Himmlische Rache - Mary Wings - E-Book

Himmlische Rache E-Book

Mary Wings

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Beschreibung

Das einsam gelegene Haus in Montana, das Marya von ihrer Großtante geerbt hat, ist vollgestopft mit den Zeugnissen einer nahezu besessenen Marienverehrung. Der Versuch, das Geheimnis der Verstorbenen zu ergründen, konfrontiert Maryas Geliebte, die Erzählerin, mit der Welt frommer Klosterfrauen vor mehr als sechzig Jahren – und mit einem düsteren Kapitel in ihrer eigenen Vergangenheit. ›Himmlische Rache‹ ist kein gewöhnlicher Krimi, sondern eine feministische Spurensuche mit kriminalistischem Einschlag – und einem Hauch von Humor. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 330

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Ähnliche


Mary Wings

Himmlische Rache

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Bettina Thienhaus

FISCHER Digital

Inhalt

Für Suzanne,Italia, Italia, o tu [...]DanksagungProlog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243

Für Suzanne,

die vieles möglich macht.

Italia, Italia, o tu cui feo la sorte

Dono infelice di bellezza, ond’hai

Funesta dote d’infiniti guai

Che in fronte scritti per gran doglia porte;

Vincenzo da Filicaia, 1642–1707[1]

Danksagung

An erster Stelle möchte ich Eric Garber danken für seine Ermutigung und unverbrüchliche Freundschaft. Auch einige kritische Leser haben mir sehr geholfen, insbesondere Melinda Cuthbert, Jan Dantrell, Danielle Fitzpatrick, Erica Marcus, Elissa Perry und Jane Tierney. Sherry McVickar war immer da, wenn ich sie brauchte. Roz Pendlebury spornte mich an. Barry Lazarus und Tereza Swanick verschafften mir wertvolle Informationen, und Bill Walker entwarf für mich ein sehr persönliches und lebendiges Bild von Montana. Ich danke Kathy Gale für ihr einfühlendes Verständnis, die schaurigen Aspekte der Geschichte betreffend. Und ich danke besonders meinen Literaturagentinnen Jane Gregory und Lisanne Radice, die mir den Anstoß gaben, wieder zu schreiben.

Vor allem danke ich Terry Baum, die mir bereitwillig ihre Zeit opferte, die mir in den Anfangsstadien beim Entwerfen von Plot und Figuren half und auch im weiteren Verlauf immer wieder dafür sorgte, daß das Schreiben viel Spaß machte.

Prolog

Ihre Finger spreizten sich und griffen nach dem Tuch mit der Petitpoint-Stickerei, das Blumenmuster war dunkelpurpur, steif von Blut. Ihr weißer Rock mit den handgroßen bräunlichen Flecken blähte sich, als sie die Treppen hinabschoß und in die Nacht hinausrannte.

Nur nichts fallen lassen! In den Armen die unhandliche Last, floh sie über die Auffahrt, flinken Fußes, jedes Steinchen spürend. Überscharf die Sinne aus Angst vor Entdeckung. Und fester schlossen sich die Finger um die Objekte im Tuch. Ihre Füße schienen zu fliegen, und sekundenlang war ihr, als begänne sie zu schweben.

Sie hielt das Tempo, bis sie das angrenzende Farmland vor sich sah, wandte sich aber nicht um, warf keinen Blick zurück, noch nicht. Packte nur fester die scharfkantigen Gegenstände und rannte weiter. Schließlich erreichte sie das Ende der Ländereien und das freie Feld.

Die Felder, auf die sie so oft von ihrem hohen Fenster geschaut hatte, waren alte Freunde. Doch heute nacht boten die Feigenbaumreihen wenig Schutz. Und sogar der Mond war nur grelles Rampenlicht, das die Fliehende mit seinem kalten und grausamen Schein verfolgte. Immer schneller trieb es die angsterfüllte, blutbefleckte weiße Gestalt über die buntscheckige Erde.

Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, gegen die Entlarvung. Die Vorstellung, was ihr Schauerliches blühen mochte, verlieh ihren Füßen Flügel. Jetzt blickte sie sich, über Erdklumpen stolpernd, von Zeit zu Zeit um.

Bestimmt würde man sie finden, würde man ihr folgen. Sie wußte es. Und die Strafe würde grausam sein – unausdenkbar. Was sie getan hatte, was sie getan, verstieß gegen sämtliche Regeln ihrer Welt. Es war jenseits aller Vorstellung.

