Highway to Desire - Christine Feehan - E-Book

Highway to Desire E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Soleil, die reiche Erbin eines Unternehmens, fühlt sich bei ihrem Verlobten nicht mehr sicher. Seit einiger Zeit schon verhält er sich merkwürdig und drängt sehr auf eine schnelle Heirat. Als sie durch Zufall ein Telefongespräch mithört, bekommt sie Todesangst. In ihrer Panik flüchtet sie in eine Bar, in der sich auch der Bikerclub »Torpedo Ink« aufhält. Bei dem Biker Ice findet sie endlich Schutz. Zwischen ihr und dem attraktiven Mann entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebe. Aber die Gefahr, die von Soleils Verlobtem ausgeht, ist noch nicht gebannt.

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Seitenzahl: 724

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DAS BUCH

Als Ice die wunderschöne Frau auf dem Las Vegas Strip sieht, wird er von ihrem Aussehen verzaubert. So sehr, dass er an nichts anderes mehr denken kann und nur noch Augen für sie hat. Er kann es selbst nicht glauben, dass er, der in seiner traumatischen Kindheit in einer russischen »Schule« zum Killer ausgebildet wurde, solche Gefühle überhaupt zu empfinden vermag. In diesem Moment vertreibt die junge Frau mit ihrer bloßen Anwesenheit die Kälte, die seit Jahren in seinem Herzen herrscht. Doch als ein anderer Mann die Frau an sich zieht, kehren die Dämonen seiner Vergangenheit zurück.

Ice weiß zu dem Zeitpunkt nicht, dass diese Schönheit, Soleil, sich von ihrem Verlobten trennen will, da dieser sich immer seltsamer verhält. Sie fürchtet um ihr Leben und flüchtet in eine Bar, direkt in Ices Arme. Sofort empfinden beide eine glühende Leidenschaft füreinander, doch ihr Glück ist nicht von langer Dauer, denn Soleils Entscheidung für Ice birgt gefährliche Konsequenzen in sich.

DIE AUTORIN

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt. Sie begann bereits in jungen Jahren zu schreiben und hat seit 1999 mehr als siebzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und alle auf die New-York-Times-Bestsellerliste gekommen sind. Auch in Deutschland ist sie mit den Drake Schwestern, der Sea-Haven-Saga, der Highway-Serie, der Schattengänger-Serie und der Leopardenmenschen-Saga äußerst erfolgreich.

Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden sich im Anschluss an diesen Roman und auf ihrer Website www.christinefeehan.com.

CHRISTINE FEEHAN

HIGHWAY TO

DESIRE

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Almuth Reich

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe VENDETTA ROAD erschien erstmals 2020 bei Berkley, Penguin Random House LLC, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2022

Copyright © 2020 by Christine Feehan

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit The Berkley Publishing Group, an Imprint of Penguin Publishing Group, a Division of Penguin Random House LLC

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Birgit Groll

Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von © Shutterstock (CO Leong, Sergey Causelove, Volodymyr Tverdokhlib)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-27257-9V001

www.heyne.de

Für meine liebe Freundin Anne Elizabeth.

Ich danke dir für eine Freundschaft,

die alles Übliche weit übertrifft.

Du hast mir immer wieder Kraft gegeben.

1. Kapitel

Isaak Koval, den seine Torpedo-Ink-Brüder Ice nannten, ließ sich mit dem Strom der Touristen den Las Vegas Strip entlangtreiben. Er konnte sich überall anpassen. Er wusste, dies war eine Gabe, und er vervollkommnete diese Gabe bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiter. Schon früh hatte er gelernt, dass er sich, wenn er es wollte, quasi unsichtbar machen, sich gleich einem Chamäleon in jede Umgebung einfügen konnte. Das hatte ihm bereits mehr als ein Mal das Leben gerettet.

Er passte sehr genau auf, immer eine Anzahl von Menschen zwischen sich und den beiden Männern zu haben, denen er folgte. Während er sich seinen Weg durch die Touristen bahnte, war er stets darauf bedacht, dass sein Spiegelbild nicht in den Fenstern und Türen erschien, die er passierte. Obwohl er den Kopf gesenkt hielt, hatte er dennoch die Menge, die Gebäude und sogar die Dächer im Blick.

Hitzewellen stiegen vom Gehsteig auf, trafen immer wieder direkt auf seine Brust. Zeitweise fühlte es sich an, als könne er nicht atmen, aber er hatte das schon seit einiger Zeit immer wieder gespürt, sogar zu Hause an der Küste.

Kurz vor der Tür eines Casinos blieben die beiden, denen er folgte, stehen, sodass auch er anhalten musste. Er konnte sie nicht überholen oder riskieren, ihnen dadurch aufzufallen, dass sie ihn mehr als ein Mal in der Menge sahen. Auf der anderen Seite der Casinotür stand eine aus Ziegeln gemauerte Säule; dort blieb er stehen, holte sein Handy heraus und sah sich Textnachrichten an, so wie es auch Dutzende anderer Leute machten. Er warf einen Blick über die Straße, wo Storm, sein Zwillingsbruder, dasselbe tat. Ice behielt die beiden Männer im Blick, während er auf sein Handy schaute, und bewegte sich dann im Schneckentempo mit einer Gruppe indischer Touristen weiter.

Die beiden Männer, denen sie folgten, diskutierten kurz über etwas, das sie auf ihren Handys gelesen hatten, und gingen dann weiter. Es sah aus, als wollten sie sich amüsieren; immer wieder blieben sie kurz vor einem der Striplokale stehen, als würden sie debattieren, ob sie hineingehen sollten. Doch das taten sie nicht, und Ice rechnete auch nicht damit. Sein Club wusste praktisch alles über die beiden, was es zu wissen gab. Und es war ganz klar, dass keiner von ihnen auf eine Nacht mit Stripperinnen, Prostituierten oder weiblichen Zufallsbekanntschaften aus war.

Sie näherten sich einer roten Ampel. Das war immer eine Gefahrenzone. Die beiden Männer, Russ Jarvis und Billy Kent, hatten die Angewohnheit, sich an einem Zebrastreifen immer umzusehen. An den Stopplichtern drängte sich die Menge zusammen, und dann drehten sich die beiden wie zufällig um und nahmen die Menschen neben und hinter ihnen in Augenschein. Oft schauten sie auch über die Straße auf diejenigen, die gegenüber auf Grün warteten.

Trotzdem hätte Ice ganz nahe an sie herankommen, sie, sobald die Ampel grün wurde, auslöschen und dann im Schutz der Menge die Straße überqueren können, noch bevor die Leichen zu Boden gingen. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und schlenderte weiter. Sein Club brauchte die beiden lebend, damit sie sie zu dem Arschloch führen konnten, das sie eigentlich jagten. Also zwang er sich, einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Er trug eine Jeans und Motorradstiefel. Viele Klamotten zum Wechseln hatte er nicht. Das enge T-Shirt spannte sich über seine Brust, verschwitzt wegen der unerbittlichen Hitze. Er hasste diesen Ort fast so sehr wie die beiden Männer, die er gerade verfolgte. Schlimmer noch, er konnte hier nicht sein Abzeichen tragen. Das fühlte sich an, als würde er nackt die Straße hinuntergehen, was tatsächlich besser gewesen wäre als ohne Abzeichen.

Manchmal, jetzt zum Beispiel, glaubte er, von dem Chaos in seinem Kopf noch wahnsinnig zu werden. Hin und wieder sagten der Zar – Präsident von Torpedo Ink, ihrem Motorradclub – und seine Frau Blythe, dass man über manche Dinge sprechen müsse, auch wenn es einem noch so schwerfalle. Das war Bockmist. Wem konnte einer wie er schon sein Herz ausschütten? Welcher bescheuerte Therapeut würde denn kapieren, was er durchgemacht hatte? Was jeder und jede seiner Brüder und Schwestern durchgemacht hatten?

Er konnte sie geradezu hören, diese Konversation. Wie viele, sagtest du, hast du umgebracht? Wie, sagtest du, hast du sie gekillt? Wie geht es dir damit? Was glaubten sie, wie es ihm damit ging? Es würde Knast oder eine Gummizelle bedeuten, aber er war die meiste Zeit seines Lebens eingesperrt gewesen, und das würde ihm nicht noch einmal passieren. Niemals mehr.

Ice nahm die blöde Baseballmütze ab, die er trug, um seine unverkennbaren Haare zu verbergen. Er war nicht einfach nur blond; seine Haare leuchteten in der Sonne – platin, golden, silber. Er trug sie ziemlich lang, aber nicht so lang wie einige der Brüder. Noch einmal wischte er sich den Schweiß ab und setzte die Kappe wieder auf. An der Ampel angekommen, griff er in die grellbunte, offene Einkaufstasche, die einladend am Arm einer Frau baumelte, nahm ein Päckchen heraus und ließ es vor sich auf den Gehsteig fallen.

