Hexenwerk - Robert Lott - E-Book

Hexenwerk E-Book

Robert Lott

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Beschreibung

Marisa Braun, Reporterin der Rhein-Neckar-Zeitung, versucht mehr über die Jugendjahre eines unter merkwürdigen Umständen verstorbenen Heidelberger Professors herauszufinden. Bei ihren Recherchen in Südamerika stößt sie auf immer größere Merkwürdigkeiten. Unbeirrt folgt sie der Spur in die gewalttätige Vergangenheit Südamerikas und Deutschlands und lässt sich auch von Drohungen nicht abschrecken. Doch wer will hier mit allen Mitteln etwas verbergen? Sind es Nazis, die Kokainmafia oder gar Außerirdische? Geht es hier vielleicht sogar um Hexerei?

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Seitenzahl: 205

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Robert Lott, aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Oberfranken, studierte Englisch und Geschichte in Bamberg, lebte eine Zeitlang als Aussteiger auf einer spanischen Insel, wurde Lehrer an einem bayerischen Gymnasium, studierte Spanisch und Biologie in Heidelberg und lebt heute mit seiner Familie in Würzburg. Von ihm sind unter anderem erschienen:

Kahlschlag. Gedichte und Erzählungen. Bläschke Verlag

Richie. Jugendbuch. Andrea Schmitz Verlag

Chronik der Gemeinde Oberhaid. Hrsg. Fränkischer Tag.

Vielen Dank an Hanna Lindemann-Flor und Ange Hauck, die dieses Buch hinsichtlich Rechtschreib-, Grammatik- und sonstigen Fehlern durchgesehen haben.

Es war verrückt, es war absolut unmöglich, aber nach all dem hier konnte es nicht anders sein. Das war kein abgedrehter Horrorfilm, das war die Realität, die brutale Realität. Und die Menschheit hatte keine Ahnung. Und das sollte sie auch nicht haben, dafür sorgten sie schon.

Sie fröstelte. Die Menschen, die plötzlich nicht mehr mit ihr reden wollten, das ominöse Virus, die unsichtbare Abhöranlage, die merkwürdigen Löcher in ihren Autoreifen, alles kleine Störungen, die sie bei ihren Nachforschungen aufhalten sollten.

Doch sie hatte den Beweis gefunden, sie hatte das Foto. Und sie wusste, was es bedeutete. Und wahrscheinlich wussten sie jetzt auch schon, dass sie es wusste. Gänsehautschauer liefen über ihren Körper. Jetzt hatten sie allen Grund, sie zu töten. Was war das für ein Geräusch? Sie starrte hinaus in die Finsternis des Waldes. Ein Lichtblitz. Sie kamen. Wo war diese verdammte Pistole?

Vier Wochen vorher

Er war tot und mir war langweilig. Ich weiß, man sollte mit den Trauernden mitfühlen, aber mal ganz ehrlich, es fällt einem doch ziemlich schwer, wenn man den Toten überhaupt nicht kennt. William Harvey war gestorben. Ein anerkannter Wissenschaftler, Professor für Molekularbiologie an der Uni Heidelberg. Große Beerdigung mit viel Lokalprominenz, mit seiner Frau, seinen Kindern, seinen Kollegen und Freunden und natürlich auch mit mir, einer Mitarbeiterin der Rhein-Neckar-Zeitung, die die große Ehre hatte, einen Nachruf auf den ehrenwerten Herrn Professor zu schreiben. Mit Würdigung seiner Erfolge im Kampf gegen den Krebs und natürlich mit Danksagungen für sein unermüdliches Engagement für die Erhaltung des Regenwaldes des Amazonas. Er hatte es geschafft, die Honoratioren der Stadt für seine Idee eines eigenen Naturschutzgebietes bei Iquitos zu gewinnen, mitten im peruanischen Dschungel.

