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Herzklopfen hoch drei: der dritte Teil der romantischen New-Adult-Liebesromane rund um eine Studenten-Clique an der Fletcher University in den USA von Spiegel-Bestseller-Autorin Tami Fischer! Tagsüber unscheinbare Studentin, abends schillernde Nachtklub-Tänzerin: Lenny James lebt ein gefährliches Doppelleben. Um ihr Geheimnis zu wahren, trägt sie tagsüber nur unförmige Männerkleider und lässt niemanden zu nah an sich heran. Das gilt ganz besonders für den Frauenschwarm Creed Parker, in den sie sich gegen ihren Willen verliebt hat. Als Creed eines Abends in dem Nachtklub auftaucht, in dem Lenny arbeitet, und einen privaten Tanz bei Lennys Alter Ego »Daisy« bucht, ist sie so durcheinander, dass es entgegen aller Regeln zu einem heißen Kuss kommt. Zwar erkennt Creed Lenny nicht, doch er verliebt sich in die geheimnisvolle »Daisy« und unternimmt alles, um die Tänzerin näher kennenzulernen. Und während Creed – ohne es zu ahnen – Lenny hinter ihrer Maske immer näher kommt, bahnt sich eine Katastrophe an, die ihr Leben zerstören könnte … Mitreißend, dramatisch und verführerisch romantisch schreibt Spiegel-Bestseller-Autorin Tami Fischer über den Mut, der nötig ist, um die große Liebe und vor allem sich selbst zu finden. Die Liebesromane der New-Adult-Reihe »Fletcher University« sind in folgender Reihenfolge erscheinen: • »Burning Bridges« • »Sinking Ships« • »Hiding Hurricanes«
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Seitenzahl: 630
Tami Fischer
Hiding Hurricanes
Roman
Knaur e-books
Tagsüber studiert Lenny an der Fletcher University, doch abends verwandelt sie sich in die Tänzerin Daisy, Star eines Nachtclubs. Damit ihr Doppelleben nicht auffliegt, hält Lenny Menschen von sich fern – auch ihren besten Freund Creed, in den sie schon lange verliebt ist. Dabei hat Creed nur Augen für die geheimnisvolle Daisy und besucht immer wieder ihre Shows, ohne seine Freundin hinter der schwarzen Maske zu erkennen. Doch eines Abends gerät Lenny in ihrer Rolle als Daisy so durcheinander, dass es zwischen ihr und Creed entgegen aller Regeln zu einem heißen Kuss kommt. Lenny muss sich entscheiden, wer sie sein will - und riskieren, Creed für immer zu verlieren …
Für Anabelle, Ava, Alexander, Bianca, Klaudia, Laura, Laura-Jesus, Marie, Nicole und Nina.
Danke, dass es euch gibt.
Ihr seid wundervoll.
*kling*
Ich lehnte mich gegen die kühle, gläserne Bar. Mein Blick glitt suchend durch den vollen Club. Die schwarze Maske aus Spitze saß weich auf meinem Gesicht, verdeckte meine Augen und meine Wangenknochen, und meine blonde Perücke fiel in Wellen bis unterhalb meiner Brüste. Das heutige Kostüm war gewagt. Roter Samt, rote seidene Handschuhe und falsche Diamanten.
Ein Mann sprach mich an, doch ich würgte das Gespräch bereits nach wenigen Minuten ab. Für die Gäste im Club war es ungewöhnlich, mich hier im Barbereich anzutreffen, da ich mich normalerweise sofort auf die Bühne begab, Privatshows veranstaltete oder an einer der Stangen tanzte. Doch seit ein paar Wochen hatte ich eine neue Lieblingsbeschäftigung, und dieser konnte ich nur hier nachgehen: Ich beobachtete meinen Stammkunden – den treuesten von allen.
Ehrlich gesagt, war ich mir gar nicht sicher, ob ich ihn wirklich als meinen Kunden bezeichnen konnte, denn er hatte noch nie mit mir gesprochen, geschweige denn mich gebucht oder mir Trinkgeld gegeben. Er war mir noch nie näher als fünf Meter gekommen – denn ich ließ es nicht zu. Und dennoch kam er immer wieder, fast jeden Abend. Als ich ihn hier zum ersten Mal gesehen hatte, war ich aus allen Wolken gefallen. Seine Freunde hatten ihn mitgeschleppt – meinetwegen. Weil sie meine Show sehen wollten und ihm so lange von mir erzählt hatten, bis er sich selbst von mir überzeugen wollte – von Daisy, der bekanntesten Tänzerin der Stadt. Und das wollte schon etwas heißen, denn der Club war vielleicht schick und luxuriös, aber immer noch ein Stripclub; viel nackte Haut, Mädchen an Stangen, Lapdances, Drinks.
Seit jenem ersten Abend schien er wie verzaubert zu sein. Nicht nur von mir, sondern auch vom Dolly House. Es musste ein Zauber sein, denn tagsüber, wenn ich nicht Daisy war, hätte er mich nie so angesehen wie hier. Jede Nacht war sein durchdringender Blick quer durch den Club erfüllt von Faszination, Neugierde – und Verlangen. Ich war süchtig geworden nach diesen Momenten. Diesen energiegeladenen Augenblicken, in denen sich die Welt nur auf ihn und mich reduzierte. Und jedes Mal, wenn sie vorüber waren, floh ich vor ihm, wie Cinderella, die pünktlich um Mitternacht zurück zu ihrer Kutsche eilen musste – nur dass ich nicht Cinderella war, sondern, … na ja, eine Stripperin.
Danach war ich jedes Mal so von Sehnsucht nach ihm erfüllt, dass ich kaum atmen konnte, und diese Nachwirkung hielt stundenlang an, wie eine Droge.
Das hier war unser Geheimnis. Und das musste unter allen Umständen auch so bleiben, auch wenn ich immer wieder versucht war, zu ihm zu gehen, mit ihm zu sprechen und ihn zu berühren. Alles, was ich mir in den letzten Jahren so mühevoll aufgebaut hatte, würde zusammenbrechen, denn er würde mich sofort entlarven, sollte er mein Gesicht genauer betrachten. Trotz der schwarzen Maske. Meine schillernde, aufregende geheime Welt, meine Zuflucht – Daisy –, all das würde in Flammen aufgehen. Und nichts würde übrig bleiben bis auf kalte Asche.
Deshalb drehte ich mich auf meinen Stilettos um und verschwand in der Menschenmenge, als sich Creed Parker auf der anderen Seite des Raumes von der Wand abstieß, um sich einen Weg zu mir zu bahnen.
Ella stieß einen so lauten Jubelschrei aus, dass ich zusammenzuckte. Summer folgte ihrem Beispiel, was mich erneut zusammenfahren ließ, ehe sie abklatschten und beide von der riesigen Picknickdecke aufsprangen, auf welcher der Rest unserer Truppe saß. Sie lachten und führten einen Siegestanz auf.
Bei dem Anblick verzog sich mein Mund zu einem Lächeln, und ich verdrehte die Augen. Es war immer wieder das Gleiche, bei jeder Runde.
Ich lehnte an der Steinwand von King House, einem der Wohnheime auf dem Campus der Fletcher University, und beobachtete das rege Treiben meiner Freunde aus sicherer Entfernung. Barbecues waren auf dem Campusgelände nicht gestattet, weshalb wir uns für ein Picknick entschieden hatten. Es war schon das vierte Kartenspiel, das sie spielten, und die Sonne stand noch immer am Himmel, wenn auch nicht sonderlich weit oben.
Eine Brise wehte durch die majestätischen alten Bäume, und Insekten zirpten im knorrigen Geäst. Der Luftzug war mehr mit heißer Föhnluft vergleichbar als mit einer wirklichen Brise. Es war so heiß, dass es sogar hier im Schatten kaum auszuhalten war. Laut Wetterbericht war in unserem Bundesstaat der heißeste Sommer seit sieben Jahren ausgebrochen. Man musste nur einen Schritt vor die Tür machen und hatte sofort das Bedürfnis, kalt zu duschen. Meine schwarze Kleidung wurde mir diesen Sommer so was von zum Verhängnis – und dabei hatte ich mich bereits dazu durchgerungen, meine dicken, übergroßen Pullover gegen T-Shirts auszutauschen. Nur die schwarzen Jeans oder Anzughosen waren immer noch dieselben. Jetzt war mir aber so heiß, dass ich am liebsten nackt gewesen wäre. Oder in einer Eistruhe. Oder nackt in einer Eistruhe.
Ich seufzte schwer und trank einen großen Schluck von meinem Bier.
Plötzlich hörte ich Savannah spitz aufschreien.
Ich sah nur noch, wie Mitchell grinsend die Wasserflasche senkte, deren Inhalt er soeben über ihren Rücken geschüttet hatte.
»Du bist so ein Blödmann!«, rief sie, rappelte sich in ihrem pinken Sommerkleid auf, welches nun einen dunklen Fleck am Rücken aufwies, und verpasste ihrem Bruder einige Schläge gegen den Arm. Im Normalfall hätte er ihre Hiebe wohl kaum gespürt, weil Savannahs Fäuste höchstens so gefährlich waren wie ein Babykaninchen im Halbschlaf, aber selbst von meinem Standpunkt aus konnte ich sehen, dass Mitchell an den Armen, am Hals und im sommersprossigen Gesicht krebsrot war. Deshalb krümmte er sich zusammen und stieß einen schmerzerfüllten Laut aus.