Es war ja nicht einmal ihre eigene Idee gewesen. Wem käme wohl so was auch in den Sinn? Aber man würde ihr nicht glauben, daß SIE es ihr befohlen hatte.

Das war jetzt ohne Bedeutung. Die Tat war ausgeführt, nicht rückgängig zu machen, also gab es nur eins – fliehen.

Der Mond war ein Feind – sie blieb stehen, wickelte die Gegenstände aus dem schwarzen Bündel und legte sie sorgfältig auf die Erde. Sie warf sich den Umhang um die Schultern, hob ihre Beute wieder auf und setzte – unsichtbar nun – ihre Flucht zwischen den Bäumen fort.

1

Es war die letzte kalte Nacht am Steuer, und ich war nervös. Bald wären wir da. Keine Raststätten, keine Billighotels mehr. Die Interstate 90 hatte uns durch gottverlassene Nester geführt, frühere Bahnstationen, so vergessen wie die Eisenbahn selbst. Seit Stunden war um uns nur Finsternis. Die Scheinwerfer zeichneten zwei leuchtende Kegel auf die vereiste Fahrbahn. Plötzliches Schleudern würde im Graben enden, Auftakt zur Welt des Großen Schlafs jenseits allen Frierens. Ich griff neben mich und suchte Halt bei Marya.

Auf dieser letzten Etappe unserer Reise – durch Big Timber, Grey Cliff und an Park City vorbei – war uns zumute, als wären wir abgeschnitten von der Landschaft, von der Welt dahinter und – voneinander.

Während ich den Wagen über den grau vereisten Weg durch die ungastliche, heulende Dunkelheit lenkte, lachten wir oft allzu heftig, und jedesmal, wenn das Auto zu schlittern begann, klammerte ich mich unsicher an Marya. Schließlich schob ich ihr meine Hand in die Tasche und ließ sie dort, in der Wärme und ganz nah bei ihr.

Wir waren unterwegs, die Erbschaft von Maryas verstorbener Großtante Rebecca anzutreten, die vor ein paar Wochen das Zeitliche gesegnet hatte. Vor drei Tagen erst hatte Marya das Telegramm in San Francisco erreicht. Ich weiß noch, wie der kleine gelbe Umschlag unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben wurde.

 

»Rebecca Cascia, die unseres Wissens Ihre Tante ist, verstarb vor zwei Monaten. Sie hat Sie als ihre einzige Erbin benannt«, stand da zu lesen. »Mutwillige Zerstörung am Besitz der Verblichenen haben Sicherheitsmaßnahmen nötig gemacht. Da diese den Nachlaß kostenmäßig belasten, halten wir es für erforderlich, daß Sie umgehend mit der Kanzlei Ryan und Rutledge Kontakt aufnehmen.«

 

»Deine Tante ist gestorben.« Ich hatte über Maryas Schulter mitgelesen und rubbelte ihr tröstend den Rücken. »Das tut mir leid.«

Marya zuckte die Achseln. »Ich habe sie kaum gekannt – hab sie überhaupt nur einmal gesehen. Sie war exzentrisch, furchtbar religiös, mit einer großen, unheimlichen Narbe im Gesicht. Na ja – ich muß wohl diese Anwälte anrufen.« Sie seufzte. »Das könnte einen kleinen Ausflug nach Montana bedeuten.« Sie sah mich an. »Du hast keine Lust mitzukommen, oder? Da gibt es viele schöne Gletscher zum Klettern. Die Wahl ist erst in neun Monaten – bis dahin kommen die Politiker auch ohne meine Künste zurecht. Und das Postversandgeschäft kann mein Partner übernehmen.«

Marya war begeisterte Bergsteigerin. Die Tatsache, daß sie ein risikoreiches, gar lebensgefährliches Hobby betrieb, machte sie in meinen Augen mutig und begehrenswert. Der Tod ihrer Großtante schien sie nicht weiter zu berühren. Marya rief die Anwaltsfirma an, um sich zu informieren.

