Pfeil im Aug' - Jess A. Loup - E-Book
SONDERANGEBOT

Pfeil im Aug' E-Book

Jess A. Loup

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine junge Bogenschützin findet auf dem Bogenparcours einen Toten und sucht mithilfe der Dorfbevölkerung, eines Kommissars und einer Katze den Mörder – für alle Fans von Rita Falk und Helena Marchmont »›Ich habe mit Antons Tod nichts – aber auch gar nichts – zu tun‹, sagte ich leise und fest. ›Natürlich ned‹, erwiderte sie und tätschelte meine Hände. ›Und mia hobm a gar ned irgendwos g'seng.‹ ›Was denn gesehen?‹ Diese Dörfler trieben mich manchmal wirklich in den Wahnsinn! ›Na nix!‹, versicherte sie mir im Brustton der Überzeugung.« Auf dem eigenen Parcours über eine Leiche zu stolpern, macht sich eher ungünstig im Lebenslauf. Wenn dann der Leiche auch noch ein Pfeil aus dem Auge ragt und man selbst einen Bogenshop besitzt, sieht es erst recht schlecht aus. Ronja Bellingrodt macht sich auf die Suche nach einem Mörder,  tatkräftig unterstützt von der dankbaren Dorfgemeinschaft, einem sturen Kommissar und einer maulenden Katze. »Seit den letzten Eberhofer-Krimis bin ich eigentlich so ziemlich raus aus Bayern-Regionalkrimis, um ehrlich zu sein. Aber hier bekommt man einen so kurzweiligen, witzigen und auch dank der Katze namens Katze (Kitten) niedlichen Krimi vorgesetzt, der mit Lokalkolorit punktet. Ich habe mich bis zum Schluss prächtig amüsiert.«  ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein Treffer auch für den Leser! Humorvoll, unterhaltsam, spannend. Für mich ein absolutes Highlight des Lesesommers.« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Meine absolute Leseempfehlung für alle, die Regionalkrimis mit Lokalkolorit und viel Humor lieben.« ((Leserstimme auf Netgalley))  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Pfeil im Aug’« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Natalie Röllig

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Disclaimer

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Kudos:

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Dieses Buch ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeit zu Personen oder Katzen ist rein zufällig.

Danke für die Inspiration, Anton

Eins

Man erwartete nicht alle Tage, ausgerechnet beim Brückentroll über einen Toten zu stolpern. Andererseits erschien mir das doch wieder recht passend, denn Anton – also der Tote – war auch einer.

Allerdings ein echter, einer aus Fleisch und Blut.

Während hingegen der Brückentroll weder echt noch aus Fleisch und Blut war. Bei ihm handelte es sich um ein 3-D-Ziel, und zwar um die Nummer 19 auf meinem Parcours.

Okay, zurück auf Anfang. Wer sollte aus diesem Gestammel schlau werden?

Also:

Es war eine finstere und stürmische Nacht, als ich …

Stopp.

So ging das auch nicht.

Erstens wäre es gelogen: Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und es hatte bestimmt seit einer Woche nicht mehr geregnet, sodass die Wege trocken und gut begehbar waren. Da ich meinen Shop erst gegen Mittag öffnete, war ich gleich nach dem Frühstück aufgebrochen, um die Ziele zu kontrollieren und ganz nebenbei ein paar Pfeile loszulassen. Es hatte so wunderbar begonnen, wenn man davon absah, dass Kitten die ganze Zeit maulte.

Miaute. Ich meinte miaute.

Kitten, wie der originelle Name andeutete, war meine Katze. Nicht dass sie mir in dieser Hinsicht recht gäbe. Für sie war ich ihr Mensch und Beutelöffner. Mit Dosenfraß gab sie sich schließlich nicht ab.

Jedenfalls hatten wir – Kitten und ich – einen wunderbaren Morgen zusammen. So zeitig war noch niemand anderes im Wald, und ich genoss die Stille und die Tatsache, dass keiner sah, wenn ich vorbeischoss. Ich ließ ein paar Pfeile von der Sehne und überprüfte, ob die Ziele ausgetauscht oder repariert werden mussten. Bis zur Nummer 18 war alles in Ordnung.

Gleiches galt für den Brückentroll.

Für Anton weniger, allerdings bestand keine Möglichkeit, ihn auszutauschen oder wenigstens zu reparieren. Das erkannte ich auf den ersten Blick, obwohl ich ein bisschen kurzsichtig und zu eitel war, um eine Brille zu tragen.

Andererseits: So ein Pfeil, der aus einem Auge ragte, war nur schwer zu übersehen.

Es sprach sicherlich nicht für meine Intelligenz, dass ich stehen blieb, als wäre ich vor eine Wand gelaufen. Ich blinzelte mehrmals, doch der Anblick änderte sich dadurch nicht. Zumindest nicht so, wie ich es mir erhoffte. Der Brückentroll war immer noch in Ordnung (gut), Anton eher nicht (schlecht). Er löste sich leider auch nicht in Luft auf.

Kitten stolzierte elegant zu ihm hinüber und beschnüffelte ihn.

»Lass das!«, sagte ich halbherzig. »Wir dürfen hier nichts verändern.« Immerhin hatte ich schon ein paarmal Tatort gesehen und kannte mich daher aus.

Kitten rümpfte die Nase, setzte sich neben den Toten und fing an, ihre Vorderpfote zu putzen. Mit Pietät hatte sie wohl nichts am Hut.

