehen und mit wem Safa noch zusammengearbeitet hat.«
»Warum?« Ihre Stirn krauste sich. »Was interessiert es dich?«
Ärger stieg in ihm hoch. Sie war genau wie alle anderen, die glaubten, ihn zu kennen. Wie Diangar, der ihn für einen Feigling und Dieb hielt, ohne Verantwortungsbewusstsein, Ehre und den Willen, die Welt und das Leben ein bisschen besser zu gestalten. Doch Thorn unterdrückte seine Wut. Diangar hätte es besser wissen müssen, denn genau die Eigenschaften, deren Mangel er ihm vorwarf, hatten sie als Kinder einander geschworen zu bewahren und hochzuhalten. Dieses Mädchen hier kannte ihn nicht und verließ sich auf das, was sie sah. Er zeigte ihr auch nur, was sie sehen sollte, also lächelte er so schnell und sorglos wie immer.
»Weil mich Ences dafür bezahlt natürlich.«
»Natürlich.« Ihr Gesicht verfinsterte sich, dann nickte sie. »Nun, nicht die schlechteste Motivation, es sei denn, es käme jemand, der mehr bietet, nicht wahr?«
Thorn musterte ihr Gesicht, das jetzt so ausdruckslos und glatt war wie die See nach einem Sturm. Dennoch vermeinte er zu spüren, wie sich hinter ihrer hübschen Stirn die Gedanken jagten. Sie misstraute ihm, in jeder Hinsicht, und das fand er gut. Es bedeutete, dass sie ihm kaum etwas glaubte, was er erzählte.
Obwohl er die Wahrheit gesagt hatte, zumindest auf eine gewisse Art. Auf seine Art. Ences bezahlte ihn – als Mitarbeiter der Bibliothek für besondere Aufgaben. Diese waren nicht spezifiziert und die meisten interpretierten seine Dienste als die eines Botenjungen. Falls sich überhaupt jemand Gedanken über den jungen Mann machte, der gelegentlich den Dekan der Großen Bibliothek von Antochtnar aufsuchte. Ences hatte sich seiner angenommen, als er auf dem Tiefpunkt seines ohnehin verdammten Lebens gewesen war, und Thorn wusste, dass man dem Mann vertrauen konnte. Worum immer er ihn bat – er hätte es auch ohne Bezahlung getan. Das Gold ermöglichte ihm aber ein Leben in Stolz und Würde, ohne sich das Notwendigste zusammenstehlen und in einer der eingefallenen Katen leben zu müssen, zu denen er Esava bei ihrer ersten Begegnung gelockt hatte.
Allerdings war das nichts, was er ihr erzählen würde, jedenfalls heute nicht. »Genau«, stimmte er deshalb leichthin zu.
»Na schön.« Sie tat so, als fände sie sich mit seiner Gesellschaft ab. Thorn wusste, dass es ihr gegen den Strich ging. Offensichtlich war sie es gewohnt, allein zu arbeiten, doch genauso wie er wusste sie: So würde sie hier nicht weiterkommen. Vielleicht, wenn sie offiziell die Ermittlerin des Herrn von Kopays wäre, auch wenn das Fürstentum in der Freien Stadt kein Mitspracherecht besaß. Unter dem Deckmäntelchen der Nähergehilfin könnte sie sich zwar unter den Dienerinnen und dem Gesinde der großen Häuser umhören, aber um an die wirklich wichtigen Geheimnisse zu kommen, würde sie Qualitäten benötigen, die sie ganz sicher nicht besaß. Obwohl ihre Finger schlank und agil wie die eines guten Einbrechers waren, bezweifelte Thorn, dass sie in der Lage war, einen Tresor oder auch nur die verriegelte Tür eines Arbeitszimmers zu knacken.
»Und wie, schlägst du vor, beginnen wir unsere …« – sie kaute an den folgenden Worten, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Missfallen zu verbergen – »Zusammenarbeit?«
»Die Nacht bricht bald an und ich empfehle, dass du dich ein wenig ausruhst oder vielleicht unter den Angestellten des neuen Hauses umhörst. Und dann …«
Jetzt wirkte sie interessiert. Thorn beobachtete amüsiert, wie sie ihr Kinn hob und ihn scharf ins Auge nahm. »Ja?«
»So begierig, meinen Plan zu hören?« Sie befanden sich in der Nähe einer Kutschenstation und er winkte eine heran, damit sie den Rest des Weges bequem zurücklegen konnte.