Savannah schnappte vor Schreck nach Luft. »Oh, Gott, tut mir leid! Tut mir leid!«
»Das hast du verdient, Hollister«, bemerkte Carla, ohne aufzublicken. Der Satz bescherte meiner Mitbewohnerin von Mitchell einen empörten Blick, aber das schien sie nicht zu kümmern – oder sie sah es schlichtweg nicht. Mit ihrer großen Sonnenbrille auf den Augen lag Carla im Gras neben der Picknickdecke und rührte sich nicht einen Zentimeter, während sie ihrem Lieblingslied von Luis Fonsi lauschte. »Du hast dich selbst verflucht, indem du das Karma herausgefordert hast«, erklärte sie nur und verschränkte die Hände auf dem Bauch.
»Wieso, was hat Mitch gesagt?«, fragte Ella, die im Schneidersitz an der Bluetooth-Box herumhantierte.
»Er hat behauptet, er würde diesen Sommer keinen Sonnenbrand bekommen. Und dass er braun wird, nicht rot. Ich habe ihm sowieso nicht geglaubt.« Die Mädchen lachten, und selbst Ches und Todrick fielen mit ein.
»Hey, so läuft das nicht, Prinzessin!«, rief Mitchell, noch immer mit gequältem Gesichtsausdruck. Er bückte sich, griff in eine der Kühltaschen und holte eine weitere Wasserflasche hervor. »Als meine Freundin sollst du mir den Rücken stärken und nicht draufschlagen, sobald ich einen Sonnenbrand habe.«
»Ay, das war nicht ich, sondern deine Schwester. Außerdem ist Schlagen nicht mein Stil.«
»Stimmt, du bist eher der hinterlistige Typ.« Mitchell grinste. Dann drehte er die Wasserflasche über Carla um.
Ich verdrehte die Augen, als Carla einen noch spitzeren Schrei als Savannah zuvor ausstieß und sich hektisch die Sonnenbrille vom Gesicht riss. Ihre Beine und der gesamte Rock waren durchnässt, und Mitchell schüttete den Rest aus der Flasche auf ihren Füßen aus, ehe sie fluchte und sich aufrappelte. »Das kostet dich deinen Kopf!«
Eine Wasserschlacht brach auf der Picknickdecke aus, vor welcher nur Summer unversehrt fliehen konnte, weil sie die Smartphones in Sicherheit brachte. Grinsend und aus sicherer Entfernung richtete sie ihr riesiges Telefon auf das Durcheinander, was die bunte Stoffkette um ihren Hals, die mit ihrem Smartphone verbunden war, gefährlich spannen ließ. Vermutlich war es von größter Wichtigkeit, einen solchen historischen Moment in Form einer Instagram-Story oder eines TikTok-Videos festzuhalten. Bei dem Anblick machte die Stimme in meinem Kopf sehr authentische Würgegeräusche. Ich bemühte mich mittlerweile zwar sehr, Summer zu mögen, aber das hier ging zu weit. Da konnte nicht mal ich beide Augen zudrücken. Es war eine Sache, dass sie sich ständig einem gewissen Typen an den Hals warf. Ich hatte gelernt, damit umzugehen und es nicht mehr zu beachten. Aber Handys, die an Ketten um den Hals lagen? Scheiße, nein. Nicht mit mir.
Ich beobachtete das Geschehen weiter und trank den Rest meines Biers in einem Zug aus. Wenn das so weiterging, würde ich noch viele Drinks benötigen. Schön, eigentlich durfte ich mich ja gar nicht beschweren. Immerhin ließ ich das hier freiwillig über mich ergehen, oder?
»Noch eins gefällig?«
Vor Schreck schnappte ich nach Luft, wobei ich mich beinahe verschluckte. Nicht, weil ich mich erschrak (gut, vielleicht ein wenig), sondern wegen der tiefen, vertrauten Stimme, welche die Frage gestellt hatte. Hastig wischte ich mir mit dem Handrücken über den Mund und räusperte mich.
»Klar«, erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen, was meine Stimme seltsam hoch klingen ließ. Ich straffte die Schultern. Mein Nacken kribbelte heiß, was nichts mit dem Wetter zu tun hatte, und mein Magen knotete sich nicht einfach nur zusammen, sondern drehte aufgeregte Pirouetten. Er war wieder da! Und ganz offensichtlich hatte er, wie versprochen, noch ein Sixpack Bier besorgt.
Creed lehnte sich neben mich an die Steinwand des Wohnhauses und füllte meinen roten Becher, so wie seinen eigenen, auf dessen geriffelter Oberfläche bereits Kondenswasser glitzerte. Mit einem Räuspern sah ich ihm dabei zu und versuchte, möglichst gelassen zu wirken.
»Cheers«, sagte Creed und zwinkerte auf seine typisch unbekümmerte Art und Weise.
»Cheers«, wiederholte ich mit einem schiefen Lächeln und prostete ihm zu.
Creed Parker war ein großer Kerl mit breitem Kreuz und aufrechtem, selbstbewusstem Gang. Seine dunklen Haare waren militärisch kurz rasiert, was sein Gesicht noch markanter und sein Kinn noch ein wenig eckiger wirken ließ. Er hatte einen schönen Schwung in den Lippen und durchdringende bernsteinfarbene Augen. Sie brachten mich jedes Mal aus dem Konzept, wenn sie meinen Blick zu lange hielten. Obwohl Creed und ich schon seit Jahren befreundet waren, wollte mein Körper einfach nicht aufhören, jedes einzelne Mal so stark auf ihn zu reagieren – es machte nicht einmal einen Unterschied, dass wir heute bereits eine Ewigkeit gemeinsam mit den anderen auf dieser Picknickdecke verbracht hatten. Ich brauchte immer einen Augenblick, bis ich mich so weit zusammenreißen konnte, um ihn normal zu behandeln, vor allem wenn wir unter uns waren, so wie jetzt. Danach klappte es aber ganz gut. Ich hatte mich in den letzten Jahren daran gewöhnt.
Gemeinsam sahen wir zu, wie Ches Ella über die Schulter warf und sie, trotz ihrer Protestrufe, quer über die ordentlich gemähte Wiese trug.
Bei dem Anblick entfuhr mir erneut ein schweres Seufzen.
»Wo wärst du jetzt lieber?«, fragte Creed. »Hier oder barfuß inmitten eines alkoholisierten Moshpits?«
Meine Aufmerksamkeit und mein Blick wanderten augenblicklich zurück zum Kerl neben mir. Ich unterdrückte ein Schmunzeln. »Das ist einfach. Im Moshpit natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte er und grinste.
»Ich bin dran. Hierbleiben oder dir ein zweistündiges Video reinziehen, in dem jemand mit Fingernägeln über eine Tafel fährt?«
»Verdammt, das ist ein fieses Bild, Lenny.«
»Du musst dich entscheiden, Parker.«
Er machte ein gequältes Gesicht. »Du bist ein Monster. Na schön, gib mir einen Moment, ich muss nachdenken.«
Ich verbarg mein triumphierendes Grinsen hinter dem roten Becher und trank einen Schluck. Aus irgendeinem Grund spielten Creed und ich dieses Spiel immer wieder, seit wir uns kannten. Ich konnte mich nicht mehr genau daran erinnern, wie es angefangen hatte, doch letztendlich ging es nicht darum, dass wir tatsächlich lieber woanders wären. Mehr darum, dass wir versuchten, uns gegenseitig mit jeder Frage in ihrer Übertriebenheit zu übertrumpfen.
»Okay«, sagte er schließlich und presste mit todernster Miene die vollen Lippen zusammen. Nur das erheiterte Funkeln in seinen Augen verriet ihn. »Ich fürchte, ich muss mich für das Video entscheiden.«
»Irgendwie habe ich genau mit dieser Antwort gerechnet. Du bist so durchschaubar.«
Er lachte auf. »Das sagst ausgerechnet du. Lenny James ist ein offenes Buch.«
»Sicher«, spottete ich und verdrehte die Augen.
Wir beobachteten, wie Savannah Mitchell eine gehörige Ladung Wasser verpasste und anschließend versuchte, sich hinter Summer in Sicherheit zu bringen.
»Wieso genau hängen wir noch mal mit denen ab?«, murmelte ich und trank einen weiteren Schluck.
Creed schnaubte und stieß mich mit dem Ellbogen an. »Sei nicht so ein Griesgram.«
»Ich bin kein Griesgram. Ich finde ständiges Kichern und Umarmen einfach genauso furchtbar wie ›LOL‹ und ›WTF‹ im normalen Sprachgebrauch mancher Leute.«
»In Wahrheit willst du dort drüben doch auch mitmachen. Oder wäre dir eine Bierdusche lieber als Wasser?«
Ich schenkte ihm einen warnenden Blick. »Versuch es, und du bist dein linkes Ei los.«
»Sag so was nicht, Len.« Grinsend lehnte Creed sich näher zu mir. »Sonst werde ich noch neugierig, wie du versuchen willst, mir an die Eier zu gehen.«
Empört schnappte ich nach Luft. »Kennst du noch meine Stahlkappenschuhe? Mit denen würden deine Kronjuwelen Bekanntschaft machen, mit nichts anderem, du Widerling!«
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Du machst es nicht besser! Ich werde immer neugieriger.«
Bevor ich ihm wieder drohen konnte, warf er mir plötzlich einen Arm um die Schulter und zog mich mit einem Ruck zu sich, was mir ein erschrockenes Grunzen entlockte. (Die Plötzlichkeit war es, die mich überraschte, nicht die Geste. Creed war schon immer ein sehr körperlicher Mensch gewesen, weshalb ich schnell gelernt hatte, nichts hineinzuinterpretieren. Eine Hand auf meinem Knie hier, ein Arm um die Schultern da. Ches, Mitch oder den anderen tätschelte oder streichelte er des Öfteren die Wange, und wenn Creed betrunken war, war ihm danach, die ganze Welt abzuknutschen. Es war schräg. Aber es war auch süß. Ich mochte diese Körperlichkeit. Und ich mochte schräg und süß.)