Normalerweise bildete ich mir ein, keine Dumpfbacke aus irgendeinem Hinterland zu sein, auch wenn ich genau da wohnte, doch im Moment fühlte ich mich dezent überfordert. Was sollte ich zuerst machen? Nach einem Puls suchen? Es grauste mir davor, zumal Anton schon als Lebender nicht gerade dazu eingeladen hatte, ihn berühren zu wollen. Außerdem sah ich, dass das Auge, in dem kein Pfeil steckte, seltsam milchig und trüb war. Auf mich wirkte das nicht so, als wäre da noch ein Hauch von Leben in dem Mann.

Seufzend beugte ich mich so weit über ihn, wie es mir möglich war, ohne allzu nahe an ihn heranzutreten. Meine Finger zitterten, als ich sie an seinen faltigen Hals legte.

Das war leider das Einzige, was zitterte.

Puls? Fehlanzeige.

Ich zog das Handy aus der Hosentasche und wählte die 110.

Kitten gähnte.

Zwei

Mittags wurde es von Minute zu Minute heißer. Den Shop würde ich nicht öffnen können, genauso wenig den Parcours. Immerhin hatte ich meine Nachbarin Elfi erreicht, die für mich ein »Geschlossen«-Schild an die Tür des Ladens hängen würde. Statt also Schießwütige zu beraten und vielleicht ein paar Schäfte, Federn oder im besten Fall einen Bogen zu verkaufen, bewunderte ich die Bemühungen der Polizisten. Es war schwierig, vier Hektar Wald abzusperren, aber sie taten ihr Bestes, das musste ich zugeben.

Ich tat eher nichts, außer auf einem Findling herumzusitzen, zu schwitzen und darauf zu warten, weiter befragt zu werden. Kitten, die kleine, feige Katze, hatte mich schon vor einer Stunde im Stich gelassen. Davor hatten wir eine gefühlte Ewigkeit gewartet, bis unsere Freunde und Helfer auftauchten und Mediziner mitbrachten.

Leider hatte ich nur die Koordinaten des Brückentrolls angeben können, es war ja nicht so, als hätte er eine eigene Straße samt Hausnummer im Wald. Die Sanis stellten dasselbe fest wie ich – Anton war weder zu reparieren noch auszutauschen.

Ich sah auf, als ein Schatten die Sonne verdunkelte. Im ersten Moment erkannte ich nur eine Silhouette, also blinzelte ich ein paarmal. Dann trat der Mann zur Seite, sodass ihn die Sonne in ein grelles Licht tauchte und ihm quasi einen Heiligenschein verpasste.

Eine Sekunde lang dachte ich wirklich, vor mir stünde ein Priester. Große, schlaksige Gestalt, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, aufgestellter Kragen. Langärmliches Hemd! Nicht mal hochgekrempelt, die Ärmel. Und das bei Temperaturen, bei denen man glauben konnte, gleich würden zwei Winzlinge mit großen, behaarten Füßen vorbeimarschieren und einen Ring auf die nächste Anhöhe werfen.

»Griaß Eana«, sagte der Priester, der gar kein Priester war, wie ich feststellte, als er mir einen Dienstausweis zeigte. »KOK Leonhardt«, nuschelte er weiter. Ohne nachzudenken, schnappte ich mir den Ausweis und starrte ihn an. Weiß-blau wie der Himmel über Bayern samt Wappen und Foto des Kriminalers.

Kriminaloberkommissar übersetzte ich dank des Dokuments seine Abkürzung. Veit Leonhardt. Eine Dienstnummer.

Er zupfte mir den Ausweis wieder aus der Hand und stopfte ihn in die hintere Hosentasche. »Sie san Frau Bellingrodt?«

»Ronja«, erwiderte ich automatisch. Frau Bellingrodt war, ist und bleibt für immer meine Mutter. Ich hatte mich nicht von ihr abgenabelt, um dann wieder an sie erinnert zu werden.

Seine dunklen Augenbrauen zuckten. »Ronja wie …« Er brach rechtzeitig ab, ein Punkt zu seinen Gunsten.

»Ja«, antwortete ich. Was konnte ich dafür, dass besagte Frau Bellingrodt ein Faible für Astrid Lindgren hatte?

KOK Leonhardt zupfte an seinen Hosenbeinen und setzte sich mir gegenüber auf einen Felsbrocken. Er würde sich Moosflecken einhandeln, das stand fest.

Eine Weile schwieg er, und da auch ich nichts zu sagen hatte, lauschte ich den Geräuschen, die von Ziel 19 herüberdrangen. Ich hatte mir die Spurensicherung hektischer vorgestellt, aber tatsächlich hörte man kaum mehr als ein gedämpftes Murmeln und ab und zu Schritte oder knackende Äste. Man hatte mich wohlweislich abseits des Trubels platziert, jedenfalls nachdem eine nette, rothaarige Frau mit Lachfältchen meine Schuhe eingetütet hatte. Später würde noch jemand meine Fingerabdrücke nehmen, meinte sie.

Ich wackelte mit den bestrumpften Zehen und fragte mich, wie ich so nach Hause kommen sollte. Als ich den Blick hob, bemerkte ich, dass Leonhardt den roten Saurier betrachtete, der meinen braunen Strumpf zierte.

Falls er das seltsam fand, zeigte er es nicht. Ein weiterer Punkt für ihn.