William Harvey war selbst in Peru als Sohn einer deutschenglischen Auswandererfamilie aufgewachsen, hatte seinen Uni-Abschluss in Lima gemacht und war dann an das Tropeninstitut in Iquitos gegangen. Bei einem Europaaufenthalt hatte er seine Frau kennengelernt und war ihr nach Heidelberg gefolgt, wo er schnell vom Doktor zum geschätzten Professor aufgestiegen war. Eine einigermaßen interessante Biographie, o.k., aber irgendwie reißt es einen beim Tippen dieses Nachrufs nun auch nicht wirklich vom Hocker.

Aus seinem plötzlichen Tod, daraus hätte man schon eher etwas machen können. Harvey war vor sechs Wochen bei einem waghalsigen Segeltörn ertrunken. Mit 63 Jahren wollte er allein mit seinem Segelboot von Faro an der Südspitze Portugals auf die Kanarischen Inseln fahren, war in einen mörderischen Sturm geraten, gekentert und ertrunken. Ein wirklich tragisches Ende. Gegen alle Wettervorhersagen, gegen alle Warnungen, war er einfach losgesegelt, voll in die Orkanstärke hinein. Brauchten ältere Männer diese Bestätigung, dass sie noch körperlich fit waren? Egal, von seinem Boot hatte man nichts weiter gefunden als gesplitterte Holzplanken und die Überreste der Takelage. Und von ihm? Nichts. Keine Leiche, nur ein zerrissenes Hemd mit Blutspuren. Die Haie hatten nicht viel mehr von ihm übriggelassen. Und heute hatte ihn seine Familie offiziell für tot erklären lassen und ein Pro-Forma-Begräbnis angesetzt.

In der Bildzeitung war die Story schon vor sechs Wochen erschienen, mit großer, fetter Überschrift „Deutscher Professor von Hai gefressen“ mit einem furchterregenden Bild eines weißen Hais mit weitaufgerissenem Maul aus dem Blut heraustropfte. Guter alter Photoshop macht eben alles möglich. In unserem biederen Provinzblättchen gab das Ganze auf Wunsch der Redaktion gerade mal einen halbseitigen langweiligen Artikel meinerseits ab. Und jetzt durfte ich den Nachruf und die Liste der Beileidsbekundungen in den Laptop hämmern. Aber dabei würde es nicht bleiben.

Es war ein irrer Zufall, dass ich mir gerade für diesen Sommerurlaub Peru ausgesucht hatte. Ich hatte ja schon lange geplant, einmal eine Südamerikareise zu machen, über den Titicacasee zu schippern und durch die Ruinen von Machu Picchu zu wandeln. Nun würde ich dabei gleichzeitig noch etwas Recherche in Sachen William Harvey betreiben. Ein Bericht über die exotische Jugend unseres beliebten Professors in Peru, über die nichts in Wikipedia zu finden war. Seine Jugendjahre in einer Auswandererfamilie, der Grund, warum seine Mutter auch nach wiederholten Bitten nicht zur Beerdigung erschienen war, dazu ein lebendiger Zusatzbericht über die schlimmen sozialen Missstände in Peru und über die guten und schlechten Seiten des Auswanderns, den man auch bei größeren Zeitungen und Zeitschriften unterbringen konnte. Mit meinen zwei Semestern Grundstudium Spanisch würde ich auch immer wieder schöne spanische Floskeln in meinen Artikel einfließen lassen. Peru, ich komme!

Landung in Lima, Montag früh. Es war kühl, viel kühler als erwartet. „Lima, eine feuchtwarme Stadt am Pazifik“ hatte ich gelesen. Gut und schön, das Wetter war neblig und es nieselte leicht, so viel zu „feucht“, aber warm? Es war einfach nur lausig kalt. Ende August hieß hier natürlich noch Winter. Aber mussten es denn wirklich nur 10 Grad sein? Wir waren doch nahe am Äquator! Und warum, zum Teufel, hatte ich keinen wärmeren Pullover eingepackt?

