Himmelfahrt mit Hyperspeed - Mikael Lundt - E-Book

Himmelfahrt mit Hyperspeed E-Book

Mikael Lundt

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie viel Nervenkitzel verträgt ein deutscher Provinzpfarrer? Gregor Dümpel wird es bald herausfinden! Provinzpfarrer Gregor Dümpel kämpft sich durch einen öden Alltag aus Beerdigungen und Sodbrennen – bis ein mysteriöses Piepsen aus der Kirchenorgel alles verändert. Was Dümpel noch nicht weiß: Es stammt aus Millionen Lichtjahren Entfernung und ist das erste Puzzleteil eines Jahrtausende alten spirituellen Rätsels. Ein unbedachter Moment der Neugier katapultiert ihn zusammen mit Konfirmand Ronny in ein wildes Abenteuer zwischen den Sternen.Schnell muss Dümpel erkennen, dass er nicht der Einzige ist, der versucht, die Geheimnisse einer uralten Zivilisation zu lüften – und dass seine Gegenspieler vom Volk der Andur skrupellos und arglistig agieren. Der Pfarrer ist gezwungen, in die ungeliebte Heldenrolle zu schlüpfen, um zusammen mit der Archäologin Chloé und dem Außerirdischen Kheel die Machtübernahme der Andur zu vereiteln. Andernfalls bliebe ihnen der Weg nach Hause für immer versperrt.Während der intergalaktischen Schnitzeljagd wird auch Dümpels Glaube hart auf die Probe gestellt. Denn immer stärker kristallisiert sich heraus, dass Gott womöglich etwas ganz anderes ist, als er immer dachte. Eine Kirchenorgel im Weltraum, ein uraltes spirituelles Rätsel, eine interstellare Schnitzeljagd.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Himmelfahrt mit Hyperspeed

Prolog

Dschungelfieber

Abflug

Ferngesteuert

Basis Omega 13

Sternennebel

Puzzlespiele

Vermint

Visionen

Das Orakel

Erleuchtung

Schwarze Pest

Attacke

Die Sphäre

Countdown

Heimat

Epilog

Danksagung

Impressum

 

 

Mikael Lundt

 

 

Himmelfahrt mit Hyperspeed

Erleuchtung in höchsten Sphären

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

In der Weite des endlosen Alls lag eine Sphäre – größer, makelloser und schöner als alles, was Menschenhände je gebaut hatten. Sie war härter als Titan, härter als Diamant und glänzender als frisch poliertes Silber. Doch sie lag in absoluter Dunkelheit, unsichtbar für Augen und Sensoren. Eine undurchdringliche Hülle lenkte das Licht der Sterne ab, so als wäre es Millionen Parsec weit weg. So lag die Sphäre totenstill im luftleeren Raum und wartete – keiner weiß, wie lange schon.

Ein unmerkliches Signal schickte sich an, diese Ruhe zu beenden. Es traf die Antenne am nördlichen Pol der Sphäre und weckte sie aus ihrem Schlaf. Seit über tausend Jahren war die verschlüsselte Botschaft nicht mehr aufgefangen worden. Doch die Antennenstation dekodierte sie wie am ersten Tag und löste die programmierte Reaktion aus. Rund um die gewaltige Kugel erwachten Sendemasten zum Leben, unzählige winzige Lichter an ihren Spitzen durchbrachen das Schwarz. Sogleich begannen sie in pulsierenden Mustern zu blinken. Nach und nach überzogen sie die gesamte Oberfläche, bis die Sphäre wirkte wie ein intergalaktischer Seeigel. Die Sendemasten dröhnten innerlich, als die Leistung hochgefahren wurde. Ebenso unsichtbar wie das erste Signal gekommen war, strahlte die Antwort hinaus in die Tiefen des Weltalls. Die Lichter erloschen, als wäre nichts geschehen.

In alle Richtungen pflanzte sich die Nachricht fort: Mit Überlichtgeschwindigkeit jagte sie durch alle Schichten des Subraums, die den Erdenmenschen noch gänzlich unbekannt waren. Auf seinem Weg aktivierte das Signal Relaisstationen und Verteilerknoten, die bisher still im Raum geschlummert hatten. Sie verstärkten es und schickten es weiter, bis in die letzten Winkel der Galaxie. Es durchzog auf seinem Weg Sternennebel, umrundete Pulsare und schwarze Löcher, schlüpfte schadlos durch Asteroidengürtel und streifte unzählige Planeten, Monde und Kometen. Nach langer Reise glitt es durch die Armee an Satelliten um die Erde und drang in die Stratosphäre ein. Es sank hinab in die dichteren Luftschichten und durchdrang regenschwangere Wolken. Das Signal, das in weitester Entfernung gestartet war, näherte sich dem Erdboden und drang unbemerkt durch die Mauern und Dächer der Gebäude. Es machte vor nichts halt, auch nicht vor der Dorfkirche in Schrobengrün.

Es war ein gewöhnlicher Mittwochmorgen, als die fremde Botschaft im menschenleeren Kirchenschiff auf eine majestätische Orgel traf. Kaum war das Signal aus dem All aufgefangen, hallte ein kleinlautes Piepsen durch die Bankreihen der Kirche. Doch niemand war da, um sich über das ungewöhnliche Geräusch aus dem Instrument zu wundern.

Dschungelfieber

 

Chloé Legrande drohte zu zerfließen. Das Klima des peruanischen Dschungels machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen wollte. Doch aufzugeben war keine Option, dafür war sie viel zu ehrgeizig. Und wenn sie ehrlich war, konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als hier im peruanischen Urwald zu schwitzen und Artefakte zu reinigen – trotz der schwülen Hitze und den Massen an Insekten und Gifttieren. Als Archäologin musste Chloé an den abgelegensten und unwirtlichsten Orten arbeiten: in Wüsten oder in Urwäldern, auf Bergen oder sogar unter Wasser. Sie musste in Erdlöchern graben, Schlingpflanzen zerhacken, unterirdische Gänge erkunden, Steinbrocken wegrollen oder antike Fallen überlisten. Sie durfte sich außerdem weder von mystischen Flüchen noch von aggressiven Ureinwohnern einschüchtern lassen. Und das tat sie auch nicht. Das Unbekannte übte eine Faszination auf sie aus, die sie alles andere ertragen ließ. Diese Begeisterung hatte sie auch ihr Studium in Rekordzeit abschließen lassen – mit 26. Sofort danach hatte sie sich in die praktische Arbeit gestürzt und es keine Sekunde bereut. Es gab ihr den sprichwörtlichen Kick, etwas ans Licht zu bringen, was seit Ewigkeiten unter einem Mantel des Vergessens lag – so wie die untergegangene Zivilisation der Menda, die sie hier erforschen wollte. Dieses Volk bildete immer noch ein Rätsel für die Wissenschaft. Wie bei anderen südamerikanischen Hochkulturen lag im Dunkeln, wie sie vor Tausenden von Jahren mit primitivsten Werkzeugen wohl durchdachte Siedlungen, perfekt bewässerte Agrarflächen und majestätische Tempelanlagen hatten errichten können. Ebenso war unerforscht, warum und wann genau dieses Volk vom Erdboden verschwand. Chloé wollte die Wahrheit ans Licht bringen. Und so war sie gut eine Woche durch den tiefsten Dschungel gewandert, um zu dieser Tempelruine zu gelangen. Sie hatte sie scherzhaft „Bestia Negra“ getauft, weil die alten Steinbrocken zum Großteil mit schwarzen Flechten überwuchert waren.