Er räusperte sich. »Sie hobn den Toten gefunden?«

Von Small Talk hielt er wohl nichts. »Anton? Ja. Leider.«

Er zog sein Smartphone hervor und begann zu tippen. Da ich bezweifelte, dass er ausgerechnet jetzt seine Social-Media-Accounts pflegte, nahm ich an, dass er sich Notizen machte. »Er war Eana also bekannt.«

»Er ist mein Nachbar … quasi. Ich meine, war.«

Eine buschige Augenbraue wanderte langsam nach oben. »Sie wohnen in Abersreut?« Er sprach es »Obasreit« wie die Einheimischen aus. Ein echter Niederbayer also, im Gegensatz zu mir. Und gar nicht so viel älter als ich, vielleicht Mitte dreißig. Kein grauhaariges Tatort-Material à la Batic und Leitmayr.

»Klar, was dachten Sie denn?«

Er starrte auf den Bildschirm seines Handys. »Offensichtlich des Falsche. Ich dachte, Sie sind nicht von hier. Jetzt sehe ich, dass mir die Kollegen die Kopie Ihres Ausweises übermittelt haben.«

Ich seufzte innerlich, denn er tat etwas, das viele Bayern machten, wenn sie zum ersten Mal mit mir zu tun hatten. Sie versuchten sich an Hochdeutsch. Es klang furchtbar, besonders furchtbar geschwollen.

»Genau genommen bin ich wirklich nicht von hier.« Ach was. Als ob ich das überhaupt aussprechen müsste. »Ich habe vor drei Jahren geerbt.« In diesen paar Worten lag meine ganze Welt. Der Traum von Selbstständigkeit, den man sich erfüllen konnte, weil ein unbekannter Verwandter einem alles vermachte?

Yep. Den lebte ich. Nur dass es in meinem Fall kein Millionär aus den USA oder irgendein Adliger aus einem unbekannten Land war, sondern mein Onkel, von dem ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas gehört hatte.

Wie es schien, hatten er und meine Mutter sich um den Zeitpunkt meiner Geburt herum so verstritten, dass sie nie wieder miteinander in Kontakt getreten waren.

KOK Leonhardt strich einen nicht vorhandenen Fussel von der Hose. Ich verstand nicht, wieso er so aussah, als säße er in einem klimatisierten Büro, während mir der Schweiß auf der Stirn stand und ich das Gefühl hatte, gut durchgebraten zu werden. Nur mit Mühe widerstand ich dem Bedürfnis, unter meinen Achseln zu schnuppern.

»Sie haben den Kollegen mitgeteilt, dass Sie den … Parcours …« Er stockte kurz, sah auf, anscheinend unsicher, wie man das Wort aussprach. Ich nickte ihm zu und er fuhr fort. »Dass Sie gegen neun Uhr zusammen mit Kitten loszogen, um – ich zitiere – ›ein bisschen zu schießen und die Ziele zu checken‹.« Seine Stirn legte sich in Falten, sodass er aussah wie ein Basset. »Kitten? Sie waren also nicht allein? Wenn es einen weiteren Zeugen gegeben hat, müssen wir unbedingt mit ihm reden!«

Ich nickte wie ein Wackeldackel, um seiner Bluthundmiene gerecht zu werden. »Dann hoffe ich, dass Sie fließend Kätzisch sprechen, Herr Oberkommissar.«

Die tiefen Furchen auf seiner Stirn entknoteten sich und ich glaubte sogar, Amüsement in seinen Augen zu erkennen. Die waren von einem verwaschenen, unspektakulären Graugrün. »Des Katzerl geht mit Eana Gassi?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Klar. Ich brauche schließlich meinen täglichen Auslauf.«

Dieses Mal zuckte sogar ein Lächeln über seine Lippen, genauso schnell verschwunden wie aufgetaucht, doch ich hatte es gesehen.

»Nun gut. Sie und … die Katze machten sich also auf den Weg. Haben Sie dabei irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt oder ist Ihnen etwas aufgefallen? Waren außer Ihnen noch andere Bogenschützen unterwegs?« Sein Tonfall wurde wieder dienstlich und seine Aussprache beinahe dialektfrei, allerdings so langsam, als hätte er auf Slow Motion umgestellt.

»Für Kitten kann ich nicht sprechen, ich fand alles in Ordnung. Bei der Nummer 7 werde ich früher oder später die Killzone austauschen müssen, aber ich schätze, das meinten Sie nicht.«

Er schrieb mit beiden Daumen auf dem Smartphone mit. »Die Killzone?«

»Yep. Das ist da, wo Sie die Kreise auf den 3-D-Zielen sehen.«

Leonhardt hob den Kopf. Sein Blick wurde stechend. Plötzlich wirkten seine Augen gar nicht mehr so verwaschen, eher wie die eines Greifvogels, der aus unendlicher Höhe ein kleines Beutetier entdeckte.

»Und es ist nicht zufällig möglich, dass Sie aus Versehen und unabsichtlich …« Er nahm sich Zeit, um die nächsten Worte zu formulieren, und ich wurde schon sauer, bevor er überhaupt das Undenkbare aussprach: »… mit Ihrem Bogen schossen und Anton Gallhuber in seine Killzone trafen? Ich sollte Sie auch darauf hinweisen, dass Sie sich in dem Fall nicht selbst belasten müssen.«

Ich fuhr von meinem Findling hoch und trat dabei auf einen spitzen Stein neben den Heidelbeersträuchern, die überall den Boden bedeckten. Fluchend hopste ich auf einem Bein und umklammerte meinen rechten Fuß. »Fragen Sie mich allen Ernstes, ob ich meinen Nachbarn umgebracht habe? Im Übrigen ist der Schuss bei Anton kein Innen-, ja nicht mal ein Außenkill, sondern gerade so ein Körpertreffer! Und überhaupt, wenn Sie genau hingeschaut hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass der Pfeil in seinem Auge weder von der Länge noch vom Spinewert her zu meinem Bogen passt!«

Jetzt blinzelte er, und mir wurde bewusst, dass ich mit einem Mann sprach, der ganz offensichtlich absolut keine Ahnung vom Bogensport hatte.