Lima gilt laut gleichem Reiseführer nicht nur als wenig attraktiv, sondern auch noch als gefährlich. Deswegen sollte man besser keinen öffentlichen Bus nehmen, sondern ein Taxi. Ich hatte lange mit mir gerungen und schließlich doch für den viel billigeren Bus votiert. Ich war schließlich keine 08-15-Schmalspur-Touristin, sondern ich hatte hier eine Aufgabe. Ich würde durch die Härten Südamerikas gehen und sie dann schillernd in allen Aspekten in meiner Reisereportage auspacken. Wenn mir jemand meine Kreditkarte wegnehmen wollte, musste er meinen Ledergürtel innen aufschneiden, und wenn mir jemand den großen Reiserucksack mit meiner Kleidung klaute, würde ich mich hier einfach neu eindecken. Meine besten Stücke hatte ich ohnehin zu Hause gelassen. Mein Minilaptop steckte mit den allerwichtigsten Utensilien im kleinen Reiserucksack vor meiner Brust und das Smartphone in meiner Hosentasche ganz unten. O.k., wie werdet ihr versuchen, mich zu beklauen? Im Notfall werde ich schreien, verlasst euch darauf. Und ich kann ziemlich laut schreien, auf Spanisch um Hilfe rufen. Ja, ja, super mutig bin ich, aber in Wirklichkeit habe ich übelst Muffensausen. Also gut, tief durchatmen und eine Runde Selbstsuggestion: Du bist mutig! Es kann dir nichts passieren! Es kann dir nichts passieren! Om!

Das Gepäck hatte das Förderband schon mal problemlos ausgespuckt. So und jetzt raus damit aus der Flughalle und auf zum Busbahnhof.

Und schon begann das große Abenteuer. Laut Plan brauchte ich die Linie 33, um in die Innenstadt zu kommen.

Und warum bitte stand da am Terminal kein Bus? Kein einziger!

O.k. Fragen, einfach nur Fragen. Man wende sich an den nächstbesten Reisenden, der mit einem schweren Koffer auf dem Weg zurück in das Flughafengebäude ist.

„Perdone, Senor, ¿Por qué no hay ningún autobus?“

„Ay, es que hay una huelga, Senorita, una huelga. Hay que tomar un taxi.“

„Huelga“ gab es den zwei Semestern Grundstudium nicht, also Handy zücken und Google-Übersetzer anklicken: Aha, Huelga heißt Streik. Ach du Scheiße. Also doch Taxi. Hoffentlich wurde ich da nicht sofort übers Ohr gehauen oder landete als Raubopfer im Straßengraben.

Der Taxifahrer war schließlich ein ganz gemütlicher, dicker kleiner Peruaner, der mir irgendetwas von dieser „Huelga“ erzählte, was ich nicht die Bohne verstand, doch meine anfängliche Angst löste sich durch sein ununterbrochenes Geplapper allmählich in Luft auf. Draußen nieselte es immer noch und wir kutschierten durch ewig lange Häuserschluchten, die mir alle ähnlich grau vorkamen. Im Reiseführer stand „Lima gilt manchem als die hässlichste Stadt Lateinamerikas, das stimmt aber nicht“. Na ja, der erste Eindruck war jedenfalls nicht gerade berauschend.

Das Hotel war ebenso wenig einladend wie die ganze Stadt. Nüchtern, wenig schick, etwas altbacken, aber das Zimmer war in Ordnung und vor allem durchaus erschwinglich. Die Matratze war entschieden zu weich, reines Schaumgummi. Dafür gab es statt einem Federbett zwei Steppdecken, na super. Aber egal, nach dem 12-Stunden-Flug würde ich sogar auf dem nackten Boden einschlafen.

Der erste Morgen auf einem fremden Kontinent, in einer völlig anderen Zeitzone, aber mein Handy weckte mich ordnungsgemäß zur Frühstückszeit. So frisch geduscht und gestärkt würde ich erst einmal die Stadt erkunden. Man beginne mit dem Highlight Nummer 1 im Reiseführer, der „Plaza de Armas“, dem zentralen Platz Limas mit dem Präsidentenpalast und der Kathedrale. Mist, es regnete immer noch heftig und alle verkrochen sich unter den Vordächern oder hasteten geduckt unterm Regenschirm an einem vorbei, so wirkte der große Platz doch etwas sehr dunkel und leer, mit den dunklen Wolken, die schwer über einem hingen, fast unheimlich. Und die Kathedrale? Kostete natürlich Eintritt. Was machten eigentlich die frommen Christen, die hier beten wollten und kein Geld hatten? Fünfzehn Soles, fünfzehn Sonnen, eine komische Währung. Wahrscheinlich wegen Inti, dem Sonnengott, dem höchsten Gott der alten Inkas. Der Name war geblieben, nur dass man damit heute nicht mehr den alten Sonnengott anbetete, sondern das Geld, den unerbittlichen Gott der modernen Welt, dem man seine tagtäglichen Opfer darbrachte.

