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Barack-Obama-Nummer-1-Lieblingsbuch des Jahres • Publishers-Weekly-Nummer-1-Buch des Jahres • Amazon-Nummer-1-Buch-des-Jahres • New-York-Times-Bestseller
Pottstown, Pennsylvania, 1972: Beim Ausheben der Fundamente für ein neues Baugebiet stoßen die Arbeiter am Grund eines Brunnens auf ein Skelett. Wem es gehörte und wie es dorthin kam, kann nur wissen, wer in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Chicken Hill gelebt hat, einem heruntergekommenen Viertel, in dem eingewanderte Juden und Afroamerikaner das Glück teilten ebenso wie die Sorgen. Es war auch das Viertel von Moshe und Chona Ludlow, die dort ein Theater und ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Bis eines Tages ein tauber Waisenjunge auftauchte, den die staatlichen Behörden in eine Anstalt einweisen wollten. Und seine letzte Hoffnung ruhte auf Moshe und Chona und der Gemeinde von Chicken Hill ...
James McBride taucht tief hinab in die Geschichte dieses Viertels und seiner Figuren, in den alltäglichen Kampf am Rande der Gesellschaft, und erzählt durch die Augen der gerade erst Eingewanderten von einem sich rasend schnell verändernden Amerika, das gerade erst dabei war zu werden, was es heute ist. Bis am Ende schließlich die Wahrheit über die Geschehnisse auf dem Chicken Hill ans Licht kommt - und sich einmal mehr zeigt, dass nur die Liebe und die Gemeinschaft - Himmel und Erde - in dunklen Zeiten Halt geben können.
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Seitenzahl: 553
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Pottstown, Pennsylvania, 1972: Beim Ausheben der Fundamente für ein neues Baugebiet stoßen die Arbeiter am Grund eines Brunnens auf ein Skelett. Wem es gehörte und wie es dorthin kam, kann nur wissen, wer in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Chicken Hill gelebt hat, einem heruntergekommenen Viertel, in dem eingewanderte Juden und Afroamerikaner das Glück teilten ebenso wie die Sorgen. Es war auch das Viertel von Moshe und Chona Ludlow, die dort ein Theater und ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Bis eines Tages ein tauber Waisenjunge auftauchte, den die staatlichen Behörden in eine Anstalt einweisen wollten. Und seine letzte Hoffnung ruhte auf Moshe und Chona und der Gemeinde von Chicken Hill.
James McBride taucht tief hinab in die Geschichte dieses Viertels und seiner Figuren, in den alltäglichen Kampf am Rande der Gesellschaft, und erzählt durch die Augen der gerade erst Eingewanderten von einem sich rasend schnell verändernden Amerika, das gerade erst dabei war zu werden, was es heute ist. Bis am Ende schließlich die Wahrheit über die Geschehnisse auf dem Chicken Hill ans Licht kommt, und sich einmal mehr zeigt, dass nur die Liebe und die Gemeinschaft – Himmel und Erde – in dunklen Zeiten Halt geben können.
JAMESMCBRIDE – Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist – wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman »Die Farbe von Wasser«. Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt »Das Wunder von St. Anna« wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für »Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford« erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.
JAMES MCBRIDE
Roman
Aus dem amerikanischen Englischvon Werner Löcher-Lawrence
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Heaven & Earth Grocery Store« bei Riverhead Books, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen
Deutsche Erstausgabe Oktober 2024
Copyright der Originalausgabe © 2023 by James McBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Straße 28, 81673 München
This edition published by arrangement with Riverhead Books, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Illustration von Penguin Random House USA
Autorenfoto: © 2023 Chia Messina
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
MK · Herstellung: KH
ISBN 978-3-641-31893-2V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/penguinbuecher
Für Sy Friend, der uns alledie Bedeutung von Tikkun Olam gelehrt hat
INHALT
TEIL I WEG
1 DER ORKAN
2 EIN SCHLECHTES ZEICHEN
3 ZWÖLF
4 DODO
5 DER FREMDE
6 CHALLA
7 EIN NEUES PROBLEM
8 PAPER
9 DAS ROTKEHLCHEN UND DER SPATZ
10 DER SKRUP-SCHUH
11 WEG
TEIL II GEKRIEGT
12 MONKEY PANTS
13 COWBOY
14 ZWEIERLEI GEWICHT UND ZWEIERLEI MASS
15 DER WURM
16 DER BESUCH
17 DER OCHSENFROSCH
18 DER HOTDOG
TEIL III DIE LETZTE LIEBE
19 DIE LOWGODS
20 DAS ANTES-HAUS
21 DIE MURMEL
22 OHNE EIN LIED
23 BERNICES BIBEL
24 DER ENTENJUNGE
25 DER DEAL
26 DER JOB
27 DER FINGER
28 DIE LETZTE LIEBE
29 AUF DIE ZUKUNFT WARTEN
EPILOG DER RUF
DANK
EDITORISCHE NOTIZ
Es gab da einen alten Juden, der bei der alten Synagoge oben auf dem Chicken Hill in Pottstown, PA, wohnte, und als die Pennsylvania State Troopers unten in einem alten Brunnen bei der Hayes Street ein Skelett fanden, gingen sie als Erstes zu ihm. Das war im Juni 1972, einen Tag, nachdem ein Bauträger die Häuser an der Hayes Street hatte einreißen lassen, um Platz für neue Reihenhäuser zu schaffen.
»Wir haben auch eine Gürtelschnalle und einen Anhänger im Brunnen gefunden«, sagten die Polizisten, »und ein paar Stofffetzen von einem roten Anzug oder einer Jacke, wie das Labor meint.«
Sie holten den Anhänger hervor, gaben ihn ihm und fragten, um was es sich dabei handelte.
»Das ist eine Mesusa«, sagte der alte Mann.
»Sieht aus wie das Ding da an Ihrer Tür«, sagten die Cops. »Gehört so was nicht an eine Tür?«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Jüdisches Leben ist wandelbar«, sagte er.
»Die Inschrift hinten drauf lautet: ›Zuhause des größten Tänzers dieser Welt.‹ Auf Hebräisch. Sprechen Sie Hebräisch?«
»Sehe ich aus, als spräche ich Suaheli?«
»Beantworten Sie unsere Frage. Sprechen Sie Hebräisch oder nicht?«
»Manchmal kommt es mir in den Kopf.«
»Und Sie sind Malachi, der Tänzer, richtig? So heißt es hier. Man sagt, Sie sind ein großer Tänzer.«
»War ich mal. Ich habe es vor vierzig Jahren aufgegeben.«
»Was ist mit der Mesusa? Sie passt zu der an Ihrer Tür. War das nicht mal ein jüdischer Tempel?«
»So ist es.«
»Wem gehört er jetzt?«
»Wem gehört hier irgendwas?«, fragte der alte Mann. Er nickte zu der riesigen im Licht schimmernden Privatschule hinüber, die man durchs Fenster sehen konnte. Der Tucker School. Stolz erhob sie sichhinter einem schmiedeeisernen Tor auf der Anhöhe mit gepflegten Rasenflächen, Tennisplätzen und glänzenden Unterrichtsgebäuden, eine monströse Bastion anmaßender Eleganz, die wie ein Phönix über dem maroden Viertel Chicken Hill erstrahlte.
»Seit dreißig Jahren versuchen die, mich hier rauszukaufen«, sagte der alte Mann.
Er grinste die Cops an, hatte aber praktisch keine Zähne mehr, nur noch einer hing ihm wie etwas Butter am oberen Zahnfleisch, was ihn wie ein Erdferkel aussehen ließ.
»Sie sind tatverdächtig«, sagten die Polizisten.
»Verdächtig, verhächtig«, sagte der Alte mit einem Schulterzucken. Er war weit jenseits der achtzig, trug eine alte graue Weste, ein zerknautschtes weißes Hemd mit einer Reihe alter Kugelschreiber vorne in der Tasche, einen knittrigen Tallit um die Schultern und eine ähnlich zerknitterte Hose, doch als er in die Tasche dieser Hose griff, taten seine knotigen Hände das mit einer Gewandtheit und Schnelligkeit, dass die State Troopers, die meistens damit beschäftigt waren, Traktoren mit Anhängern von der nahen Interstate 76 zu holen und bei Verkehrsstaus hübsche Hausfrauen mit ihren rot blinkenden Bubble-Gum-Lichtern und strengen Vorträgen zur öffentlichen Sicherheit zu beeindrucken, erschreckt zurückwichen und die Hände an ihre Waffen legten. Aber der alte Mann holte nur noch mehr alte Kulis hervor. Einen bot er den Cops an.
»Nein, danke«, sagten die.