Ich seufzte und ließ mich gegen den Stein sinken. Das würde ein langer Tag werden. »Okay. Haben Sie Zeit und Geduld für einen Crashkurs im 3-D-Bogenschießen?« Mein Magen knurrte, und ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Und könnten wir den bei mir abhalten, ich habe nämlich Hunger.«

Leonhardt kratzte sich an der Schläfe und stand auf. »Guad.« Er räusperte sich. »Ich meine: gut. Gehen wir.« Er starrte mich schon wieder misstrauisch an. »Sie können doch noch gehen, oder? Ich muss Sie nicht die ein oder zwei Kilometer bis nach Obasreit tragen?«

Ich stemmte die Hände in die Seiten. Wollte er andeuten, dass ich fett sei? »Keine Sorge«, sagte ich eisig. »Es reicht, wenn Sie mir Ihre Schuhe überlassen.«

Drei

Während ich stumm in Schuhen schlurfte, die ursprünglich als Zwergenboote hergestellt worden waren, schaffte es der knallharte Kriminaler, den gesamten Weg über zu jammern. Wenn man ihm glauben mochte, befanden sich überall miese Steine, fiese Dornen und hinterhältige Tannenzapfen, die sich anschlichen und in seine Fußsohlen bohrten. Die wiederum mussten der Prinzessin auf der Erbse gehören, so zart und empfindlich stellte er sie dar.

Aufatmend führte ich ihn auf mein Grundstück, wo er prompt in frische Eingeweide trat, die Kitten zurückgelassen haben musste. Für irgendeine arme Maus hatte sich der heutige Morgen als Freitag, der 13. herausgestellt.

Leonhardt schien ähnlich zu empfinden. »Herrgottzah!«, zischte er.

Ich schob ihm ein paar Gästepantoffeln hin. »Ziehen Sie die Strümpfe aus und lassen Sie sie einfach hier am Eingang liegen. Morgen oder im Laufe der nächsten Woche schmeiße ich sie mit in die Waschmaschine.«

Während er meinen Anweisungen folgte, entsorgte ich das Geschenk meiner Katze und hoffte, nicht noch mehr davon im Inneren des Hauses zu finden. Katzenklappen waren nicht immer von Vorteil. Manchmal schleppte Kitten lebende Mäuse ins Haus und ließ sie laufen, um mir das Jagen beizubringen. Zumindest glaubte ich, das ihrem herablassenden Blick zu entnehmen, mit dem sie mich dann bedachte.

Anstatt einzutreten, blieb der KOK im Eingang stehen und sah sich auf dem Hof um. Mein Onkel hatte mir seinen frisch sanierten Bauernhof überlassen, und das auch noch schuldenfrei. Er hatte den angrenzenden Wald genutzt, um Holz zu verkaufen; damit war seit drei Jahren Schluss. Stattdessen ging direkt hinter dem Gartenzaun der Bogenparcours los. Von dort, wo Leonhardt stand, konnte er auf die Kassa und den Einschießplatz schauen.

»Ham S’ gesehen, dass der Gallhuber auf den Parcours gegangen is’?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Erstens konnte er problemlos von seinem Grundstück aus den Wald betreten, auch wenn er dann entgegen der Wegführung gelaufen wäre …«

»Wos …« Leonhardt unterbrach sich und versuchte es wieder auf Hochdeutsch. »Was bedeutet ›entgegen der Wegführung‹?«

Ich deutete auf einen hölzernen Wegweiser, der am Einschießplatz stand und nach Osten zeigte.

»Ein verantwortungsvoller Schütze folgt den Richtungsangaben und gerät daher nicht in die Schusslinie eines anderen. Wenn jedoch ein Trottel quer durch den Wald latscht, kann er schon mal genau in die Richtung laufen, in die jemand schießt.« Der KOK verzog den Mund, und ich konnte seine Gedanken problemlos nachvollziehen, also sprach ich schnell weiter. »Nein, jeder Schütze stellt sicher, dass sich nichts zwischen ihm und dem Ziel befindet, nicht einmal ein Depp, der ohne Rücksicht auf Verluste durch die Gegend läuft.«

Man musste ihm zugutehalten, dass er es schaffte, seine Skepsis lediglich durch das Kräuseln der Stirn anzudeuten. Sein Tonfall blieb neutral. »Trotzdem wäre es möglich, dass es ein Unfall war? Falls ein … nicht ganz so verantwortungsvoller Schütze unterwegs wäre?«

Ich dachte nach. »Rein theoretisch sicherlich. Aber …«

»Ja?«

War es wirklich vernünftig, meine Bedenken mit ihm zu teilen? So oder so war der Tod von Anton ausgerechnet in meinem Wald eine Katastrophe. Nicht weil ich um den Mann trauerte – das würde wohl niemand, nicht einmal seine eigene Mutter, die Gerüchten zufolge ein Dasein in einem billigen Altersheim fristete, oder seine Ex-Frau.

Sondern weil mir diese Sache das Geschäft kaputtmachen konnte. Ein Unfall mit Todesfolge war schon schlimm genug, aber wenn sich herumsprach, dass jemand mit Absicht einen Mordsschuss abgegeben hatte, konnte ich wahrscheinlich einpacken. Andererseits, wie sollte ich noch in den Spiegel schauen, wenn ich etwas verschwieg, die Polizei das Ganze als einen Unfall einstufte und den Parcours wieder freigab? Dann kamen sicherlich wieder Schützen, aber ich würde wissen, dass irgendwo ein Mörder frei herumlief.