»Ma’am.« Er bückte sich danach. »Sie haben etwas verloren.«

Die ältere Frau drehte sich um und bekam große Augen. »Oh. Vielen Dank. Das habe ich für meine Enkelin gekauft.«

Er richtete sich langsam, vom Licht abgewandt, wieder auf, darauf bedacht, dass möglichst viele Menschen zwischen ihm und denen waren, die er verfolgte, und warf ihr ein Lächeln zu. »Wie alt ist Ihre Enkelin denn, wenn ich fragen darf? Denn Sie sehen ganz bestimmt nicht aus, als ob Sie alt genug wären, um schon Großmutter zu sein.« Er meinte das wirklich, musste sich also gar keine Mühe geben, aufrichtig zu klingen.

Sie strahlte ihn an. »Na, das ist ja wirklich ein nettes Kompliment. Ich bin ganz sicher alt genug. Sie ist acht.« Sie ließ das Päckchen wieder in der Tasche verschwinden, zog diese jedoch fester an sich. »Ihr Tattoo gefällt mir sehr. Es ist ganz außergewöhnlich.«

Er hatte eine Menge Tattoos an den Armen, auf der Brust und dem Rücken, doch sie meinte die drei Tränen, die aus seinem linken Augenwinkel auf die Wange tropften. Diese Tränen erinnerten ihn jedes Mal, wenn er in einen Spiegel blickte, daran, dass er kein Mensch mehr war. Alles Menschliche war ihm genommen worden, er war nur mehr eine Hülle. Eine leere Hülle. Wieder machte ihm der Druck auf seiner Brust das Atmen schwer. Er berührte eine der Tränen, wie um sich daran zu erinnern, dass er sie hatte.

»Die habe ich schon seit Jahren. Sie wissen schon, was tut man nicht alles, wenn man jung ist.«

Wieder lächelte sie ihn an. »Für mich sehen Sie noch immer jung aus.«

Darauf wusste er nichts mehr zu erwidern. Sie war nett. Er aber lebte nicht in einer netten Welt und wusste sich auch nicht mit netten Leuten zu unterhalten. Er konnte für sie jemanden windelweich prügeln. Er konnte jemanden für sie töten, wenn sie das wollte. Verflucht, das konnte er beides, aber höfliche Konversation, das war nicht sein Ding.

Natürlich konnte er auch seine Waffe ziehen und die beiden Kerle vor aller Augen umnieten. Die Bullen würden kommen, und es käme zu einer irren Schießerei, aber am Ende hätte er vielleicht etwas Ruhe und Frieden. Vielleicht. Wahrscheinlich gab es für einen Mann wie ihn in der Hölle einen besonderen Platz.

Aber er konnte es sich nicht leisten, sich mithilfe eines Bullen selbst auszupusten, denn wenn er die beiden tötete, die er nun schon seit vier verdammten Tagen an diesem heißesten Ort der Erde verfolgte, dann würde er einen kleinen Jungen zu einem Leben in der Hölle auf Erden verdammen. Und er wusste, wie das war. Scheiße.

Die Frau redete mit ihm, doch er nahm nichts davon wirklich wahr. Die Menge bewegte sich, und er riskierte einen Blick über die Schulter. Die beiden Arschlöcher waren bereits auf der Straße. Er wandte sich um und ging neben der Frau her, hielt den gesenkten Kopf nahe an sie, als schenkte er jedem ihrer Worte Gehör.

Er hätte ihr vieles erzählen können. Vor allem, dass er so kaputt war, dass er in einem Raum mit einem ganzen Haufen heißer Frauen, die für ihn strippten, keinen hoch bekam, wenn er es sich nicht befahl. Das war er verdammt leid. Was machte es für einen Sinn, sich von einer Frau einen blasen zu lassen, wenn er seinen Körper zwingen musste, dabei mitzumachen? Ja, das würde ganz sicher eine irre Konversation werden. Vielleicht konnte er sie ja um Rat fragen.

Oder aber er könnte Blythe fragen und sie damit zu Tode erschrecken – allzu viel schockierte sie allerdings gar nicht. Sie hatte den Zar, und mit ihm den ganzen Club, wieder zu sich genommen wie eine Glucke. Er musste zugeben, dass er wirklich Zuneigung und Bewunderung für sie empfand, obwohl er ja schon lange glaubte, gar nicht mehr wirklich fühlen zu können. Blythe und ihre gestörten Kinder.

Er ging noch einen Block mit der älteren Frau mit und hörte ihrem Geplauder über ihre bewundernswerte Enkelin zu. Als sie eine Pause einlegte und er nicht umhinkonnte, das Schweigen zu füllen, redete er von seinen lieben »Nichten und Neffen«. Vermutlich war das nicht einmal gelogen. Sie mussten ja nicht gleich blutsverwandt sein. Alle Mitglieder des Torpedo-Ink-Clubs waren seine Brüder. Was bedeutete, dass deren Kinder zu seinem Leben dazugehörten, oder nicht? Als er um die Ecke bog und der älteren Frau noch kurz zuwinkte, erfasste sein Blick eine Bewegung. Ein weißes Kleid mit Blumen. Nicht irgendein Kleid. Ein leichtes Sommerkleid, wie es die Frauen in alten Kinofilmen trugen. Sie stand auf der anderen Straßenseite in der Sonne und hätte ebenso gut einen Heiligenschein tragen können, denn sie war so schön, dass sie ihm den Atem raubte. Er blieb wie angewurzelt auf dem Gehsteig stehen und starrte sie an – was gottverdammt verrückt war. Schließlich war er bei der Arbeit.

Das Oberteil des Kleides saß straff, und die Brüste der Frau füllten den Stoff perfekt aus, drückten gegen das Mieder, als würden sie gerne frei sein. Die Vorderseite des Kleids war eng, aber um das Dekolleté herum gerafft. Es juckte ihn sofort in den Fingern, ihr das Leibchen herunterzuziehen und diese wahnsinnig verlockenden Brüste zu befreien. Tatsächlich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er stellte sich vor, hinter ihr zu stehen und den Stoff langsam aufzuziehen, bis das Mieder unter die weichen Kurven glitt und ihre Brüste in seinen Händen lagen.

Für ein Gesicht wie das ihre hätten wohl die meisten Männer gekämpft und wären gestorben – zumindest er. Hohe Wangenknochen. Große Augen. Ein ausgesprochener Kussmund. Lippen, um ein männliches Glied fest zu umschließen. Sein verdammter Schwanz reagierte sofort – einfach so. Mitten auf der Straße. Beim Anblick einer vollständig angezogenen Frau. Das sprichwörtliche Mädchen von nebenan. Was zum Teufel war das?

Er legte die Hände über seine Jeans, nur um sicherzugehen, dass er nicht irgendeine Halluzination hatte. Er war geschockt, obwohl ihn doch nichts mehr schockieren konnte. Er hatte keine normalen Erektionen. Das war vor langer Zeit aus ihm herausgeprügelt worden. In Sachen Sex war nichts bei ihm normal. Absolut nichts.

Er zwang sich, die Hände von der Jeans zu nehmen, und warf noch einmal einen langen Blick auf die Frau. Das enge Mieder betonte ihren schmalen Brustkorb und die schlanke Taille. Der ausgestellte Rock lenkte den Blick auf die Beine. Fantastische Beine. Er konnte fast spüren, wie es war, von ihnen umschlungen zu werden. Zur Hölle, wenn er ihretwegen derartige Fantasien bekam, dann würde seine Erektion nicht gleich wieder weggehen.

Am Zebrastreifen zögerte sie und ging dann zurück, auf einen Mann zu, der ihr offenbar etwas zurief. Er hatte sich immer für einen Tittentyp gehalten, doch die Art und Weise, wie sie in dem geblümten weißen Kleid ihren perfekten Hintern schwang, reichte, um ihn umdenken zu lassen.

Ihr Haar glänzte so stark in der Sonne, dass ihm die Augen schmerzten. Es fiel dunkel und voll über ihren Rücken. Sie schüttelte den Kopf über etwas, das der Mann in seinem perfekten Anzug gesagt hatte, wandte sich von ihm ab und wieder der Straße zu. Daraufhin packte er sie am Arm und hielt sie zurück.

In diesem Augenblick spürte Ice ihn. Den Gletscher – tief in ihm, eisig kalt, so kalt, dass es brannte. Da war ein Verlangen – das Verlangen zu töten. Es war … überwältigend. Es kam über ihn wie eine Sturzflut, doch tief in seinem Inneren war er erstarrt. Erfroren. Er tat einen Schritt auf den Rand des Gehsteigs zu. Autos brausten vorüber, doch er bemerkte sie kaum. Er war an einen kalten, dunklen Ort geraten, den er nur allzu gut kannte.