Sie liefen noch etwas herum und verschwanden dann mit dem Versprechen zurückzukommen, wenn sie das Skelett aus dem Brunnen geborgen und den möglichen Tatort etwas genauer untersucht hätten. Dazu kam es jedoch nicht, da Gott am nächsten Tag die Hände um den Chicken Hill legte und das letzte bisschen Gerechtigkeit aus dem armseligen Ort quetschte. Orkan Agnes kam daher und legte vier Countys lahm. Der nahe Schuylkill River stieg auf eine Höhe von zwei Meter zehn. Wie die alten schwarzen Frauen vom Chicken Hill erzählten, sprangen die Weißen unten in Pottstown von ihren Dächern, als wäre es die Titanic. All die schicken Häuser wurden weggefegt wie Staub. Der Sturm tötete alles, was er berührte. Ertränkte jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, das in ihn geriet, zerstörte Brücken, Fabriken und Farmen und verursachte Millionenschäden – Millionen über Millionen, wie die Weißen sagen. Millionen über Millionen. Nun, für uns Schwarze auf dem Chicken Hill war es nicht mehr als ein weiterer Tag, an dem wir uns vorm Übel des weißen Mannes wegduckten. Was den alten Juden und seinesgleichen auf dem Hügel anging, die bekamen all die Zeit zurück, die ihnen gestohlen worden war. Und die Jüdin, der sie unrecht getan hatten, Miss Chona, auch sie erfuhr Gerechtigkeit, denn der König der Könige belohnte sie für alles Gute, das sie getan hatte, erhob sie und erfüllte ihre Träume von einem Moment auf den anderen, wie nur Er es kann. Der schlimme Narr, der sich Menschensohn nannte, er ist lange fort aus diesem Land. Und der Junge, Dodo, der Taube, er überlebte. Wegen ihm haben sie das Camp oben in Montgomery County errichtet, die Juden. Theaterbesitzer waren sie, Gott segne sie. Und die Cops und die Wichtigtuer, die hinter den Juden her sind wegen der Leiche in dem alten Brunnen, die finden rein gar nichts mehr gegen sie. Denn Gott hat reinen Tisch gemacht und alles, den Brunnen, den Wasserspeicher, das Milchvieh, das Skelett und jeden noch so winzigen Fitzel, der sich gegen die Juden richten könnte, runter in den Manatawny Creek gespült, der komplett alles von dem Wer-hat-John-erschossen-Unsinn in den Schuylkill beförderte, mit dem die ganze Chose in die Chesapeake Bay unten in Maryland gelangte und von da hinaus in den Atlantik. Und da treiben die Knochen dieses verdammten Halunken, dessen Name es nicht verdient, über meine Lippen zu kommen, heute noch herum. Auf dem Grund des Ozeans, und die Fische knabbern dran rum, und der Teufel zählt die Punkte mit.
Was den alten Malachi betrifft, die Cops werden ihn niemals finden. Als der Wirbelsturm abgezogen war, kamen sie zurück, doch da war er lange schon weg. Ließ ein, zwei Sonnenblumen im Garten zurück, mehr nicht. Der alte Mr Malachi kam davon. Er war der Letzte von ihnen. Der letzte Jude in der Gegend. Der Junge war ein Zauberer. Was Besonderes. Und er konnte tanzen … Gott … Der Junge war wunderbar.
Masel tov, mein Schatz.
Siebenundvierzig Jahre bevor die Bauarbeiter das Skelett in dem alten Bauernbrunnen auf dem Chicken Hill entdeckten, hatte ein jüdischer Theatermanager namens Moshe Ludlow in Pottstown, Pennsylvania, eine Erleuchtung.
Moshe hatte diese Erleuchtung an einem Montagmorgen im Februar, als er, nach einem einmaligen Auftritt von Chick Webb, sein All-American Dance Hall & Theater in der Main Street sauber machte. Webb und seine fulminante zwölfköpfige Band hatten den größten Musical-Abend hingelegt, den Moshe je erlebt hatte, ausgenommen nur das eine Mal vor zwei Monaten, als es ihm gelungen war, Mickey Katz, das brillante, aber launische Klezmer-Genie aus Cleveland, zu holen, um sein All-American Dance Hall & Theater ein komplettes Wochenende mit jüdischem Spaß für die ganze Familie zu füllen. Also, das war eine Sache. Katz, das Wunderkind an der Klarinette, und sein neu geformtes siebenköpfiges Ensemble trotzten einem wilden Dezemberschneesturm in den östlichen Bergen Pennsylvanias, um es zu ihrem Auftritt zu schaffen, und Gott sei Dank taten sie das, denn Moshe zählte zweihundertneunundvierzig jüdische Schuhverkäufer, Ladenbesitzer, Schneider, Schmiede, Eisenbahnmaler, Feinkostladenbesitzer und ihre Frauen aus unterschiedlichen Staaten, einschließlich Upstate New York und Maine, die zu dem Konzert kamen. Es waren sogar vier Paare aus Tennessee da, die drei Tage lang durch die Blue Ridge Mountains gefahren waren, sich von Käse und Eiern ernährt und aufs Koscher-Sein am Sabbat verzichtet hatten, um mit ihren Judenfreunden zusammen zu sein – und das auch noch direkt vor Chanukka, zu dem sie für acht Tage alle zu Hause sein und Kerzen entzünden sollten. Gar nicht zu reden von einem der Ehemänner, der ein Fanatiker war und glaubte, der Fastentag Tisha B’Av, der normalerweise im Juli oder August begangen wurde, sollte zweimal und nicht nur einmal im Jahr gefeiert werden, was bedeutete, im Dezember im Haus zu bleiben, zu hungern, die Wände drei Wochen lang mit Blumenbildern zu bedecken und so dem Schöpfer für seine Großzügigkeit zu danken, den Juden Osteuropas dabei zu helfen, vor den Pogromen in den relativen Frieden und Wohlstand des gelobten Landes Amerika zu fliehen. Dank ihm, dem fanatischen Ehemann, und dem Wetter waren alle vier Paare überaus mies gelaunt, als sie ankamen. Sie hatten sich in zwei uralte Packards gezwängt, einer war ohne Heizung, und durch den wilden Schneesturm gekämpft. Und als sie hörten, dass noch mehr Schnee kommen sollte, verkündeten sie, sie wollten gleich wieder fahren, doch Moshe redete es ihnen aus. Das war seine Gabe. Moshe konnte dem Teufel die Hörner vom Kopf reden. »Wie oft im Leben hat man die Chance, ein junges Genie zu hören?«, sagte er. »Es wird das größte Erlebnis eures Lebens sein.« Er brachte sie in sein winziges Zimmer in einem Wohnheim auf dem Chicken Hill, einem Viertel mit wackligen Häusern und unbefestigten Straßen, in dem die Schwarzen, die Juden und eingewanderten Weißen der Stadt wohnten, die sich nichts Besseres leisten konnten, setzte sie vor seinen bullernden Holzofen, füllte sie mit warmem Eistee und gefilte Fisch und heiterte sie mit der Geschichte seiner rumänischen Großmutter auf, die aus dem Fenster gesprungen war, um der Ehe mit einem Haskala-Juden zu entgehen – nur um auf einem chassidischen Rabbi aus Österreich zu landen.
»Sie stieß ihn in den Dreck«, rief er, »und als er aufblickte, las sie ihm aus der Hand. Also haben sie geheiratet.«
Das zauberte ihnen ein Schmunzeln und Kichern ins Gesicht, wussten doch alle, dass die Rumänen verrückt waren. Ihr Lachen in den Ohren eilte Moshe zurück zur Menge draußen im Schnee, die nervös darauf wartete, dass sich die Theatertüren öffneten.
Als Moshe über die vermatschten Straßen Chicken Hills zu seinem Theater in der Main Street ging und sah, dass die Schlange, die sich eine Stunde zuvor gebildet hatte, zu einer Menge von fast dreihundert Leuten angewachsen war, sank ihm der Mut. Zudem wurde er informiert, Katz, das launische Genie, sei angekommen und im Theater, aber äußerst schlechter Stimmung, nachdem er sich durch den schrecklichen Schneesturm habe kämpfen müssen, und er drohe damit, wieder abzufahren. Moshe rannte nach drinnen und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sein immer verlässlicher Helfer, ein farbiger Mann namens Nate Timblin, Katz und seine Band hinten vor den warmen Ofen gesetzt hatte und sie mit heißem Tee in Wassergläsern, koscheren frischen Eiern, gefilte Fisch und Challa bewirtete, alles ordentlich im Büfettstil angerichtet. Der junge Katz schien erfreut und verkündete, er und seine Band würden anfangen, sobald sie mit dem Essen fertig seien. Moshe ging hinaus, um die wartende Menge zu vertrösten.
Er sah, dass immer noch mehr Leute kamen, Nachzügler eilten mit Tornistern und Koffern vom Bahnhof herbei, und so griff er nach einer Leiter und stieg hinauf, um zu den Leuten zu sprechen. Er hatte in seinem Leben in Amerika noch nie so viele Juden auf einmal gesehen. Die liberalen Snobs aus Philadelphia in ihren Hemden mit geknöpften Kragen standen neben Stahlarbeitern aus Pittsburgh, die sich neben die sozialistischen Eisenbahner aus Reading mit ihren Kappen mit dem Logo der Pennsylvania Railroad drängten, die wiederum Schulter an Schulter mit den örtlichen Bergarbeitern mit ihren dunklen Gesichtern aus Uniontown und Spring City standen. Einige hatten ihre Ehefrauen dabei. Andere waren mit Begleiterinnen da, die angesichts ihrer Pelzmäntel, Lederstiefel und überwältigenden Frisuren sicher nicht mit ihnen verehelicht waren. Einer war mit einer blonden Goje gekommen, die fünfzehn Zentimeter größer als er und in ein knalliges irisches Grün gekleidet war, komplett mit einem Hut, der wie eine Kreuzung aus einem Kleeblatt und den Zacken der Krone der Freiheitsstatue aussah. Einige jammerten auf Deutsch vor sich hin, andere schwatzten auf Jiddisch miteinander. Moshe hörte bayerische Rufe und Polnisch. Als er verkündete, dass es eine kleine Verzögerung gebe, wurde die Menge noch unruhiger.
Ein gut aussehender junger Chassid mit einem Kaftan und einer Pelzmütze, einem Jutesack über der Schulter und unter die Mütze gestopften Locken – schräg auf der Seite trug er die Mütze, als wäre sie ein Fedora – verkündete, er sei den ganzen Weg von Pittsburgh hergekommen und würde mit keiner Frau tanzen. Das rief Lachen und ein paar grobe Worte hervor, einige davon auf Deutsch, über polnische Schwachköpfe, die sich wie Grünschnäbel anzögen.