Und dann war da noch die Kleinigkeit, dass im Dorf gern getratscht wurde. Am liebsten natürlich über Zuagroaste wie mich. Selbst mein Nachbar die Anhöhe hinauf, der seit zig Jahren hier lebte, war keiner aus Abersreut, schließlich reichte sein Stammbaum in der Gegend nicht mindestens bis zum Dreißigjährigen Krieg zurück.

Sie würden sich also das Maul über mich zerreißen. Und früher oder später – vermutlich früher – würde irgendein Schlaubischlumpf beim fünften Bier auf die Idee kommen, dass ich Anton erschossen habe. Schließlich war es auf meinem Parcours passiert, mit einem Pfeil. Nicht meinem, wohlgemerkt. Aber das fiel bei Nicht-Schützen kaum ins Gewicht. Die konnten ja nicht mal einen Primitiv- von einem Recurvebogen unterscheiden.

Dann würden die Abersreuter ganz schnell vergessen, dass ich regelmäßig für ihre Sprösslinge kostenlose Schnupperkurse und wöchentliches Training anbot.

»Frau Bellingrodt?«

Ich schrak auf. »Entschuldigung. Was ich sagen will, ist: Anton lag bei Ziel 19 – und falls ihn niemand von A nach B gezerrt hat, ist er so gefallen, wie er getroffen wurde. Wenn man jetzt eine Linie auf maximal vierzig Meter zieht, ist da alles frei. Freie Sicht, keine Bäume oder Sträucher, die verhindern könnten, dass ihn jemand gesehen hat. Und viel weiter stehen die wenigsten Ziele entfernt, gerade mal der Hirsch auf sechzig Meter für die Compounder, allerdings erst bei Ziel 23. Und natürlich habe ich meine Schüsse so aufgebaut, dass keiner über die Wege schießen kann, muss oder überhaupt darf.«

Mit einer ausholenden Handbewegung bat ich ihn, ins Haus zu gehen, und dirigierte ihn in die Wohnküche am Ende des Flurs. Ich liebte diesen Raum. Er war so groß wie ein halbes Fußballfeld, und obwohl das Haus selbst aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammte, war die Küche eine chromblitzende Schönheit mit ergonomischen Formen, einer gewaltigen Arbeitsplatte aus Granit und einem auf alt getrimmten Herd. Ich öffnete ein paar der Schränke und überlegte, was ich kochen könnte, entschied mich schlussendlich jedoch für die eingefrorene Möhrensuppe, die ich bloß aufzuwärmen brauchte. Ich kippte sie in einen Topf und stellte sie auf eine Herdplatte mit niedriger Temperatur. Aus dem Brotschrank entnahm ich selbst gebackenes Ciabatta und schnitt es in handliche Stücke.

Leonhardt hatte es sich inzwischen auf der Eckbank gemütlich gemacht und nickte mir dankend zu, als ich ihm eine Flasche alkoholfreies Bier reichte und seine Schuhe vor ihn stellte. Er tippte schon wieder auf dem Smartphone herum.

Ich setzte mich ihm gegenüber. »Haben Sie gerade jemanden benachrichtigt, wo Sie sich aufhalten?«, fragte ich. »Bestimmt bin ich die Hauptverdächtige. Mein Parcours, ich habe ihn gefunden …«

»Mit oan Pfeil im Aug’«, ergänzte der Kriminaler hilfsbereit. Er steckte das Handy weg. »Im Moment, Frau Bel… Ronja, san Sie eine Zeugin. Es sei denn, Sie möchten ein Geständnis ablegen.« Die dunklen Augenbrauen schoben sich drohend zusammen. »Möchten S’? Falls ja, warten wir am besten auf meinen Kollegen und außerdem muss i Sie belehren, dass …«

Ich schüttelte den Kopf und unterbrach ihn, bevor er den ganzen Sermon herunterratterte. »Nein. Ich würde Ihnen ja gern die Arbeit erleichtern, wirklich. Aber ich war’s nicht.« Ich sprang auf, um umzurühren. »Obwohl das wahrscheinlich auch alle Schuldigen behaupten.« Ich sah über meine Schulter. »Und bevor Sie’s aus einer anderen Quelle erfahren: Anton und ich waren keine Freunde.«

Er wiegte den Kopf. »Das habe ich tatsächlich eben erfahren. Ich war gespannt, ob Sie es zugeben würden.«

Empört stemmte ich die Hände in die Seiten. »Was gibt’s da zuzugeben? Sie mögen bestimmt auch nicht alle anderen Leute!«

»Naa, des ned. Aber i bin dafür auch noch nie quasi in meinem Hinterhof über einen Toten gestolpert, mit dem i ein paar Tage vorher heftigen Streit hatte.«

»Ich hatte auch noch nie mit einem Toten Streit! Die waren alle am Leben und blieben es hinterher auch!«, erwiderte ich hitzig und fuchtelte mit dem Holzlöffel herum, den ich zum Umrühren des noch gefrorenen Gemüses benutzt hatte. Ärgerlicherweise befand sich noch Möhrensuppe daran. Als ein Tropfen auf meinen bis dahin sauberen Küchenboden platschte, musste ich an Blut denken. Und obwohl ich bei Anton keinen einzigen Blutfleck gesehen hatte, wurde mir schlecht.