Creed grinste auf mich herab, und sein strahlendes Lächeln, seine Nähe, sein Geruch … Ich musste mich ziemlich konzentrieren, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden. »Zum Glück weiß ich, dass du gar nicht so gewaltbereit bist, wie du immer behauptest.«
Ich hob eine Augenbraue. »Genauso wie du weißt, dass ich ein offenes Buch bin, ja? Ich fürchte, du bist auf einem ganz falschen Pfad, Knirps.« Ein Teil von mir schrie lauthals danach, sich gegen seinen Körper zu lehnen, mich an ihn zu schmiegen – aber das tat ich natürlich nicht.
»Knirps? Ich bin älter und mehr als einen Kopf größer als du. Netter Versuch, aber nur Ches kann diesen Spitznamen benutzen, da ergibt er wenigstens Sinn. Verdammt, was ist aus deiner Schlagfertigkeit geworden?« Er seufzte. »Wie auch immer. Taten sagen mehr als Worte.«
»Macho«, stieß ich hervor und verzog reflexartig das Gesicht.
Wieder lachte er. »Ich habe dich schon vor einer Ewigkeit durchschaut, Len. In Wahrheit bist du gerne bei den Spieleabenden und den Barbecues dabei. Du liebst sie alle, selbst Ella und Summer.«
»Falsch, ich hasse sie alle«, widersprach ich. »Ausnahmslos. Und dich hasse ich am meisten.«
»Du bist Lenny James. Hass ist deine Form von Liebe.« Er senkte den Kopf, küsste meine Wange und grinste arrogant. »Das bedeutet wiederum, dass du mich am meisten liebst. Das ist aber in Ordnung, ich liebe mich selbst auch sehr innig.«
Mein Herz blieb stehen, und ich starrte ihn mit großen Augen an. Für einen kurzen Augenblick wurde mir heiß und kalt zugleich.
Hastig stieß ich Creed von mir und wischte mir über die Wange. »Du bist so ein Idiot!«
»Ich weiß. Der größte von allen.« Er zwinkerte mir wieder zu und trank sein Bier in einem Zug leer.
Ein Vibrieren in meiner Hosentasche ließ mich zusammenfahren. Der Rhythmus war unverwechselbar: mein Arbeitshandy.
»Bin gleich wieder da, ich muss telefonieren.« Ich entfernte mich von Creed, bis ich nicht mehr in Hörweite war, zog das Telefon aus der Tasche und hob ab. (So lief es meistens. Niemand wunderte sich mehr über mich.)
»Was gibt’s?«, fragte ich in den Hörer.
»Hey, Kid«, sagte die vertraute tiefe Stimme meines Chefs Majid am anderen Ende der Leitung. »Schlechte Nachrichten: Becky, Amy und Jennifer haben sich heute krankgemeldet, und ich muss umdisponieren. Könntest du schon früher anfangen?«
Überrascht hob ich die Augenbrauen. »Was bedeutet für dich früher anfangen?«
»Zwei oder drei Stunden vor deiner eigentlichen Schicht und vielleicht noch eine Stunde danach.«
»Wo genau brauchst du mich?«, fragte ich misstrauisch.
»Auf der Bühne«, erwiderte Majid unschuldig, »und nach deiner Schicht auf dem Dancefloor an der Stange.«
Zusätzlich zu meiner Schicht noch mal drei bis vier Stunden? Nicht dass ich das Geld nicht gebrauchen könnte …
»Unter einer Bedingung. Ich will eine zweite Pause machen. Und zwanzig Prozent mehr Stundenlohn während der heutigen Extrastunden.«
Majid lachte laut. »Scheiße, du hast vielleicht Nerven! Dir ist hoffentlich klar, dass ich sofort ein anderes Mädchen anrufen könnte, das keine Forderungen stellt.«
»Du hast aber mich angerufen«, erwiderte ich mit einem verschlagenen Grinsen. »Überleg es dir. Mein Angebot steht.«
»Jedes Mal, wenn wir über deine Stunden sprechen, habe ich das Gefühl, plötzlich in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt zu werden.«
»Soll ich das jetzt als ein Ja oder ein Nein verstehen?«
»Verdammt seist du, Kid. Wir sehen uns um acht.« Und bevor ich etwas erwidern konnte, legte mein Boss auf.
Ich grinste in mich hinein und schob mein Arbeitshandy zurück in meine Hosentasche, deren schwarzer Stoff durch die sengenden Sonnenstrahlen meine Beine zum Sieden brachte. Hier in der prallen Sonne hatte ich das Gefühl, gegrillt zu werden. Und ich war selbst dran schuld.
Hastig machte ich mich auf den Weg zurück in den Schatten zu Creed – nur um festzustellen, dass er zu den anderen zurückgekehrt war. Die Wasserschlacht war vorbei und sie alle saßen wieder zusammen auf der Picknickdecke. Er und ein pitschnasser Mitchell lachten gerade miteinander und klatschten wegen irgendetwas ab. Niemand wirkte wirklich empört über all das Wasser. Und wenn ich ehrlich war, hätte mich eine kleine Abkühlung wohl doch nicht so sehr gestört, wie ich vorhin noch behauptet hatte. (Außer natürlich die Bierdusche, die hätte mich gestört.)
Ich befahl meinen Beinen, ebenfalls zurück zur Picknickdecke zu laufen.
»Gott, Lenny!«, rief Summer, als ich die Gruppe erreichte, und hob ihr langes blondes Haar an, um sich am Nacken Luft zuzufächeln. »Wie kannst du nur schon wieder so dick eingepackt sein? Stehst du nicht kurz vor einem Hitzschlag?«
»Nope«, log ich bloß und hoffte, dass nicht weiter auf dem Thema herumgeritten würde. Unbekümmert zuckte ich mit den Schultern. »Eigentlich wollte ich mich nur verabschieden. Mein Boss hat mich gerade angerufen. Ich soll früher anfangen, weil ein paar Kollegen ausfallen.«
»Und da ist er wieder, der geheimnisvolle Job«, sagte Mitchell aufziehend, während er sich eine Portion Sonnencreme auf die Hand drückte und auf den roten Armen verteilte.
»Lass sie in Ruhe, Mann«, sagte Creed und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Gönn Lenny das bisschen Privatsphäre. Sie bangt noch um ihr Image, wenn erst mal herauskommt, dass sie Golfballtaucherin im Country Club ist.«
Summer gluckste. »Und ich dachte, sie wäre Puppendoktor.«
»Ich hab’s«, sagte Ella. »Sie ist ein Klageweib. Ein professioneller Trauergast auf Beerdigungen. Ich hab darüber mal gelesen, das gibt es wirklich!«
Todrick verdrehte die Augen. »Am Ende räumt sie nur Regale in einem Supermarkt ein oder fährt Gabelstapler in irgendeiner Lagerhalle.«
»Du hast recht, Toddy«, sagte ich und lächelte ironisch. »Und deshalb muss ich jetzt auch gehen.« Bis auf Carla wusste keiner von meinen Freunden, wie mein Job aussah und was ich dort tat, und ich stellte sicher, dass das auch so blieb.
»Musst du nicht andauernd Extraschichten machen?«, fragte Savannah besorgt. Auf den Gläsern ihrer filigranen goldenen Nerdbrille glitzerten noch immer Wassertropfen. »Dein Chef ist echt fies, Len.«
Ich zuckte bloß mit den Schultern. »Was soll’s. Dafür bekomme ich mehr Kohle. Ihr wisst ja, Geld regiert die Welt, und diese Schickimicki-Uni will einiges davon haben. Also, wir sehen uns, Leute.«
Wie immer warf mir Carla einen bedeutsamen Blick zu, als ich mich verabschiedete, doch ich ignorierte ihn geflissentlich.
Ich war wohl darauf bedacht, dass ich Creed nicht anders behandelte als die anderen. Denn auch wenn meine Instinkte mich dazu bringen wollten, ihm einen letzten Blick zuzuwerfen, als ich ging, tat ich es nicht. Die Neugierde, ob er diesen Blick auch erwidern würde, brachte mich fast um. Aber ich blieb standhaft und machte mich auf den Weg, an den alten mit Efeu bewachsenen Wohnheimen vorbei, zum Parkplatz. Letztendlich war es ein ganz normaler Tag, so wie jeder andere auch.
Eine weitere Brise rauschte durch die Bäume und spendete nichts als warme Luft. Ich schirmte das gleißende Sonnenlicht mit einer Hand ab und kramte in meinen Hosentaschen nach meinem Autoschlüssel.