Moshe war perplex. »Was machst du bei einem Tanz, wenn du mit keiner Frau tanzen willst?«, fragte er den Mann.
»Ich suche keine Tänzerin«, antwortete der gut aussehende Chassid knapp. »Ich suche eine Ehefrau.«
Die Menge lachte wieder. Später, im Bann von Katzens hinreißender musikalischer Hexerei, sah Moshe staunend zu, wie der Mann den ganzen Abend über wie ein Dämon herumwirbelte. Er tollte durch jeden Tanzschritt, den Moshe je gesehen hatte, und Moshe, der in seiner Kindheit als Fusgeyer – wandernder Jude – durch Rumänien gezogen war, kannte einige Tänze: Hora, Bulgar, Khosidl, Freylekhs, russische Märsche und Kosakentänze. Der Chassid war ein Wunder verwinkelter Ellbogen, ein rhythmischer Kreisel von elastischer Anmut und wilder Geschicklichkeit. Er tanzte mit jeder Frau, die in seine Nähe kam, und es gab viele. Moshe entschied später, dass der Bursche eine Art Zauberer sein musste.
Die nächsten vier Abende waren das größte, außergewöhnlichste, freudvollste jüdische Zusammentreffen, das Moshe je erlebt hatte. Er hielt es für ein Wunder, nicht zuletzt, weil beinahe alles schon vorbei gewesen wäre, bevor es überhaupt losgegangen war. Das Ganze hatte mit einer Reihe Flugblätter begonnen, die er Wochen zuvor verschickte, um den Kartenverkauf anzukurbeln. Ein jüdisches Adressbuch nutzend, in dem Synagogen und Privatunterkünfte für reisende Juden verzeichnet waren, schickte Moshe seine Informationen an jede einzelne Synagoge, jede jüdische Pension und jedes Hostel zwischen North Carolina und Maine. Die Flugblätter, auf denen er stolz verkündete, dass die große Mickey Katz Road Show für winterlichen jiddischen Spaß und Familienerinnerungen aus dem alten Land in das All-American Dance Hall & Theater komme, wurden in vier Sprachen gedruckt, Deutsch, Jiddisch, Hebräisch und Englisch. Leider nur hatte Moshe die organisatorischen Fähigkeiten jüdischer Rabbis auf dem Land fürchterlich überschätzt, und die meisten Flugblätter gingen im fortwährenden Fluss von Todesanzeigen, Bar-Mizwa-Verpflichtungen, einmaligen Verkaufsereignissen, Anfragen nach koscheren Kuhschlachtungen, Tallit-Schneidern, dem Schlichten von geschäftlichen Streitereien, Beschneidungsschlamassel und Ehearrangementschaos unter, kurz: dem täglichem Brot eines Rabbis auf dem Land. Die wenigen Seelen mit ausreichend Geistesgegenwart, Moshes Briefe mit den Flugblättern dennoch zu öffnen, trugen nicht selten noch zusätzlich zur allgemeinen Verwirrung bei, denn viele von ihnen kamen frisch aus Osteuropa und verstanden kein Englisch. Sie betrachteten jeden Brief mit einer maschinengeschriebenen Adresse als eine Art Regierungsmitteilung, mit der die sofortige Verschiffung von ihnen, ihren Familien, ihren Hunden und grünen Stempeln zurück in ihre alten Länder verfügt wurde, wo russische Soldaten mit einer Belohnung für ihre Teilnahme an der Ermordung des Zarensohnes auf sie warteten, den die Russen natürlich selbst umgebracht und dem sie obendrein noch die Augen ausgestochen hatten, aber wen interessierte das schon? Also wurden die Flugblätter weggeworfen.
Überdies hatte Moshe etlichen Gemeinden die falschen Flugblätter geschickt. Jiddische gingen an Deutsch sprechende Gemeinden. Deutsche landeten in jiddischen Schuln, in denen man Deutsch liebende Snobs hasste. Die englischen gingen an Ungarn, die, wie alle wussten, so taten, als könnten sie kein Englisch, es sei denn, Juden wurden »amerikanische Israeliten« genannt – auf Englisch. Zwei hebräische Flugblätter waren an eine polnische Gemeinde in Maine adressiert, die es nicht mehr gab. Die Grünschnäbel da oben hatten sich wahrscheinlich den Hintern, den Toches, abgefroren und waren irgendwo im Eis verschwunden. Ein Kaufmann in Baltimore schickte sein jiddisches Flugblatt irrtümlicherweise an die Anzeigenabteilung der Baltimore Sun weiter, was zu Unruhe führte, da der Anzeigenleiter den Eindruck hatte, der jüdische Bekleidungshändler aus dem Judenviertel in East Baltimore, der regelmäßig in der Sun inserierte, wolle nur die Jiddisch sprechenden Leser damit erreichen. Tatsächlich aber saß der freundliche Mann hinten in seinem Laden und übersetzte das Flugblatt ins Englische, als vorne im Laden ein Streit zwischen zwei Kunden ausbrach. Als er aufstand, um beruhigend einzugreifen, kam seine Jiddisch sprechende Frau nach hinten, erkannte die Worte Baltimore Sun auf dem mit Papieren übervollen Schreibtisch ihres Mannes, stopfte das halb übersetzte Flugblatt zusammen mit ihrem wöchentlichen Anzeigenscheck in einen Umschlag und schickte ihn an die Zeitung. Der Anzeigenleiter, der ihn bekam, war zu blöd, den Unterschied zwischen Anzeigenteil und redaktionellem Teil zu begreifen, und leitete das Ganze an die Lokalredaktion mit der Notiz weiter: »Bringt das morgen, der Jude zahlt immer«, worauf der Abendredakteur, ein frommer, wohlmeinender Katholik, es einem neunzehnjährigen ungarischen Korrekturleser gab, der auch deswegen angestellt worden war, weil er behauptete, Jiddisch zu sprechen. Der Junge schickte das schlecht übersetzte Durcheinander mit dem Hinweis »Das ist eine Anzeige« zurück an die Anzeigenabteilung, und die platzierte das Ganze dann in Großbuchstaben auf Seite B-4, und zwar an einem Samstag, dem letzten Tag des Sukkot, mit dem das Einbringen der Ernte und der wunderbare Schutz gefeiert wird, den Gott den Kindern Israels gewährt hat. Das Ergebnis war eine Katastrophe. Auf Moshes Flugblatt hatte, auf Jiddisch, gestanden:
Kommen Sie zum großen Mickey Katz. Einem einmaligen Ereignis. Familienspaß und jüdische Erinnerungen. Glühend heißer Klezmer, wie Sie ihn noch nie gehört haben.
Ins Englische übersetzt stand da:
Mickey Katz kommt. Einmal ein Leben, immer ein Leben. Sehen Sie Juden brennen, tanzen und sich amüsieren.
Die Anzeige führte zu Panik und Wut in East Baltimores Judenviertel, da sich viele der Einwohner noch an den ersten Rabbi der Stadt erinnerten, David Einhorn, der sich im Bürgerkrieg gegen die Sklaverei ausgesprochen hatte, woraufhin dessen Haus niedergebrannt und er aus der Stadt vertrieben worden war. Sie verlangten, dass der Bekleidungshändler seinen Laden schloss und die Stadt verließ.
Moshe fiel fast in Ohnmacht, als er von der Katastrophe hörte. Er eilte nach Baltimore und gab vierhundert Dollar aus, um die Sache mit dem gutmütigen Händler zu klären, der ihm freundlicherweise half, eine zweite, bessere Anzeige aufzusetzen. Aber es war zu spät. Die erste Anzeige war zu viel für Baltimores Juden gewesen. Das konnte einfach nicht wahr sein! Ein Klezmer-Tanz? Mit dem großen Mickey Katz? Warum sollte ein Star wie Katz für arme Vertreter und Schneider in den kalten Bergen Ost-Pennsylvanias spielen? In einem American Theater? Das einem Fusgeyer, einem Rumänen, gehörte? Fusgeyer besitzen keine Theater! Sie ziehen herum, singen Lieder, und Soldaten des Zaren prügeln ihnen die Seele aus dem Leib. Wo liegt dieses Pottstown überhaupt? Gibt es da Juden? Unmöglich! Das war eine Falle!
Am Ende kauften nur vier Paare aus Baltimore im Voraus Karten, um den großen Mickey Katz zu sehen, und Moshe hatte darauf gezählt, dass viele aus der jüdischen Gemeinde dort kämen.
Fünf Wochen vor dem Konzert, mit tausendsiebenhundert Dollar bei seinem Cousin Isaac in Philadelphia in der Kreide, von dem er sich das Geld für die Theatermiete und die Kaution geliehen hatte, fühlte Moshe sich mieser als beim Tod seines Vaters. Er fiel auf die Knie, betete zu G-tt um spirituelle Erneuerung, verspürte keine und hing hinten im Lagerraum des Heaven & Earth Grocery Store herum, dem einzigen jüdischen Lebensmittelladen auf dem Chicken Hill. Dem Besitzer, einem Rabbi namens Yakov Flohr, tat der junge Rumäne leid, und er bot Moshe an, mit seinem Talmud Hebräisch zu lernen. Er bewahrte das heilige Buch in dem Raum auf, in dem auch seine jüngste Tochter Chona arbeitete. Durch eine Polioerkrankung hatte sie ein kürzeres, verkrüppeltes Bein und musste einen Stiefel mit einer zehn Zentimeter dicken Sohle tragen. Chona verbrachte ihre Tage damit, Gemüse zu sortieren und Butter zu machen, wobei sie ein gelbes Färbemittel in den in Fässern gelagerten Milchrahm schüttete.