Ein Pfiff durchdrang den Gletscher, ließ einen langen, gezackten Riss im Eis entstehen, bohrte sich durch dieses tiefe, intensive Blau. Warf ihn aus den Gedanken und Bildern in seinem Kopf heraus, und er wandte den Blick von dem Paar ab. Sein Zwillingsbruder auf der anderen Straßenseite war bereits am Zebrastreifen und kam auf ihn zu, als die Ampel auf Grün sprang. Scheiße. Er hatte sich gerade zum größten Idioten in der Geschichte der Menschheit gemacht. Sein Bruder sorgte sich bereits um ihn, und dieser kleine Zwischenfall würde den Druck bestimmt nicht verringern.

Die beiden, die sie verfolgten, waren ihnen schon einen ganzen Block voraus. Storm war zurückgefallen, um ihm Deckung zu geben. Er deutete auf die zwei und lief los, konnte jedoch nicht umhin, einen kurzen Blick auf das Paar zu werfen. Sie schüttelte noch immer den Kopf, der Anzugträger war aufgebracht und starrte sie wütend an. Stellte Forderungen. Sie lehnte ab. Gut für sie. Geld konnte einen Mangel an Charakter nicht kompensieren. Das hätte er wissen sollen. Er hatte so viel Geld, dass er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, aber Charakter? Wohl weniger.

»Was zur Hölle ist denn?«, zischte Storm und fasste neben ihm Tritt. »Wir dürfen sie nicht verlieren!«

Sie erhöhten das Tempo, wanden sich durch die Menge, um wieder näher an die beiden Kerle heranzukommen.

»Ich hatte nicht vor, sie zu verlieren«, murrte Ice und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. »Ich wusste ja, dass du an ihnen dran warst.«

Ice blickte seinen Bruder direkt an, nur um ihn erkennen zu lassen, wie nah er daran war, die Beherrschung zu verlieren.

Storm schüttelte mit verächtlichem Blick den Kopf. »Du gehst, ich gehe. Das war schon immer unser Deal.«

»Als wir den machten, waren wir sieben Jahre alt«, erinnerte Ice ihn ruhig. Er riskierte einen weiteren Blick auf ihre Zielpersonen. Zwischen ihnen und den beiden waren genügend Passanten. Eine Gruppe Touristen blieb immer wieder mitten auf dem Gehsteig stehen, und die Menge bewegte sich um sie herum. Da sie nahe dran waren und sich sehr ähnlich sahen, wurde Ice wieder langsamer und hielt sich hinter den fotowütigen Urlaubern. »Keiner von uns dachte damals, dass wir älter als zehn würden.«

»Du gehst, ich gehe. Das ist der Deal«, beharrte Storm.

»Warum bist du bloß so gottverdammt stur?«, fragte Ice leise.

»Ich bin immer deinem Beispiel gefolgt, und du würdest das auch tun«, erwiderte Storm mit einem gleichgültigen Achselzucken.

Dagegen konnte Ice nichts sagen. Er hätte es genauso gemacht. »Ich weiß auch nicht, Storm, wenn ich so weitermache, werde ich noch für alle zur Gefahr.«

»Savage ist eine Gefahr, nicht du. Du entscheidest dich immer für das Richtige. Und zu sterben ist keine Alternative. Wir haben das nun schon x-mal durchgekaut. Du gehst gerade durch eine schwierige Phase. Das kommt vor. Zum Glück haben wir sie nicht beide gleichzeitig.«

Das stimmte, aber zum Teufel, er wollte nicht Unschuldigen wehtun, doch er dachte mehr und mehr daran, einfach ein paar Pädophile in aller Öffentlichkeit abzuknallen. Einfach aufzustellen und umzumähen. Manchmal träumte er sogar davon. Er schien davon nicht mehr loszukommen. Weder durch Alkohol noch durch Frauen und auch nicht dadurch, dass er die Kerle, die Kinder raubten und vergewaltigten, zur Strecke brachte.

Am meisten kotzte ihn an, dass die Männer vor ihnen als unbescholtene, aufrechte Bürger durchgingen. Sie besaßen Geld und Ansehen, genau wie die anderen in dem Ring, den Code im Netz entdeckt hatte, die die Kinder meistbietend anboten. Sie waren gesellschaftlich anerkannt, er aber nicht. Er würde das nie sein. Nie. Er war ein Biker. In einem Club. Die, die mit ihm fuhren, waren seine Familie, und er würde für sie kämpfen bis zum Tod. Für sein Clubabzeichen. Er würde nie von der Gesellschaft anerkannt werden, aber sie luden Monster zu sich nach Hause ein und ließen sie an ihre Kinder heran, und das nur, weil sie anständig angezogen waren und nicht vor allen anderen mit Schimpfwörtern um sich warfen. Sie trieben es einfach nur hinter dem Rücken der anderen – mit Kindern.

Einer war ein Arzt. Dr. Hank Bernard. Verheiratet, drei eigene Töchter. Das Problem war, er stand auf kleine Jungen, je jünger, desto besser. Dann war da George Durango. Ihm gehörten mehrere Wellness-Einrichtungen und Retreats für Promis. Er bewegte sich in hochgestellten Kreisen. Bill Churchill war ein bekannter Richter, einer, der den Ehrgeiz hatte, sich in der Politik einen Namen zu machen. Paul Bitters war ein angesehener Feuerwehrchef. Er kannte jeden Polizisten in seiner Gegend namentlich. Wenn er sprach, hörte man ihm zu. Russ Jarvis und Billy Kent besaßen zusammen eine Kette von Lebensmittelmärkten. Sie waren schon seit ihren Kindheitstagen befreundet und nun Geschäftspartner. Die meisten hielten sie für ein Paar, und dass die anderen dies dachten, war ihnen durchaus recht.

Code mit seinem irren Computer-Durchblick war zufällig im Netz auf die Versteigerung eines sechsjährigen Jungen gestoßen. Der Anbieter war Paul Bitters. Wie sich herausstellte, hatte er den Jungen einem großen Pädophilenring präsentiert. Torpedo Ink hatte anonym für den Jungen geboten, und anfangs schien es, als würden sie ihn bekommen. Sie hätten eine Adresse angegeben, und dann wäre der Austausch erfolgt. Aber leider hatte die Polizei Wind von der Sache bekommen, und Bitters hatte die Auktion sofort beendet.

Die nächsten beinahe drei Wochen war Bitters nicht mehr online gegangen. Er schickte eine verschlüsselte Botschaft: Das Event werde exklusiv per privater Einladungen bekannt gegeben. Er war natürlich nervös geworden und wollte, dass nur jene kamen, die er kannte und denen er ausdrücklich vertraute. Er wollte, dass sie persönlich erschienen, damit er jeden in Augenschein nehmen konnte. Code hatte es geschafft, die Chiffrierung zu knacken.

Torpedo Ink hatte nicht viel Zeit gehabt, einen Rettungsplan aufzustellen. Sie wollten nicht einfach nur zugreifen. Sie wollten mehr Namen. Es ging nicht nur um eine kleine Operation: Ursprünglich war die Auktion allgemein und in mehreren Bundesstaaten zugänglich gewesen. Und sie wollten sie für immer beenden.

Der Club war mitsamt den Frauen aus einem sehr guten Grund in Vegas. Ihr Vizepräsident, Steele, wollte seine Frau heiraten, ihr einen Ring an den Finger stecken und Nägel mit Köpfen machen. Natürlich würden alle Mitglieder von Torpedo Ink bei der Feier dabei sein. Niemand würde also ihren Aufenthalt in Las Vegas hinterfragen.

Ice und Storm ließen sich mit der kleinen Gruppe Touristen mittreiben, passten sich ihr an, sodass die beiden Männer, wenn sie zurückblickten – was sie ab und an taten –, sie als Teil dieser Gruppe wahrnahmen. Storm hatte ebenfalls eine Baseballmütze getragen, doch beim Überqueren der Straße setzte er sich einen Panamahut auf, der seine auffälligen Haare besser verdeckte. Zudem ging er leicht in sich zusammengesackt, um seine Größe zu kaschieren.

Doch plötzlich drehten sich ihre Zielpersonen um und schritten direkt auf sie zu. Ice ging mit gesenktem Blick geradeaus weiter, sein Bruder überquerte an der Ampel die Straße. Ein Motorrad dröhnte vorüber, hielt mit dem Verkehr auf der Straße mit. Transporter hatte Alena, Ices und Storms jüngere Schwester, auf dem Rücksitz seines Bikes. Ihr sehr platinblondes Haar steckte unter einem Helm. Keiner von ihnen trug sein Abzeichen.

»Ich habe sie«, murmelte Savage in sein Funkgerät. »Wechselt Hemden und Hüte und kommt dann wieder. Sie checken ab, ob ihnen jemand folgt. Die Kerle sind vorsichtig.«

Savage war einer der Vollstrecker des Clubs. Und er war, ebenso wie sein Bruder, einer der Furcht einflößendsten Menschen, die Ice kannte, obwohl seinem Club ausnahmslos ausgemachte Mörder angehörten. Dazu waren sie alle von Kindheit an gemacht worden, und jeder von ihnen kannte Hunderte Arten zu töten. Doch Savage war eine Liga für sich.