Einem Teil von mir gefiel es nicht, dass ich mal wieder als Einzige schon gehen musste. Ich wäre gerne noch länger geblieben. Aber ich freute mich auch auf meine heutige Schicht, war aufgeregt, so als würde ich nicht fast jede Nacht im Club verbringen. Mein Job hatte mir schon immer Spaß gemacht, aber seit Beginn des Sommers war er noch viel besser geworden; mehr gebuchte Privattänze, besser besuchte Shows, mehr Trinkgeld. Überhaupt war dieser Sommer ein Sommer der Veränderungen. Zumindest fühlte es sich so an, seitdem die Temperaturen so höllisch in die Höhe schossen. Ich war nie ein Cliquen-Mensch gewesen, und doch war ich plötzlich in dieser hier gelandet. Und irgendwie war ich … glücklich. Es war ungewohnt für mich, Teil von etwas zu sein, was nichts mit meinem Job zu tun hatte. Wir unternahmen als Gruppe ständig etwas; wir hingen auf dem Campus ab, hatten in der erfolgreich überstandenen Klausurenphase zusammen gebüffelt und spielten jede Menge Darts und Billard im Leo’s, unserer Lieblingsbar. Ich schob es ebenfalls auf den Zauber dieses Sommers. (Ich bezeichnete den Sommer als zauberhaft. Was war nur los mit mir?) Und dann war da noch mein ganz besonderer Stammkunde. Der Grund, weshalb ich mich jede Nacht umso mehr auf die Arbeit freute.
Ich wusste ganz genau, dass Creed heute Nacht ins Dolly House kommen würde, was ein freudiges Kribbeln meine Wirbelsäule hinunterrieseln ließ. Es brachte meine Brust dazu, sich zusammenzuziehen, und ließ mich nach Atem ringend zurück.
Und genau das gab mir zu denken. Es war zu perfekt. Der ganze Sommer. Er war viel zu ruhig. Fast so, als befände ich mich im Auge eines Hurrikans, ohne mir dessen bewusst zu sein. Und ein Teil von mir wusste, dass es mit der Ruhe und dem magischen Sommer schon bald vorbei sein würde. Denn so funktionierte mein Leben einfach nicht.
Früher oder später ging alles den Bach runter.
Ich hasse diesen Song«, sagte Juicy und befahl dem Lautsprecher per Sprachsteuerung, einen Song in der Playlist weiterzuspringen. Sie brauchte drei Anläufe, bis die kleine Box auf ihre Rufe reagierte, da es durch das Stimmengewirr in der Umkleide ziemlich laut war. Im nächsten Moment wurde irgendein Kesha-Song von einem Lied von Kanye West abgelöst, woraufhin Juicy sich zufrieden tiefer in die pinke Ottomane sinken ließ, auf der sie lag.
Ich lehnte mich vor zum beleuchteten Garderobenspiegel, so wie mindestens zehn andere Mädchen am langen Schminktisch, und trug matten roten Lippenstift auf, der meinen Mund voller und sinnlicher wirken ließ. Diese flüssigen Tinkturen waren gefährlich. Der Kram war nämlich bombenfest. Wenn man einmal ausrutschte oder eine wacklige Linie zog, riskierte man es, das gesamte Make-up um den Mundbereich neu auftragen zu müssen. Aber nicht heute. So perfekt hatte ich meinen Lippenstift schon lange nicht mehr gezogen. Die Form war genauso, wie ich sie haben wollte, und strahlte tiefrot. Deshalb schnappte ich mir mein Settingspray und fixierte mein Make-up, in der Hoffnung, dass es meine nächste Show heil überstehen würde. Man konnte so akribisch sein, wie man wollte, aber wenn einem bei einer Show der Schweiß wie ein Niagarafall über den Körper strömte, dann zerlief selbst das hübscheste Gesicht wie heißes Kerzenwachs.
Ich hatte noch etwa zehn Minuten, bis meine Schicht begann. In der Umkleide roch es nach einer Mischung aus Parfum, Deodorant und Haarspray, überall waren Mädchen, die sich entweder gerade schminkten, in Dessous schlüpften oder sich frisierten. Manche lagen erschöpft auf den Sitzgelegenheiten oder tippten auf ihren Smartphones herum, wie zum Beispiel Juicy, die nach dem Track von Kanye West schon wieder mit der Sprachsteuerung stritt, um einen neuen Songwunsch zu äußern. Es war ein Schichtbeginn wie jeder andere im Dolly House.
Nachdem ich mir braune Kontaktlinsen eingesetzt hatte, drehte ich mich auf meinem Drehstuhl herum und zog mir rote Stilettos an. Sie passten zum ebenfalls roten Dessous-Set mit dem ausladenden Dekolleté, den Strapsen und den Details aus Spitze, welches ich unter meinem kurzen Kleid trug.
Ich stand auf, schob mich an Delicious und Roxy vorbei und trat vor die verspiegelte Wand. Es fehlte nur noch die schwarze Maske aus Spitze, die ich immer trug, dann war mein Outfit komplett. Durch die blonde Perücke, das aufwendige Make-up und die Kontaktlinsen erkannte ich mich selbst nicht wieder.
Ich konnte spüren, wie sich etwas Brodelndes in mir legte, während ich meine Verkleidung betrachtete.
Das hier war Daisy.
Ich war Daisy.
Und für den Rest der Nacht würde Lenny James nicht mehr existieren.
»Computer!«, herrschte Juicy und setzte sich auf der Ottomane auf. »Scheiße noch mal, ich sagte, spiele Songs von den Fugees, nicht The Cookies!«
Ein sanfter, freundlicher Ton erklang, der den laufenden Track unterbrach. »Okay. Musik von The Cookies wird abgespielt.«
Ein paar Mädchen und ich lachten auf. Juicy hingegen stand offenbar kurz davor, auf die kleine Box einzuschlagen.
»Erst werde ich dieses Ding gegen die Wand schmettern, und dann werde ich darauf herumspringen, bis es in all seine Einzelteile zerbrochen ist!«
»Computer!«, rief nun Diamond kichernd, während sie glitzernde Sticker über ihre Brustwarzen klebte, »spiele einen Song von Nicky Minaj!«
Das ließ mich und noch ein paar andere Mädchen erneut lachen. Juicy hatte eine verblüffend große Ähnlichkeit mit Nicky Minaj – weswegen ihr Künstlername auch Juicy Minaj lautete. Sie hatte große, gemachte Brüste, einen riesigen Hintern, ein gemachtes Gesicht – von den Lippen über die Nase bis hin zu ihren Wangen –, trug jede Menge Make-up und grellen Lippenstift und besaß dann noch eine Taille, die den Kardashians Konkurrenz machen könnte. Gigi (ebenfalls eine Kollegin) sagte immer, Juicy würde aussehen wie ein gruseliger Alien mit eingefrorenem Gesicht. Ich hingegen stand zwar überhaupt nicht auf Schönheitsoperationen, doch in meinen Augen sah Juicy großartig aus. Und ihre Ausstrahlung erst – der Wahnsinn – und vermutlich auch der entscheidende Punkt. Ich mochte sie, denn sie war tough, selbstbewusst und sie kümmerte sich um ihren eigenen Kram. Sie sah uns andere nicht als Konkurrenz, sondern schlichtweg als Kolleginnen. Anders war es bei Shelby, Coco und Lola. Für sie war der Job im Dolly House so was wie die Teilnahme bei America’s Next Topstripper. Sie und ein paar andere hatten beispielsweise schon vor einiger Zeit wilde Theorien aufgestellt, weshalb ausgerechnet ich eine eigene Privatshow im Showroom bekommen hatte, in denen Majid sonst nur den Drag-Friday stattfinden ließ. Oder weshalb Diamond oder Angel viel mehr Trinkgeld bekamen, wenn sie ihre Kunden mit ins Separee nahmen. Eine ihrer haarsträubendsten Theorien war sogar, dass ich mit Majid in die Kiste ging, um Vorteile im Club zu erhalten. (Was ziemlich lächerlich war. Majid war glücklich verheiratet und machte absolut keinen Hehl daraus, schwul zu sein.)
Gerade als ich aufbrechen wollte, flog die Tür der Umkleide auf, und Gigi stürmte herein.
»Ich hasse sie alle!«, rief sie, hantierte an ihren Schuhen herum und pfefferte sie einen Moment später auch schon durch die Luft. Mit einem kurzen Schrei wich Marta dem gelben Plateauschuh aus.
Gigi war schlank und groß, selbst ohne ihre High Heels, und ihr Wesen war rasiermesserscharf, genauso wie der giftgrüne Eyeliner um ihre großen, dunklen Augen.
Ihre Wangen waren gerötet und ihre Miene aufgebracht. »Sie sind alle widerliche Schweine, und ich hasse sie!«
»Was ist es diesmal, Gee?«, fragte ich und runzelte die Stirn. »Hat wieder ein Typ von einem Junggesellenabschied versucht, dich dazu zu überreden, die Nacht des Bräutigams noch etwas aufregender zu gestalten?«
Gigi stampfte barfuß zum Schminkspiegel und ließ sich auf meinen Drehstuhl fallen. Ihre Atmung ging flach, und sie sah so aufgebracht aus, dass ich mir augenblicklich Sorgen machte.