Da Moshe wusste, dass er bis über beide Ohren verschuldet war und G-ttes Hilfe brauchte, nahm er das Angebot des Rabbis an und verbrachte mehrere Nachmittage damit, niedergeschlagen den Text durchzusehen, an seinen verstorbenen Vater zu denken und zu Chona hinüberzulinsen, die er nur düster als stilles, unscheinbares junges Ding in Erinnerung hatte, die aber jetzt, mit siebzehn, ziemlich was darstellte. Trotz ihres Beins war sie eine Schönheit mit einer prächtigen Nase und süßen Lippen, üppigen Brüsten, einem ansehnlichen Hintern, der sich unter dem tristen losen Wollrock abzeichnete, und Augen, in denen Heiterkeit und Frohsinn wohnten. Moshe, der mit seinen einundzwanzig Jahren selbst in voller Blüte stand, erwischte sich dabei, dass er immer wieder von seinem Hebräischstudium aufsah, um Chonas Hintern anzustarren, während sie an jenen kalten Abenden Pennsylvanias Butter machte. Ihre Hüften bewegten sich mit dem Versprechen des Kohleofens in der hinteren Ecke, der den Raum nur zur Hälfte heizte. Sie erwies sich als muntere Seele mit einem köstlichen trockenen Humor und dankbar für die Gesellschaft, und nach ein paar Tagen mit netten Gesprächen, in denen sie den jungen Moshe mit lieben Scherzen bedachte und mit ihren leuchtenden, freundlichen Augen anlächelte, gestand er ihr schließlich sein Problem mit dem kommenden Konzert, seinen heftigen Schulden, dem bereits ausgegebenen Geld, dem Flugblattdesaster und den Wünschen eines schwierigen Stars. »Ich werde alles verlieren«, sagte er.
Und es war dort, hinten im Laden des Rabbis, beim Butterfass, den Stampfer in der Hand, dass Chona ihn an die Geschichte von Moses und den glühenden Kohlen erinnerte.
Sie legte ihren Stampfer zur Seite, warf einen Blick zur Tür, um sich zu versichern, dass niemand zusah, kam an seinen Tisch, hob den verstaubten, verwitterten Talmud ihres Vaters an – den sie, wie sie beide wussten, nicht anfassen durfte – und zog den darunter liegenden Midrasch Rabba hervor, der die fünf Bücher Moses enthielt. Sie blätterte zur Geschichte von Moses und den glühenden Kohlen. Sie studiere die Religion, gestand sie ihm, und die Geschichten von Moses verschafften ihr immer Trost.
Es war dort – kurz vor dem Zusammenbruch seines Theaters, ein Auge auf den Midrasch Rabba gerichtet, das andere auf die entzückende Hand der schönen Chona, sein Herz von erster Liebe erfüllt –, dass Moshe die Geschichte von Moses und den glühenden Kohlen zum ersten Mal hörte. Chona las sie ihm auf Hebräisch vor, wovon er jedes vierte Wort verstand.
Der Pharao stellte einen Teller voller glühender Kohlen auf die eine Seite des kleinen Moses, einen mit glitzernden Münzen und Schmuck auf die andere. War der Junge intelligent, würde er vom glitzernden Gold und den Juwelen verlockt und als Bedrohung für den Erben des Pharaos getötet werden. Berührte er die schwarzen Kohlen, war er zu dumm, um eine Bedrohung darzustellen, und würde leben dürfen. Moses wollte nach den Münzen greifen, doch als er es versuchte, erschien ein Engel und führte seine Hand geschickt zu den heißen Kohlen, an denen er sich die Finger verbrannte. Erschreckt steckte sich das Kind die Finger in den Mund und verbrannte sich auch die Zunge, was ihm eine lebenslange Sprachbehinderung bescherte. Aber das Leben des Führers und wichtigsten Lehrers des jüdischen Volkes war gerettet.
Moshe lauschte, in verzücktes Schweigen gehüllt, und als Chona endete, fühlte er sich ins Licht einer Liebe gehüllt, wie sie nur der Himmel zu erschaffen verstand. Mehrere Tage kam er zurück ins Hinterzimmer des Ladens und beschäftigte sich mit den Worten des Midrasch Rabba, der ihm bis dahin gemischte Gefühle beschert hatte, und der jungen Blume, die ihn zu den heiligen Worten geleitete. Nach drei Wochen des Midrasch-Rabba-Studiums fragte Moshe Chona, ob sie ihn heiraten wolle, und zu seinem Erstaunen willigte sie ein.
In der nächsten Woche zahlte Moshe hundertvierzig Dollar als Geschenk auf Yakovs Konto ein und bat ihn und seine Frau um die Hand ihrer Tochter. Die Eltern, beide Bulgaren, waren so überglücklich, dass jemand, der kein Zyklop war, ihre behinderte Tochter heiraten wollte – was machte es schon, dass er Rumäne war? –, dass sie sogleich zustimmten. »Warum nicht schon nächste Woche?«, fragte Moshe. »Warum nicht?«, sagten sie. Die bescheidene Hochzeit fand in Ahavat Achim statt, der winzigen Schul für die siebzehn jüdischen Familien Pottstowns. Mit dabei waren Moshes Cousin Isaac aus Philadelphia, Chonas überglückliche Eltern und ein paar örtliche Juden, die Yakov zusammengetrommelt hatte, um den notwendigen Minjan von zehn Leuten für die sieben Hochzeits-Segenswünsche zu bekommen. Zwei von ihnen waren polnische Arbeiter vom Betriebshof der Pennsylvania Railroad, die zum Chicken Hill geeilt waren, um etwas Koscheres zu essen zu bekommen. Die beiden willigten ein, an der Hochzeit teilzunehmen, verlangten jedoch jeder vier Dollar für ein Taxi nach Reading, wo sie sich am nächsten Morgen zur Arbeit zu melden hatten. Yakov lehnte ab, aber Moshe zahlte die acht Dollar gerne. Es war ein niedriger Preis dafür, eine Frau heiraten zu können, die ihm mehr Glück brachte, als er je zu hoffen gewagt hatte.
Seine Liebe inspirierte ihn derartig, dass er die verlorenen tausendsiebenhundert Dollar vergaß. Er verkaufte sein Auto für dreihundertfünfzig Dollar, lieh sich weitere tausendzweihundert von Isaac, gab das Geld für dieses Mal richtig platzierte Anzeigen aus und sah staunend zu, wie die Kartenverkäufe durch die Decke gingen.
Vier Abende lang produzierten Mickey Katz und seine wunderbaren Musiker die mitreißendste, herrlichste Klezmermusik, die Ost-Pennsylvania je vernommen hatte. Vier Abende einer wilden, verrückten jüdischen Tanz-bis-du-nicht-mehr-kannst-Feierei. Moshe verkaufte, was er hatte – an Getränken, Essen, Eiern, Fisch. Er brachte sogar zwanzig erschöpfte New Yorker auf dem Balkon im zweiten Stock seines Theaters unter, der normalerweise für Schwarze reserviert war. Die vier Paare aus Tennessee, die damit gedroht hatten, gleich wieder zu fahren, blieben das ganze Wochenende, genau wie der chassidische Tänzer, der geschworen hatte, mit keiner Frau zu tanzen. Es war ein rauschender Erfolg.
Am Morgen nach dem Ende der Festivitäten fegte Moshe den Bürgersteig vor seinem Theater, als er den tanzenden Chassid zum Bahnhof eilen sah.
Verschwunden war die Pelzmütze, an ihrer Stelle saß ein Fedora. Der Kaftan war zu einer Jacke mit Sakkolänge geworden. Moshe erkannte den jungen Mann kaum. Als er näher kam, fragte er: »Wo kommen Sie denn her?« Aber der Mann war schnell unterwegs, blieb stumm und bewegte sich bereits an ihm vorbei. Moshe rief ihm hinterher: »Wo immer Sie leben, es ist das Zuhause des größten Tänzers der Welt, das ist mal sicher.«
Das wirkte. Der Chassid blieb stehen, griff in seinen Jutesack, kam ohne ein Wort die paar Schritte zurück und gab Moshe eine Flasche Slibowitz, drehte wieder um und eilte weiter den Bürgersteig hinunter.
Moshe rief ihm wohlgelaunt hinterher: »Haben Sie eine Frau zum Heiraten gefunden?«
»Ich brauche keine«, antwortete der Mann und winkte mit der Hand, ohne sich umzusehen. »Ich bin ein Twart der Liebe?«
»Ein was?«
»Ein Biskuitkuchen«, sagte er. »Wissen Rumänen eigentlich gar nichts?«
Bevor Moshe etwas entgegnen konnte, war ein deutliches Plopp zu hören – eine winzige Explosion wie von einem Korken, der aus einer Flasche gezogen wurde, nur lauter. Sie blickten beide hoch zu den wirr durcheinanderstehenden Häusern hinter Moshes Theater. Eine kleine schwarze Rauchwolke trieb durch die Luft, offenbar kam sie aus einem der verwahrlosten Häuser, und verschwand am Himmel.
»Das ist ein schlechtes Zeichen«, sagte der Chassid und machte sich davon.
Moshe rief noch: »Wie heißen Sie?«
Aber da war der Chassid schon weg.