Nun hockte sie hier über den drei Tonkrügen, die sie gestern in der Ruine gefunden hatte, und grübelte.

„Verflucht noch eins“, rief Chloé in den menschenleeren Innenhof der Ruine hinein, so als machte sie den seit Jahrtausenden toten Erschaffern einen Vorwurf. „Soll ich sie etwa zerschlagen?“

Sofort nach der Ankunft hatte sie angefangen, den Tempel zu erkunden, und wurde in einen Nebengang tatsächlich fündig. Doch die Krüge gaben ihr Rätsel auf. Sie waren offenbar aus einem Stück gefertigt, ohne Öffnung. In einem der Krüge klapperte etwas.

„Wie habt ihr das Zeug nur da reingekriegt?“, fragte Chloé laut. Sie glaubte nicht, dass es möglich wäre, solche kunstvollen Krüge zu formen, darin etwas zu verstecken und den Ton zu brennen, ohne dass alles zu Bruch ging. So etwas dürfte mit den damaligen Möglichkeiten nicht machbar gewesen sein. Darauf deuteten zumindest alle Erkenntnisse der Forschung hin.

Die Ungeduld nagte an Chloé. Zu gern wüsste sie, was sich darin befand. Doch sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie die Gefäße öffnen sollte – vor allem, ohne sie zu zerstören. Und ein oberstes Gebot der Archäologie war, niemals Artefakte zu beschädigen, sondern sie möglichst ohne Blessuren zu untersuchen. Womöglich vernichtete man unwiederbringlich etwas von historischem Wert, wenn man es unbedacht anging. Die Krüge waren bisher ihr einziger Fund, denn weiter als bis in diesen einen Gang des Tempels hatte sie nicht vordringen können. Alle Wege endeten in Sackgassen.

Chloé musste sich noch einmal die Symbole ansehen, vielleicht war ihr ein entscheidender Hinweis entgangen. Als sie gestern die Tongefäße vom Sockel nahm, hatte sie darunter Gravierungen im Stein entdeckt. Die Symbole deuteten an, dass sich in den Krügen womöglich der Schlüssel zu den Geheimnissen des Tempels verbergen könnte. Ein Symbol war eine große Kugel, aus der Strahlen herauskamen. Möglicherweise war sie das Zeichen für eine Gottheit der Menda. Ein weiteres Symbol sah wie eine Flöte aus. Und ein drittes zeigte eine Schriftrolle. Vielleicht ein Gebetsbuch? Alles zusammen könnte zu einem religiösen Ritus gehört haben, vermutete Chloé. Sie hievte sich hoch. Vom langen Sitzen auf dem harten Steinboden waren ihr beide Beine taub geworden. „Mist, elender!“, schimpfte sie und humpelte zum Eingang des Tempels.

Kaum war sie in den unterirdischen Gang getreten, fiel ihr das Piepsen auf. Das war gestern Abend nicht da gewesen. War noch jemand hier? „Hallo?“, rief sie zögerlich in den Gang, doch nur ihr eigenes Echo antwortete. Dann piepste es wieder. Sie hatte keinerlei elektronische Geräte dabei, nur ihre Taschenlampe, und die hatte noch nie gepiepst. Das Geräusch kam eindeutig von weiter drinnen. Chloé ging weiter, bis sie an die Fundstelle der Krüge kam. Ihr war, als ob das Piepsen von jenseits der sicherlich meterdicken Wand kam. Sie legte die Stirn in Falten. Das kleinlaute Piepsen war beunruhigender als jede Erzählung über tödliche Flüche oder über hinterlistige Fallen, die man in Archäologenkreisen immer wieder hörte. Sie betrachtete die Symbole noch einmal genau – und stutzte. Sie war sich sicher, dass es gestern nur drei gewesen waren. Doch nun fand sie ein viertes in den Stein geritzt. Es zeigte einen gesprungenen Tonkrug und einige Scherben. Dahinter eine Tür. War das etwa die Aufforderung, die Krüge tatsächlich zu zerschlagen? Chloé stand unschlüssig im Zwielicht des Tempelgangs. Gelegentlich rächte es sich, dass sie ausschließlich allein arbeitete. Sie konnte niemanden um Rat fragen. Andererseits war eben auch keiner da, der sie tadeln oder zurückhalten könnte. Vielleicht müsste sie die Krüge opfern. Regeln waren da, um manchmal gebrochen zu werden.

 

Das Leben eines deutschen Provinzpfarrers hatte zweifelsohne sein Gutes. Man konnte sich nicht nur intensiv mit theologischen, mystischen und philosophischen Fragen beschäftigen, sondern dabei auch den Stress des modernen Berufslebens weitgehend vermeiden. Andere Leute plagte tagtäglich jener Stress, der das Gute im Menschen verschlang, sie zu emotionalen Krüppeln machte oder sie zu allerhand widernatürlichen Betätigungen trieb, beispielsweise Yoga. Gregor Dümpel war froh, den Weg Gottes gewählt zu haben. Da blieb ihm Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen – und es blieb Zeit, Gesangbücher zu sortieren. Obwohl das nicht seine Aufgabe war, sondern die von Konfirmand Ronny. Doch der war wie immer zu spät. Seit Ronny Speckmann im Konfirmandenunterricht angemeldet war, stieg der Stresslevel von Pfarrer Dümpel stetig in die Höhe. Dennoch musste er wohl Gott danken, dass Ronny in seinem Dorf der einzige Teenager im Konfirmationsalter war.