»Nein!«, fauchte sie. »Irgend so ein Arschloch hat mich geschubst.« Sie machte sich daran, sich die Perücke abzunehmen, einen schwarzen Bob mit geradem Pony. Als sie sie abzog, entblößte sie borstenkurze Haare, die giftgrün gefärbt waren.
Ich stellte mich hinter sie und fing ihren Blick im beleuchteten Spiegel auf. »War es ein Versehen, oder hat er es mit Absicht getan?«
»Absicht.«
»Shit! Komm schon, ich brauche Einzelheiten.«
Juicy kam nun ebenfalls zu uns. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein besorgtes Gesicht. »Fang von vorne an, Gee.«
»Was ist passiert?«, fragte Diamond erschrocken vom Drehstuhl neben uns. Bis vor einer Sekunde war sie ganz in ihr Smartphone versunken gewesen. Jetzt jedoch schenkte sie uns ihre volle Aufmerksamkeit.
Gigi zog sich die künstlichen Wimpern von den Augen und beförderte sie in den Mülleimer. Ihre ganze Erscheinung veränderte sich in unter einer Minute. Besonders als sie sich die Piercings im Gesicht wieder einsetzte. Sie lachte trocken auf. »Es ist dämlich. Ich stand an der Bar, und er hat mich ziemlich aufdringlich angegraben, bis ich ihm gesagt habe, dass er sich verziehen soll. Dann hat er mich geschubst und herumgebrüllt, ich sei eine nutzlose Hure, bis Dean den Kerl rausgeschmissen hat.«
»Gott segne Dean«, murmelte ich. Dean war einer unserer Barkeeper. »Der Typ hat dir aber nicht weiter wehgetan, oder?!«
Mit finsterer Miene hob Gigi die Arme und zeigte uns ihre Ellbogen, die knallrot und aufgeschürft waren. »Das hier reicht mir schon. Meine Knie sehen genauso aus. Dieser widerliche Scheißkerl! Wenn ich den noch mal sehe, ob im Club oder anderswo, wird er sein blaues Wunder erleben. Dieses Arschloch hat außerdem meinen Streak kaputt gemacht!«
»Was für ein Streak?«, fragte Diamond verwirrt.
»Ich hatte keine Arschloch-Kunden in sechsundvierzig Tagen.« Gigi stieß ein Grollen aus, ehe sie sich den letzten Silberring an der Augenbraue einsetzte.
Ich sah, wie Juicy einen verstohlenen Blick zur Tür warf. Dann ging sie zu ihrem Spind und kehrte einen Moment später mit Schnapsgläsern und einer Flasche Hochprozentigem zurück. »Den hast du jetzt nötig, Babygirl.«
Ich öffnete den Mund, um etwas darauf zu erwidern – und schloss ihn wieder. Wenn Majid das mitbekommen sollte, hätten wir ein Problem. Alkohol während der Schicht war strengstens verboten. Ich verkniff mir jedoch einen Kommentar, die Mädchen wussten immerhin selbst, wie die Regeln lauteten, und es war nicht das erste Mal, dass in der Umkleide angestoßen wurde, ob schöner oder unschöner Anlass. Nichtsdestotrotz hatte ich plötzlich Savannahs Stimme im Kopf: »Alkohol löst deine Probleme auch nicht! Du solltest lieber über sie reden. Ich kann dir die Nummer von meiner Therapeutin geben, wenn du möchtest, und …« – ich schüttelte mich, bis die Stimme verschwand. Was war nur los mit mir? Wieso geisterte mir Savy ausgerechnet jetzt durch den Kopf? Jetzt war ich Daisy. Und Daisy kannte niemanden namens Savannah. Lenny James würde erst nach Feierabend wieder existieren.
Gigi protestierte nicht im Geringsten, als Juicy ihr etwas von dem Hochprozentigem einschenkte. Sie hob das Glas und kippte den Schnaps hinunter. Ihr Gesicht verzog sich, als würde sie in eine Zitrone beißen, aber das hielt sie nicht davon ab, sich nachzuschenken.
»Ich leiste dir Gesellschaft«, sagte Diamond, schob meine Make-up-Tasche zur Seite und setzte sich genau vor Gigi auf den Schminktisch. Die rothaarige Tänzerin schnappte sich ebenfalls ein Glas und schenkte Gigi ein mitfühlendes Lächeln. Ihre Oberarme waren tätowiert, auf ihren Rippen, dem Nacken und an den Knöcheln prangten ebenfalls kleine Zeichen und Schriftzüge, die von ihrem Freund stammten, der ein Tattoostudio in Coldwater besaß.
Ich warf einen Blick auf die Wanduhr und fluchte, als ich erschrocken feststellte, wie spät es schon war. »Fuck. Ich würde ja auch bleiben, aber meine Schicht fängt jetzt an.« Hastig band ich mir die schwarze Maske über die Augen und zupfte sie zurecht.
»Ich weiß genau, wieso du es so eilig hast«, bemerkte Gigi mit aufblitzenden Augen. »Du kannst es kaum erwarten, jemand ganz Bestimmten nach deiner Show wiederzusehen, was?« Ein wissendes Lächeln erschien auf ihren Lippen.
Ich erstarrte. Mein Herz machte einen Sprung, und ich richtete mich wieder auf. Ich wusste ganz genau, was und wen sie meinte. »Keine Ahnung, wovon du sprichst.«
Juicy lachte und schenkte sich ebenfalls etwas vom Schnaps ein. »Ist klar, Pretty Woman. Keine Chance, dich da rauszureden.«
Mein Bauch verknotete sich, was mich dazu brachte, das Gesicht zu verziehen. Ich hatte nie mit den Mädchen darüber gesprochen. Immerhin ging es sie überhaupt nichts an.
Juicy klopfte mir auf den Rücken. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier noch nicht weiß, wie sehr du in diesen Kerl verschossen bist, Daisy.« Sie grinste breit und entblößte dabei strahlend weiß gebleachte Zähne. »Ich kann dich aber verstehen. Er ist total heiß.«
»Sein Name ist Creed«, sagte Diamond und betrachtete unbeeindruckt ihre Nägel. »Zumindest hat er das behauptet, als ich ihn das eine Mal am Eingang abgefangen habe. Angel und ich haben nämlich beschlossen, ein wenig Amor zu spielen, weil Daisy so verknallt ist.« Sie wackelte mit den Augenbrauen.
Mein Mund klappte auf. »Bitte was!?«
»Wir haben ihn für dich auf die Gästeliste gesetzt. Sieh es als deine große Chance auf eine Romanze oder auf eine kleine Affäre!«
»Scheiße, Diamond!«, herrschte ich sie an und ballte die Hände zu Fäusten – während sich mein Magen verknotete. »Misch dich nicht in mein Leben ein!«
Mein Puls begann zu rasen, und mein Ärger war innerhalb von Sekunden plötzlich so groß, dass ich am liebsten … ich hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Sehr erwachsen. Heilige Scheiße! Sie hatten ausgerechnet Creed auf die verdammte Liste gesetzt!? War es wirklich so offensichtlich, weshalb ich nach meinen Shows ständig an der Bar stand?
Ich atmete tief durch, als die Mädchen zu lachen begannen.
»Reg dich ab, D«, sagte Diamond und wickelte eine rote Locke um ihren Finger. »Es war nur für den guten Zweck. Und wenn du die Initiative nicht ergreifen willst, auch gut – jetzt hat dieser süße Typ wenigstens freien Eintritt. Vielleicht schnapp ich ihn mir einfach und locke ihn ins Separee, damit er sein Geld trotzdem hierlassen kann.« Sie lachte wieder und streckte die Zunge raus.
Es wäre nur allzu leicht gewesen, auf ihre Worte anzuspringen, doch ich wollte nicht, dass die Mädchen bemerkten, wie sehr sie mich damit am Haken hatten. Also atmete ich tief durch und beließ es bei einem Augenrollen. »Gigi, wenn du mich brauchst, komme ich sofort wieder. Und wenn ich irgendwen vermöbeln soll, gib mir Bescheid.«
»Jaja.« Gigi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir sind hier bestens versorgt, Daisy D. Jetzt geh schon. Je schneller deine Show vorbei ist, desto schneller kommst du zu deinem Romeo!«
»Ich hasse euch alle«, erwiderte ich brummend, drehte mich auf meinen Stilettos um und machte mich auf den Weg zum Club im ersten Stock.
»Wir dich auch, Baby!«, rief Juicy mir hinterher, ehe ich hörte, wie sie, Diamond und Gigi ihre Gläser aneinanderstießen.
Die Show erwies sich als voller Erfolg. Wie auch in all den anderen Nächten der letzten Monate. Jeder Loungesessel, der auf die Bühne ausgerichtet war, jeder Stehtisch und so ziemlich jeder andere Bereich in Bühnennähe waren voller Clubbesucher gewesen – hauptsächlich Männer, aber auch ein paar Frauen. Nachdem ich mir am Bühnenrand wieder meine Kleidung angezogen hatte, halfen Majid und Dean mir, die vielen Eindollarnoten von der Bühne zu holen. Mein ganzer Körper kribbelte, ich war voller Endorphine und Adrenalin. Am liebsten hätte ich sofort weitergetanzt, doch eine Sehnsucht drängte sich wie zu erwarten in den Vordergrund. Und ich war nur allzu bereit, mich dieser hinzugeben.