Genug, ich zahlte meinen Zoll und schauet mir die Kirche an. Außen eher barock und innen eher klassizistisch steht im Führer. Na ja, wahrscheinlich waren die kantigen Säulen klassizistisch. Ich hatte leider keine große Ahnung von Kunstgeschichte, für mich war die Kirche einfach lateinamerikanisch, mit diesem schönen dunklen Holzgestühl, das ich an den alten Kirchen so liebte. Eindrucksvoll war die Kathedrale schon, aber kein Vergleich mit wirklich großartigen Kirchen wie der lichtdurchfluteten Sagrada Familia in Barcelona oder der Notre Dame mit ihren fantastischen gotischen Bögen. Immerhin hatte ich das Grab von Franzisco Pizarro gesehen, dem Eroberer des Inkareiches. Ein rücksichtsloser Machtmensch, der noch nicht einmal richtig schreiben konnte und sich alles vorlesen lassen musste. Und so ein ungebildeter Haudrauf vernichtete mit ein paar hundert Mann ein Riesenreich. Unglaublich.

Draußen regnete es in Strömen. Ich gab die Besichtigungstour auf und beschloss, mit dem Taxi zur Uni zu fahren. Dort musste man doch noch etwas von dem berühmten Professor Harvey wissen, der hier studiert hatte.

Ich hatte nicht gedacht, dass dieser Campus so verdammt weit draußen war. War der Taxifahrer im Kreis gefahren? Aber gut, die Wolken hellten sich etwas auf und meine Stimmung stieg. Ich war wieder im Arbeitseinsatz, Reporterin ohne Grenzen. Hier in der Uni würde ich sicher viel über Harveys wilde Studienzeit herausbekommen und dann natürlich über seinen ganzen Weg vom kleinen Auswandererjungen zum deutschen Uni-Prof und … Aber was sollte denn das? Weswegen?

„¿Pero, ¿por qué?

„Es que no se puede. Sin carnet de inscripción no se puede entrar. Esto no es un lugar turístico.“

Ich hatte vergessen, dass die Unis in Südamerika alle hermetisch abgeriegelt sind. So schnell trennte man die Kinder der lieben Reichen vom schmutzigen Nachwuchs der Armen. Dabei blieben die Letzteren doch schon dank der horrenden Studiengebühren hier draußen vor der Tür. So wie ich jetzt. Der finster blickende Gorilla von Wachmann vor dem Stacheldrahtzaun ließ mich einfach nicht hinein, hielt mich für eine schnöde Touristin, die sich verlaufen hatte. Ich hielt ihm erst mal meinen schönen deutschen Reporterausweis unter die Nase, aber klar, den konnte er natürlich nicht lesen.

„¿Reportera alemana? ¿Pero qué quiere usted aquí?“

Also begann ich lang und breit von Professor Harvey zu erzählen und wie wichtig der Mann doch gewesen war und dass die Universität von Lima doch stolz auf ihn sein müsste und so weiter. Er hatte null Ahnung davon, was ich wollte, starrte mich ungläubig an und griff dann doch entnervt zum Handy. Na ging doch.