Mit 15 Minuten Verspätung kam er schließlich durch das Portal der Kirche geschlurft. Wie üblich mit gesenktem Haupt. Doch nicht etwa, um sich in Demut vor Gott zu erweisen, sein Blick klebte auf dem Display des Smartphones. Dümpel biss sich auf die Zunge. Gleichgültigkeit regte ihn auf. Denn das war es, was Ronny seiner Umwelt entgegenbrachte: absolute und universelle Gleichgültigkeit. Sicher wäre der Junge nie auf den Gedanken gekommen, zu konfirmieren, wenn ihm sein zwei Jahre älterer Cousin nicht erzählt hätte, dass man zur Konfirmation einen Haufen Geld von den Verwandten bekam. Dümpel legte den Stapel Gesangbücher ins Regal und sah Ronny tadelnd an. Er nahm wie gewohnt keine Notiz davon. Ohne den Blick zu heben, blieb er wie automatisiert vor dem Pfarrer stehen. Im selben Moment piepste es zweimal. Dümpel sah sich kurz irritiert in der Kirche um und blickte dann wieder zu Ronny.

„Mach es aus“, forderte er.

„Was'n? Is' doch auf stumm“, maulte Ronny.

Dümpel war sich nicht sicher, was da gepiepst hatte. Dennoch regte ihn das Handy-Getippe auf. „Und trotzdem! Wir wollen jetzt über Gott sprechen, und den findet man nicht im Internet“, sagte Dümpel.

Ronny sah zum ersten Mal auf. Sein Blick verriet tiefsitzende Abscheu. Die reale Welt machte ihn krank. „Echt jetzt? Schon wieder?“

„Wie jeden Mittwoch, Ronny. Und die zwei Stunden ohne Handy werden dich sicher nicht umbringen“, bestimmte Dümpel und zeigte auf die Tür an der Seitenwand. Diese zwei Stunden geballte Langeweile würden ihn auf jeden Fall umbringen, dachte Ronny, mit und ohne Handy.

 

Chloé betrachtete die Tongefäße noch einmal genau. Sie wollte sich alles einprägen, bevor sie sie zerschmetterte – sofern sie sich überhaupt dazu durchringen konnte. Sie atmete noch einmal tief durch. Doch. Sie würde es tun. Jetzt gleich, bevor sie es sich wieder anders überlegte. Sie schloss die Augen und gab dem ersten Krug einen Schubs. Wenn sie nicht hinsah, wenn es passierte, könnte sie sich vielleicht einreden, es wäre aus Versehen geschehen. Nur für den Fall, dass die Sache schiefging. Es war idiotisch, das wusste sie, aber es machte die Sache leichter. Sie hörte, wie der Krug auf dem Boden aufschlug und zerbrach. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Zwischen den Scherben lag eine Flöte. „Hmmm“, brummte Chloé. Die Vermutung stimmte also. Nun war klar, dass die Gefäße zweifelsohne mit den Symbolen im Tempel korrespondierten. Demnach müssten in den anderen beiden ein Schriftstück und eine strahlende Kugel sein. Sie stieß die anderen Krüge um. Tatsächlich: Eine Schriftrolle und eine metallisch glänzende Kugel kamen zum Vorschein. Sie betrachte alle Objekte genau. Vor allem die Kugel war ungewöhnlich, sie schien perfekt gerundet, womöglich auf den Zehntelmillimeter genau. Unvorstellbar, dass die Menda so etwas hergestellt haben konnten. Und das, während die Menschen in Europa quasi noch auf den Bäumen gesessen hatten. Chloé griff nach der Kugel. Ihre Finger begannen zu kribbeln. Sie umfasste die Kugel und sofort fühlte es sich an, als würde ihr das Blut aus dem Kopf in die Beine sacken. Ihre Knie wurden weich und ihr Blickfeld verengte sich, bis nur noch Finsternis zu sehen war. Sie starrte in tiefste Schwärze. Gerade so konnte sie eine dunkelgraue, kreisrunde Silhouette ausmachen, die sich vor dem Licht zu verstecken schien. Dann kam ihr Bewusstsein wieder.

„Uff, dieses Klima“, schnaufte Chloé. Offenbar schlug ihr die Hitze doch stärker auf den Kreislauf, als sie dachte. Sie legte die Kugel beiseite und blickte nach oben. Die Sonne stand hoch am Himmel und schickte gnadenlos ihre gleißenden Strahlen herunter. Chloé holte sich eine Wasserflasche. Nach einem großen Schluck würde es ihr gleich besser gehen.

Als sie wieder klar bei Sinnen war, griff sie zur Schriftrolle und rollte sie behutsam auf. Sie war außerordentlich gut erhalten, keine Risse oder Löcher im Pergament. Oben war ein Bild der Flöte eingezeichnet, und unten prangte die Kugel. Daneben eine Zeichnung des Tempels, wie er einmal ausgesehen hatte – mit zwei Türmen, die über die Jahrhunderte wohl eingestürzt waren.