»So begierig, dich loszuwerden«, behauptete sie, hielt jedoch inne, obwohl das Gefährt vor ihr zum Stehen kam und Thorn die Tür öffnete.
»Ich hole dich heute Nacht zur dritten Stunde ab und wir schauen nach, was vom Rathaus übriggeblieben ist.« Er senkte die Stimme, damit sie nicht belauscht wurden, und stellte erfreut fest, dass diese Taktik sie zwang, sich näher zu ihm zu beugen, wenn sie ihn verstehen wollte.
Esava dachte kurz nach und ignorierte den Kutscher, der in dem rauen Tonfall der Unterstädter von Antochtnar etwas von Geturtel und Liebespaaren knurrte. »Ganz schön spät, meinst du nicht?«, fragte sie.
»Genau die richtige Zeit, um müde zu werden. Glaub mir, Lady Sturm, das ist die Stunde, in der selbst die aufmerksamsten Wächter anfangen zu dösen.«
Sie zeigte ihr liebliches, unechtes Ich-bin-ein-kleines-Dummchen-Lächeln. »Ich verlasse mich auf deine umfassende Erfahrung, Windhund«, verabschiedete sie sich und verschwand in der Kutsche.
Thorn sah einen Moment zu Boden, um sich zu fassen. Dieses Mädchen hatte etwas an sich, das ihn nervös machte.
Vielleicht der Stock, den sie immer bei sich trägt, dachte er grinsend, schüttelte den Kopf und trabte in die entgegengesetzte Richtung davon. Er würde die Zeit bis heute Nacht damit verbringen, die Wachen am Platz der Katastrophe zu beobachten, ihre Schichtwechsel, ihre Angewohnheiten. Das Einzige, was ihm Sorgen bereitete, war die Möglichkeit, dass nach Sonnenuntergang die Nachtwache den Dienst übernahm, doch andererseits glaubte er das nicht. So nützlich Männer und Frauen wie Diangar und er waren, ihnen wurden nur wenige wirklich verantwortungsvolle Aufgaben übertragen.
Er nutzte seine Gabe, um ungesehen an dem nördlichen Posten vorbeizuschleichen, und suchte sich einen Aussichtspunkt, von dem er alles im Blick behielt und trotzdem nicht durch noch immer einstürzende Gebäudeteile gefährdet war. Drei Tage nach dem Attentat gab es noch immer keine gesicherten Meldungen darüber, wer getötet, wer verletzt war, wer es unbeschadet hinausgeschafft hatte. Eines war jedoch klar. Safa meinte es ernst. Vom Rathaus standen nur noch Mauerreste, mehr ein tiefer Krater als alles andere. Ob sie sich da hineinschleichen und noch etwas finden konnten, blieb fraglich. Der Rest des Viertels wirkte ähnlich mitgenommen. In Sichtweite des Rathauses hatten sich die großen Häuser der ehemaligen und jetzigen Ratsmitglieder befunden – soweit Thorn das überblickte, hatte es den Untergrund ausgehend von dem Krater spinnennetzartig aufgerissen, sodass auch diese wie Sandburgen von Kindern in sich zusammengefallen waren. Er brauchte den Kopf nicht nach links zu wenden, um zu wissen, wo sich hinter den herrschaftlichen Anwesen das Grundstück des Rosenholz-Waisenheimes befand. Wie viel würde dort noch stehen? Sie würden es überprüfen müssen, auch wenn sich alles in Thorn dagegen sträubte. Die Angst, die ihn in den Katakomben erfasst hatte, das Gift, das noch immer gelegentlich in seinem Hals kratzte, und die starren Augen der Kinder … wie er eines gewesen war. All das suchte ihn auch jetzt noch, Tage später, heim. Und nicht nur, wenn er schlief.
Während er beobachtete, dachte er nach. Sie würden am besten denselben Weg gehen wie bei seinem Einbruch mit Diangar, dem Barbar und der Sidhe-Soldatin. Dian behauptete, die Kinder seien alle verschwunden, und Wolfer Botek berichtete davon, dass kein erwachsener Betreuer mehr aufzufinden sei. Natürlich hatte er das nicht Thorn erzählt, sondern dem jungen Kerl namens Lyksan, dem Lady Sturm so lange schöne Augen gemacht hatte, bis sie bemerkte, wie sehr der im Netz der großen Sidhe-Offizierin zappelte. In diesem Moment hatte Esava ihm leidgetan. Er wusste, wie stark Zurückweisung schmerzte, besonders von jemandem, dem man mehr als jedem anderen nahe sein wollte.