Eine halbe Stunde später lief ich mit Senor Rodriguez, einem Professor für Zellbiologie, durch die heiligen Hallen der Uni Lima. Er war noch recht jung für einen Professor, vielleicht 40 oder 45, perfekt gestylt in seinem graublauen Anzug und dem weißen Hemd, die schwarzen Löckchen gegelt nach hinten gelegt. Groß und schlank, aber leider überhaupt nicht mein Typ, allein schon, weil er ohne Punkt und Komma auf mich einredete, ohne auf irgendwelche Antworten meinerseits zu warten. Dabei wusste er offenbar so gut wie nichts von Harvey, außer dass er hier Medizin studiert hatte. Andererseits war er scheinbar froh, endlich jemandem seine fulminanten Deutschkenntnisse präsentieren zu können, die er bei einem doch recht obskuren Online-Sprachkurs erworben hatte.

„… Ja, Fräulein Braun, sehr interessant, das was Sie sagen. Wir erfreuen uns von Ihrem Besuch. Der Herr Harvey ist gewesen ein guter Student von unserer Universidad. Er hat studiert Biología und nicht studiert Sprachen, obwohl er gewesen halb Englisch, halb Deutsch. Aber ich werde bringen Sie zu Professor Guerrera, welcher ist Dekan de Medicina und ich glaube, er gekannt Senor Harvey. Sicher, dass Sie gehabt eine lange Reise, nicht …?“

Mit Professor Guerrera war es leichter zu reden und zwar auf Englisch! Guerrera war ein weißbärtiger Mann in den Sechzigern, der mich hinter seinem Schreibtisch und seiner dicken Brille empfing. Ja, Harvey war ein beliebter Student gewesen, allerdings schon im Hauptstudium, als er gerade noch Erstsemester war. Sie hatten sich ab und zu unterhalten, bis Harvey dann nach Iquitos ging und schließlich nach Europa verschwand. Harvey hatte immer so einen lustigen Akzent gehabt und er hatte gern Fußball und Tennis gespielt. Ja, er war einer der besten Tennisspieler hier gewesen. Beim Segeln ertrunken? Unfassbar! Ja, sportlich war er immer gewesen. Seine arme Frau. Fotos? Ja, er würde seine Kollegen fragen. Aber er war hier fast der Dienstälteste und er glaube nicht, dass es noch viele Kollegen gäbe, die Harvey kannten. Ja, er würde alles zusammensuchen und mir schicken, was er finden könne. Ich solle mir erst mal ganz beruhigt die Stadt ansehen. Wollte er mich abwimmeln oder hatte er wirklich viel zu tun? Egal, es blieb mir ohnehin nichts anderes übrig, als seinen Rat anzunehmen.

Der Eindruck von der Stadt wurde einfach nicht besser. Das endlose Gewimmel von Menschen, der Dauerstau auf den Straßen … Wieso, zum Teufel, streikten die Busfahrer, die meiste Zeit schienen hier doch eh alle Autos zu stehen oder sich im Schneckentempo vorwärts zu wälzen. Und zum Zeitvertreib hupte man sich dann nervtötend an oder beschimpfte seinen Vordermann. Immerhin fand ich nicht weit von meinem Hotel ein nettes Café im dritten Stock über einer Buchhandlung. Man konnte von dort weiter hoch in den vierten Stock gehen und schließlich auf einer kleinen, bepflanzten Terrasse, die zum Café gehörte, an einem runden Tisch sitzen und den Blick über die Hinterhöfe der Häuserblocks schweifen lassen Für eine kurze wertvolle Auszeit war man dem Lärm und der Hektik der Großstadt entfleucht.

Am Abend dann noch einen kleinen Drink an der Hotelbar und ich war in Lima angekommen. Ja, ich hatte die Blicke mehrerer Männer bemerkt. Eine einsame Frau an einem Tisch in der Hotelbar – ein ideales Opfer. Zur Tarnung bestellte ich in solchen Fällen immer zwei Getränke und stellte eines demonstrativ meinem gegenüber auf den Tisch – eine Frau, die auf ihren Mann wartet, der wahrscheinlich zu lange auf der Toilette brauchte oder in jedem Fall gleich auftaucht. Ich hatte einfach noch keinen Bock auf Affären. Die letzte war noch nicht so richtig verdaut und ich hatte hier ja noch etwas vor. Allerdings war ich auch gerade verdammt müde.