Zwischen den Bildern fanden sich mehrere Zeilen mit einer Codierung in Punktform. Zwei Punkte, dann vier, dann wieder zwei, einer, drei, fünf, sechs und so weiter. Es waren nie mehr als sechs Punkte am Stück. Eine solche Schrift war Chloé noch nie untergekommen. Es hatte etwas Mathematisches. War es eine Anleitung, wie man in den Tempel gelangte? Und wozu dienten die Kugel und die Flöte? Sie nahm das Instrument zur Hand. Auch dieses schien von ausnehmend guter Qualität zu sein. Erst hatte sie das Material für Holz gehalten, doch die Flöte war zu schwer. Es musste Stein sein, ein glattes, absolut makelloses Gestein. Sie besah es sich von allen Seiten. Die Flöte war etwa 20 Zentimeter lang, oben ein zierliches Mundstück, unten eine ovale Öffnung, und auf dem Schaft befanden sich sechs Löcher. Sechs Löcher. Der Gedanke drehte ein paar Runden in Chloés Hirnwindungen, bevor es ihr schlagartig klar wurde. Die Punktschrift war eigentlich eine Notation. Auf der Schriftrolle stand ein Lied. Ein Lied, das vermutlich seit einigen Tausend Jahren nicht gespielt worden war. Chloé spürte, wie ihre Kopfhaut prickelte, das war genau der Nervenkitzel, der sie zu all den grenzwertigen Aktionen trieb. Sie schnappte sich alle Gegenstände und flitzte in den Tempel zurück. Vor den Symbolen legte sie Kugel und Schriftrolle ab. Hoffentlich klebten an der Flöte nicht noch irgendwelche tödlichen Keime des Vorbesitzers. Chloé drängte den Gedanken beiseite und setzte an. Als Kind hatte sie ein wenig Flötenunterricht gehabt, aber das war über 20 Jahre her und sie konnte nicht gerade sagen, dass es ihr viel Spaß gemacht hätte. Sie bedeckte die ersten beiden Löcher mit den Fingern und blies hinein. Der Ton war grauenhaft. Schrill und schief. Chloé setzte die Flöte ab und sah sie skeptisch an. Das konnte doch nicht stimmen. Wobei, vielleicht war die Musik der Menda ja auch ganz anders als alles, was sie kannte. Sie würde das Lied zu Ende spielen. Wieder setzte sie an und blies hinein. Sie griff alle Töne, die auf der Schriftrollen verzeichnet waren, bis zum letzten. Die Notation war idiotensicher. So konnte man sich kaum verspielen, auch mit rudimentären Kenntnissen. In den letzten Ton mischte sich ein Brummen. Der Tempel vibrierte. Chloé sah sich verschreckt um, würde alles einstürzen? Müsste sie fliehen? Da glitt plötzlich die Wand hinter den Symbolen zur Seite. Das Piepsen war nun lauter zu hören als jemals zuvor. Es hatte geklappt. Chloé betrachtete die dunkle Öffnung einige Sekunden, dann wurde die Neugier übermächtig. Sie schnappte sich die Artefakte und ging hinein. Kaum hatte sie den geheimen Raum betreten, glitt die Steintür blitzschnell zu. Ihre Taschenlampe flackerte erst und ging dann aus, noch bevor sie etwas erkennen konnte. Es folgte ein ohrenbetäubendes Rumpeln. Chloé wurde zu Boden gedrückt. Hatte sie etwas getroffen? War die Decke eingestürzt? Ihr war schwindelig, sie konnte kaum atmen. Ehe sie eine Antwort darauf finden konnte, was geschah, verlor sie das Bewusstsein.

 

Der Unterrichtsraum des evangelischen Gemeindehauses entstammte sichtlich einem anderen Jahrhundert. Schon allein die Farbgestaltung kam mittelalterlicher Folter gleich, fand Ronny. Gesprenkelt-grauer Linoleumboden, eine grobe Holzdecke in Dunkelbraun, dazu Tische und Stühle aus Buche, mit olivgrün lackierten Ecken und Beinen. Auf jedem einzelnen Tisch lagen gehäkelte Zierdeckchen. Diese durften keinesfalls bewegt werden, darauf wurde jede Stunde eindringlich hingewiesen. Denn unmittelbar nach dem Konfirmandenunterricht traf sich im gleichen Raum der Seniorenkreis. Und ohne akkurat drapierte Zierdeckchen wäre das eine Katastrophe. Die Wände waren gepflastert mit den lokalen Höhepunkten aus drei Jahrzehnten neuerer Kirchengeschichte: die Besuche des früheren Diakons sowie seiner Nachfolgerin, das Kindergartenfest in zwölffacher Ausführung, ebenso viele Laternenumzüge, Tag der offenen Kirchentür und so weiter. Ronny war froh, an keiner der Veranstaltungen teilgenommen zu haben. Ihm reichte das hier völlig. Jetzt wäre er wieder zwei Stunden das persönliche Opfer von Pfarrer Dümpel. Dem machte es offensichtlich Spaß, ihn mit dem kleinen Katechismus zu quälen. Aber um den wöchentlichen Unterricht kam er nicht herum.

„Hast du die Hausaufgabe?“, fragte Dümpel.

„Hmmm“, murrte Ronny. „Ja, wissen Sie, das war schwierig. Wir hatten einen Todesfall in der Familie.“

Dümpel sah Ronny skeptisch an, doch sein Amt gebot Zurückhaltung. „Hoffentlich kein naher Verwandter?“, fragte der Pfarrer diplomatisch.

„Horst“, sagte Ronny.

„Horst?“

„Der Dackel von Onkel Kalle.“

Pfarrer Dümpel spürte, wie ihm heiß in der Magengegend wurde. Doch er atmete die Wut weg.

„Mein Beileid“, sagte er knapp und ergänzte dann: „Ich nehme an, du hast nachher noch etwas Zeit. Die Bibeln müssen aufgeräumt und die Kerzen am Altar ausgetauscht werden.“

Ronny wollte erst protestieren, aber sah ein, dass er es nicht übertreiben durfte, wenn er doch irgendwann konfirmieren wollte. Immer wieder sah er den Batzen Geld vor sich und malte sich aus, was er damit alles kaufen konnte. Auf jeden Fall ein neues Smartphone.

„Okay“, murmelte er.

„Wunderbar, Ronny, wunderbar. Und jetzt schlag Seite 64 auf, das wirst du dann bis zum nächsten Mal auswendig lernen.“

 

Wie ein listiger Raubfisch lag die Nebnar 1 im Schatten des dritten Mondes um Kaspodon. Die Nebnar war ein mächtiges Schiff, das aussah wie ein urzeitlicher Knochenbarsch mit zahllosen Zacken und Spitzen auf dem gehärteten Panzer. Der ganze Rumpf des Andur-Schiffs war eine Waffe. Dort im Dunkel lauerte die Nebnar, sofort bereit zuzuschnappen, sobald sich ahnungslose Beute in ihre Reichweite begeben würde.

Das karg eingerichtete Quartier von Kommandant Rogol N’Ansan glich einem Stahlsarg, ohne jeglichen Komfort. Der war auch nicht nötig, denn N’Ansan war der geborene Krieger. Stumm saß der Kommandant auf einer Pritsche und besah seine Sammlung, die in Metallregalen gegenüber lagerte. Er hütete sie mit seinem Leben und widmete ihr jede freie Minute. Über die letzten zwei Jahrhunderte hatte er sie mühsam zusammengetragen, aus dem ganzen bekannten Reich: Steintafeln und Schriftrollen, antike Instrumente, Edelsteine, Werkzeuge sowie eine wunderschöne silbern glänzende Kugel. Sie war seine jüngste Errungenschaft und würde den Durchbruch bringen. Davon war er fest überzeugt, seit er sie mit seinem neuen Peilgerät analysiert hatte. Durch das Abtasten war klar geworden, die Kugel strahlte ein Signal ab, dessen Zweck er nur noch zu ergründen brauchte. Er hatte das Signal reproduziert und über die Schiffssysteme in hundertfacher Stärke abgestrahlt. Seitdem empfing er aus dem ganzen bekannten Reich Echos davon, auch seine anderen Fundstücke schienen auf bisher unbekannte Art aktiviert worden zu sein. N’Ansan war überzeugt, das könnte der Schlüssel zu seinem eigentlichen Ziel sein.