Etwa zehn Minuten nach meiner Show stand ich wieder genau dort, wo ich mich früher oder später immer wiederfand, genau wie es meine Kolleginnen vorhergesagt hatten: an der Bar.
Die Muskeln in meinen Armen und meine Handflächen brannten, doch es fühlte sich gut an. Ich fühlte mich gut, und ich hatte ziemlich viel Trinkgeld gemacht. Das Dolly House war heute gut besucht. Der ausladende Clubbereich lag im ersten Stock, welcher über eine breite, mit smaragdgrünem Teppich belegte Treppe zu erreichen war. Im Erdgeschoss befanden sich hauptsächlich unsere Räume wie die Umkleide, Majids Büro und unser Showroom für Privatshows und Veranstaltungen wie die Ladies-Night oder den Drag-Friday. Der Club hatte eine gut bestückte Bar, dunkle Chesterfield-Sessel, Stehtische, Podeste mit Polestange und die große Bühne, auf welcher nun Juicy und Cillary Hinton twerkend zugange waren. Der Dancefloor nebenan war über eine schwere Doppeltür zu erreichen, die jedoch meistens offen stand. Außerdem führten einige Schwingtüren zu Separees, in denen, abgesehen von den Shows, das meiste Geld gemacht wurde – durch Lapdances. Die Ausstattung des Clubs war durch und durch erstklassig. Die Wände dunkel, das Licht dezent – und ganz selten lief sogar zwischen den Shows mal gute Musik. Das Dolly House war beliebt. Und das, obwohl es ein Stripclub war und die eher verpönt wurden. Nein, es war nicht einfach nur beliebt, es war über die letzten Jahre zu einer Art Hotspot geworden. Die Eintrittspreise waren trotz der gehobenen Ausstattung nicht zu hoch, um die Studenten in der Stadt nicht abzuschrecken, und ebenso waren die Getränke nicht schwindelerregend teuer.
Meine Augen suchten den Club ab. Das Licht war schummrig, was mir die Suche ein wenig erschwerte.
Ich konnte Creed einfach nicht finden. Vielleicht war er heute nicht gekommen. Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Ich ließ meinen Blick immer wieder hin und her schweifen, doch entweder meine Sicht wurde von irgendwem versperrt, oder ich blieb erfolglos.
Etwa fünf Minuten später gab ich offiziell auf. Es war lächerlich, doch die Enttäuschung verpasste mir einen Stich. Ich wollte mich gerade abwenden und gehen – als ich ihn doch entdeckte.
Ich schnappte nach Luft. Meine Stimmung schlug so schnell wieder um, dass mir schwindelig wurde. Noch bevor ich es verhindern konnte, stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Creed lehnte ein paar Meter entfernt an der Wand und sah so umwerfend aus wie immer. Er trug ein graues, eng anliegendes Shirt und dunkle Jeans und hielt ein breites Glas in der Hand.
Als sich unsere Blicke begegneten, hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Welt um uns verblasste, bis ich nichts anderes mehr wahrnahm als ihn. Er war gekommen!
Ich konnte sehen, wie sich sein Mund zu einem schiefen Lächeln verzog. Dann prostete er mir zu, fast so, als wüsste er, was mir gerade durch den Kopf ging.
Ein Kribbeln schoss durch meinen Bauch. Auf diesen Augenblick hatte ich den ganzen Tag gewartet, genau das hier hatte ich herbeigesehnt.
Nicht eine Sekunde lösten wir den Blick voneinander, und mit jedem verklingenden Herzschlag wurde mir heißer. Es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht breit zu grinsen.
Der Moment schien ewig und aufgeladen und magisch zu sein. Nie war ich mir meines Körpers bewusster als in diesen Momenten. Und ich hatte das Gefühl, dass es Creed ähnlich erging. Trotz der lauten Musik, meinte ich, meinen Atem zu hören. Er war flach und fühlte sich glühend heiß an, dort, wo er meine Lippen verließ.
»Hallo, Schönheit.«
Die Stimme neben meinem Ohr erschreckte mich so sehr, dass ich herumwirbelte. »Scheiße!«, entwich es mir. Der Augenblick war vorbei, platzte wie eine Seifenblase, und das Herz sackte mir in die Hose.
Ein großer Mann im Sportjackett und mit zurückgegelten Haaren stand neben mir an der Bar. Er lächelte mich an und runzelte meiner Reaktion wegen die Stirn.
»Sorry. Wollte dich nicht erschrecken, Daisy.« Sein Lächeln wurde breiter, als er sah, dass er meine Aufmerksamkeit hatte – wenn man das so nennen konnte, denn ehrlich gesagt, war ich mehr damit beschäftigt, meine durcheinanderfliegenden Gedanken zu sortieren.
Ich blinzelte ihn an und rang mir ebenfalls ein Lächeln ab. »Schon in Ordnung, Baby«, säuselte ich.
Anfangs waren mir diese Kosenamen nur schwer über die Lippen gekommen, vor allem wenn ein Kerl so alt war, dass er mein Vater hätte sein können. Die Kosenamen waren einfach dämlich. Doch es war erstaunlich, welche Auswirkungen sie auf mein Trinkgeld hatten.
»Was du eben auf der Bühne gemacht hast, war wahnsinnig scharf, Süße«, sagte er mit einem schweren Lächeln. Der Blick meines neuen Freundes glitt an mir herunter und verweilte auf meinen Beinen. Es kostete mich große Mühe, derweil nicht zu Creed zu blicken. Ich fragte mich, ob man seine Reaktion wohl von seiner Miene ablesen konnte, wenn ich mit anderen Männern flirtete.
Nein, ich fragte es mich nicht einfach nur; die Neugierde brannte unter meinen Fingernägeln.
Noch ein Spiel, das ich mit ihm spielen konnte.
»Danke!«, sagte ich und setzte ein verlegenes Lächeln auf. Ich schenkte meinem neuen Freund nun meine volle Aufmerksamkeit. Seine blonden Haare waren nicht mehr sonderlich dicht, und er hatte hohe Geheimratsecken. Doch er wirkte gepflegt in seinem schicken Sportjackett. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig.
Er lehnte sich näher zu mir, bis ich sein teures Parfum riechen konnte, und grinste lässig. »Erinnerst du dich an mich? Du hast schon zwei Mal für mich im Showroom getanzt.«
Jepp, in seinem Atem war definitiv Alkohol zu riechen. Das konnte die ganze Sache erheblich erleichtern.
Ich entspannte mich und stemmte eine Hand in die Hüfte. Auf keinen Fall erinnerte ich mich an ihn, doch ich witterte ein leichtes Spiel. Wenn ich es richtig anstellte, würde er vielleicht noch einen Lapdance im Separee buchen.
»Aber klar doch«, erwiderte ich und berührte ihn beiläufig am Arm. Die kleine Geste erfüllte ihren Zweck, denn ein selbstzufriedener Ausdruck trat in seine Augen.
»Wenn du noch einen Tanz buchen willst, musst du das beim Clubpersonal machen.«
Er lachte. Dann schüttelte er jedoch den Kopf. »Erst will ich dir einen Drink ausgeben.«
»Nichts lieber als das!«, erwiderte ich strahlend. Während Mr Sportjackett sich Dean, unserem Barmann, zuwandte und darauf wartete, seine Bestellung aufzugeben, musste ich mich zwingen, meinen Blick nicht hastig umherschweifen zu lassen, um nach Creed Ausschau zu halten. Je länger ich ihn nicht im Blickfeld hatte, desto größer war die Gefahr, ihm doch noch direkt über den Weg zu laufen. Und er durfte mir unter keinen Umständen zu nahe kommen. Nicht in tausend verdammten Jahren.
Aber wie verhinderte man etwas unter allen Umständen, wenn man selbst diejenige war, die nach Schlupflöchern suchte?
Ich konnte nicht anders und sah mich um. Creed hatte sich nicht von der Stelle bewegt – und machte keinen Hehl daraus, dass er mich beobachtete. Sein Mundwinkel hob sich erneut, als ich seinen Blick erwiderte, was dafür sorgte, dass auch mein Herz erneut einen aufgeregten Hüpfer machte und sich meine Mundwinkel hoben.
Hastig blickte ich wieder zu Mr Sportjackett. Gerade rief er Dean, unserem Barkeeper zu, dass er gerne zwei Whiskey Sour für uns hätte – eins musste man diesem Schmierlappen lassen: Er war der Erste, der mir Whiskey bestellte. Creed musste sich vorsehen, sonst hatte ich bald einen neuen Lieblingskunden. Schade nur, dass ich keinen Whiskey trinken würde. Alkohol war auch dann verboten, wenn einer der Kerle, die herkamen, uns einen ausgaben (was sehr oft vorkam). Dean würde mir wie immer irgendetwas anderes ins Glas füllen, was zumindest den Anschein erweckte, Alkohol zu sein. Vielleicht so was wie Apfelsaft oder irgendeinen anderen Saft.
Ich griff nach dem Kristallglas, welches Mr Sportjackett mir reichte – da zog er es im letzten Augenblick aus meiner Reichweite. »Eins noch«, sagte er mit einem anzüglichen Grinsen. »Du musst dir deinen Drink verdienen.«
Ich lachte auf. »Ich glaube, du bringst unsere Rollenverteilung ein wenig durcheinander, Baby.«
Er zuckte mit den Schultern. »Willst du denn nicht erst mal meinen Vorschlag hören?«
Beinahe hätte ich die Augen verdreht. Und schon war Creeds Platz als Lieblingsgast wieder unangefochten.