Der nächste Morgen weckte mich mit einem immensen Kopfweh. Ich hätte das zweite Glas Rotwein nicht so hinunterstürzen sollen. Buh, das fing ja gut an. Es klopfte an der Tür. Wer zum Teufel? Ich schaute wieder auf die Uhr. Halb elf! Der Jetlag hatte doch noch zugeschlagen. Es klopfte wieder.

„Perdone Señora. Usted tiene un paquete.“

„Sí, sí. Espere.“

Ich watschelte schlaftrunken zur Tür. Der Hotelbote hatte nicht gelogen. Ein dickes Paket von … Alfonso Guerrera, Universidad de Lima.

Bilder, Berichte, super. Guerrera war ein Schatz. Wie hatte er das alles so schnell aufgetrieben? Wahrscheinlich hatte er irgendeinen Hiwi oder Assistenten dazu verdonnert und derjenige hatte sich befleißigt gefühlt, den Auftrag seines Herrn und Meisters so schnell wie möglich zu erfüllen.

Ausschnitte von Tennisberichten, Harveys Einschreibung, seine Belegungen, seine Exkursionen und der Titel seiner Doktorarbeit „Gemelos y las influencias de la calidad de vida al ADN“. Ich las kurz im beigehefteten Inhaltsverzeichnis. Irgendwie ging es um Zwillinge, aber mehr verstand ich nicht.

Hm, aus dem ganzen Zeug ließ sich zwar ein ganz netter Bericht machen, aber bestimmt kein wirklich interessanter. Was war das Besondere an dem Mann? Ein guter Student, ein guter Tennisspieler, das holt doch kein Mütterchen mehr hinter dem Ofen hervor. Nein, was war los mit seinen Eltern? Sein Vater war ja schon lange tot, aber seine Mutter …? Warum war sie nicht zur Beerdigung gekommen? Gab es Fotos von den Eltern? Nein, da war nichts, nur die hingekritzelten Unterschriften auf dem Einschreibungsformular, das war’s.

Halt, da war ja noch die Anschrift: Cusco, Avenida Huascar 44.

Cusco? Das wäre doch ohnehin die nächste Station meiner Reise gewesen. Ich gab „Tiempo en Cusco mañana“ auf dem Handy ein: „Sonne, 20 Grad! “Gegencheck: Lima? „Regen, 12 Grad“. Nichts wie weg hier! Auf nach Cusco. Wie komme ich dort hin? Liebes Handy, was sagst du mir?

Oh, du heilige Scheiße! Nächster Flug erst wieder in drei Tagen. Zug? Im Moment außer Betrieb. Bus? 12 Stunden mit dem Überlandbus. Also lieber doch nicht. Nochmal Gegencheck: Lima Wetter übermorgen? „11 Grad, Regenwahrscheinlichkeit 90%“!

Nein! Auf keinen Fall. Wo war diese blöde Busstation?

Ich war eingeschlafen. Der Bus schaukelte immer noch, aber die Sonne blinzelte durchs Fenster und wir näherten uns unserem Ziel: Cusco.

Cusco – ehemals Zentrum des Imperiums der Inka, eines gigantischen Reiches, das sich von Ekuador im Norden über Peru bis nach Chile erstreckte, über mehr als 3000 Kilometer, auf Europa übertragen wäre das glatt von Norwegen über ganz Mittel- und Westeuropa bis nach Nordafrika.

Ich rieb mir müde meine Augen und starrte aus dem Fenster, während der Bus durch die Vororte der Stadt rollte. Die Häuser waren hier viel niedriger als in den Häuserschluchten Limas und die Menschen … Es waren kaum noch Ausländer zu sehen, überall Indígenas, Frauen mit komisch bestickten Hüte und weit abstehenden bunten Röcken, Männer mit farbigen Hemden in den typischen geometrischen Indio-Mustern. Der Bus hielt an der Plaza Mayor – wieder ein riesiger rechteckiger Platz, dieser wurde allerdings im Unterschied zu Limas „Plaza de Armas“ von der Sonne beschienen und war auch wirklich geschichtsträchtig. Laut Reiseführer hatte er schon den alten Inkas als Versammlungs- und Zeremonienplatz gedient. Von hier wandten sich kleine Gassen in alle Richtungen. Ich fühlte mich endlich im Peru der Inkas angekommen. So hatte ich mir das hier vorgestellt, nicht so wie in Lima. Aber natürlich beim Aussteigen aus dem Bus das gleiche Prozedere wie schon am Flughafen.