Seit er denken konnte, trachtete er danach, die Sphäre der verhassten Hildur endlich einzunehmen und die Macht im Universum zu übernehmen. Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf sein vernarbtes Gesicht. Unzählige Kämpfe hatten es gezeichnet. Aber er sah all die Narben und Wunden als Auszeichnungen. So hatte es ihm sein Vater eingeimpft. Der Kampf macht einen erst zu dem, was man ist. Und er und seine Familie waren der Fluch der Hildur. Seit Generationen dürstete es die Familie nach Rache. Rache für den Tod des Urgroßvaters, den einstigen Führer der Andur. Nun würde N’Ansan in dessen Fußstapfen treten und zum neuen Anführer seines Volkes werden, das sich mit der Zeit in dutzende Clans und Sippen aufgespalten hatte. Kein anderer hatte so viel erreicht und kein anderer konnte vollbringen, was er vollbringen würde: die verhassten Hildur fortzujagen, zu vernichten! Und dann würde er die Clans der Andur vereinen und eine neue Ordnung ins Universum bringen. Die Vision entzückte ihn. Doch so weit war es noch nicht. Es hieß, nicht die Geduld zu verlieren. Nicht wieder vorschnell handeln. Das hatte sich schon früher böse gerächt. Der Kommandant nahm die Silberkugel ganz nah vor das Gesicht und sah, wie er sich darin spiegelte. Seine Züge wirkten kalt und diabolisch verzerrt. Er konnte gar nicht ermessen, wie gut ihm dieser Anblick gefiel.

Abflug

 

Pfarrer Dümpel hatte Sodbrennen. Es war kein Wunder, bei der Menge an Beerdigungen, die er in seinem vergreisten Dorf abhalten musste. Seit seinem Antritt der Pfarrstelle vor zweieinhalb Jahren immerhin 116 Stück. Dass sein Magen heute wieder rebellierte, lag nicht an der Traurigkeit des Anlasses, sondern am Leichenschmaus. Dümpel konnte Häppchen mit Wurst und Gürkchen nicht mehr sehen. Auch von fettem Kartoffelsalat bekam er das kalte Grausen. Die Hinterbliebenen der 93-jährigen Agnes Hildmair hatten jedoch kein Erbarmen mit seinem Verdauungsapparat. Kurz bevor er auf die Toilette verschwunden war, hatten sie ihm gedroht, von dem köstlichen Salat eine extra große Portion einzupacken. Er hatte unmittelbar an Flucht gedacht. Doch er kannte das Gasthaus genau. Die Toilettenfenster waren außen vergittert, er musste zurück durch den Gastraum, wenn er nach Hause wollte. Dümpel trat ans Waschbecken und bat sein Spiegelbild um Rat. Er war jetzt 35, im Grunde steckte er mitten in den besten Jahren. Doch fühlte es sich nicht so an. Das Spiegelbild wirkte blass und kraftlos. Das konnte nicht nur an der Neonbeleuchtung liegen. Auch sah der Mann im Spiegel wegen des fehlenden Bartwuchses und der hageren Gestalt gut zehn Jahre jünger aus, als er war. Vermutlich wollten die alten Damen ihn deshalb immer bemuttern. Dümpel atmete tief durch und trank dann einen Schluck aus dem Wasserhahn. Wird schon gehen, dachte er, straffte seine Robe und machte sich auf den Weg zurück in den Gastraum. Er hielt als Erstes an der Theke. „Sag mal, Heiner“, flüsterte er dem Wirt zu. „Hast du noch was von deinem selbstgemachten Kräuterlikör?“ Dümpel hielt sich demonstrativ die Magenregion.

Heiner zwinkerte ihm zu. „Selbstredend hab ich noch etwas von dem himmlischen Gebräu! Das hätte sogar Jesus wieder von den Toten aufgeweckt.“

Dümpel ignorierte die Blasphemie und lächelte milde. Der Wirt stellte ihm ein Schnapsglas hin. „Wohl bekomm’s!“

Dümpel freute sich schon auf das wohlige Gefühl, dass der Magenbitter gleich in seinem Bauch auslösen würde. Genüsslich hob er das Glas an und betrachtete dabei den Fernseher in der Küche, den man von hier aus sehen konnte. Zuhause hatte er seit Jahren keinen mehr. Das vergiftete den Geist, war er überzeugt. Doch hin und wieder könnte man mal einen Blick riskieren. Es liefen Nachrichten, das ließ sich noch am ehesten ertragen. Offenbar war in Südamerika Rauch aus einem alten Tempel im tiefsten Dschungel aufgestiegen. Eine Rakete habe eingeschlagen, behauptete ein Vertreter der peruanischen Regierung. Die Amerikaner hätten angegriffen, lautete seine Schlussfolgerung. So ein Blödsinn, dachte Dümpel, nicht einmal die Amerikaner wären so dämlich, einen tausend Jahre alten Tempel zu bombardieren. Verwackelte Amateur-Aufnahmen, die aus dem Helikopter einer Naturschutzorganisation gemacht wurden, sollten den Vorgang belegen. Doch im Grunde war nichts zu sehen außer diffusem Rauch und matschigem Grün. Offizielle Stellen der USA dementierten alles. Wieder nur Unfug, dachte Dümpel. Er wusste schon, warum er sich keinen Fernseher anschaffte. Jetzt würde er sich noch einen Schnaps geben lassen, sich dann den Kartoffelsalat schnappen und ihn zu Hause im Klo runterspülen. Nein, natürlich würde er ihn wie immer in den Kühlschrank stellen, bis sein Sodbrennen vorüber war. Denn Essen wegzuwerfen, war schließlich eine Sünde.

 

Ronny stand mit geneigtem Kopf vor der mächtigen Orgel und grübelte. Das Piepsen kam eindeutig aus dem Instrument. Und es wurde lauter. Er kramte sein Handy heraus und fing an, ein Video aufzunehmen. Er würde es hochladen und „Krasse Piepsorgel nervt, weil Akku leer“ nennen. Das gäbe sicher ein paar Likes.