»Wir haben sie«, berichtete Alena.

Ice ging in die entgegengesetzte Richtung der beiden Männer. Als deren Ziel hatte Code eines von zwei Gebäuden auf der anderen Seite des Blocks ausgemacht. Dort waren die Lichter des Strip weniger grell, und unter das Volk auf der Straße mischte sich noch eine etwas zwielichtig wirkende Klientel.

Storm ging weiter die Straße entlang, für die er sich entschieden hatte; sie war nicht weit von der, die Code als wahrscheinlichstes Ziel der beiden identifiziert hatte. Das Taxi, mit dem Savage angekommen war, parkte am Straßenrand vor den beiden Männern; er ließ sich Zeit, den Fahrer zu bezahlen, und fragte ihn dabei noch nach einer Auskunft. Russ Jarvis und Billy Kent gingen direkt an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten.

Die Verstärkung der beiden fuhr in einem Toyota-Pick-up an ihnen vorbei und nickte ihnen kurz zu. Direkt hinter dem nagelneuen Toyota kam ein alter Ford. Dieser Wagen war zu einer wahren Rakete auffrisiert, und an seinem Steuer saß Mechaniker. Torpedo Ink war also voll präsent, und alle arbeiteten zusammen wie eine gut geölte Maschine. Jedes Mitglied trug sein Bestes dazu bei, um denen das Kind zu entreißen, die es zur Versteigerung ausgeschrieben hatten.

»Ich bin mit Transporter und Alena bereit«, sagte Mechaniker in sein Funkgerät. »Wir nehmen dir diesen Fahrer ab, Savage, und dann machen Alena und Transporter kehrt und sichern das Gebäude, während ich den Gefangenen raushole und auf dich warte.«

»Alles klar. Einen brauchen wir lebend«, murmelte Savage. Es war fast nicht zu sehen, dass Jarvis seiner Verstärkung zunickte, doch Savage bemerkte es. Der Fahrer des Pick-ups glaubte, dass niemand den beiden Männern folgte.

»Sie kehren um. Sie glauben jetzt, unbehelligt zu sein, und gehen zu der Versteigerung. Jetzt bist du wieder dran, Ice. Erledigen wir sie möglichst schnell«, sagte Savage.

Savage ging in die entgegengesetzte Richtung der beiden Männer, auf die Straßenecke zu. Bei Grün überquerte er die Fahrbahn und schritt dann zielstrebig den Strip entlang. Ice bog hinter Jarvis und Kent um die Ecke. Er trug ein dunkles Navy-T-Shirt, eine dunkle Sportjacke und einen weichen Filzhut. Storm blieb auf derselben Straßenseite wie Savage. Ice schloss sich der kleinen Menge am Fußgängerübergang an und ignorierte die Zielpersonen, die auf Grün warteten. Storm überquerte die Straße.

Jarvis und Kent verließen den Gehsteig als Erste, sie gingen nun rasch, blickten auf ihre Uhren und wurden noch schneller. Ice und Storm folgten ihnen, zwischen ihnen waren nur mehr zwei Paare. An der nächsten Ampel ging Savage zurück und schloss einen halben Block hinter Ice und Storm zu ihnen auf.

»Verstärkung ist bereit«, meldete Reaper, ihr Sergeant at Arms.

»Lieferwagen wartet auf Fracht«, berichtete der Zar.

»Arzt bereit«, meldete Steele.

Absinth stieß zu Ice und Storm, als Jarvis und Kent gerade einen Massagesalon betraten, an dessen Tür und Fenstern in Goldlettern für Massagen rund um die Uhr geworben wurde. Ice, Storm und Absinth waren nur wenige Schritte hinter den beiden. Ice blickte nach oben in die Überwachungskamera. Sie zeichnete nicht mehr auf. Code hatte seine Magie spielen lassen und die Kameras im ganzen Gebäude außer Betrieb gesetzt.

Savage war dreißig Sekunden hinter den anderen drei. Jarvis und Kent meldeten sich nicht an der Rezeption an, sondern schritten sofort den Flur entlang. Die Hostess ignorierte sie, blickte jedoch auf, als sie Ice, Storm und Absinth gewahrte. Sie hatten diese Wirkung auf Frauen. Savage machte sie nervös, als er eintrat, und sie vermied es, ihn genauer anzusehen, was es ihm erleichterte, die beiden Männer auf ihrem Weg den Korridor entlang im Blick zu behalten.

Absinth neigte sich zu ihr, setzte die Ellbogen auf den Rezeptionstisch auf und blickte ihr lächelnd direkt in die Augen, während Storm zur Tür zurückging. »Hey, du Schöne. Du musst jetzt wirklich nach Hause gehen. Es ist spät, dein Dienst ist schon längst zu Ende.« Er sprach leise und in einem hypnotisierenden Tonfall. »Du willst jetzt einfach nur so schnell wie möglich von hier verschwinden.«

Die Frau raffte ihre Handtasche an sich, runzelte kurz die Stirn und stürmte zu der Tür hinaus, die Storm ihr aufhielt. Er schloss die Tür ab, ließ das OPEN-Zeichen jedoch an, sodass es direkt über den Worten blinkte, die Massagen rund um die Uhr anpriesen.

Savage schritt bereits den Flur hinunter und ließ Jarvis und Kent nicht aus den Augen. Ice und Storm folgten, während Absinth die Rezeption besetzte für den Fall, dass gerade jetzt jemand vorbeikam und eine Massage wollte. Derjenige würde überrascht sein, dass die Tür verschlossen war, Zeit brauchen, das zu verarbeiten, und Absinth würde ihm dann »vorschlagen«, den nächsten Salon gleich ein paar Häuser weiter aufzusuchen. Er war sehr gut darin, die Leute zu allen möglichen Dingen zu überreden.

Sie hatten das Nest gefunden, und niemand konnte es mehr verlassen, wenn sie es nicht wollten. Sobald Code die Örtlichkeiten auf zwei Gebäude eingegrenzt hatte, hatten sie für beide einen Simulationslauf durchgeführt. Sie waren gut in dem, was sie machten – schließlich machten sie schon seit früher Jugend Jagd auf Übeltäter.

Nachdem Transporter und Alena den Truck mit Jarvis’ und Kents Verstärkung identifiziert hatten, würden sie den Fahrer Mechaniker überlassen und zurückkommen, um die Hintertür zu bewachen. Das Gebäude verfügte zudem noch über zwei weitere Fluchttüren im Empfangsbereich. Die eine führte direkt zu dem Laden nebenan und war nach Auskunft der Angestellten, die Absinth früher am Tag angesprochen hatte, normalerweise verschlossen. Die zweite führte direkt in den Keller. Ice war bereit, darauf zu wetten, dass das Kind dort in einem Käfig mit einer Kamera saß, damit man den »Kunden« zeigen konnte, was sie erstanden.

Zwei Wachen wandten sich ihnen zu, als sie sich näherten. Beide trugen halbautomatische Waffen, nicht eben die gewöhnliche Ausrüstung für einen privaten Wachdienst. Die beiden waren eindeutig von einer Privatfirma, die von Bitters bezahlt wurde. Nie im Leben würde der Massagesalon für offen erkennbare Söldner zahlen. Dieses Etablissement war eleganter als die meisten anderen, doch es würde niemals löhnen, was diese beiden Typen kosteten. Das bedeutete, dass drinnen noch weitere Söldner waren.

Einer der Wachmänner stand direkt vor der Tür, der andere drei Schritte entfernt, doch er war gerade im Begriff, die Flure abzugehen, damit niemand sich dem Zimmer nähern konnte, das er abzusichern hatte. Er ließ sich ein wenig weiter zurückfallen, um seinen Partner zu decken.

Der Mann blickte Savage grimmig an, als er ihn mit erhobener Hand anhielt. »Für diese Party brauchen Sie eine Einladung«, sagte er. »Alle auf der Liste wurden bereits eingelassen. Warten Sie vorne an der Rezeption, und Tabs wird eine Masseuse für Sie finden.« Er blinzelte, als er das sagte, hatte sich jedoch leicht zur Seite gedreht, gerade so, dass die Waffe direkt auf Savages Brust zielte.

Ice wollte lachen, doch darin war er nicht sehr gut. Er war besser im Töten. Er sah den Wachmann vor Savage nicht einmal an. Das war Savages Problem. Er trat hinter Savage hervor, neben ihm Storm. Sie würdigten den Söldner, das Partyzimmer oder irgendetwas sonst keines Blickes. Storm hielt ein beschriebenes Blatt Papier in die Höhe und zeigte auf den Flur, den der zweite Wachmann entlangging.

»Hey«, sagte er und wedelte mit dem Papier. »Die Zimmernummern stimmen nicht überein mit dem, was das Mädchen hier draufgeschrieben hat. Sie hat ihre Telefonnummer aufgeschrieben, aber das bringt uns nichts, wenn wir eine Massage wollen.«

»So läuft es nicht!«, knurrte der Wachmann und zog seine Waffe.