»Sie hat in ihrem Laz-E-Boy-Fernsehsessel gesessen, als sie starb. Vermutlich hat sie kaum gelitten. Ein schwerer Herzanfall von wenigen Sekunden Dauer.« Marya seufzte. In Rebeccas Blusenkragen hatte noch eine unbenutzte Serviette gesteckt. Der Tod war so schnell gekommen, daß sie sie nicht mehr wegreißen oder auch nur den oberen Knopf ihrer Bluse öffnen konnte. Als man sie fand, war die Leichenstarre bereits weit fortgeschritten.

Vergnügt hatte Marya ihre Kletterausrüstung im Auto verstaut: 50 Meter Nylonseil, Gurtsysteme mit D-förmigen Karabinerhaken, die wie gewaltige Schlüsselanhänger aussehen, und ein mörderischer Eispickel.

Ich hatte meine neue Heimat San Francisco nur ungern verlassen. Es fiel mir schwer, mich von dem Licht dort, den Hügeln und der lebendigen Lesben- und Schwulenszene auch nur für eine Woche zu verabschieden.

Aber die Nachricht war genau zu Beginn der sechswöchigen Semesterferien eingetroffen. Die Pacific University war geschlossen, und ich hatte bereits die meisten Prüfungsarbeiten korrigiert. Das Seminar ›Theorien der Forschung‹ hatte ich mir nicht ausgesucht – es war mir zugeteilt worden.

Wir hatten die Flitterwochen gerade hinter uns, und es schien mir sinnvoll, Marya zu begleiten: Ich wollte unser rosarotes Wolkenkuckucksheim erhalten. In wenigen Minuten würden wir eine Kleinstadt – ausgerechnet – kurz vor Billings/Montana erreichen, und dazu im tiefsten Winter.

Unsere erste gemeinsame Reise außerhalb der Bay Area. Es würde ganz anders sein als die Ferien in Siena in Italien mit meiner Ex-Geliebten Ilona. Der regelmäßige Rhythmus von Arbeit und Erholung mit Marya hatte die Vergangenheit in Schach gehalten. Doch in Wahrheit waren die Wunden der schrecklichen Trennung von Ilona noch nicht verheilt.

Ich hatte die Pullover eingepackt, die Ilona für mich gestrickt hatte – die Strickweste mit dem Rhombenmuster, den Mohairpulli, den Norwegerpullover –, und ich hatte Frostschutzmittel in Maryas neues Auto nachgefüllt. Warum hatte ich die Pullover nur aufgehoben? Sie waren der Beweis – der kuschelige, vielfädige, kunstvoll gestrickte, faßbare Beweis –, daß Ilona mich geliebt hatte.

Ich hatte mich entschlossen, mit Marya zu leben, ohne groß Fragen zu stellen. Sie war nicht gerade mitteilsam, was ihre Herkunft, ihre Familie anging, und ich schien auch nicht mehr wissen zu wollen. Aber Marya hatte mir genausowenig Fragen gestellt, obwohl wir verliebt waren und oft miteinander schliefen. Wir alle machen Fehler.

Ich betrachtete meine neue Liebhaberin. Mit ihren dunklen Locken und dem energischen Kinn sah sie Ilona überhaupt nicht ähnlich. Mir schauerte plötzlich: Marya trug einen Pullover von Ilona. Ich hätte ihr den Rollkragenpulli nicht leihen sollen. Dafür war es noch zu früh.

»Dieser Pullover ist wunderbar mollig, Schatz«, sagte sie. Sie benutzte solche Koseworte viel häufiger als ich, obwohl wir uns immer wieder beglückt bestätigten, wie gut wir zueinander paßten.

Auf der Reklametafel an der Straße war zu lesen: ›Danroy Chemie‹. Darunter eine riesige frostglitzernde Sonnenblume. ›Ihr Dünger- und Pestizidlieferant seit dreißig Jahren.‹

»Ich hoffe, mit uns hält’s auch dreißig Jahre«, lachte Marya und schaute auf die vorbeisausende Sonnenblume. Mir war das Lachen vergangen.

Genau das hatte Ilona auch gesagt. Seltsam … dreißig Jahre, hatte sie gesagt. Wer weiß, in welchem Zustand ich gewesen wäre, nach dreißig Jahren an ihrer Seite?

»Ich habe den Anwalt gestern gefragt, ob es eine Beerdigung mit Trauerfeier oder etwas Ähnliches gegeben hat. Aber Rebecca war offenbar eine echte Einsiedlerin.«

»Keine Tränen, keine Erben, und Vergebung aller Sünden.« Ich hielt Ausschau nach dem Schild ›Billings, Montana‹.