Am Tag, nachdem der Chassid verschwunden war, ging Moshe zum Theater und fand dort Nate bei der Arbeit vor, der mit einem langstieligen Greifer vorsichtig die Buchstaben von der Theaterfassade zog.
»Hast du den Knall gestern gehört?«, fragte Moshe. »Klang ganz so, als wäre da was auf dem Hill explodiert.«
Nate zuckte mit den Schultern und blickte an der Fassade hoch. »Da gibt’s nichts, was explodiert, nur schwere Zeiten. Und davon reichlich.«
Moshe lachte. Er war immer noch prächtig gelaunt nach dem Gewinn, den Katz ihm beschert hatte, und natürlich wegen seiner Hochzeit, und so griff er in die Tasche und zählte fünfzehn Dollar ab. »Für dich«, sagte er.
Nate, den Blick nach oben gerichtet, sah kurz auf das Geld und schüttelte den Kopf.
»Magst du mein Geld nicht?«, fragte Moshe.
Nate lehnte sich auf den langen Greifer. Er war ein großer Mann mit einer hellen, reinen Haut und muskulösen Armen, von irgendeiner Arbeit im Freien, nahm Moshe an.
»Ich mag es schon«, sagte Nate. »Aber meine Arbeit noch mehr. Wie soll ich die behalten, wenn Sie auch noch den letzten Dime verschenken, Mr Moshe? Seit Erskine Hawkins bei Anna Morse in Linfield war, hab ich so einen Tanz nicht mehr erlebt. Ich hab da gut was verdient.«
Moshe erinnerte sich vage an Anna Morse, eine elegant gekleidete schwarze Frau, die einen Packard fuhr. Er kannte auch ihr Haus, einen kleinen Ziegelbau in einer Nebenstraße außerhalb von Lichfield, einer Bauerngemeinde etwa zwölf Kilometer entfernt. »Ist das nicht ein Bestattungsinstitut?«, fragte er.
»War mal ein Tanzsaal für Farbige«, sagte Nate. »Aber Anna verdient heute mehr Geld mit Toten als mit Lebenden. Schade. Farbige müssen heute bis nach Chambersburg, um tanzen zu gehen. Es sei denn, Sie wollen in eine Säuferkneipe und sich abschießen.«
Moshe nickte, aber in seinem Kopf begann es zu arbeiten. Später am Abend fragte er Chona: »Was, wenn ich mein Theater für die Farbigen öffne?«
»Und?«
»Die Gojim werden das gar nicht mögen.«
Chona stand am Herd und kochte das Abendessen mit dem Rücken zu ihm. Sie lachte: »Na und?«, hob ihren Löffel in die Höhe und ließ ihn kreisen. Das war ihre Gabe. Kein bisschen Bitterkeit oder Scham. Im Gegensatz zu Moshe war Chona Amerikanerin. Sie war in Pottstown geboren und in ihrem abgetragenen Wollkleid, ihrem alten Pullover und dem sündteuren Spezialstiefel ein vertrauter Anblick auf dem Chicken Hill, wie sie mit den Nachbarn lachte und scherzte. Sie schien jede einzelne Familie zu kennen. Wenn Moshe zum Mittagessen nach Hause kam oder selbst wenn es spätabends war, fand er seine Frau oft vor dem Laden vor, wo sie mit einem der örtlichen Schwarzen lachte. »Diese Frau«, grummelte sein Cousin Isaac einmal, »ist eine echte Bulgarin. Wann immer die das Gefühl haben, sie sollten arbeiten, setzen sie sich und warten, dass das Gefühl vorbeigeht. Sie können kein Glas Wasser eingießen, ohne dass daraus eine Party wird.« Aber Isaac war ein Griesgram, den Moshe schon vor langer Zeit in bestimmten Fragen zu ignorieren gelernt hatte.
An ihrem Herd stehend, sagte Chona auf Jiddisch: »Me ken dem yam mit a kendel nit ois’ shepen (Du kannst nicht gleichzeitig in alle Richtungen reiten).« Und dann: »Was macht es, was die denken? Die Farbigen zahlen mit dem gleichen Geld wie wir.«
Vier Wochen später buchte Moshe Chick Webb, den farbigen Entertainer.
Am Abend von Webbs Auftritt schlüpften Pottstowns Schwarze wie Geister in Moshes All-American Dance Hall & Theater. Still und düster kamen sie herein, die Männer in nüchternen Anzügen und Krawatten, die hübschen Frauen in blumenbedruckten Kleidern und mit schicken großen Hüten. Einige waren eindeutig nervös. Andere schienen aufgeregt. Ein paar sahen völlig verschreckt aus. Die Innenstadt von Pottstown war den Schwarzen verboten, es sei denn, sie kamen als Hausmeister, Dienstmädchen oder um einen öffentlichen Wasserhahn zu benutzen, wenn die Hähne auf dem Chicken Hill mal wieder unerklärlicherweise keinen Tropfen hergaben, was oft der Fall war.
Als Chick Webbs Band jedoch loslegte, verwandelten sich die stillen, zurückhaltenden Schwarzen von Pottstown in eine wild tanzende menschliche Masse. Sie tobten, lachten und tanzten, als wären sie Vögel, die zum ersten Mal das Fliegen genossen. Webbs Band spielte wie eine Magier-Truppe, vier Sets mit großartigem, stampfendem, verrücktem, ausgelassenem, herzzerreißendem Jazz. Es war eine unerhört freudvolle Veranstaltung, die in ihrer Intensität allein Mickey Katzens großem Auftritt gleichkam.
Moshe sah gebannt seitlich von der Bühne aus zu, wie Webb, ein winziger Kerl mit einem runden Rücken, vor Lachen und Begeisterung brüllte und seine Band mit seinem meisterhaften Schlagzeugspiel anfeuerte. Die Musiker ließen den Boden mit ihrem unglaublich dahinbrandenden Sound erzittern. Dieser Mann in seinem weißen Anzug, entschied Moshe, produzierte reine Freude, und dabei war nicht zu übersehen, dass Webb, wie auch Moshes wunderbare Chona, unter einer körperlichen Einschränkung litt. Aber obwohl er einen Buckel hatte, bewegte er sich mit einem Gefühl von Lust und Leichtigkeit, als wäre jeder einzelne Moment wertvoll.
Krüppel, dachte Moshe, bringen mir Glück: Moses, Chona und Chick.
Moshe fing an, von Moses zu träumen, und die Träume kamen im Dutzend. Zwölf verschiedene Visionen. In zwölf Nächten. Moses, der durch zwölf verschiedene Tore ging. In zwölf verschiedenen Städten. Moses auf dem Berg Sinai, der auf zwölf verschiedene Gipfel hinabsah. Moshe begann alles als eine Funktion von zwölf zu sehen. Zwölf Bands in zwölf Monaten. Zwölfhundert Dollar in zwölf verschiedene Aktien investiert, die eine fantastische Rendite brachten. Selbst das Haus, das er kaufte, ein winziges Ziegeldings auf Chicken Hill, lag in einer Gegend mit zwölf Straßen auf einer Quadratmeile.
Moshe erzählte niemandem von seinen Träumen, nicht mal seiner Frau. Stattdessen folgte er seinen Visionen, investierte zunächst nur ein paar Pennys in zwölf verschiedene Aktien, dann mehr, als sie an Wert gewannen, und in seinem Theater ließ er zwölf verschiedene schwarze Bands in zwölf Monaten auftreten, natürlich auch Webb wieder, insgesamt noch viermal. Die Veranstaltungen zogen Schwarze von nah und fern an, und über die nächsten zwölf Monate wuchs sein Wohlstand.
Währenddessen wurde aus dem Grummeln der rivalisierenden Theaterbesitzer der Stadt leiser Protest und schließlich offene, lautstarke Empörung. Schwarze trieben sich überall in der Innenstadt herum, klagten sie, und zogen in ein jüdisches Theater! Und alle wussten doch, dass die Juden ihre Matzen mit Christenblut backten!
Die Antwort kam schnell. Als Erstes erschien der Gebäudeinspektor der Stadt im Theater, erklärte Moshe, seine Rohre seien schlecht und der Putz löse sich, und belegte ihn mit einer Geldstrafe. Der Besitzer des Gebäudes beschwerte sich wegen des Mülls. Der Brandaufsichtsbeamte lud ihn wegen knarzender Türen und fehlender Notausgänge vor. Selbst Moshes eigene Synagoge wollte eine Strafe von fünf Dollar.
Moshe schlug zurück. Er schmierte den Gebäudeinspektor. Der Chef der Brandaufsicht, ein Trinker, bekam vier Flaschen Scotch und eine neue Angelrute. Er ließ den immer getreuen Nate und eine Truppe Schwarzer die Bürgersteige vor jedem einzelnen Laden in der Straße fegen, ging zu seinem Vermieter, versprach ihm hundertfünfzig Dollar für jede schwarze Veranstaltung, die er buchte, und bot darüber hinaus an, das Gebäude in einem Jahr für gutes Geld zu kaufen, wenn er, der Vermieter, nichts gegen die Schwarzen sagte. Der Mann willigte ein.
Was die Synagoge anging, so kam Isaac aus Philadelphia angereist und traf sich mit der Chewra, der Männergruppe, der Moshe die Geldstrafe verdankte. Isaac war eine grimmige, Furcht einflößende Seele, vier Jahre älter als Moshe, der seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Europa dessen Beschützer war. Isaac legte einen Silberdollar auf den Tisch und sagte: »Ich gebe jedem in diesem Raum zehn davon, der beweisen kann, dass er mit seiner Frau beim Mickey-Katz-Tanz war.« Keiner rührte sich. Damit war das Gespräch über Moshes Strafe beendet.