„Prächtig, nicht wahr?“, hörte er Pfarrer Dümpels Stimme von hinten.

„Was, hm?“

„Die Orgel, die du so ehrfürchtig betrachtest! Das ist zweifelsohne eine der schönsten Orgeln in ganz Bayern.“

„Ehrfürchtig betrachten, ich? Geht’s noch? Das Ding nervt gewaltig, so wie das piepst!“

„Sie piepst?“

„Sind Sie denn schwerhörig, das ist doch nicht zu überhören.“

„Ich höre sehr gut!“, erregte sich Dümpel und spitzte die Ohren. Nach ein paar Sekunden musste er zugeben: „Ja, gut, sie piepst.“

„Na, also.“

Der Pfarrer ging näher heran und presste sein Ohr an das Gehäuse. „Wirklich seltsam. Das hat sie noch nie gemacht.“

„Gibt’s ne Bedienungsanleitung? Oder soll ich mal im Internet suchen?“

„Im Internet? Was könnte schon im Internet über unsere Orgel stehen?“ Dümpel schüttelte den Kopf.

„Dann halt nicht, ich wollte nur helfen, also echt.“

„Natürlich, entschuldige. Wir können im Archiv nachsehen“.

„Boah, nee. Ich muss dann auch mal weiter“, nörgelte Ronny.

„Du könntest ruhig etwas mehr Aufopferungswillen zeigen“, tadelte Dümpel. „Ich weiß, es ist etwas unordentlich dort, aber pass auf, wenn du mir hilfst, das Archiv zu durchsuchen, dann könnten wir vielleicht nächste Woche den Unterricht ausfallen lassen.“

Diesem Angebot konnte Ronny nicht widerstehen. „Ja, also, wenn ich es mir recht überlege, hab ich womöglich noch ein bisschen Zeit.“

 

Das Archiv war ein Saustall, man konnte es nicht anders nennen. Es war schon das reinste Chaos gewesen, als Dümpel hier als Pfarrer angefangen hatte. Und bei dem ganzen Aufwand, den die Beerdigungen machten, fand er schlicht keine Zeit, es aufzuräumen. Zumindest würde so Dümpels offizielle Erklärung lauten, falls mal jemand fragen sollte. Sein Vorgänger auf der Pfarrstelle hatte alles schleifen lassen. Aber wen wunderte es? Gerüchten zufolge soll der Mann 100 Jahre alt gewesen sein. Am Dorfstammtisch scherzten sie sogar, er sei so alt gewesen, er habe Jesus noch persönlich gekannt. Dümpel konnte darüber nicht lachen, ebenso wenig darüber, dass sein Erbe ein gewaltiges Tohuwabohu war. Überall im Archiv quollen graubraune Ordner aus den Regalen, auf dem Schreibtisch stapelten sich vergilbte Zeitungen und Pfarrbriefe, an den Wänden wuchsen Berge aus Umzugskisten in die Höhe – randvoll mit überzähligen Programmheften, Liederbüchern, Broschüren und allerhand anderen Gegenständen des religiösen Alltags. Dümpel blickte sich orientierungslos um. Irgendwo hier drin musste sich auch etwas über die Orgel finden lassen: vor allem, wie alt sie war und wer sie eingebaut hatte. Dümpel schätzte, dass das Instrument schon vor langer Zeit geschaffen wurde, vermutlich stammte es aus dem 16. Jahrhundert. Danach wurden kaum noch derart prächtige Orgeln gebaut.

Ronny wühlte in einem alten Blechschrank und warf die Akten unachtsam auf den Boden. Pfarrer Dümpel durchsuchte derweil die Hängeregister in einem Schreibtischfach. Er knirschte mit den Zähnen angesichts der Respektlosigkeit Ronnys, aber wenn er ehrlich war, machte die zusätzliche Unordnung keinen großen Unterschied mehr.

„Hmmm ...“, brummte Ronny plötzlich.

Dümpel sah auf. „Was gefunden?“

„Vielleicht. Zumindest ist hier die Orgel drauf eingeritzt.“

Ronny brachte Dümpel eine rötlich schimmernde Schatulle aus Rosenholz herüber. Auf dem Deckel waren drei Symbole eingraviert. Die schätzungsweise über hundert Jahre alte Schatulle hatte etwa die Größe eines Schuhkartons, war kunstvoll gearbeitet und makellos erhalten.

„Oooh“, tönte Pfarrer Dümpel respektvoll und drehte die Schatulle in den Händen. Er besah sich die Symbole genau. Das eine zeigte seine Orgel, ein weiteres eine Kugel, aus der Strahlen entwichen und ein drittes eine Schriftrolle. Das Holzkästchen war verschlossen mit einem silbernen Bügel, doch nirgends fand sich ein Schlüsselloch oder ein anderer Mechanismus, mit dem es sich öffnen ließ.

„Äußerst geheimnisvoll“, murmelte der Pfarrer.

Ronny dagegen tippte schon wieder auf seinem Handy herum. Reliquien aus dem Hinterzimmer der Sakristei interessierten ihn nur bedingt.

„Wie das wohl aufgeht? Vielleicht muss man beten ... oder einen Psalm aufsagen ...“, grübelte Dümpel.

„Oder Strg+Alt+Entf drücken“, warf Ronny ein und grinste breit.

Pfarrer Dümpel sah ihn einen kurzen Moment verständnislos an. Dann widmete er sich wieder der geheimnisvollen Schatulle. „Drücken ...“, grummelte er und strich über die Symbole. Sie schienen etwas erhaben zu sein. Ein Versuch konnte nicht schaden. Er drückte auf das Symbol mit der Orgel. Es versank einige Millimeter tief im Deckel. „Heiliger Bimbam ...“, entfuhr es ihm. Sogar Ronny sah kurz von seinem Display auf und kam um den Tisch herum, an dem Dümpel saß. Der drückte nun auf die Kugel. Auch sie versank im Deckel. Sogleich drückte er auf die Schriftrolle. Doch dieses Zeichen bewegte sich nicht. Dann schnappten die anderen beiden Symbole zurück.