Ich ließ den Löffel in die Spüle fallen und raste los, sauste an einem verdutzt dreinblickenden Leonhardt vorbei und erreichte gerade noch so die Toilette. Minutenlang umarmte ich sie herzlich und würgte, bis nichts mehr aus mir herauskam. Selbst im Tod sorgte Anton noch für Ekel.

Es klopfte an der Badezimmertür. »Frau Bellingrodt? Ist alles in Ordnung?«

»Bestens«, ächzte ich. »Ganz hervorragend.«

Ich war wohl nicht völlig überzeugend. »Brauchen S’ Hilfe?«

Mit zitternden Beinen stemmte ich mich hoch, wusch mein Gesicht und trocknete mich ab, bevor ich die Tür öffnete. Der Kriminaler starrte auf mich herab, bevor sein Blick zum Fenster schweifte.

»Was ist?«, blaffte ich. Leider klang meine Stimme nicht halb so herrisch wie die von Kitten, wenn sie sauer war, dafür zitterte ich noch zu sehr. »Wollten Sie mir die Haare aus dem Gesicht halten oder sichergehen, dass ich nicht durchs Badezimmerfenster abhaue?«

Er musterte einen Augenblick lang erst mich, dann das Fenster, das eher einer Schießscharte glich und bei dem schon meine schlanke Katze Probleme hätte durchzupassen. Mir war nicht ganz klar, ob ich das als Kompliment oder als typisch männliche Unfähigkeit, Proportionen richtig einzuschätzen, werten sollte.

Als wir in die Küche zurückkehrten, blubberte die Suppe leise vor sich hin, und obwohl ich keinen Hunger mehr hatte, servierte ich uns jeweils eine kleine Schüssel. Während der Kommissar darüber herfiel, als hätte er die letzten Tage eine Hungersnot erlebt – und wenn man sich das hagere Gestell da am Tisch mal anschaute, war das durchaus möglich –, schob ich meinen Löffel lustlos hin und her.

Nach wenigen Minuten war Leonhardt fertig und beäugte mein Brot. »Essen Sie das noch?« Wortlos schob ich ihm meine Portion auch noch rüber. »Bevor Sie nur so rumsitzen, können S’ mir erzählen, was genau Sie hier machen. Mit Pfeil und Flitzebogen, moan i.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist leicht erklärt. Ich betreibe auf dem Hof einen Bogenshop, und wer bereits eine Ausrüstung besitzt oder bei mir ausleiht, kann gleich hinter dem Haus auf den Parcours gehen.«

»Aha.« Er inhalierte die letzten Tropfen der Suppe und wischte mit dem Kanten Brot die Schüssel sauber. Ich überlegte, ob ich ihm den Topf hinstellen sollte, fand dann aber, dass es nicht meine Aufgabe war, einen Polizeibeamten zu mästen. »Als Sie den Gallhuber-Anton gefunden hobm, was is’ Eana da aufgefallen?«

Mir wurde bei seinem Wechsel vom Bayerischen ins Hochdeutsche und zurück geradezu schwindlig.

»Ich habe nur vorsichtig seinen Puls geprüft«, gab ich zu.

Der Kriminaler schüttelte den Kopf, dass die schwarzen Locken flogen. Wenn es mal bei der Polizei nicht mehr so gut für ihn lief, konnte er jederzeit Shampoowerbung machen.

»Der Pfeil«, sagte er. »Kann man anhand des Pfeiles erkennen, wem er gehört?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja. Wenn nicht gerade ein Name, Initialen oder eine besondere Markierung an ihm zu finden ist, könnte man höchstens anhand des Spinewerts abschätzen, welche Pfundzahl jemand nutzt. Ich würde meinen, jemand mit einem Compound hat auf Anton geschossen, aber ich kann mich auch irren.«

»Spähnwert? Komp-Hound?« Er kaute auf den Worten herum, als wären sie besonders zähe Stücke Rindfleisch. »Des bedeutet wos genau?«

Ich stand auf. »Sie sind fertig, oder? Dann kommen Sie mal mit, anhand von Beispielen lässt sich das viel einfacher erklären.«

Wenn man durch die Vordertür den Hof betrat, hatte man hinter sich das zweistöckige Haus, rechter Hand befand sich eine ehemalige Maschinenhalle, die ich fürs winterliche Training zweckentfremdete, und genau gegenüber eine alte Scheune, die ebenfalls umgebaut war und nichts mehr mit der Landwirtschaft zu tun hatte. Vor der Tür stand eine antik aussehende, bemalte Milchkanne mit Fundpfeilen. Leonhardt zog einen der Pfeile hervor und beäugte ihn. Er hatte einen kaputten erwischt, der Schaft war gebrochen, und eine Feder fehlte.

Als ich das Geschlossen-Schild entfernt und die Tür geöffnet hatte, trat ich einen Schritt zurück und bedeutete Leonhardt, dass er vor mir den Laden betreten sollte. Er enttäuschte mich nicht. Seine Augen wurden von Sekunde zu Sekunde größer und ich immer stolzer. Und womit? Mit Recht!

Mein Onkel hatte mir den Hof hinterlassen, wofür ich ihm ewig dankbar sein würde. Aber sämtliche Ersparnisse, die ich besaß, und noch ein erklecklicher Kredit steckten in diesem Laden. Auf vierhundert Quadratmetern – also ein gutes Stück der ehemaligen Scheune – erstreckten sich Reihen um Reihen mit Bögen, die mit entspannter Sehne in ihren Ständern auf Interessenten warteten. An den Wänden hingen Compoundbögen und Armbrüste, in einer Ecke versammelten sich außergewöhnliche 3-D-Ziele wie Dodos, rotgesichtige Teufel und sogar ein Dinosaurier. Leonhardt betrachtete die Regale mit Nocken, Spitzen und Federn, zog verschiedene Schäfte heraus und musterte sie. Auch Backstops und Auffangnetze bot ich an, falls ein Pfeil doch mal danebengehen sollte. Zielscheiben, Pfeilzieher, Köcher, Schießhandschuhe – kurzum alles, was das Herz eines Bogenschützen freudiger schlagen ließ.