Mit den Gewinnen aus den Tanzveranstaltungen für die Schwarzen kaufte Moshe das Theater innerhalb der ersten zwei Jahre und dann später noch eines, zwei Straßen entfernt. Über die nachfolgenden fünf Jahre expandierte er weiter und verdiente richtiges Geld – genug, um seiner Mutter in Rumänien ein warmes Haus zu kaufen und Chona eine gemütliche Wohnung über dem Heaven & Earth Grocery Store einzurichten, den er von Yakov kaufte, nachdem Chonas Mutter gestorben war und Yakov nach Reading zog, um einen größeren Tempel zu führen. Moshe wollte den Laden aufgeben, aber Chona erlaubte es nicht.
»Wie kannst du Heaven & Earth verkaufen?« Sie lachte.
Moshe sah nicht, was daran witzig war. »Du musst dein Leben nicht damit verbringen, Farbigen koscheres Kuhfleisch und Zwiebeln zu verkaufen. Schließen wir den Laden. Die Juden verlassen das Viertel. Folgen wir ihnen.«
»Wohin?«
»Nach unten in die Stadt. Wo die Amerikaner wohnen.«
»Welche Amerikaner?«
»Chona, jetzt komm schon.«
»Ich führe den Laden.«
»Wie sieht das aus? Meine Frau verkauft Käse und Kekse, während ich die besten Theater der Stadt leite? Wir haben mehr als genug.«
Chonas überbordendes Lächeln schmolz zu einem Grinsen zusammen. »Ich soll also den ganzen Tag zu Hause sitzen, während du deinen Spaß mit deinen Musiktheatern hast?«
Moshe gab nach.
Das lieferte den jüdische Hausfrauen in Pottstown viel Gesprächsstoff. Was für ein Ehemann ließ seine Frau sein Geschäft führen? Warum kamen sie nicht wie die anderen Juden in die Stadt? Ihr Vater war nach dem Tod ihrer Mutter nach Reading gezogen. Warum hatte Chona ihren Mann nicht dazu gebracht mitzukommen, um ihrem Vater zu helfen? Was war wichtiger als die Familie?
Aber während all der Jahre, in denen Chona hinten im Heaven & Earth Grocery Store Butter gemacht, Gemüse sortiert und gelesen hatte, hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Als Kind hatte sie alles gelesen, Comics, Detektivgeschichten, Romanhefte, als junge Ehefrau interessierte sie sich für den Sozialismus und Gewerkschaften. Sie abonnierte jüdische Zeitungen, las hebräische Veröffentlichungen und Bücher über jüdisches Leben, einige aus Europa. Das alles vermittelte ihr eine Vorstellung von Kunst, Musik und weltlichen Fragen. Sie sprach ein besseres Hebräisch als irgendeine andere Jüdin der Stadt, von denen viele über wenig mehr als rudimentäre Kenntnisse der Sprache verfügten. Den Talmud kannte sie genauer als die meisten Männer in der Schul. Statt mit den Frauen auf dem Balkon zu sitzen, bestand sie darauf, unten mit den Männern zu beten, und behauptete, ihr schlimmer Fuß hindere sie daran, die Treppe hinaufzusteigen. Irgendjemand im Tempel hatte daraufhin die intelligente Idee, sie zumindest mit einem Vorhang von den Männern der Gemeinde zu trennen. Doch wie die meisten Ideen in der Ahavat-Achim-Gemeinde Pottstowns erwies sich auch diese am Ende als eine Katastrophe, denn nachdem Chonas Vater fort war, wurde er durch einen linkischen, aber wohlmeinenden Pfuscher namens Karl Feldman ersetzt, der lispelte und von der Gemeinde hinter seinem Rücken Fertzel – Furz – genannt wurde. An vielen Morgenden wurden die verquasten Gesetzesinterpretationen des glücklosen Feldman von der hübschen Hausfrau korrigiert, deren Talmudkenntnisse wie Schmetterlinge hinter dem Vorhang hervorflatterten: »Karl, was redest du da? Es gibt vier verschiedene Versionen des Todes von Kain!« Mehr noch, wenn Feldmans unsicheres Vorsingen die herrlichen Talmudmelodien verhunzte, kam ihm gelegentlich ihre entzückende Singstimme zu Hilfe. Alle wussten, dass Frauen nicht vorsingen sollten, aber Chonas wunderschöne Stimme zauberte sogar ein Lächeln auf die Gesichter der unleidlichsten Gemeindemitglieder. Chonas unziemliches Betragen wurde von der Gemeinde toleriert. Ihr Vater war der erste Rabbi der Stadt gewesen, er hatte die Schul gebaut, und die meisten Gemeindemitglieder hatten sich an Chonas Verrücktheit gewöhnt. Selbst Irv und Marvin Skrupskelis, die grimmigen eineiigen Zwillinge aus Litauen, die Pottstowns Schuhgeschäft führten und wegen allem stritten, liebten Chona. Sie gehörte zu dem wenigen, über das sie sich einig waren. Irv gab zu bedenken: »Der Vorgesang ist der Ruf Zions, aber mit Fertzel gibt es nur Geheul.« Die Zwillinge bekannten sich offen zu ihrem Glauben, dass Amerika das Land war, in dem Juden aller Arten eine Stimme haben sollten. Warum da nicht die schönste Stimme hören?
Moshe flehte seine Frau dennoch an: »Chona, musst du dich ständig in der Schul vordrängen? Das Vorsingen ist Fertzels – Karls – Job.«
Sie winkte ab. »Es gibt Streuner auf dem Chicken Hill, die besser Hebräisch können als Fertzel. Lies das Buch Mose!«
Moshe hatte Angst, seiner Frau von den zwölf Träumen mit Moses zu erzählen. Er nahm an, sie seien gottlos, ein Aberglaube aus seiner rumänischen Vergangenheit, den seine in Amerika geborene Frau, so sein Gefühl, nicht gutheißen würde. Sie würde ihn zurechtweisen, und er verspürte kein Bedürfnis danach. Er hatte jetzt Geld. Er war ein Amerikaner, und er bezahlte für ihren Laden, der finanziell gesehen ein klares Verlustgeschäft darstellte.
Die Monate vergingen, immer noch mehr Juden kehrten dem Chicken Hill den Rücken, und Moshe drängte seine Frau auch weiter, in die Stadt zu ziehen. Da gebe es bessere Häuser, argumentierte er, besseres Licht, reichere Kunden. »Wir können auch dort einen Laden eröffnen«, sagte er. Chona, unbeschwert wie immer, wollte nicht. »Wir haben auch hier wundervolle Nachbarn«, sagte sie.
Endlich gestand Moshe ihr, dass er eine schwarze Wolke heraufziehen sah. »Nach dem Mickey-Katz-Konzert hat es hinter dem Theater eine Explosion gegeben. Dieser erstaunliche Tänzer, der hat es ebenfalls gesehen. Er meinte, es sei ein schlechtes Omen, und ich fürchte, dass er recht haben könnte.«
»Aberglaube«, schnaubte Chona mit einer Bestimmtheit, die der Diskussion ein Ende setzte.
Moshe ließ von der Sache ab. Er vergaß die Voraussage des Tänzers, gab den Gedanken auf, Chonas Laden zu schließen, und machte weiter. Das Leben war gut. Er machte Gewinn. Er füllte seine beiden Theater auch weiter mit mitreißenden jiddischen Bands, jüdischen Theatergruppen und begeisternden, berauschenden schwarzen Jazzbands. Er arbeitete hart daran, ein gutes Bild abzugeben, um nicht aus der Stadt gejagt zu werden, denn seine Frau schrieb monatlich Briefe zu jüdischen Belangen und Gewerkschaftstreffen an den Pottstown Mercury. In einem der Briefe protestierte sie sogar wutentbrannt gegen die jährliche Parade des Ku-Klux-Klan und verkündete, sie wisse genau, wer einer seiner Köpfe sei. Sie erkenne ihn, schrieb sie, an seinem Gang. Das sei ein gefährlicher Brief, erklärte Moshe, und die beiden gerieten in Streit, denn der verräterische Gang war der des Arztes der Stadt, Doc Roberts, der mit den Mächtigen Pottstowns bestens verbandelt war. Um den Frieden mit diesen Männern zu wahren, buchte Moshe jeden Monat auch schreckliche Bands, die den bleichgesichtigen Presbyterianern Pottstowns gefielen, etwa die Colonial Dames of America, den Pennsylvania Potting Club und die Nineteen Mountain People Whose Fourteenth Cousin Arrived on the Mayflower. Die Bands trugen fürchterliche Outfits und klangen wie heulende Eulen. Moshe sah verwundert zu, wie die Amerikaner mit unbeholfener Befriedigung zum Ächzen und Stöhnen dieser geistlosen, Lärm produzierenden Schrotthändler tanzten, deren langweiliges Humptata mit der Energie von in die Luft geworfenen leeren Erdnussschalen auf die Tanzfläche traf. Die Paare bewegten sich in traurigen Kreisen, hielten sich wie Kinder an den Händen und gaben dabei keinen Ton von sich. Die Frauen trampelten in Holzschuhen dahin, die keine jüdische Frau, die etwas auf sich hielt, tragen würde, und ihre Männer, alles Geschäftsleute, wankten mit Zylindern und Schleifen von anno Tobak um sie herum. Jede dieser Veranstaltungen wurde von tief empfundenen Reden über den Gründer der Stadt unterbrochen, John Potts, dessen Porträt in allen städtischen Gebäuden hing – wie ein Geist lugte das Gesicht des alten Mannes kontrollierend über die Schultern der Bürger.