Als die entfernten Turmuhren die erste Stunde des neuen Tages schlugen, brach er auf, um das Mädchen abzuholen. Sie wartete bereits im Toreingang auf ihn, was er bedauerte. Er liebte es, durch dunkle Gänge schlafender Häuser zu schleichen, sie gleichzeitig zu erkunden und Dinge in Erfahrung zu bringen. Jetzt würde er keinen Blick in das ihr zugewiesene Zimmer werfen können. Räume, selbst solche, die man nur als Gast bewohnte, pflegten viel über die darin Lebenden auszusagen. Thorn wusste nicht, warum dieses Mädchen ihn so interessierte. Leider schien das nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen.
Nichts zu machen. Die Geschichte seines Lebens.
Wenigstens hatte sie sich ein dunkles Tuch über das helle Haar gebunden und trug Kleidung, die an jene erinnerte, in der sie das erste Mal aufeinandergestoßen waren.
»Immerhin bist du pünktlich«, murmelte sie, als sie sich aus dem Schatten der Einfahrt löste.
»Als würde ich eine hochedle Lady warten lassen«, erwiderte er genauso leise.
»Ich dachte, in Antochtnar gibt’s keine Herren und edlen Ladys?«
Er spürte ein echtes Grinsen an seinen Mundwinkeln zupfen. »Du wirst feststellen, dass es umso mehr von etwas gibt, je weniger erwünscht diese Sache ist.«
»Wie weise Ihr doch seid!« Sie stand nahe bei ihm und er bemerkte zwei Dinge: Erstens klimperte sie dümmlich wie eine Kaufmannstochter bei ihrem ersten Ball mit den Wimpern und zweitens roch er den leichten Zitrusduft ihrer Haare. Eine Strähne hatte sich aus dem Tuch gelöst oder war von vornherein nicht vernünftig befestigt gewesen.
»Ich weiß«, seufzte er theatralisch. »Verzeih mir, Lady Sturm, ich werde dir jetzt nahetreten, aber bitte, lass deinen Prügelstock dort, wo er gerade steckt, ja? Ich werde nur deine Haare wieder unter das Piratentuch stopfen, damit dein Silberhaar nicht sämtliche Nachtwandler auf uns aufmerksam macht.« Behutsam strich er mit den Fingern über die weiche Locke, bevor er sie wieder versteckte.
»Nachtwandler?«
»Schlimme Monster mit großen Zähnen.« Er ließ seine eigenen aufblitzen und sie darüber im Unklaren, ob er es ernst meinte oder nicht. »Wenn du mir jetzt bitte folgen würdest?«
Dieses Mal gab es keine Kutsche für die Lady. Stattdessen führte er sie quer durch die Stadt, auf all den Schleichwegen, die ihm bekannt waren, und die teilweise beinhalteten, über Dächer zu laufen und schmale, aber tiefe Spalten zu überspringen. Egal, was sie von ihm hielt – sie vertraute sich ihm so weit an, dass sie nicht zögerte zu tun, was er ihr vormachte. Und entweder war sie tatsächlich so kaltblütig wie ein Drache oder sie konnte vorhandene Ängste sehr gut verbergen; nicht ein Mal zeigte sich ein Zögern, wenn sie ihm nahezu auf dem Fuße folgte.
Schließlich huschte er leichtfüßig durch den Keller eines der angrenzenden Lagerhäuser zum Norevad-Viertel, zwängte sich durch ein schmales Fenster im Erdgeschoss und reichte Esava die Hand, um ihr ebenfalls hinauszuhelfen. Auch hier zierte sie sich nicht und einen Moment lang genoss er die Wärme und Weichheit ihrer Haut. Sie kauerten im Schatten des Gebäudes, eng nebeneinander, um weder den Schutz der Schatten zu verschwenden noch lauter als notwendig flüstern zu müssen. »Wenn du bis zur Ecke schleichst und nach links schaust, siehst du den Posten, der das Gebiet auf dieser Seite überwacht.«
Entweder glaubte sie ihm nicht oder hatte dieselbe Gewohnheit wie er, alles zu überprüfen. Sie huschte voran und spähte in die angegebene Richtung. »Warum patrouillieren sie nicht?«, flüsterte sie, als sie zurückkam.
»Vermutlich haben sie Luftdeckung«, raunte Thorn.
Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die wenigen Skelette der noch halbwegs stehenden Häuser. »Da oben kann sich niemand aufhalten, um alles im Blick zu behalten.«
»Die nicht, aber ein oder zwei von Dians Schlag schon.« Am Nachmittag hatte er diese Überlegung noch verworfen. Doch wenn man diese Zerstörung betrachtete, blieb den Ratsleuten kaum eine andere Möglichkeit, um hier noch zu schützen, was des Schützens wert war.
Anscheinend ging ihr eine ähnliche Überlegung durch den Kopf. »Wie gut sind die Augen der Nachtwachen?«
»Ziemlich gut«, gab er zu.
»Und wie sollen wir dann ungestört unsere Nachforschungen vorantreiben?«
»Sie halten Ausschau nach Ruhestörern und Plünderern. Wir werden einfach so leise wie Mäuschen sein.«
Sie schnaubte. »Oder unsichtbar?«
»Das auch. Bist du bereit, ein wenig schmutzig zu werden? Ich fürchte, wir müssen wie Ratten oder Schlangen am Boden kriechen und langsam sein. Erfahrungsgemäß ist der eilige Dieb derjenige, der im Gefängnis sitzt.«
»Und der geschwätzige«, flüsterte sie.
Thorn kniete sich nieder und beobachtete ausgiebig den Nachthimmel. »Kann nicht sein«, erwiderte er schließlich, bevor er auf die Knie ging und jede Deckung nutzte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Er wartete, bis Esava sicher bei ihm ankam, und brachte seinen Mund an ihr Ohr. »Ich war nämlich noch nie woanders als im Waisenheim eingesperrt.«
Danach schwiegen sie und er beschränkte sich auf Handzeichen, um Richtungswechsel anzugeben. Ohne Probleme gelangten sie zu der Ruine des Rathauses. Gemeinsam robbten sie an den Rand des Kraters, in den Esava fassungslos hineinstarrte. »Es ist unmöglich, dort drinnen noch intakte Zimmer, geschweige denn etwas von Bedeutung zu finden«, hauchte sie.
Von Nahem betrachtet wirkte die Zerstörung noch endgültiger. Kaum ein Stein lag auf dem anderen und um den Schlund herum breitete sich ein einziges Trümmerfeld aus. Thorn musste ihr recht geben. Wie es aussah, würden sie nichts mehr entdecken. Nicht hier jedenfalls. »Alle diese alten Häuser haben Kellergänge, ähnlich wie das Waisenhaus«, murmelte er ihr zu. Er wusste, dass sie von Lyksan Dunkelbrock einen Bericht über die Erlebnisse der Sidhe und auch hier in Antochtnar erhalten hatte.
»Ich steige nicht in diesen Schlund«, sagte sie fest, während sie den Kopf weiter über den Rand schob, um hinunterzusehen. »Wahrscheinlich wurde hier die Explosion ausgelöst und hat alle anderen Häuser mit sich gerissen. Wie beim …«
»Tafelstapeln«, bestätigte er. Eines der wenigen Kinderspiele, die er kannte. Man musste versuchen, dünne, wacklige Brettchen so aufzustellen, dass sie sich nahe genug aneinander befanden, um sich berühren zu können, es aber erst taten, wenn der Anfang einer langen Reihe angestupst wurde. Wer die meisten Bretter ohne Umfallen errichten konnte oder die besten Formen legte, hatte gewonnen.
»Genau.«
»In dieser Tiefe finden wir ohnehin nichts, deshalb wollte ich da gar nicht runtersteigen«, murmelte Thorn. »Doch wenn wir noch einen Eingang in einem dieser Häuser intakt vorfinden und in den Keller gelangen, der möglicherweise besser geschützt ist, kommen wir vielleicht auch durch die Verbindungsgänge bis ins Rathaus. Du darfst nicht vergessen, dass in diesen Gebäuden lauter Angehörige des Bürgerrates lebten oder solche, die für die Stadt eine große Rolle spielten.«
Ein letztes Mal sah sie hinab. »In Ordnung. So machen wir es.«
Wie zuvor bewegten sie sich langsam und vorsichtig durch das Trümmerfeld. Sie brauchten mehr Zeit als Thorn eingeplant hatte, und egal, wohin sie sich wandten, nirgends war etwas so erhalten geblieben, dass sie überhaupt eine Möglichkeit bekamen, irgendwo einzusteigen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Ihnen blieb wohl kaum etwas anderes übrig, als sich tatsächlich zum Waisenheim zu begeben. Er hielt Esava fest.
»Wir ziehen uns zurück«, murmelte er zu ihr hinuntergebeugt. Unmut huschte über ihr hübsches Gesicht, doch bevor sie widersprechen konnte, hob er die Hand. »Du weißt über Rosenholz Bescheid?«
»Das Waisenhaus?« Sie nickte.