»Herrgottzah!«, murmelte er. »Diesen Laden betreiben Sie hier?«

Ich nickte. »Bogenschießen ist mein Leben!«, erklärte ich im Brustton der Überzeugung.

»Nun.« Leonhardts Stimme wurde knatschig. »Für den Gallhuber war es der Tod.«

Spielverderber, dachte ich ungnädig.

Kitten nutzte diesen Moment, um durch die offen stehende Tür zu stolzieren und eine tote Maus auf Leonhardts Schuhe fallen zu lassen. Sie sah äußerst zufrieden mit sich aus.

Vier

»Alles klar, Herr Kommissar?«, fragte ich, als Leonhardt einen Satz zurücksprang und beinahe den Behälter mit Schäften umwarf.

Er rümpfte die Nase und lobte Kitten überhaupt nicht, obwohl die es natürlich erwartete. Immerhin summte er kurz »Dadidedumm, oh, oh, oh«.

Ich bückte mich, fuhr durch das weiche Fell der Katze, verfiel kurz in Babysprache und versicherte ihr, dass sie toll und eine großartige Jägerin sei und ich nichts dagegen hätte, wenn sie ihre Beute mit nach draußen nähme und selbst verspeiste.

Ob sie Letzteres verstand oder sich einfach nur beleidigt fühlte, weil Leonhardt ihr Geschenk nicht zu würdigen wusste, war nicht ganz klar. Immerhin schnappte sie sich die arme Maus und verzog sich in den Hof, um sie dort im Schatten des großen Kastanienbaums zu verzehren.

Da ich hoffte, im Laufe des Nachmittags oder Abends doch noch ein paar Kunden im Laden empfangen zu können, begann ich, Leonhardt eine kurze Einweisung in Bogenklassen, Pfeile, Spinewert und andere wichtige Dinge zu geben, wobei ich jeweils den Gegenstand, den ich beschrieb, hochhob und zeigte. Als ich eine halbe Stunde später fertig war, hatte der Oberkommissar glasige Augen. Er blinzelte ein paar Mal und räusperte sich dann.

»Oiso … i werd des mal zusammenfassen, und wenn i ned zu weit danemliag, lass’ ma des so gelten, okay?«

»Was?« Er war so sehr ins Nuscheln geraten, dass ich kein Wort verstanden hatte.

»I sagte, i fasse es auf meine laienhafte Art zusammen und Sie werden mich nur korrigieren, wenn ich meilenweit danebenliege.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay.«

»Es gibt verschiedene Arten von Bögen.« Er sah mich mit einem ähnlichen Ausdruck an wie Kitten, und da ich nicht seinen Kopf tätscheln wollte, nickte ich mit einer – wie ich hoffte – wohlwollenden Miene. »Wenn man die Sehne zurückzieht, geht das unterschiedlich schwer, das wird Zuggewicht genannt.«

Bravo. Er hatte tatsächlich aufgepasst.

»Pfeile sollten immer an das Zuggewicht des Bogens und die Armlänge des Schützen angepasst werden, um optimale Ergebnisse schießen zu können. Wenn die Pfeile noch keine Federn, Spitzen und die Dinger zum Einhaken in die Sehne …«

Jetzt unterbrach ich ihn doch kurz. »Nocken.«

»Genau. Und noch keine Nocken haben, werden sie Schäfte genannt. Je nach Zuggewicht des Bogens müssen die Schäfte beziehungsweise die fertig gebauten Pfeile eine gewisse Flexibilität besitzen, die wird dann der Spinewert genannt.« Er holte tief Luft, und ich musste zugeben, dass ich beeindruckt war. Obwohl er so ausgesehen hatte, als wäre er während meiner Ausführungen eingeschlafen, war er hellwach und aufmerksam geblieben und hatte sich alles gemerkt. Und das sogar ziemlich richtig.

»Sehr schön!«, lobte ich ihn jetzt doch. Allerdings nicht in Babysprache. »Und wo findet man den Spinewert, Herr Oberkommissar?«

»Steht in der Regel auf den Schäften«, kam es wie bei einem Schüler, dessen Lehrer ihn einem Test unterzog.

»Richtig.« Ich marschierte in den hinteren Teil des Ladens, in dem sich, abgeschirmt durch einen Vorhang, der Bereich befand, in dem ich kleinere Reparaturen vornahm oder Pfeile zusammenbaute. Sozusagen meine kleine Reparaturwerkstatt, auch liebevoll Kabuff genannt.

Auf der Werkbank standen zwei Befiederungsgeräte, in die Schäfte eingeklemmt waren. Ich hatte bereits Federn für sie herausgelegt, war aber noch nicht dazu gekommen, sie zu befestigen. Ich deutete darauf.

»Fallen Ihnen irgendwelche Unterschiede bei den Federn auf?«

Er beugte sich nach vorn, bis er mit der Nase beinahe den Tisch berührte.

»Sie können sie auch ruhig in die Hand nehmen.« Ich unterdrückte ein Grinsen.