Nach einem kurzen Moment biss ich mir auf die Lippe und lehnte mich näher zu ihm. »Lass hören, Süßer.«
Er grinste breit und leckte sich über die Lippen. »Okay. Also wenn du mir dein Kleid gibst, gehört der Drink dir.«
Ich tat überrascht, auch wenn ich es nicht war. Dabei huschte mein Blick verstohlen in Richtung Creed. Lange genug, um sicherzustellen, dass er noch immer einen gesunden Abstand pflegte.
»Ich brauche schon einen etwas höheren Einsatz«, warf ich ein. »Nur ein Drink für so viel Stoff? Das scheint mir etwas billig.«
Er nickte, als hätte er mit keiner anderen Antwort gerechnet. Er stellte meinen vermeintlichen Whiskey Sour auf dem gläsernen Tresen ab und griff in die Tasche seiner beigen Bügelfaltenhose. Dann zog er ein paar Scheine hervor, hielt sie mir hin und …
Oh. Heilige Scheiße! Das waren dreihundert Dollar.
Diesmal war meine Verblüffung echt.
Mr Sportjackett grinste und wedelte mit den Scheinen vor meiner Nase herum. »Wie wäre das, Schätzchen: ein Drink und diese kleinen Freunde hier.«
Ich tat so, als würde ich einen Moment überlegen. Mein Blick glitt wieder durch den Club, diesmal jedoch nicht, um Creed zu finden, sondern um Blickkontakt mit irgendeinem der anderen Mädchen herzustellen. Das waren dreihundert Dollar, die er mir bot, nur damit ich mein Kleid auszog! Das würde mir sonst niemand glauben.
Ich entdeckte Shelby, die ganz in der Nähe auf dem Schoß irgendeines Geschäftsmannes saß – und verzog das Gesicht. Na toll. Ausgerechnet Shelby würde diesen historischen Moment miterleben. Von all den Mädchen aus dem Club konnte ich auf sie am ehesten verzichten. Shelby bemerkte meinen Blick jedoch nicht. Die hübsche Blondine mit den Engelslocken, dem herzförmigen Gesicht und den aufgespritzten Lippen war gänzlich damit beschäftigt, ihrem Kunden Dinge ins Ohr zu flüstern, die ihn vermutlich jeden Augenblick dazu bringen würden, mit ihr für eine kleine Show hinter einer der Schwingtüren zu verschwinden.
Ich blickte wieder zu meinem spendablen Gast und lächelte ihn an. »Na schön. Deal.« Langsam ließ ich meine Hände meine Arme hinaufgleiten, was seinen erwartungsvollen Blick augenblicklich zurück auf meinen Körper lenkte.
Ich konnte nicht anders und sah wieder zu Creed. Ohne seinem Blick auszuweichen, löste ich die Schleifen an meinen Schultern – und ließ das luftige, kurze Kleid zu Boden fallen, genau wie zuvor auf der Bühne. Ein paar Männer pfiffen, klatschten oder riefen meinen Namen, doch ich tat nichts anderes, als Creed anzusehen. Seine Haltung veränderte sich nämlich. Allem voran sein Gesichtsausdruck. Auch wenn er ein ganzes Stück entfernt stand, und obwohl er meine Show vermutlich gesehen hatte … konnte ich sehen, wie er sich anspannte. Sein Blick schien dunkler, und er presste die Lippen zusammen. Er sah mich nicht einfach nur an – seine durchdringenden Augen ließen meinen Körper Zentimeter für Zentimeter in Flammen aufgehen.
Ich rang nach Luft. Das hier fühlte sich noch viel gefährlicher an als alle vorherigen Nächte. Nun hatte ich nicht einfach nur das Gefühl, dass ich nicht mehr atmen konnte. Nun hatte ich das Gefühl, dass Creed es war, der meinen Atem hielt und entschied, wann es mir wieder möglich werden würde, Luft zu bekommen, und wann nicht. Er hatte die Kontrolle.
Und ich hatte sie verloren.
Etwas kitzelte mich zwischen den Brüsten.
Mein Kopf drehte sich ruckartig zurück zu Mr Sportjackett. Grinsend hatte er mir das Geld in den BH meines roten Dessous-Sets geschoben und wirkte darüber ziemlich stolz.
»Vielen Dank, Baby«, sagte ich mit einem breiten Lächeln und schob das Geld so zurecht, dass es mir nicht einfach so wieder herausgezogen werden konnte. Das war meins.
»Stoßen wir an«, sagte er und reichte mir mein Glas.
Ich nahm es entgegen und warf Dean über den Bartresen einen fragenden Blick zu. Er nickte bloß und hob unauffällig einen Daumen, ehe er wieder damit fortfuhr, Gäste zu bedienen. Dean und die anderen Barkeeper passten auf uns und unsere Drinks auf, wann immer uns welche ausgegeben wurden. (Ein weiterer Grund, weshalb das hier der beste Club überhaupt war. Man fühlte sich sicher. Ein paar der Mädchen, die zuvor in anderen Clubs gearbeitet hatten, konnten bestätigen, dass es nicht überall so zuging wie im Dolly House.)
Wir stießen an, und ich trank meinen alkoholfreien Drink in einem Zug aus, während ich mich zwang, nicht wieder zu Creed zu blicken.
Mr Sportjackett begann damit, mir von sich zu erzählen. Offenbar hieß er Stephen, war Investmentbanker und machte gerne Jagdausflüge. Ich gab mich interessiert und hörte ihm zu. Manchmal war das alles, was es zwischen Drinks und Tänzen brauchte. Es würde den einen oder anderen überraschen, wie viele Männer hierherkamen, um zu reden. Sicher, hauptsächlich um jede Menge Brüste herumwackeln zu sehen, aber ein Großteil war auch ziemlich redebedürftig.
Immer wieder glitt mein Blick zu Creed, unauffällig, um Sean nicht zu verärgern. Nein, nicht Sean. Er hieß Stewart. Oder Steve? Stephen? Ja, Stephen.
Als Stephen begann, über all seine teuren, tollen Sachen zu schwafeln, blickte ich (Überraschung) erneut zu Creed – nur, um festzustellen, dass er nicht mehr dort an der Wand stand. Er hatte sich in Luft aufgelöst, war nirgendwo zu sehen.
Das Blut in meinen Adern gefror.
Panisch blickte ich umher. Na schön, entweder ich hatte Glück und er war gegangen, oder aber ich hatte ihn einfach nur aus den Augen verloren. Oh, Gott, das war schlimmer, als eine dicke, haarige Spinne zu entdecken, nur um einen Wimpernschlag später festzustellen, dass sie nicht mehr dort war, wo man sie zuletzt gesehen hatte, sondern einfach weg! Creed war vielleicht keine eklige Spinne (vielmehr genau das Gegenteil davon), aber die Panik, die plötzlich durch mich strömte und meinen Magen zu einem harten, schweren Klumpen verkrampfte, war dieselbe.
»Ach, Gott, schon so spät!«, sagte ich und unterbrach Steve-Stewart-Stephen damit. Ich lächelte, bückte mich, um mein Kleid aufzuheben, und drückte es ihm in die Hand. »Hier, bitte. Ich muss jetzt leider gehen, Stewart.«
»Stephen«, korrigierte er und zwinkerte mir zu.
»Ja, richtig, Stephen!«, sagte ich und kicherte. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Ich will mehr von deinen Jagdausflügen erfahren.« Vor allem aber wollte ich schnell hier weg. Und zwar sofort.
»Du solltest mich das nächste Mal unbedingt begleiten.« Er leckte sich wieder über die Lippen. Diesmal war sein Blick definitiv auf mein Dekolleté gerichtet. »Ich habe im National Park, nur drei Stunden von Fletcher, eine kleine Hütte im Wald. Die kann sehr gemütlich sein.«
Sehr charmant, Ted Bundy. Aber weder meine Brüste, mit denen du da sprichst, sind interessiert, noch ein anderer Körperteil von mir.
»Vielleicht«, erwiderte ich bloß knapp, mit einem verschwörerischen Lächeln. Dann drehte ich mich um und steuerte auf die offene Doppeltür zum Dancefloor zu. Vermutlich sah mein Abgang genauso fluchtartig aus, wie er sich anfühlte. Mein Atem war flach, und meine Knie fühlten sich weich an. Das war so was von knapp gewesen! Und unelegant.
Ich schob mich zwischen Körpern hindurch, ohne ein genaues Ziel zu haben. Mir war schwindelig vor Schreck. Verflixt, hätte ich zu den Umkleiden gewollt, hätte ich in die andere Richtung fliehen müssen, dafür war meine Flucht jedoch zu blind gewesen. Der Dancefloor war eine Sackgasse.
Gerade als ich mich entschieden hatte, einfach eine Weile an einer der Stangen zu tanzen, bis meine Paranoia abgeklungen war, berührte mich eine warme, große Hand am Arm.
Ich erstarrte.
Da war ein Körper hinter mir. Ich spürte die Hitze, welche er ausstrahlte, auf meinem nackten Rücken.