Derlei Gedanken erfüllten Moshe mit Scham. Er war ein erfolgreicher Amerikaner. Dieses Land war gut zu ihm. Und doch glaubte er immer noch an Zauberei und Hexerei und diese dumme Geschichte mit der Zahl zwölf. Das ist altes Denken in einer neuen Zeit, sagte er sich, und ich muss mich ändern.
1935 dann, elf Jahre nach seinem ersten Erfolg mit Mickey Katz, als sein Cousin Isaac ihm schrieb, er habe sich einen nagelneuen Packard gekauft, hatte Moshe genug. Nach dem Essen eines Abends am Küchentisch machte er die Sache klar.
»Wir müssen nicht mehr über diesem Lebensmittelladen leben. Wir können uns unser eigenes Haus leisten. Wir ziehen um.«
»Wohin?«, fragte Chona.
»In die Stadt. In ein neues Haus. Und daneben bauen wir einen neuen Grocery Store. Ich hab schon eine Anzahlung geleistet.«
»Hol dir dein Geld zurück.«
»Das werde ich nicht.«
»Dann viel Spaß da«, sagte Chona. »Ich werde dich von Zeit zu Zeit besuchen.« Ganz ruhig saß sie am Tisch, ihre schönen Züge fest entschlossen. Und wieder war seine Liebe zu ihr zu groß. Der Gedanke, seinen großen Packard vor einem leeren Haus ohne seine Chona zu parken, machte ihm Angst, und sein Entschluss kippte.
»Chona, bitte.«
»Ich will kein Haus in der Innenstadt, und ich will da auch keinen Laden. Hier oben zu wohnen und zur Arbeit nach unten zu gehen ist einfacher. Das ist keine große Geherei.«
»Aber die Juden verlassen den Chicken Hill.«
»Zehn Straßen weiter zu ziehen, heißt, das Viertel zu verlassen?«
»Du weißt, was ich meine. Lass uns sein, wo die anderen sind. Es sind unsere Leute.«
»Moshe, ich mag es hier. Ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Der Postbote weiß, wo ich wohne.«
Entnervt zeigte Moshe aus dem Fenster nach Pottstown hinunter. »Da unten, das ist Amerika.«
Aber Chona war unerschütterlich. »Amerika ist hier.«
»Die Gegend hier ist arm. Was wir nicht sind. Sie ist schwarz. Was wir auch nicht sind. Uns geht es gut!«
»Weil wir dienen, verstehst du? Das tun wir. Der Talmud sagt es. Wir müssen dienen.«
»Aber hier sind die Schwarzen unsere einzigen Kunden.«
»Hat ihr Geld nicht immer gereicht?«
»Das ist nicht der Punkt.«
Seine Hände lagen auf dem Tisch und hielten eine Tasse Tee umfasst. Sanft legte sie eine ihrer Hände auf seine. »Siehst du nicht, was sie haben, Moshe? Siehst du nicht die Quelle, aus der sie ihre Kraft ziehen?«
»Was für eine Quelle? Wovon redest du?«
Sie schwieg einen Moment und sagte dann ruhig und sanft: »Ich denke an Mickey Katz. Er hatte einen Mandolinenspieler, dem zwei Finger fehlten. Ich weiß noch, wie ich ihm zugesehen habe. Er spielte so wunderbar. Erinnerst du dich nicht?«
»Es gab so viele Auftritte seit damals …«, murmelte er.
»Was ist mit Chick Webb?«, sagte sie. »Mit ihm hast du ein Vermögen verdient.«
»Webb war teuer für einen Krüppel«, sagte Moshe.
Er hatte einen Witz machen wollen, spürte aber, wie das Zimmer in eiskaltem Schweigen erstarrte.
»Siehst du mich so?«, sagte sie schließlich leise.
Chona stand auf, humpelte davon und sprach mehrere Tage nicht mit ihm. Sie vergab ihm erst, als er ihr eine Ausgabe des Schulchan Aruch schenkte, in dem die sieben Erfordernisse des jüdischen Lebens zusammengefasst waren: Weisheit, Demut, Gottesfurcht, Wahrheitsliebe, Menschenliebe, der Besitz eines guten Namens und ein Missfallen gegenüber Geld. Er entschuldigte sich, und sie wurde wieder zu der Chona von früher, die durchs Haus lief und fröhlich verkündete: »Barmherzigkeit des Geistes! Was ist das Leben ohne einen barmherzigen Geist? Ich war in der Stadt und habe eine Frau sagen hören: ›Diese arme verkrüppelte Frau‹, und dachte bei mir: Wer ist der Krüppel? Der, der den Dingen huldigt? Oder der, der etwas Höherem dient?«
Diese Art Denken lief Moshes wachsendem Glauben entgegen, dass mehr Geld das Leben einfacher machte. Aber er tolerierte es, denn er kannte ihr Herz, und es war ein unvergleichliches Herz. So sagte er nichts, und sie blieben auf dem Chicken Hill.
An einem grauen Morgen des Jahres 1936, dem zwölften Jahr ihrer Ehe, erwachte Chona mit einem Husten und Schmerzen im Magen.
Sie mied Ärzte, und so wartete Moshe einen Tag, doch dann ging es ihr schlechter. Und damit begann eine Serie langer Pilgerreisen von einem Arzt zum nächsten, ohne dass einer eine Antwort gewusst hätte. Ihre Krankheit war rätselhaft. An einem Tag ging es ihr gut, sie lief herum, lachte und las ihre verrückten jüdischen Bücher, aber am nächsten schon war sie wieder krank, lag im Bett und war kaum in der Lage, sich zu bewegen. Es ging auf und ab. Als sich ihr Zustand verschlechterte, stellte Moshe Nates Frau Addie ein, um im Laden und bei den Sabbataufgaben zu helfen. Chona hasste jede Art von Hilfe, aber als es mit der Krankheit schlimmer wurde, war sie gezwungen nachzugeben.
Moshe brachte sie zu Ärzten in Philadelphia, Baltimore, sogar in New York, ohne Ergebnis. Ihr merkwürdiges Leiden – Magenschmerzen, plötzliche Ohnmachtsanfälle – schritt fort. Die Ärzte wussten nicht weiter.
Moshes alte Ängste und sein Aberglaube plagten ihn erneut. Konnte es sein, dass sein heimlicher Traum von Moses und der Zwölf und sein lächerlicher Glaube an die finstere Voraussage dieses Chassid, den er einmal gesehen hatte, seinem Glück ein Ende setzten? Das Paar hatte keine Kinder, ein Los, das Chona ohne eine Klage trug, auch wenn sie manchmal aus dem Fenster zu den farbigen Kindern der Nachbarschaft hinausstarrte und verstummte, nur um sich anschließend wieder zu erholen und die alte Chona zu sein, lachend, voller Leben, und von einer Radioserie zu erzählen, die sie kürzlich gehört hatte. Sie führten eine glückliche Ehe. Zwölf wundervolle Jahre waren es jetzt, genau wie es Moses und die Zwölf seltsamerweise vorherbestimmt hatten. Er wünschte sich, seiner Frau von seinen Träumen zu erzählen, aber da sich ihr Zustand verschlechterte, wollte er sie nicht mit Belanglosigkeiten belasten. Als Rabbi Feldman eines Abends zu ihnen ins Haus kam, um für sie zu singen und zu beten, während Chona ruhelos in Fieberwirren lag, war Moshe bereits drauf und dran, ihm alles zu gestehen, fand dann jedoch, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Und als der Rabbi verkündete: »Ich spüre, dass es Chona besser gehen wird«, war Moshe erleichtert.
Aber es wurde nicht besser. Sie begann, ohne Grund die Besinnung zu verlieren, und der nächstgelegene Arzt, zu dem sie ging, saß in Reading, dreißig Kilometer entfernt. Chona hasste Doc Roberts und wollte sich von ihm nicht behandeln lassen. »Ich bin mit ihm aufgewachsen«, sagte sie. »Wenn ich zu einem Goi-Doktor muss, gut. Aber nicht zu dem.«
Doc Roberts, ein korpulenter Mann, der noch mit einer Pferdekutsche herumfuhr, obwohl doch ein glänzender neuer Chevrolet in der Einfahrt seines mit Efeu überwucherten Hauses gleich beim Friedhof stand, war Pottstowns einziger Arzt. Er hinkte ähnlich wie Chona und marschierte doch jedes Jahr an der Spitze der örtlichen Ku-Klux-Klan-Parade. Trotz des Tuches, das ihn bedeckte, wussten alle, dass es der Doc war. Sein Leibesumfang und sein Gang verrieten ihn. Niemand beschwerte sich. Es war einfach so. Einmal im Jahr, am Tag der Klan-Parade, verschwanden die Schwarzen aus der Stadt, die jüdischen Geschäfte blieben geschlossen, der Klan marschierte, und das war’s. Aber Chona fand das Ganze geschmacklos und weigerte sich zu Moshes Entsetzen, ihren Laden wie die anderen jüdischen Händler zu schließen. »Warum sollte ich wegen denen zumachen?«, schimpfte sie. »Die Post ist ja auch nicht geschlossen.« Und was Doc Roberts betraf, so sagte sie zu Moshe: »Er ist so fett, dass sein Nacken wie eine Packung Hotdogs aussieht.« Sie konnte ihn nicht ausstehen.
Und jetzt brauchte Moshe den Doc, doch weil sich Chona weigerte, zu ihm zu gehen, mussten sie für jeden Arztbesuch nach Reading zu dem freundlichen jüdischen Doktor dort fahren. Aber nichts von dem, was er tat, half, und Chonas Ohnmachten wurden gefährlich.