„Senora, ¿necesita habitación? Buen hotel, muy cerca.“

„No, gracias.“

Ich hatte das Hotel schon vom Bus aus gebucht. Immerhin, die Indigenas waren Gottseidank längst nicht so aufdringlich wie die Afrikaner. Einmal Ägypten und nie wieder Nordafrika. Klar, man war in diesen ärmeren Ländern der laufende Dollarschein und die Leute hatten einfach keine Kohle, aber die Indígenas hier gaben wenigstens Ruhe, wenn man einmal „No gracias“ gesagt hatte. In Ägypten war man ständig von „Freunden“ umringt gewesen. Ein schrecklicher Alptraum, und die einzige Lösung bestand darin, sich einen „Freund“ zu kaufen, der einen gegenüber allen anderen „Freunden“ abschirmte. Hier war das anders. Hier konnte man sich überall frei bewegen. Ich holte meinen großen Reiserucksack aus der Ladefläche des Busses und orientierte mich langsam. O.k., die Gasse rechts von der Kathedrale musste es sein.

Das Hotel war eher eine kleine hübsche Pension mit einem begrünten Innenhof und Zimmern, die rings um diesen Patio angelegt waren. Ich war hundemüde und hatte kaum einen Blick für die schönen Balkone mit den üppig wuchernden Geranien. Ich fiel einfach nur noch ins Bett.

Gegen Abend kam ich wieder zu mir und beschloss, eine erste Erkundungstour durch die Stadt zu unternehmen. Die Luft war dünn auf diesen 3400 m Höhe und ich atmete erst mal tief durch und genoss die trockene kühle Atmosphäre. Ich zog zunächst ohne großen Plan durch die Straßen der Altstadt und stand zum ersten Mal staunend vor den Überbleibseln der gigantischen Inkabauten. Die Straßenzüge, die Grundmauern der Häuser, das waren alles noch Reste der alten Metropole der Sonnenkönige. Riesige behauene Steinquader, die aufeinanderpassten, so dass kein Windhauch dazwischen Platz hatte, bildeten die Fundamente der heutigen Häuser. Was für geniale Steinmetzen mussten daran gearbeitet haben und wie lange hatten sie dafür gebraucht? Und jetzt? Die Bevölkerung war gewachsen und die Spanier hatten auf die Bauten der Inkas ihre eigenen Häuser als zweite und dritte Etagen gesetzt. Unten die gewaltigen, aus dem Felsen geschlagenen Blöcke der Inkas und darauf die erbärmlichen kleinen Steine der Konquistadoren, überall mit Zement zusammengeklebt, damit sie nicht auseinanderfielen. Die Bauten der Inkas hielten angeblich sogar Erdbeben aus. Wie hatten es die Spanier nur geschafft, eine so hochstehende Kultur zu unterwerfen?

Schließlich landete ich am Coricancha – dem Sitz des Inkaherrschers, des Sohnes der Sonne, dem Zentrum des Inkareiches. Die christlichen Spanier hatten den Herrschaftssitz in eine Kirche verwandelt. So war es eben – die Religion, die gesiegt hatte, musste die Zeichen der vorherigen natürlich löschen oder zumindest in eigene Monumente verwandeln. Deswegen hatten die Römer den Tempel der Juden zerstört und darüber den Augustustempel errichtet, hatten die Spanier eine Kathedrale in die große Moschee von Córdoba gesetzt, hatten die Türken die Hagia Sophia mit Sprüchen aus dem Koran verziert und in eine Moschee verwandelt. Es gibt immer eine Siegerreligion.

Die Sonne ging unter und es wurde empfindlich kalt. Ich musste zurück. Im Hotel gab es als Gute-Nacht-Trunk ein Inka-Bier. Das hatten die alten Inkas sicherlich nicht gebrannt, aber es reichte zum Einschlafen.