Es war sein Geruch, der ihn verriet; vertraut, dunkel, sauber. Deshalb dauerte es keinen Herzschlag, bis ich ganz genau wusste, wer hinter mir stand.
»Gewonnen«, flüsterte Creed in mein Ohr. Sein warmer Atem ließ einen Schauer meine Wirbelsäule hinabkriechen.
Ich konnte mich nicht bewegen. Das Adrenalin in meinen Adern sorgte dafür, dass mir noch schwindeliger wurde und meine Haut zu kribbeln begann, besonders da, wo er mich berührte.
Er sah es also auch als ein Spiel. Er hatte mein Verschwinden nach all diesen Abenden als Herausforderung betrachtet. Und nun hatte er es geschafft.
Nicht ein Wort löste sich von meinen Lippen, besonders als mich die nackte Panik durchzuckte. Unter keinen Umständen durfte ich mich zu ihm umdrehen. Er bräuchte nur einen Blick auf mein Gesicht zu werfen und wüsste sofort, wer hier eigentlich vor ihm stand.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Mein Herz begann zu rasen. Sollte ich fliehen? Ihn zur Seite stoßen und das Weite suchen? Ich musste sofort hier weg!
… Oder?
Auf der anderen Seite hatte sich noch nie etwas besser angefühlt als Creeds Hand, die langsam und vorsichtig zu meiner Hüfte wanderte, so als wäre er unsicher, ob sie das auch tun durfte. Ich lehnte mich in die Berührung, gab ihm ganz ohne Worte zu verstehen, dass ich es wollte. Auch wenn ich das nicht sollte. Ich sollte es nicht wollen. Es fühlte sich befremdlich und richtig zugleich an. Immerhin war das hier Creed! Es beschwor alle möglichen Fantasien herauf, die nicht gerade dafür sorgten, dass ich klarer denken konnte. Er war mir so nahe.
Das hier war gefährlich. Gefährlich verlockend.
Und so machte ich den einen, fatalen Fehler:
Ich blieb genau da, wo ich war.
Daisy übernahm voll und ganz das Ruder, sorgte dafür, dass ich meine vielen Ängste und Unsicherheiten für diesen Moment verdrängte. Lenny James würde erst nach meiner Schicht wieder existieren. Ich, Daisy, kannte keinen Kerl namens Creed Parker – das hier war nur der Typ, mit dem ich seit ein paar Wochen nach meinen Shows heiße Blicke austauschte. Es gab für mich keinen Grund, nicht mit ihm zu tanzen, wenn ich mich danach fühlte. Das hier war meine Welt, nicht Creeds. Er sollte mein Gesicht nicht sehen? Er würde mein Gesicht nicht sehen. Ich war stark und unbesiegbar und sexy. Nichts und niemand konnte mir etwas anhaben, und ich würde ganz einfach nicht zulassen, dass er mich enttarnte. Es war ein weiteres Spiel. Ein Spiel, welches ich gewinnen würde.
Ich ergriff seine Hand und zog sie über meinen Bauch. Dann lehnte ich mich nach hinten und schmiegte mich an seine trainierte Brust.
Creed verstand sofort, zog mich näher an sich und spreizte die Finger auf meiner Haut. Ein atemloser Laut entwich mir, ehe er auch noch den anderen Arm um mich schlang.
Wenn ich zuvor geglaubt hatte, Creed Parker aus der Ferne zu betrachten, wäre bereits genug, dann hatte ich mich geirrt. An ihn gepresst zu sein und seine starken Arme um mich herum zu spüren – das war unbeschreiblich. So sehr, dass ich unweigerlich die Augen schließen musste, um in diesem Moment zu versinken.
Dann begannen wir zu tanzen. Dieses eine Mal ließ ich es zu. Das hier, dieser Tanz, war alles, was er jemals von mir bekommen würde.
Und ich von ihm.
Wieder nahm ich den verschlossenen Umschlag in die Hand, betrachtete ihn … und schob ihn zurück in meinen Rucksack. Zum dritten Mal.
»Komm schon«, murmelte ich und ließ mich auf den alten Polsterstuhl im verglasten Büro der Autowerkstatt fallen. Die Jalousien waren heruntergelassen, hingen schief und waren vergilbt, und auf Vincents Schreibtisch türmte sich das reine Chaos.
Meine Unschlüssigkeit ließ mich schwer seufzen, und ich knirschte mit den Zähnen. So schwer konnte es doch nicht sein, einen kleinen Umschlag zu öffnen und zu lesen, was darin stand! Kurz und schmerzlos, wie das Abreißen eines Pflasters. Ich musste einfach nur in diese Tasche greifen, das Teil herausholen und die Unwissenheit würde endlich ein Ende finden.
… Aber was, wenn das Ergebnis nicht das war, was ich mir erhoffte?
Vielleicht hätten meine Eltern mich Feigling nennen sollen, denn ich wurde diesem Namen viel mehr gerecht als meinem eigenen.
»Creed?«
Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und ich blickte auf. Die Tür zum Büro öffnete sich quietschend, und ein großer Kerl in verwaschener Jeans, T-Shirt und mit kinnlangen Haaren lugte in den kleinen Raum. Die Augenbrauen meines besten Freundes Ches schossen in die Höhe. »Was machst du hier in Vincents Büro?«
Ich zog den Reißverschluss meines Rucksackes zu und sprang auf. »Ich habe nur noch etwas nachgeschaut. Wir können gehen.« Ich schnappte mir meine Autoschlüssel vom Schreibtisch, der zwischen Papieren, Ordnern und zwei leeren Kaffeetassen lag.
Ungerührt blieb Ches im Türrahmen stehen und rieb sich über das Kinn. Seine welligen Haare waren noch feucht. Nach jeder Schicht ließ uns Vince in seiner und Almas Wohnung gleich neben der Werkstatt duschen, und in diesem Sommer hatte man das besonders nötig.
»Wieder der Brief?«, fragte Ches, auch wenn er klang, als würde er die Antwort bereits kennen.
Ich fühlte mich ertappt. War das so offensichtlich? Ich zuckte mit den Schultern, um meine Reaktion zu überspielen, und schob mich an ihm vorbei aus dem Büro. »Ich erhöhe nur die Spannung. Ich muss das Ding noch nicht aufmachen.«
Ches folgte mir durch die Autowerkstatt, ehe wir nach draußen in die trockene Hitze traten. Bis auf meinen schwarzen Jeep, ein paar Paletten und das rostige Wrack eines Civics war der Hof leer. Der blaue Himmel über uns war wolkenlos, und das Zirpen von Grillen, die im vertrockneten Buschwerk saßen, erfüllte die Luft.
»Ich denke schon, dass du ihn öffnen solltest«, sagte Ches. »Du schleichst schon seit fast einer Woche um das Ding herum. Das ist nicht gesund. Ich habe zwar keine Ahnung, was da drinstehen könnte, weil du mir immer noch nicht gesagt hast, um was es geht, aber ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt. Man lässt Umschläge nicht geschlossen, Creed. Wichtige Dinge in Umschlägen haben meistens eine Art Frist, oder?«
»Du bist so neugierig, Chester. Das steht dir nicht. Und ich werde dir erst sagen, was in dem Umschlag steht, wenn ich es selber weiß.«
»Dann öffne ihn.«
Ich lachte auf. »Netter Versuch.« Mein Lachen endete in einem gequälten Laut, als ich in den Hochofen von einem Jeep stieg. »Scheiße, ist das heiß hier drin.«
Ches stieg ebenfalls ein, auch wenn ich sehen konnte, wie er der Hitze wegen das Gesicht verzog. Ich verbrannte mir am Sicherheitsgurt die Finger, und selbst das Lenkrad war glühend heiß, obwohl der Parkplatz seit mindestens einer halben Stunde im Schatten lag. Ich schaltete die Klimaanlage auf Höchststufe, klappte die Sonnenblende herunter und fuhr aus dem Hof.
Es war früher Sonntagabend, und wir waren mit unseren Freunden zum Barbecue verabredet. In letzter Zeit trafen wir uns fast täglich. Ich fühlte mich irgendwie wieder wie ein kleiner Junge, der sich in den Sommerferien mit den anderen Kids in der Nachbarschaft traf – nur dass wir alle längst keine Kids mehr waren.
»Bist du bereit für Maine?«, fragte Ches und ließ sein Fenster herunterfahren.
»Sicher doch, Babyface«, erwiderte ich und spürte, wie sich meine Mundwinkel hoben. Gleichzeitig ließ jedoch auch ein schwermütiges Gefühl meine Brust enger werden. Morgen schon würden Ches und ich wieder nach Maine fliegen. Nach Hause. Seit fast zwei Monaten war ich schon nicht mehr dort gewesen, und ich konnte es kaum erwarten. Nachdem wir letztes Jahr wieder damit angefangen hatten, unsere Leben auf die Reihe zu bekommen, waren wir ständig nach Maine geflogen. Nach drei Jahren ohne jeden Kontakt zur Heimat. Bloß waren die Flüge teuer, und mittlerweile neigten sich meine Ersparnisse dem Ende zu. Wir konnten nie lange bleiben, wegen all der Verpflichtungen, die wir hier in Fletcher hatten. Es war nie genug Zeit. Deshalb freute ich mich jedes Mal aufs Neue, meine Familie wiederzusehen – oder wohl eher gesagt Chesters Familie.