»Tut mir wirklich leid«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihnen. Sie war sinnlich. Leise. Sündigen Sex versprechend.

Alle blieben wie angewurzelt stehen, alle Köpfe wandten sich der Newcomerin zu. Sie war groß und ihr Körper umwerfend. Dichtes Haar, glänzend schwarz, das sich um ihr Gesicht schmiegte und bei jedem ihrer Schritte den Nacken berührte. Alle Aufmerksamkeit galt jedoch nicht ihrem Haar, sondern vielmehr ihrer erstaunlichen Oberweite. Ihre Brüste waren voll und rund und wirkten, als wollten sie sich aus dem engen T-Shirt herausschälen, das sich über sie spannte und auf dem ein Logo des Massagesalons prangte.

»Dies ist mein erster Tag, und die Bullen haben mich angehalten, weil ich zu schnell gefahren bin.« Sie grinste breit, als wolle sie alle einladen, sich mit ihr zu amüsieren. »Bin mit einer Verwarnung davongekommen. Tabitha von der Rezeption sagte, ich soll hier zwei Kunden treffen, in Zimmer vier-null-sieben. Das ist wohl hier den Gang hinunter.«

Sie holte Ice und Storm ein, überholte die beiden und zeigte auf ein Zimmer am Ende des Flurs. Von hinten wirkte ihr Gang nicht weniger sexy als von vorne, und der Mann, der Savage beobachtete, richtete den Blick immer wieder auf ihren wiegenden Hintern. Sie hatte den Wachmann im Flur fast erreicht. Er versuchte, seinen Blick von den beiden Brüsten abzuwenden, die fast aus ihrer zu kleinen Uniform herauszufallen schienen.

Ice hätte sie am liebsten geküsst. Die anderen Torpedo Inks nannten Lana oft die Witwe. Weil sie Frauen, die mit Söldnern verheiratet waren, oft zu Witwen machte. Sie sah höllisch sexy und gleichzeitig himmlisch unschuldig aus. Wie sie das machte, davon hatte Ice keine Ahnung, aber sie war einfach umwerfend schön. Das war sie schon als Kind gewesen, als sie wie jeder von ihnen gefoltert worden war. Sie war weinend zurückgekommen, aber bereit zu tun, was immer zur Flucht notwendig war.

Sie ging auf den Wachmann zu, als wolle sie ihn überholen, starrte ihm geradewegs in die Augen, ein heißblütiger, lustvoller Blick. Savage und Lana traten unmittelbar vor ihre Opfer, und zwei Klingen rammten sich gleichzeitig in deren Kehlen. Ice schnappte sich die Wache auf dem Flur, während Lana leicht an eine Tür klopfte, sie öffnete und signalisierte, dass der Raum frei sei. Ice schleifte den Wachmann hinein, nahm ihm die Waffe ab und reichte sie Lana. Sie verdrehte die Augen und legte sie auf einen Massagetisch. Der Wachmann würgte ein paarmal, die Augen vor Schock weit aufgerissen, verschluckte sich an seinem eigenen Blut, während Storm Savages Opfer hereinzog.

Ice ging mit Storm in Position, Lana hinter ihnen, und Savage bildete die Nachhut. »Wenn der Junge nicht da ist, brauchen wir einen lebend«, erinnerte Savage sie leise.

Ice warf ihm einen Blick zu und trat dann dicht vor die Tür. Mit seinem Dietrich öffnete er das lausige Schloss rasch und fast lautlos. Die Männer in dem Raum verließen sich offenbar etwas zu sehr auf ihre Wachleute.

Er und Storm traten jeweils an eine Seite der Tür und ließen Lana allein davor stehen. Sie hielt eine Hand absolut gefasst ganz nah an die Tür. Ice bewunderte es, wie sie von einer Sekunde auf die andere von sanft und nett zur Killerin umschalten konnte. Sie hatten sich auf sie verlassen, als sie noch nicht mehr als ein wunderschönes, dunkelhaariges Kind gewesen war, und sie hatte es auch damals immer geschafft. Wie auch heute noch.

Sie zeigte mit den Fingern. Sechs Männer vor ihnen, wo sich, wie sie wussten, noch ein Ausgang und vier weitere Wachleute befanden. Je einer zu beiden Seiten der Tür. Einer oben auf einem kleinen Balkon hinter einem Vorhang. Einer auf der anderen Seite des Raums an dem Ausgang, der auf die Gasse hinausführte.

Savage wies Ice und Storm mit einer Geste an, die Wachen beiderseits der Tür zu erledigen. Er würde sich den Mann am Ausgang vornehmen und Lana den hinter dem Vorhang. In einer Situation, in der eine Zielperson nicht klar zu erkennen war, arbeitete sie genauer als alle anderen.

Jeder hatte sein Opfer. Paul Bitters war der Mann, der das Kind verkaufte, also würde er als Letzter sterben. Sie mussten wissen, wo der Junge war. »In Position«, berichtete Savage.

»In Position«, sagte Reaper, der am Ausgang direkt hinter dem Anbieter und den Kunden wartete.

»Ich habe dein Paket, Savage«, meldete Mechaniker, was bedeutete, sie hatten den Fahrer des Trucks in ihrer Gewalt und würden von ihm weitere Informationen über den Ring erfahren und die Befehlskette bis hinauf zu den richtig großen Fischen verfolgen können.

»Transporter und ich an der Hintertür«, meldete Alena.

»Also dann«, befahl der Zar.

Ice blickte ein letztes Mal über seine Schulter und dann auf seinen Zwillingsbruder. Storm. Sein Herz zog sich zusammen. Er stieß abrupt die Tür auf, trat hinein, drehte sich und feuerte auf sein Ziel. Storm bewegte sich synchron mit ihm, Rücken an Rücken, ein hundertfach geübtes Manöver, und feuerte ebenfalls. Lana war direkt hinter ihnen, trat vor und seitwärts, um Savages Schusslinie freizumachen. Sie feuerte dreimal auf den Vorhang. Savage drückte in aller Ruhe ab, und vier Leichen sanken fast gleichzeitig zu Boden.

Savage schloss die Tür hinter sich und schlenderte dann auf die sechs Männer zu. »Gentlemen«, begrüßte er sie leise.

Es war kein Kind in dem Raum. Bitters versuchte hastig, an den Computerbildschirm zu gelangen, auf dem ein kleiner Junge in einem Hundekäfig zu sehen war, der sich eine Decke vor die Brust hielt. Noch einmal wurden vier Schüsse hörbar, und Jarvis, Kent, Bernard und Churchill plumpsten geräuschvoll auf den Boden.

Torpedo Ink benutzte Schalldämpfer, die jedoch nur den Knall leiser machten. Wenn jemand in der Nähe war, konnte er die Schüsse dennoch mitbekommen. Bitters blickte hoffend auf den Ausgang direkt hinter ihm. George Durango schob sich zu ihm hin.

»Ich habe Geld. Wer immer euch bezahlt, ich kann es verdoppeln«, sagte Durango.

Ice schoss ihm ins Herz und zusätzlich noch zwischen die Augen. Durango fiel auf Bitters, der den sinkenden Körper reflexartig auffing und dann mit einem kleinen Angstschrei fallen ließ.

Ice und Storm gingen an Bitters vorbei an den Bildschirm. »Wo ist er?«, fuhr Ice ihn an, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen. »Wenn du’s mir nicht gleich beim ersten Mal sagst, dann wird dieser Mann, der hier vor dir steht, dich Stück für Stück auseinandernehmen. Niemand wird dir zu Hilfe eilen. Wir haben den hinteren Ausgang besetzt. Und die Gasse auch. Und die Rezeption. Die Kameras sind außer Betrieb. Wo ist der Junge, Bitters?«

Storm bearbeitete den Computer, bis Code für ihn übernehmen konnte. Es würde nicht lange dauern, den Jungen nötigenfalls auf eigene Faust zu finden. »Code ist drin«, sagte er.

Bitters blickte auf die herumliegenden Leichen, als könne er nicht glauben, was sich ereignet hatte. Er stand eindeutig unter Schock. Neun Menschen in diesem Raum zu töten, hatte weniger als eine Minute gedauert. Er trat zwei Schritte zurück und hielt die Hände hoch. »Wenn ihr ihn wollt, dann bringe ich euch selbstverständlich zu ihm.«

»Wir haben ein Team, das ihn mitnimmt. Du wirst uns jetzt sagen, wo er ist«, wiederholte Ice.

Savage hatte die Pistole weggesteckt und zog nun ein furchterregendes Messer heraus. Die Klinge blitzte im Licht der Deckenleuchten, sodass Bitters halb geblendet wurde. Savages Miene war ausdruckslos, sein Blick leer. Kalt. Tot. Es war völlig klar, dass er tun konnte, was Ice angedroht hatte.

Bitters schaute zu Lana. Sie war eine Schönheit, sie hatte Eleganz und Klasse. »Bitte, ich weiß nicht, was hier vor sich geht.« Er trat noch einen Schritt zurück.