So, heute aber mal an die Arbeit: Williams Mutter lebte in San Blas im sogenannten Künstlerviertel von Cusco, eine recht wohlhabende Gegend. Vor den Häusern standen große, blankgeputzte Autos. Hier sah man Männer mit gebügelten Hosen und Jackett, kaum den typischen Indio mit den bunten Hemden und abgetragenen Jeanshosen. Mehr Weiße und Mestizen, registrierte ich, und ein paar Touristen, die durch die Straßen streiften. Das Haus der Harveys sah allerdings gar nicht so aus, wie ich es mir ausgemalt hatte. Es hatte einen Garten wie die Nachbarhäuser und war vielleicht auch mal eine Art Villa gewesen, aber das war es schon lange nicht mehr. Der Garten war völlig verwildert und das Anwesen sah ziemlich heruntergekommen aus. Einige Dachziegel waren zerbrochen und der Efeu hatte sich scheinbar an vielen Stellen am Haus hochgefressen, war aber offensichtlich wenig fachmännisch wieder abgerissen worden und hatte dabei an manchen Stellen den alten Putz mitgenommen. Seit Jahren schien sich niemand so recht um das Haus zu kümmern.

Eine seltsame Frau musste die Harvey sein. Über 80 und ging nicht zum Begräbnis ihres einzigen Sohnes, obwohl man ihr die Reise bezahlt hätte.

Ich klopfte.

„¿Sí?”

“¿Señora Harvey?”

Die Tür ging einen Spalt auf und eine hagere, alte, grauhaarige Frau in einem schwarzen verknitterten Kleid beäugte mich misstrauisch.

“Señora Harvey. Soy Marisa Braun de Heidelberg. Soy reportera.”

“¿Sí?”

“Señora, como usted sabe su hijo William murió, y como era un científico muy conocido me interesaría. ..”

“No quiero hablar de ese hombre.”

Die alte Frau wollte die Tür wieder schließen, aber ich war schon zu nah. Guter alter Reportertrick, nur wenige Leute werfen einem wirklich die Tür vor der Nase zu, auch wenn das in vielen Filmen so vorkommt. Man musste nicht einmal den Fuß in die Tür stellen, sehr nah an der Tür zu sein, war schon genug. Niemand wollte einen Unbekannten gleich verletzen.

„Aber ihr Sohn war doch ein guter Sohn, oder?“

Das plötzliche Deutsch und meine Nähe taten ihre Wirkung: Die alte Frau hielt inne und ihr Kopf sank nach unten. Sie schien plötzlich mit sich selbst zu reden.

„Ja, er war ein guter Sohn. Er war … aber warum musste er so früh sterben? Warum? Er war so jung, so lebensfroh, so …“

Sie hob den Kopf und sah mich wütend an.

„Gehen sie! Ich will nicht mit Ihnen reden! Gehen Sie!“

„Aber Frau Harvey…“

„Gehen Sie!!Márchese! ¡Voy a llamar a la policia! Márchese!”

Ihre Stimme wurde immer lauter und schriller. Die Nachbarn würden bestimmt gleich aufmerksam werden. Ich wollte den Türgriff festhalten, aber die Alte war zu schnell, zerrte an der Tür und zog sie zu. Dann drehte sie innen den Schlüssel um und sperrte ab.

„Aber Frau Harvey, ich wollte doch nur …“

Sie antwortete nicht mehr. Ich sah vom Garten aus, wie sie hinter einem Fenster stand und telefonierte. Sie rief scheinbar wirklich die Polizei an. Ich musste weg hier, musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Na super. Jetzt war ich so schlau wie vorher. Das war ja ein Reinfall. Eine kleine dickliche Indígena lief an mir vorbei und grinste mich an.

„Buenos días”, sagte ich.

“Buenos días”.

Sie grinste mich weiter an, ging aber nicht weiter, wollte scheinbar mit mir reden.

„No se preocupe. La Señora Arvi está loca. Sabe usted, muchas drogas y ahora loca, muy loca. “