„Falsche Reihenfolge“, bemerkte Ronny. „Sowas kenne ich aus Adventure-Games. Da muss man probieren, bis man die korrekte Abfolge hat.“

Dümpel schob ihm die Schatulle hin. „Versuchs.“

Ronnys Interesse war geweckt. Rätsel fand er gar nicht mal so unöde. Er fing an zu drücken – und scheiterte. Er versuchte eine andere Kombination und dann noch eine. „Es ist immer der letzte Versuch“, erklärte er. Und tatsächlich, bei Versuch Nummer sechs gelang es. Ronny drückte die Kugel, dann die Schriftrolle und als Letztes die Orgel. Alle Symbole rasteten ein und der silberne Verschluss klappte nach unten.

„Ha! Nimm das, du alte Schachtel!“, rief er im Siegestaumel. Dümpel schnappte sich derweil die Schatulle. „Danke, das hast du gut gemacht“, lobte er den Teenager.

„Aber hallo, das kannste laut sagen.“

Pfarrer Dümpel zog die Augenbrauen hoch. So toll war die Leistung nicht gewesen, aber er wollte Ronny sein Erfolgserlebnis nicht vermiesen. Er öffnete behutsam die Kiste und sah hinein. Darin lagen – genau wie auf den Symbolen angedeutet – eine Schriftrolle und eine perfekt gerundete Kugel, die so silbrig glänzte, dass es fast in den Augen wehtat. Sie zog Dümpel in ihren Bann. Er spürte den Drang, sie zu berühren. Vorsichtig streckte er die Hand aus, seine Finger näherten sich wie in Zeitlupe der schimmernden Oberfläche. Dümpel spürte ein Kribbeln in den Fingerkuppen, so als fließe eine Energie aus dem Inneren der Kugel in ihn hinein. Er fasste sie an. Dann traf ihn eine Vision, wie ein Schlag mit der Keule. Er sah eine gigantische Sphäre, die vor einer glitzernden Sternenkulisse im All ruhte. Nach einem Sekundenbruchteil verpuffte das Bild. Dümpel war wieder zurück im Hier und Jetzt und schnappte nach Luft. „Hast du das auch gesehen?“, keuchte er.

„Hä, was?“, murrte Ronny, der schon wieder in sein Handy vertieft gewesen war.

„Ach ...“, brach der Pfarrer ab. „Es war sicher nichts.“ Er konnte das Gesehene nicht einordnen, sicher eine Sinnestäuschung oder eine Nebenwirkung des fetten Essens. Er legte die Kugel beiseite und hörte in sich hinein. Das Sodbrennen war am Abklingen. Dann rollte er die Schriftrolle auf, darauf befanden sich die Noten für ein Lied. So wie es notiert war, sollte man es offenbar auf einer Orgel spielen. Dümpel kam eine Idee. „Sag mal, Ronny, deine Mutter hat mir mal erzählt, dass du früher Klavier gelernt hast.“

„Ich? Nein. Das ist Fake. Ich hab nie Klavier gespielt.“

„Ronny, kennst du das achte Gebot?“

„Ist das ne Fangfrage?“

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

„Hä?“

„Du sollst nicht lügen!“

„Ist ja gut, okay. Ich hab mal Klavier gespielt, aber es war scheiße.“

„Komm mal mit, und mach deine Finger locker.“ Dümpel schnappte sich alle Fundstücke aus der Schatulle und machte sich auf den Weg in Richtung Orgel. Missmutig trottete Ronny hinter dem Pfarrer durchs Kirchschiff. Von weitem war schon zu hören, dass die Orgel jetzt noch lauter und durchdringender piepste. Am Instrument angekommen rollte Dümpel die Schriftrolle wieder auf und spannte sie in den Notenhalter. Dann zeigte er auf die Bank. „Bitteschön, zeig mal, was du kannst.“

„Na, fein. Aber dafür fällt der Konfi-Unterricht zwei Wochen aus, okay?“

Dümpel grübelte. Er hatte keine Wahl, er konnte selbst nicht spielen und der Organist war 83 Jahre alt und fußkrank. Bis er den hierher gebracht hätte, wäre er schon dreimal vor Neugier geplatzt.

„Abgemacht, aber streng dich an“, brummte er.

„Alles klar.“ Ronny knackte mit den Fingergelenken und legte die Hände auf die Klaviatur. Er fing an, zu spielen. Dümpel verzog das Gesicht. Es klang fürchterlich. Konnte das stimmen? Wie lange hatte der Junge nicht mehr Klavier gespielt? Ronny machte keine Anstalten, das gruselige Lied zu unterbrechen. Er spielte bis zum letzten Ton ohne Pause durch. Dann verstummte die Orgel. Dümpel lauschte, ob er im Nachhall noch das Piepsen vernehmen konnten. Doch es war verschwunden.

„Klasse!“, freute sich Dümpel.

„Ich fand’s jetzt nicht so geil“, meinte Ronny.

„Doch nicht das Lied, das war totaler Käse. Ich meine, das Gepiepse hat aufgehört.“

„Stimmt. Und da hinten ist ne Klappe aufgegangen.“ Ronny zeigte zur Verkleidung an der Hinterseite.

Der Pfarrer drehte sich um. Die Verkleidung an der hinteren Seite des Instruments hatte sich zur Seite geschoben. Es sah aus wie eine Tür. Womöglich ein Wartungszugang, dachte Dümpel. Er war baff angesichts der erstaunlichen technischen Leistung der damaligen Zeit.

„Schauen wir rein? Oder kann ich gehen?“, fragte Ronny.

„Wir riskieren mal einen Blick“, erklärte Dümpel.

Sie gingen um die Orgel herum und blickten durch die Öffnung. Es war stockfinster darin. Wie in einem sprichwörtlichen Kohlenkeller.

„Wir brauchen eine Taschenlampe“, meinte Dümpel.

„Ich hab ne App“, sagte Ronny und zog sein Smartphone heraus. Er tippte zweimal und eine grelle LED leuchtete auf. Doch das Licht wurde vom Inneren des Instruments fast vollständig verschluckt. Vorsichtig taten sie einen Schritt hinein. Kaum waren sie durch die Öffnung getreten, schob sie sich hinter ihnen eilig zu. Unzählige Anzeigen und Leuchten erwachten zum Leben. Pfarrer Dümpel sah sich verschreckt um. „Was um Himmels willen?“

„Endkrass cool!“, freute sich Ronny.