»Dass wir vor ein paar Tagen dort waren und …«
»Und vom totgeglaubten Lyk und seiner … Freundin gerettet wurdet?« Sie zögerte nur kurz und es lag auch keine Abneigung in der Art, wie sie die Frage formulierte, aber Thorn spürte trotzdem ihren Schmerz.
»Genau. Es ist nicht weit von hier und obwohl es heißt, auch dort sei alles beschädigt, könnten wir uns zumindest ein wenig umsehen.«
In ihren blauen Augen leuchteten Hoffnung und Zweifel auf. »Du glaubst, die unterirdischen Labore waren mit dem Rathaus verbunden? Wie perfide wäre das?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, halte es jedoch nicht für ausgeschlossen. Safa hat immer drei, vier Schritte vorausgedacht.«
Im Heim hatte es einmal ein Mädchen gegeben, Lira. Sie war älter gewesen als Thorn, doch im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendlichen hatte sie sich um die jüngeren Kinder gekümmert und sich bemüht, es ihnen leichter zu machen. Eines Tages erklärte sie ihm die Grundzüge eines Spiels, das sie Schach nannte. »Es wird auch das Königsspiel genannt«, sagte sie lächelnd, »warum, weiß ich nicht. Es geht jedenfalls darum, einen Gegner, der genauso ausgerüstet ist wie man selbst, auszutricksen, indem man versucht, dessen Schritte vorauszusehen.« Sie demonstrierte ihm das und schon nach wenigen Zügen war der Herrscher, den er eigentlich hatte beschützen sollen, tot. Matt nannte sie das. Die Idee dahinter beschäftigte Thorn viel länger als Lira, die kurz darauf aus dem Waisenhaus verschwand und die er nie wiedersah. Eines Tages wurde er zu dem Kurator gerufen – nicht wegen irgendwelcher Experimente, es ging um einen der sozialen Dienste, welche die Waisenkinder in der Stadt erledigen mussten. Weil Thorn klein und wendig war, wurde er öfter zum Kanalreinigen angefordert; eine Aufgabe, die nicht nur gefährlich, sondern anstrengend und dreckig war. In Safas Arbeitszimmer entdeckte er ein Schachbrett, ähnlich wie er es aus Liras Beschreibungen kannte. Safa war noch damit beschäftigt gewesen, Pergamente zu unterzeichnen, und Thorn konnte den Blick nicht von dem Brett wenden, das auf Augenhöhe neben ihm auf einem Beistelltisch stand. Hinterher wurde ihm klar, dass es seiner Größe entsprach, weil er trotz seiner Jugend fast den Heimleiter eingeholt hatte. Doch in diesem Moment faszinierten ihn einfach nur die Armeen, die sich gegenüberstanden. Auf Safas Seite befanden sich die Schwarzen. Der König, um einiges kleiner als die Königin, trug keine besonderen Merkmale. Auch die anderen Figuren waren zwar sorgfältig geschnitzt, soweit er das einzuschätzen wusste, jedoch nicht weiter bemerkenswert. Die andere Seite hingegen, die Weißen … Sie hatten ihm den Atem geraubt. Anstelle des Königs fand sich dort ein großer Sidhe, gut erkennbar an den spitzen Ohren. Seine Königin schien menschlich zu sein, ihre Arme waren nach vorn gestreckt, als würde sie mit großer Kraftanstrengung etwas fortschieben. Zu ihren Seiten, anstelle der Läufer, fanden sich ein Drache mit aufgerissenem Maul und eine menschlich wirkende Figur mit einem Silberreif auf dem Kopf. Die Springer wiederum wurden von zwei Sidhe auf weißen Pferden symbolisiert, während die Türme ebenfalls ohne Merkmale schienen. Sowohl die Bauern auf der einen als auch auf der anderen Seite bestanden aus plumpen Holzstückchen in den jeweiligen Farben.
Anscheinend beendete Safa seine Arbeit, ohne dass es Thorn bemerkte. »Gefallen sie dir, Junge?«, schnitt die Stimme des Heimleiters in seine Gedanken.
Erschrocken wirbelte er in Habachtstellung herum. »Nein … ich meine. Ja, Meister. Sie sind schön. Die Weißen jedenfalls, Meister.«
Ihm gefiel das Lächeln auf Safas Lippen nicht. »Schön ist gleichbedeutend mit tot, weißt du das?«
»Nei-in?« Er verstand nicht.