Wie ein Kind strich er fasziniert über die Federn und betrachtete sie ausgiebig. »Die einen san länger als die anderen und haben a etwas andere Form.«

»Stimmt. Und was noch?«

»Hm. Die hier fühlen sich an, als wären’s richtige Federn, als hätte man sie oam Gickerl ausgerupft. Die anderen eher, als würden’s aus Plastik bestehen.«

Kein Wunder, dass der Mann zur Polizei gegangen war. Er war wirklich aufmerksam.

»Genau erkannt«, sagte ich. »Die Kunststoff-Federn, Vanes genannt, werden in der Regel nur auf Pfeile für Compoundbögen gesetzt. Und jetzt kommt die Eine-Million-Euro-Frage: Können Sie sich daran erinnern, welchen Spinewert der Pfeil in Antons Auge hatte und welche Art von Federn an ihm befestigt waren?«

Mir hatte sich das Bild davon sehr deutlich im Gedächtnis eingebrannt, und ich befürchtete, dass ich lange brauchen würde, um es wieder zu vergessen.

Die dunklen Augenbrauen des Kommissars zogen sich zusammen. »I ko mi … I glaub’, i kann mi an eine ›500‹ erinnern. Des is’ der Spinewert, richtig?«

Ich nickte stumm.

»Bei den Federn erinnere i mi nur noch an die Farbe. Es waren zwei weiße und eine rote. Leider wusste i zu diesem Zeitpunkt ned, worauf i achten sollt’.« Er zog sein scheinbar unentbehrliches Smartphone aus der Tasche und begann zu scrollen. Ob er an Ziel 19 ein paar Fotos geschossen hatte? Eine nicht wirklich angenehme Vorstellung. Automatisch zog ich die Schultern hoch, als er mir das Handy reichte, doch zum Glück erkannte ich auf dem Bild nur den Pfeil, der in Anton gesteckt hatte, ganz ohne Anton, ein Auge oder diverse Gehirnflüssigkeit.

Ich atmete erleichtert auf und zog mit Daumen und Zeigefinger den Bildausschnitt größer, aber eigentlich bestätigte er nur das, woran ich mich erinnerte. Es war ein Pfeil mit Vanes.

»Können Sie daraus irgendwelche Rückschlüsse ziehen?«, fragte Leonhardt.

»Fragen Sie das allen Ernstes Ihre einzige Verdächtige?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie san a Zeugin, keine Verdächtige. Außerdem: Warum ned? Natürlich lass i Ihre Angaben überprüfen, aber bevor i die Rückmeldung von unabhängigen Fachleuten bekomme, ko i schon amol mit Eanarne Angaben arbeiten. Sie hobm versichert, dass Eana unschuldig san. I bitte Sie also um Auskunft als Zeugin und äh … Fachfrau.«

»Das bin ich auch!«, sagte ich. »Na schön, alle Angaben ohne Gewähr, ja?«

»Gewehr? I dachte, hier geht es um Bögen?«

Bevor ich Luft holen konnte, um mich aufzuplustern wie ein Rohrspatz, bemerkte ich, dass sich seine Lachfältchen kräuselten. Seltsam. Ein Kriminaler mit Humor? Noch seltsamer war, dass mir das gefiel.

Schnell schob ich den Gedanken zur Seite und konzentrierte mich. »Meiner Meinung nach suchen Sie jemanden, der einen Compoundbogen mit etwa fünfzig Pfund schießt und einen Auszug von etwa achtundzwanzig Zoll hat.«

Leonhardts Gesicht hellte sich auf. »Des klingt doch beinahe schon nach oan Profil? Also, wen suchen mia? Einen Mann? Frauen können des gar ned ziehen, oder?«

Armer Irrer, dachte ich, sprach das jedoch nicht laut aus.

»Das sagt gar nichts aus. Das ist so allgemein, als würden Sie eine Frau mit Schuhgröße 38/39 suchen.«

»Oh.« Die Begeisterung in seiner Miene verschwand mit einem Schlag. »Also doch nicht so präzise?«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Aber das ist ein Zuggewicht, das sowohl Männer als auch Frauen und teilweise sogar schon Jugendliche schießen. Zugegeben, nicht viele Frauen und nur wenige Jugendliche, aber unmöglich ist es nicht.«

»Dann wenigstens der Pfeil? Ich denke, jeder muss seine Pfeile auf seinen Bogen abstimmen?«

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. »Um bei dem Beispiel mit den Schuhgrößen zu bleiben: Auch das kann und wird alles maschinell hergestellt. Zumindest Ihr Mordspfeil zeigt keine besonderen Merkmale. Die Schäfte sind wahrscheinlich bei einem Bogenhändler im Internet bestellt worden, und wenn der Schütze oder die Schützin auch nur annähernd was auf sich hält, hat er oder sie den Rest selbst zusammengebaut.«

Leonhardt tippte mit beiden Daumen auf seinem Handy meine Ausführungen mit. »In Ordnung. Dank recht schee für Eana Hilfe und die Suppe.« Er wollte sich umdrehen, als ich ihn festhielt.

»Was ist mit meinem Parcours? Kann ich ihn morgen wieder öffnen?«

Sein Blick fiel auf meine Hand auf seinem Unterarm, und ich zog sie schnell fort. »Sobald die Spurensicherung abgeschlossen ist, sag i Bescheid. Ach so – komm’ S’ morgen auf die Dienststelle, um Ihre Zeugenaussage aufnehmen zu lassen. Pfiat Eana, Servus.«

Na toll. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ratlos vor mich hin. So ein verdammter Mist aber auch. Mein Geschäft konnte ich in der nächsten Zeit wahrscheinlich vergessen.