Dann ertönte eine durchdringende Melodie. Die Orgel fing offenbar an, selbstständig zu spielen. Es war so laut, dass sich Dümpel die Ohren zuhielt. Doch das tieffrequente Brummen drang durch jede Faser seines Körpers. Die Orgel begann zu zittern und zu vibrieren. Dann presste sie etwas mit ungeheurer Wucht zu Boden. Der Druck raubte ihnen den Atem. Jetzt war es aus mit ihnen, dachte Dümpel. Der Herrgott würde sie zu sich rufen, war er überzeugt. Es blieb nicht mal Zeit für ein Stoßgebet. Schon sanken sie in tiefe Bewusstlosigkeit.

 

Ferngesteuert

 

Kommandant Rogol N’Ansans stahlbewehrte Stiefel brachten die Gitter unter ihm zum Beben. Dicke Flocken aus Rost platzten ab und rieselten in die Spalten darunter. N’Ansans Kommen war schon 20 Meter weiter im Gang zu hören. Seinen Untergebenen blieb also genügend Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Denn der Kommandant bekam miese Laune, wenn man ihn aus dem Schlaf riss. Und seit er einmal einen leichtsinnigen Crewman aus der nächstbesten Luftschleuse ins All gepustet hatte, machte die Mannschaft in solchen Momenten einen weiten Bogen um ihn. So übel wie vermutet war N’Ansans Laune dieses Mal nicht. Angeblich hatte eines seiner Patrouillenboote ein Signalecho aufgefangen, das ihn interessierte. Nun war er auf dem Weg zur Brücke, um die Meldung zu überprüfen.

Zischend tat sich die Schleuse zur Kommandozentrale des Schiffes auf, der Kommandant trat ein. Alle nahmen instinktiv Haltung an.

„Peilung?“, blaffte N’Ansan im üblichen Befehlston.

„Kurs 38-9 zu 72-6 – Entfernung 27 Skon“, erklärte der Steuermann.

„Hinfliegen, volle Kraft voraus!“, gab N’Ansan Order.

„Verstanden“, bestätigte der Steuermann. Die Nebnar 1 verließ den Schatten des Mondes, in dem sie auf der Lauer gelegen hatte und nahm Kurs auf das unbekannte Signal. Der Kommandant grinste innerlich, das könnte ein großer Schritt sein. Er spürte, dass sich die Sache eindeutig in seinem Sinne entwickelte. Erst fand er diese Kugel, die ihm eine Vision der Sphäre offenbart hatte, und nun empfingen sie schon wieder ein Signal, noch dazu stärker als je zuvor. Womöglich ließe sich damit sogar die Sphäre anpeilen? Der Kommandant ließ sich auf seinem Thron im Zentrum der Brücke nieder und sah in Richtung der Anzeigen auf dem Schirm. Doch im Grunde interessierten ihn die Daten in diesem Augenblick kaum. Vor seinem geistigen Auge lebte er die schönsten Machtphantasien aus.

 

„Hey, Mann! Sind Sie tot?“ Ronny rüttelte an Pfarrer Dümpels Schulter. Der gab nur ein Ächzen von sich. „Okay, also nicht“, zeigte sich Ronny zufrieden. Dann begann er, mit seinem Handy Bilder vom Innenleben der Orgel zu machen. „Abgefahren, echt übelst“, murmelte er. Pfarrer Dümpel rang sich dazu durch, die Augen aufzumachen. Er hatte ekelhafte Kopfschmerzen. Ronny tänzelte weiter um ihn herum und lichtete alles ab, was ihm vor das Telefon kam: Schalttafeln, Displays, Knöpfe, Hebel, Blinklichter, alles. Das war für ihn die coolste Orgel, die man sich vorstellen konnte. „Beste Konfi-Stunde ever!“, freute er sich. Das war eine Ansicht, die Dümpel nicht uneingeschränkt teilen mochte. Er stemmte sich hoch und sah sich um. Sie waren eingeschlossen! Und diese Umgebung war ganz und gar merkwürdig. Er hatte noch nie davon gehört, dass eine Orgel dermaßen viel Technik und blinkenden Schnickschnack brauchte, schon gar keine, die Hunderte von Jahre alt war.

„Fuck, elender!“, riss ihn Ronny aus seinen Gedanken.

„Was ist denn?“, erschrak sich Dümpel.

„Kein verdammtes Netz!“

„Junger Mann, das ist kein Grund zu fluchen.“

Ronny sah ihn schräg an. Und ob es das war. Er hielt dem Pfarrer das Handy hin. „Da! Schauen Sie doch, kein einziger Balken, nicht mal Edge!“

Dümpel wollte gerade erwidern, dass Ronny sicher mal eine Weile ohne Empfang auskäme, doch dann wurde ihm klar, dass sie so auch niemanden anrufen konnten, der sie aus dieser Lage befreite. Dümpel suchte die Wände ab. Irgendwo musste doch diese Tür sein. Sie war nicht zu erkennen. Er hatte das Innere fast komplett abgesucht, da hielt er plötzlich inne. Ein kleines Fensterchen war in die Wand eingelassen. Er spähte hindurch und zuckte sofort zurück. „Herr im Himmel, das gibt’s doch nicht!“

„Was’n los? Was sieht man da?“, wollte Ronny wissen und kam näher heran. Dümpel zeigte auf das Fenster. Dann blickte Ronny hinaus. Er sah, wie der Planet Saturn an ihnen vorüberzog, er war eindeutig an seinen Ringen zu erkennen. Dahinter erkannte er die Sonne als winzigen glühenden Fleck. „Oha!“, entfuhr es ihm. „Das ist krass.“ Dümpel nickte stumm mit dem Kopf. Das konnte man wohl sagen. Sein Sodbrennen war augenblicklich wieder da.

 

Dümpel hatte mittlerweile schon dreimal aus dem Fenster geblickt, um sich zu versichern, dass genau das passierte, was er für unmöglich hielt. Sie flogen mit einer Orgel durchs Weltall. Er hatte sich in den Arm gekniffen, weil er es für einen Traum hielt, er hatte sogar Ronny in den Arm gekniffen, was sonst nicht so seine Art war. Sie träumten nicht.

Die Orgel verließ schon bald das Sonnensystem und ging auf Überlichtgeschwindigkeit. Ronny und Pfarrer Dümpel erlebten einen kurzer Moment der Verwirrung, die Zeit dehnte sich wie ein Spanngummi und schnalzte dann zurück. Ronny war sofort klar, was vor sich ging, als er die Sterne wie gleißende Strahlen am Fenster vorbeiziehen sah. Er kannte den Anblick aus unzähligen Filmen und Computerspielen.

---ENDE DER LESEPROBE---