»Schau über deine Schulter«, schlug Ice vor.

Bitters drehte sich um, und sein Gesicht erstarrte vor Angst. Reaper, Savages älterer Bruder, füllte den Türrahmen aus und sah drein wie Gevatter Tod persönlich. Bitters glotzte mit vor Furcht verzerrter Miene von einem zum anderen. Man konnte nicht sagen, welcher von ihnen mehr Angst machte.

»Im Keller, aber ihr kommt niemals ohne mich an seinen Käfig. Da ist eine Vorrichtung –«

Ice blickte abrupt auf. »Ihr habt etwas an den Käfig drangemacht? So was wie ’ne Bombe? Ihr habt eine gottverdammte Bombe an den Käfig eines sechsjährigen Jungen gemacht, den ihr zwei Jahre lang gequält habt und jetzt verkaufen wollt, weil er euch zu alt geworden ist? Ihr habt ’ne Bombe an diesen Käfig gemacht?« Er trat näher. Er konnte diese Bestie mit bloßen Händen töten.

»Sie verstehen das nicht«, sagte Bitters. Er richtete sich auf, setzte seine Repräsentantenmiene auf wie für die Kameras und um andere zu überzeugen. »Dieser Junge, diese Kinder, das sind sexuelle Wesen. Sie wollen Liebe. Sie wollen, was wir ihnen geben. Sie müssen das offener sehen. Ich wurde dazu geboren, Kinder zu lieben. Sie zu lehren.« Er verteidigte sich genauso wie all die anderen Pädophilen im Internet. Vielleicht hatte er es sich so oft vorgesagt, dass er nun selbst daran glaubte.

Ice versetzte ihm einen harten Schlag. Er trug dünne Handschuhe, wie auch seine Brüder und Lana. Darunter hatten sie Fingerabdrücke, die jedoch nicht die ihren waren. Als Bitters wie ein gefällter Baum zu Boden ging, rammte er ihm ein Knie in die Brust. Dann drosch er ein Dutzend Mal auf ihn ein, schlug ihm Zähne aus und demolierte seine Nase, brach ihm einen Wangenknochen.

»Ice verliert die Beherrschung, Zar, und das aus gutem Grund«, berichtete Storm.

»Ice«, sagte der Zar ihm leise ins Ohr. »Wir brauchen Infos. Halt dich noch eine Minute zurück.«

Lana legte eine Hand auf Ices Schulter. »Zieh ihn hoch, Bruder«, sagte sie sanft. »Besudle dich nicht mit seinem Blut.«

Ice blickte sie über die Schulter an und atmete tief, um die Bestie zu beruhigen, die nach mehr Blut verlangte. Mehr Tod. Widerstrebend stand er auf und zog Bitters mit hoch.

Bitters wischte sich das Blut ab, doch es floss weiter.

»Wir sind bei vier Minuten, und die Uhr läuft«, berichtete Storm. »Also, vorwärts.«

»Hast du das gehört, Alena? Bombe am Käfig. Prüf das nach. Code sagt, der Junge ist im Keller«, gab Savage durch und trat einen Schritt auf Bitters zu.

Der stieß erneut einen Schrei aus und hielt die Hände hoch, um sich zu ergeben. »Ihr bekommt den Jungen. Ich kann euch den Code zum Öffnen des Käfigs geben. Ihr könnt ihn haben. Ich brauche kein Geld für ihn.« Er murmelte die Worte und spuckte Blut.

Savage traf ihn hart. So hart, dass Bitters nach hinten und auf seine linke Seite taumelte. Stolperte. Fast zu Boden ging. Blut ergoss sich über das Parkett.

»Das könnt ihr nicht machen«, sagte Bitters und umfasste mit beiden Händen sein Gesicht. »Ihr müsst mich festnehmen.«

Ice blickte sich im Zimmer um, schaute auf die Leichen. »Sieht das für dich aus wie ein Polizeieinsatz? Wir wollen wissen, wer der Mann ist, der dir den Jungen verkauft hat. Er hat die Familie des Kleinen umgebracht und ihn fast aus dem Gitterbettchen geholt, um ohne jegliche Folgen für sich selbst an ihn heranzukommen. Diese Methode, die Familien zu ermorden und die Kinder zu rauben, hat er zum Erfolgsmodell für sich entwickelt. Er ist ein Lieferant. Und das macht er für so kranke Arschlöcher wie dich. Wer ist er?«

Bitters blickte zur Kamera hinauf und schüttelte dann den Kopf. »Ich kenne ihn nicht.«

»Dann bist du wirklich nutzlos für uns, aber wir müssen auf Nummer sicher gehen.« Ice warf Savage einen raschen Blick zu. »Transporter lässt den Truck warten, und die Demons haben hier eine kleine Ortsgruppe. Sie sind bislang unbemerkt und haben uns für ein paar Stunden ihre Werkstatt geliehen.«

»Ich hole die Info, die wir brauchen, aus einem von ihnen heraus«, versicherte Savage. »Ice, du machst mit. Wir beide zusammen bringen jeden zum Reden.«

»Wartet, wartet.« Wieder hielt Bitters die Hände hoch, als könne er die beiden so abwehren.

Lana trat vor ihn, und Bitters griff nach ihr. Sie verdrehte ihm das Handgelenk, und er schlug flach auf den Boden auf. Sie hielt ihn weiter fest und bohrte einen Fuß in seine Kehle. Fing die Spritze auf, die Savage ihr zuwarf, und rammte die Nadel in Bitters’ Hals. Er verdrehte die Augen.

»Jetzt brauche ich noch mal eine Dusche«, meinte Lana und ließ Bitters’ leblosen Arm fallen. »Er ist ekelhaft.«

Savage zog den Mann in die Höhe und warf ihn sich über die Schulter. »Lasst den Computer da und alle Beweise, die Code über diese Männer gesammelt hat. Alles. Er hat jede Menge Kopien. Er hat mehrere Nachrichtensender ausgesucht, denen er das Material zuspielen kann. Verbrennt eure Klamotten. Alles. Lana, du wirst dich von diesen Schuhen trennen müssen. Es ist Blut an ihnen. Benutzt die Routen, die euch gegeben wurden.«

»Verflucht, Ice« – sie funkelte ihn an – »ich liebe diese Schuhe.«

»Tut mir leid, Süße, ich kauf dir ein Paar neue«, erwiderte Ice und legte einen Arm um sie. »Wirklich. Er hat mich einfach sauer gemacht. Ich musste dieses Arschloch fertigmachen, deshalb ist es gut, dass du mit Storm hier warst und ihr mich zurückgehalten habt.«

»Verstehe«, sagte sie. »Ich hatte auch den Impuls, ihn zu töten, aber wir müssen den finden, der Familien umbringt und die Kinder mitnimmt.«

»Lasst alle Beweise verschwinden«, befahl der Zar unnötigerweise über den Funk.

»Paket ist in unserem Gewahrsam«, meldete Alena. »Das arme Baby macht sich vor Angst in die Hosen.«

»Sediert ihn für den Transport, falls nötig. Wir kümmern uns um ihn«, sagte der Zar. »Ihr müsst alle sauber dort herauskommen.«

2. Kapitel

Durch den Haupteingang war Soleil Brodeur tatsächlich noch nie ins Hotel gelangt. Sie benutzte einen privaten Eingang, bei dem stets eine Concierge da war, um ihr alles zu besorgen, was sie haben wollte, oder sie, wo immer sie auch hinwollte, zu begleiten. Es gab sogar einen Wagen, mit dem sie chauffiert wurde. Sie hatte allerdings bloß wie eine ganz normale Touristin am Strip herumlaufen und einfach nur den Tag genießen wollen. War das zu viel verlangt? Musste sie immer korrekt gekleidet sein, und durfte sie immer nur mit den Leuten reden, mit denen zu sprechen Winston ihr auftrug? Sie sollte sich doch amüsieren. Tun, was immer Winstons Anordnung gemäß Spaß war.

Sie tupfte sich die Tränen von der Wange, blieb stehen und blickte sich um. Überall waren Leute. Sie hatte den privaten Eingang nicht benutzt, weil sie nicht wollte, dass die Concierge sie weinen sah wie ein Baby, denn damit würde sie sich absolut lächerlich machen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen und welchen Lift sie nehmen sollte und nicht einmal, ob sie vom Hauptfoyer aus einen zu ihrem Zimmer nehmen konnte. Sie hatte die Welt bereist, war in Hunderten Hotels abgestiegen, fand aber keinen Lift? Was war sie nur für eine Idiotin.

Niemand konnte einen anderen Menschen zwingen zu heiraten. Das war einfach lächerlich. Sie hatte sich dieses ganze Schlamassel selbst zuzuschreiben. Niemand sonst war daran schuld. Aber auch wenn sie alles von anderen für sich tun ließ – wenn sie Mist baute, dann stand sie immer dafür ein. Und dies war mit Abstand der schlimmste.