Im Frühling erholte sie sich ein wenig, hatte dann jedoch einen so schweren Rückfall, dass sie kaum mehr gehen konnte. Bis zum Sommer war sie bettlägerig. Es war nicht ihr schlimmes Bein, das sie in Richtung Tod zu ziehen schien, sondern ihr Magen, der sich seltsam aufzublähen begann, als wollte er sich über ihre Unfruchtbarkeit lustig machen.
Moshe konsultierte hektisch einen Arzt nach dem anderen mit immer größerer Dringlichkeit. Er fuhr mit Chona sogar zu einem landesweit bekannten Spezialisten in Boston, doch der war genauso ratlos wie alle anderen. So brachte Moshe sie denn wieder nach Hause.
Er stellte ihr Bett vorn ans Fenster im Wohnzimmer, damit sie die Sonne aufgehen sehen und den Talmud lesen konnte, während der Tag anbrach. Das war zwar verboten, doch das schien nicht mehr wichtig. Das Wohnzimmer lag direkt über dem Laden und erlaubte Chona, Addie unten Anweisungen zuzurufen, denn das Geschäft musste offen bleiben. »Meine Arbeit hält mich am Leben«, sagte sie. Chona begann, Briefe an die Zeitung zu schreiben, um die Leser an die jüdischen Feiertage zu erinnern, und las Witzbücher, um ihren Mann aufzuheitern, dessen schmales, erschöpftes Gesicht jeden Abend nach der Arbeit an ihrem Bett erschien. Sie bot ihm einen Reigen seichter Witze und etwas leichte Unterhaltung, bevor sie einschlief, woraufhin er ihr die Füße und Fußgelenke massierte, die beunruhigend dick geworden waren. Er las ihr laut aus dem Talmud vor, auch wenn sie schlief, weil er wusste, wie sehr sie das liebte.
Es wurde Winter, und ihr Zustand verschlechterte sich weiter. Sie verlor immer öfter das Bewusstsein, Fieber stellte sich ein und blieb.
Und jetzt, da Chona sich dem Tod zuwandte, begannen Chicken Hills Schwarze sich regelmäßig im Heaven & Earth Grocery Store einzufinden. Tag und Nacht kamen sie, brachten Suppe, frisches Gartengemüse, Pasteten und Hausmittel, dazu Lachen und Herzlichkeit für die verrückte, gütige jüdische Lady, die ihren Mann dazu gebracht hatte, sein Theater für die Farbigen zu öffnen, und die den farbigen Familien auf dem Chicken Hill so viel Kredit gewährte, dass weder sie noch irgendwer eine Vorstellung davon hatte, wer nun wem was schuldete. Chicken Hills Schwarze liebten Chona. Sie sahen sie nicht einfach nur als Nachbarin, sondern als Blick in die Freiheit. Die Erinnerung an Chonas typisches Hinken, während sie und ihre Kindheitsfreundin, eine große, umwerfende, stille Seele namens Bernice Davis, jeden Morgen die unbefestigten, mit Schlaglöchern übersäten Straßen des Viertels zur Schule hinuntergegangen waren, hatte sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Sie war der Beweis, dass es in Amerika die Möglichkeit der Gleichwertigkeit gab: Wir alle können miteinander auskommen, sieh dir nur die beiden an. Chona ihrerseits sah die Schwarzen nicht als Schwarze, sondern als Nachbarn mit unendlich interessanten Leben. Darlenes Tochter hatte so lange am Stück Schluckauf, wie es Chona noch nie erlebt hatte. Der zwölfjährige Larnell konnte nicht lesen, aber die kompliziertesten Rechnungen im Kopf ausführen. Und dann natürlich Bernice, die direkt nebenan wohnte, ihre beste Freundin in Kinderzeiten gewesen war, aber kaum noch etwas sagte und so viele Kinder hatte, dass die Schwarzen auf dem Chicken Hill von Bernices Brut lachend als »vierzig Mulis auf einem Morgen« sprachen, denn niemand wusste genau zu sagen, wie viele Kinder Bernice tatsächlich hatte, und sie trauten sich nicht, sie zu fragen.
Die Schwarzen füllten Chonas Krankenzimmer mit Leben. Sie erzählten Witze, Geschichten von Geistern und Gespenstern und Humorvolles von Fluchten aus dem Süden, das Chona lachen und ihre Schmerzen vergessen ließ. Addie und ihre Schwester Cleota wechselten sich im Laden ab, blieben am Sabbat koscher, schalteten das Licht ein und aus und zündeten den Ofen an, hielten Geschirr und Besteck getrennt und waren sich beide bewusst, dass Chona darauf bestand, Moshe, ganz gleich, was war, zu erlauben, sie zu wecken, wenn er von der Arbeit zurückkehrte. Manchmal kam Moshe abends und fand Addie an Chonas Bett vor, Chona schlief, den Talmud auf ihrem Nachtkästchen und eine Hand auf der offenen Seite, die sie für ihn ausgesucht hatte. Er weckte sie vorsichtig und las die Stelle laut vor. Sie lobte sein Hebräisch, sagte, wie schön es klinge, obwohl sie doch beide wussten, dass es nicht so war. Sie schlief wieder ein, während er las, und er starrte in ihr schönes Gesicht und weinte. Trauer lastete in jenen Momenten auf ihm und wühlte sein Gedächtnis auf. Die wunderlichen Symbole heiliger Bittgesuche im Hebräischen, die ihm als Kind bedeutungslos erschienen waren, gaben ihm in jenen kalten Nächten mit einem Mal Kraft, zwölf Jahre, nachdem sie sich ineinander verliebt hatten. Und wenn er ein wenig geweint hatte, las er weiter. Er las das Wort, um sie am Leben zu erhalten, und indem er es tat, erwachte auch ein Teil von ihm zum Leben.
Als aus dem Winter Frühling wurde, begann Chonas langer Abschied.
Eines Nachts gegen Ende des Frühlings verlor sie das Bewusstsein und wurde in aller Eile ins Krankenhaus im nahen Spring City gebracht. Sie kam wieder zu sich und wurde tags darauf entlassen, aber die Ärzte erklärten Moshe, wenn ihr Fieber zurückkomme, müsse sie wieder ins Krankenhaus, ihr Ende sei nahe.
Am nächsten Tag wich Moshe nicht von ihrer Seite, auch wenn sie nicht zu wissen schien, dass er da war. Sie redete wie im Fieber, bis Medizin und Müdigkeit schließlich die Oberhand gewannen und sie den Großteil des Nachmittags schlief. Bis in den Abend hinein schlief sie, und Addie schob Moshe aus dem Haus und sagte, er solle ein wenig frische Luft schnappen. Moshe ging hinunter zu seinem Theater, um nach dem Rechten zu sehen. Der endlos treue Nate und eine kleine Gruppe Schwarzer räumten nach dem Gastspiel des schwarzen Bandleaders Louis Jordan auf, der drei Abende in Folge mitreißende Konzerte gegeben hatte. Moshe griff nach einem Besen und wollte helfen, um nicht den Verstand zu verlieren, als er eine Gestalt durch die Hintertür kommen sah. Es war sein Cousin Isaac aus Philadelphia.
»Machen wir einen Spaziergang?«, sagte Isaac.
Moshe lehnte ab. Stattdessen nickte er zu einem leeren Tisch vor der Bühne hinüber.
Isaac, groß und kräftig, zwängte sich auf einen der Stühle. Er trug einen Gehrock und einen Fedora und legte weder das eine noch das andere ab. Offenbar hatte er nicht vor, lange zu bleiben. Er bedeutete Moshe mit einer Handbewegung, sich ebenfalls zu setzen, doch der lehnte auch das ab und blieb gegenüber von seinem Cousin stehen.
Mit seinen siebenunddreißig Jahren war Isaac ein eindrucksvoller Mann. Da war nichts mehr von dem mageren Vierzehnjährigen, der seinen kleinlauten jüngeren Cousin mehr als tausend Meilen zu Fuß aus den Karpaten und durch Osteuropa geführt hatte – aus Bârlad in Rumänien bis nach Hamburg. Die beiden Jungen waren Polizei und Soldaten ausgewichen, hatten sich in Gassen geduckt und hinter Mülleimern versteckt, Fusgeyer, die hier ein bisschen was gestohlen und sich dort ein bisschen was ausgeborgt hatten, bis eine nette alte Frau in Hamburg sie in ihrem Souterrain wohnen ließ, wo sie Zigarren für ihren kranken Mann rollten, der zu Hause für eine örtliche Zigarrenfabrik arbeitete. Der alte Mann starb oben im Haus Stück für Stück, während sich die Jungen unten über drei Jahre die Schiffspassage nach Amerika verdienten. Isaac war jetzt ein großer Amerikaner, groß in jeder Hinsicht, ein Mann von anmaßender roher Kraft mit breiter Brust und breiten Schultern, der Besitzer von neun erfolgreichen Showbühnen in Philadelphia. Stolz trug er seinen dunklen Anzug, das frische weiße Hemd, die Schleife und die glänzenden Schuhe. Das hatte nichts mehr mit ihren Tagen in Rumänien zu tun, wo sie in zerlumpten Hosen und kaputten Schuhen herumgelaufen waren und sich gestohlenes Brot in den Mund gestopft hatten, während sie vor wütenden Ladenbesitzern und russischen Soldaten flohen.
»Ich bin gekommen, um dich zu fragen, wie man farbige Bands bucht«, sagte Isaac.