Hinter einem Nebenraum mit herrlichen Pflanzen entdeckte sie eine Damentoilette. Sie eilte über den glänzenden Marmorflur und ging hinein, während ein Bediensteter in Hoteluniform ihr die Tür aufhielt. Sie fragte sich, wie viele Leute es wohl nicht fertigbrachten, eine Tür zu öffnen. Wahrscheinlich nur sie. Ein neuerlicher Schwall Tränen sorgte dafür, dass ihr Make-up endgültig zum Fiasko wurde.

Wie alles in diesem Hotel war auch diese Toilette Luxus pur. Die Tür öffnete sich zu einer Art Wohnzimmer-Lobby mit gedämpfter Musik, komfortablen, aber eleganten Sesseln und einem Sofa, auf dem frau entspannen konnte, wenn sie ein paar Minuten für sich sein wollte. Ein feiner Duft durchzog den Raum, und große, graziöse Pflanzen in unterschiedlichen Grüntönen unterstrichen das friedvolle Ambiente. Sobald sich die Tür schloss, war von draußen, von der Lobby, kein Laut mehr zu hören.

Inmitten des Grünzeugs stand eine hochgewachsene Frau mit dunklen Haaren und zog sich ein dunkles Tanktop über ihren roten Spitzen-BH. Sie war umwerfend schön. Das Gesicht makellos, mit dunklen Augen und einem einladenden Mund. Hätte Soleil nicht geweint, sie wäre stehen geblieben und hätte die Frau angestarrt. Doch sie konnte hier nicht bleiben, nicht, wenn sich die hinreißendste Frau der Welt offenbar gerade ganz lässig aus einem supersexy Gesellschaftskleid – nicht einem Sommerkleid des Mädchens von nebenan – schälte.

An einer weiteren aufmerksamen Hotelbediensteten vorbei ging Soleil zum Waschbecken. Sie musste sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Sie musste aufhören zu heulen, aber sie schien zu nichts anderem imstande zu sein, als sich im Spiegel anzustarren und festzustellen, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie sah absolut nicht aus wie die schöne Frau mit ihren Goldohrringen, dem makellosen Körper und ebensolchen Zügen. Die sah wahrscheinlich auch noch irre aus, wenn sie weinte, nicht fleckig und ganz rot im Gesicht.

Auf ihrer linken Wange zeichnete sich ein leichter Bluterguss ab, weil ihr Verlobter sie geschlagen hatte, da sie auf einem Ehevertrag bestanden hatte. Auch an den Oberarmen hatte sie blaue Flecke, da, wo er sie gepackt und durchgeschüttelt hatte, um sie mit Drohungen dazu zu bringen, der Heirat zuzustimmen.

Sie hatte immer diese lächerliche Vorstellung gehabt, mit einem Mann zusammen zu sein, der sie ein bisschen hart anfasste, doch Schläge gehörten dazu absolut nicht. Mit ihren früheren Männern hatte sie nie dieses Kribbeln gespürt. Diesen Funken. Winston war ihr bisher auch nicht grob vorgekommen. Er hatte sanfte Hände. Trug immer einen Anzug, und seine Schuhe waren stets blank geputzt. Er war in den Wochen, seit sie ihn kannte, immer tadellos schick gewesen. Sie erkannte, dass diese Beziehung überhaupt nicht das war, wovon sie immer geträumt hatte. Noch nie hatte jemand sie so angefasst wie er.

Wie auch immer, einfach nach Vegas mitzukommen, das war albern gewesen. Sie hatte widerstrebend zugesagt, obwohl sie im Hinterkopf schon befürchtet hatte, dass Winston Trent versuchen würde, sie zu heiraten. Bevor sie hierherkamen, hatten sie darüber mehrmals gestritten. Er wollte sie schnell heiraten, um sich »um sie kümmern« zu können. Aber sie brauchte Raum zum Atmen. Das hatte sie ihm gesagt, doch er wollte ihr nicht zuhören.

Dann hatte Winston die Taktik geändert und gesagt, sie müssten ja nicht unbedingt gleich heiraten, aber sie müsse doch ein wenig Spaß haben. Er hatte die ganze Reise geplant und sie damit »überrascht«. Sie hätte sich weigern sollen mitzukommen. Das wäre eine erwachsene, eine intelligente Reaktion gewesen. Aber sie hatte getan, was sie immer tat. Sie hatte es geschehen lassen. Sie hatte sich von ihm dazu überreden lassen, weil sie keine Kämpferin war. Das war sie noch nie gewesen. Sie liebte Frieden. Sie mochte es, Frieden zu schaffen.

Ihr langjähriger Anwalt und Vormund, Kevin Bennet, war einen Monat zuvor unerwartet bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er hatte sich immer um ihre Angelegenheiten gekümmert, hatte ihren Treuhandfonds gemanagt und war mehr wie ein Vater für sie gewesen – auch wenn sie nicht wirklich wusste, wie ein Vater eigentlich sein sollte. Sie trauerte. Das hatte sie Winston wiederholt gesagt, doch seine Antwort war gewesen, sie sollten heiraten, und dann werde er sich um alles kümmern. Er hatte umgehend einen neuen Anwalt angeheuert, doch mit diesem Mann, einem gewissen Donald Monroe, fühlte sie sich nicht wohl und war nicht bereit, ihm ihre Finanzen anzuvertrauen. Daraufhin hatte Winston jedoch wieder nur insistiert, dass sie heiraten sollten, und er werde sich mit dem Anwalt befassen.

Kopfschüttelnd berührte sie die Blutergüsse an ihrem Arm. Sie wusste, dass sie an ihrem Tiefpunkt angelangt war. Sie hatte den einzigen Mann verloren, mit dem sie über alles und jedes hatte reden können. Nun war irgendwie alles durcheinander, und sie wusste absolut nicht, was sie als Nächstes tun sollte.

»Süße, er ist es einfach nicht wert. Auch wenn er noch so viel Geld hat, auch wenn er dir den dicksten Ring an den Finger steckt – wenn er Hand an dich legt, dann solltest du, so schnell du kannst, in die entgegengesetzte Richtung laufen.«

Soleil hob den Blick in den Spiegel und erkannte die Frau neben ihr. Es war die, die sich im »Wohnzimmer« umgezogen hatte. Sie sah sie an und senkte den Blick dann auf ihren Ring. »Du hast ja so recht«, murmelte sie, zog ihn von ihrem Finger und steckte ihn in die Tasche ihres Kleids. »Danke für den Rat.«

Aus der Nähe wirkte die Fremde noch umwerfender. Sie war wirklich wunderschön. Soleil musste sich zusammennehmen, um sie nicht anzustarren. Die Frau wusch sich die Hände, und Soleil konnte nicht umhin, heimlich zu schauen, ob sie einen Ring trug. Sie hatte keinen. Sie war nicht ganz so groß, wie Soleil zuerst geglaubt hatte, wirkte aber so, weil sie trotz ihrer Kurven sehr schlank war. Sie trug eine hautenge Jeans, Motorradstiefel und eine Lederweste über einem dunklen T-Shirt. Und hatte sich in knapp drei Minuten von einer bezaubernden Frau zu einem heißen Biker-Babe verwandelt. Wer schaffte so etwas?

»Alles klar, Süße? Ich könnte dir ein Zimmer besorgen, falls du für die Nacht eines brauchst.« Sogar ihre Stimme war sexy.

Eine völlig fremde Frau in der Damentoilette eines Hotels war netter zu ihr als ihr Verlobter, der Mann, der geschworen hatte, sie zu lieben. »Danke schön, das ist wirklich total nett, aber ich habe ein Zimmer. Ich packe und verschwinde dann schnell von hier.« Das Problem war, sie würde Winston gegenübertreten müssen. Sie hatten das Zimmer gemeinsam.

»Gut für dich«, meinte die Frau anerkennend.

»Hast du all die Sirenen gehört?«, fragte Soleil in dem Versuch, das Thema zu wechseln, um nicht so erbärmlich zu wirken. »Das hörte sich an, als würde der ganze Polizeiapparat ausrücken.«

Die Frau nickte. »Um die Ecke und ein paar Straßen weiter. Ich habe gehört, da gab es eine Schießerei in einem Massagesalon. Jemand sagte, alle, die drin waren, seien ermordet worden.«

»Was haben die Leute bloß alle heutzutage?«, fragte Soleil.

Die Frau zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hat jemand nicht bezahlt oder so.« Sie griff nach einer kleinen Einkaufstasche, ging los, machte dann jedoch wieder kehrt. »Hast du ein Handy?«

Soleil nickte.

»Ich bin Lana.«

»Soleil.«

»Bist du allein hier?«

»Mit ihm.« Sie hielt einen lädierten Arm hoch.

»Wo ist deine Familie? Vielleicht solltest du sie anrufen.«

Soleil blickte zu Boden, der wie alles hier makellos sauber war. Sie atmete tief ein und war absolut nicht überrascht festzustellen, dass selbst die Toilette gut roch. Der Zitrusduft aus dem Wohnzimmer hatte sich bis hierher ausgebreitet.

»Ich habe keine Familie«, gab sie leise zu.

»Freunde in der Gegend?« Lana trat näher zu ihr, sie klang besorgt. Blickte Soleil betroffen an.

Soleil kämpfte, um angesichts so offenkundiger Sympathie nicht in Tränen auszubrechen. Winston hatte es geschafft, die wenigen Freunde, die sie gehabt hatte, zu vergraulen. Sie schüttelte den Kopf.

»Manchmal werden die Dinge hässlich. Wenn du irgendwie Probleme bekommst, du kannst mich anrufen. Ich habe Freunde. Sie holen dich aus jeder schwierigen Lage heraus.« Lana schnippte mit den Fingern und streckte die Hand aus. »Gib mir dein Handy.«

Soleil konnte absolut nicht begreifen, warum in aller Welt sie einem wildfremden Menschen erlaubte, ihr Handy zu benutzen, doch sie ließ es zu. Sie holte es aus ihrer Tasche, tippte den Code ein und reichte es Lana.

»Ich meine, was ich sage. Er hat bereits bewiesen, dass er mit dir macht, was er will. Also, falls du die Beziehung beendest, dann nur, wenn du nicht mit ihm allein bist. Hab dein Handy griffbereit und ruf die Bullen an. Und wenn das nicht geht, dann rufst du mich an, verstanden?« Lana drehte sich um und zeigte auf ihre Weste, während sie ihre Nummer in Soleils Handy eingab. »Die Nummer steht unter Lana. Denk daran.«

Auf dem Rücken ihrer Weste prangte ein sehr cooler Baum mit Raben im Geäst und Totenschädeln zwischen den Wurzeln. Über dem Baum stand in einem gebogenen Schriftzug »Torpedo Ink«, darunter »Sea Haven-Caspar«. Soleil hatte von Sea Haven gehört, aber nicht von Sea Haven-Caspar, und sie hatte keine Ahnung, wo das war oder was Torpedo Ink war, wenn nicht irgendein Club; aber es war unglaublich cool, und dies war das erste Mal, dass sie mit einer Frau sprach, die Motorrad fuhr.

»Wir sind in Vegas, um die Hochzeit eines Bruders zu feiern, aber du rufst mich an, verstanden? Wenn er noch einmal Hand an dich legt oder irgendetwas tut, was dir Angst macht, sperr dich in ein Zimmer ein und ruf an.« Sie gab Soleil das Handy zurück. »Dann kommt jemand, um dir zu helfen, das verspreche ich dir.«

»Danke.« Soleil umklammerte ihr Handy, als sei es ein Rettungsanker. Vielleicht war es das auch. Zumindest war dies das erste Mal, seit Kevin gestorben war, dass jemand etwas wirklich Nettes für sie getan hatte.

Lana winkte ihr freundlich zu und verließ den Raum.

Soleil blickte lange hinter ihr her. Sie wollte auch so sein. Klug. Weltgewandt. Unabhängig. Sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie seufzte. Wen hielt sie da gerade zum Narren? Ohne ihren Anwalt hatte sie Angst. Dennoch war sie entschlossen, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Ihr war klar, dass sie sich mit ihrer Gleichgültigkeit selbst in diese Situation gebracht hatte.

Sie wusch sich zum dritten Mal die Hände und atmete tief durch. Seit dem Tod ihres Anwalts war sie vor Gram wie gelähmt gewesen. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, deshalb war sie mit erst vier Jahren zu ihrer Tante Deborah gekommen. Doch als Soleil acht war, starb auch Deborah.

Daraufhin kam sie bei ihrer Tante Constance unter. Das ging, bis sie zehn war, hauptsächlich deshalb, weil Constance glaubte, sie würde an Soleils Treuhandfonds herankommen, doch das wusste Kevin zu verhindern. Er bewilligte Constance lediglich so viel, wie es sie kostete, Soleil bei sich zu haben. Darüber ärgerte sich die Tante so sehr, dass sie Soleil bei jeder Gelegenheit spüren ließ, wie unfair sie dies fand und welche Umstände es ihr machte, sich um so einen Balg kümmern zu müssen.

Von da an wurde Soleil in eine Reihe von Internaten gesteckt. Sie studierte im Ausland. Sie lebte in verschiedenen Hotels, weil sie, wenn sie nicht in der Schule war, nirgendwo sonst hinkonnte. Die einzige Konstante in ihrem Leben war ihr Anwalt, dem sie schließlich in allem vertraute, obwohl sie ihn eigentlich kaum jemals sah. Meistens telefonierten sie oder schickten sich E-Mails oder SMS. Es spielte keine Rolle, dass sie ihn nie zu Gesicht bekam, er war trotzdem immer für sie da.

Sie konnte ihm jederzeit eine SMS schicken, und er antwortete ihr. Beriet sie. Er kümmerte sich um ihren Treuhandfonds und erlaubte ihr, auf die Kunstschule zu gehen. Sie besuchte all die wunderbaren Kunstsammlungen der Welt und malte in Frankreich, Italien und Griechenland. Wenn sie in irgendwelche Schwierigkeiten geriet, holte er sie heraus.

Winston Trent lernte sie in London bei Sotheby’s kennen. Sie unterhielten sich eine ganze Weile. Er war freundlich und kannte sich mit Kunst aus. Wie Soleil lebte er in San Francisco und war auf dem Weg zurück in die Staaten. Zufällig saßen sie im gleichen Flieger nebeneinander, redeten und lachten viel zusammen. Jahrelang hatte sie nicht so viel geredet und gelacht. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, einen Freund zu haben.

Sie trafen sich, gingen zusammen essen, ins Kino und zu Wohltätigkeitsveranstaltungen. Darauf bestand Winston. Früher war sie immer allein ausgegangen und hatte sich dabei meist deplatziert gefühlt. Sie war so glücklich, nun mit jemandem zusammen zu sein, nachdem sie immer so einsam gewesen war. Sie sehnte sich so verzweifelt nach einer Beziehung, dass sie, obwohl er oft Dinge tat und sagte, bei denen sie rotsah, dies einfach ignorierte und sich nur noch mehr bemühte, ihm zu gefallen. Rückblickend erkannte sie, wie er sie dauernd gedrängt hatte, sogar dann, wenn sie gemeint hatte, dass ihr alles viel zu schnell gehe, doch er hatte ihr nie zugehört. Sie begann, nachts mit Kevin Bennet zu reden. Ihr Anwalt war nicht glücklich darüber, dass Winston ihr so schnell einen Ring an den Finger stecken wollte.

Sie hatte mit ihrem Mann immer wild und impulsiv sein wollen. Tatsächlich träumte sie auch oft davon, doch Winston inspirierte sie zu nichts dergleichen. Da sie ihn in Europa kennengelernt hatte, hatte sie ihn zunächst für eine Art Abenteurer gehalten, doch das war er nicht. Nicht im Mindesten. Er sagte ihr, er sei Geschäftsmann und erwarte von ihr ein entsprechendes Auftreten und dass sie sich auch dementsprechend kleide. Er gab ihr sogar eine Liste von Personen und bestand darauf, sie müsse diese Leute »kennenlernen« und »sich zu Freunden machen«. Auf ihr Nachfragen hin erklärte er, er wolle sicherstellen, dass sie sich in den richtigen Kreisen bewege, und sie müsse einfach nur ihm »die Führung überlassen«.

Noch einmal betrachtete sich Soleil im Spiegel. Sie wünschte sich, so sein zu können wie Lana. Groß. Hinreißend. Völlig selbstbeherrscht. Lana trug ihre Jeans und die Weste wie eine Königin. Niemand würde es wagen, Hand an sie zu legen, wenn sie es nicht wollte. Soleil steckte ihr Handy in die kleine Tasche ihres Kleides, hielt die Hand darauf und hielt sich so für eine Sekunde fest an der Fremden, die so nett zu ihr gewesen war.

Sie hatte versucht, Winston dazu zu verführen, wenigstens im Bett etwas fantasievoller zu werden. Ihn zu etwas mehr zu bringen, als sich auf sie drauf- und wieder herunterzurollen, während sie dalag und an die Decke starrte und sich fragte, ob das alles war, was sie von einer Beziehung erwarten konnte. Woher sollte sie es auch wissen? Sie hatte nie eine echte Beziehung gehabt. Ihre Tanten waren beide unverheiratet gewesen, und mit Kevin hatte sie meistens nur per Handy kommuniziert.

Sie straffte die Schultern und stellte sich vor, Lana zu sein. Lana tolerierte keinen Mann, der sie nicht zufriedenstellte oder ihr nicht zuhörte. Sie würde sich auch nie von einem Mann durch Drohungen zu einer Ehe überreden lassen. Sie würde ihm sagen, dass es aus sei. Und genau das wollte auch Soleil tun.