Ich war ziemlich weit herumgekommen und häufiger an Orten gelandet, von denen ich nie geträumt hatte. Aber die Sünden folgen einem überall hin – schnell und behende, leicht mitzunehmen. Ob sie uns als Gepäck auch ins Grab gelegt wurden?

2

In Billings/Montana war die Vergangenheit so fern wie nur was. Ich hielt Ausschau: In einiger Entfernung winkte ein 7-Eleven-Laden.

»Laß uns da anhalten, Marya. Bitte.«

»Natürlich, Sweetheart. Wir könnten nachfragen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.«

In dem hell erleuchteten Laden glitzerten alkoholfreie Getränke hinter durchsichtigen Kühlschranktüren, türmten sich ungesunde Cholesterin-Snacks und eine Riesenauswahl schrillbunter Süßigkeiten in tausend neuen Formen.

»Nerd Family«, las ich laut auf einer Schachtel. »Die Kernfamilie, naturgetreu nach Geschlechtern aus Zucker modelliert, mit synthetischen Farb- und Geschmackzusätzen.«

»Ich dachte, du willst auf dein Gewicht achten«, murmelte Marya neben mir und streichelte meinen Hintern. »Aber nicht meinetwegen.« Sie beugte sich zur Seite und küßte mich – und schon ertönte hinter dem Ständer ein schrilles Gekicher.

Zwei Jungen glotzten uns an – die Nerd Family in Fleisch und Blut. Mit ihren etwa fünfzehn Jahren waren sie immerhin so beschlagen, daß sie – die Finger zum Mund, Zunge raus – Cunnilingus markierten. Verblüffend bei so jungen Typen und überhaupt in diesem Krähwinkel.

»Bloß weg hier«, sagte ich. »Beschissene Lesben«, tönte es uns beim Rausgehen nach. Marya fuhr hastig los, und ich konzentrierte mich auf die Landkarte, nervös und verunsichert durch die offene Feindseligkeit der Jungs. Mir war, als hätten wir Feindesland betreten.

Schließlich näherten wir uns Rebeccas Haus. Die Umgebung wirkte nicht gerade einladend. Ein scharfer Wind blies über öde, stacheldrahtbewehrte Felder und trieb Eis- und Schneebröckchen zu den einsamen Anwesen. Wir waren im Nirgendwo, weit weg von irgendwas, aber in Montana gibt es viel nirgendwo. Ein paar Gebäude markierten den fernen Horizont vor den Beartooth Mountains. Rechts und links der Straße türmten sich Schneebänke wie weiße Wände vor dem dunklen Nachthimmel.

Ich bemerkte die Aussparung in der weißen Wand zuerst – den Briefkasten, die Markierung, genau wie es die Anwälte gesagt hatten. Marya bremste schlitternd, und wir stierten in einen Eistunnel. In der Ferne waren die dunklen Umrisse eines Gebäudes zu erkennen.

»Letzte Nacht ging ich im Traum wieder nach Manderley. Ich stand am eisernen Tor vor der Zufahrt und konnte lange nicht eintreten, denn der Weg war mir versperrt«, zitierte ich Daphne Du Maurier.

»Aufhören! Ich kriege eine Gänsehaut!« lachte Marya, aber sie hielt sich doch an mir fest. Der vereiste Tunnel vor uns hatte weiß Gott nichts Komisches. Durch den dicken Parkastoff spürte ich Maryas kräftige Hand auf meinem Arm.

»Erinnerst du dich an diese Straße?« fragte ich, als wir die Zufahrt hinaufschlingerten, von den hohen Schneebänken auf Kurs gehalten.

»Ich erinnere mich.« Marya hustete, als wollte sie einen Gedanken wegwischen.

»Erinnerst du dich auch an Rebecca?« Ich redete mit tiefer Stimme gegen unser Unbehagen an.

»Ich habe sie überhaupt nur einmal gesehen. Mit meiner Mutter. Für eine halbe Stunde«, murmelte sie.

Plötzlich wichen die Schneebänke zurück, und ein großes finsteres Etwas ragte vor uns auf. In der blendendweißen Umgebung wirkte das Haus wie ein schwarzer Klumpen mit Löchern, hineingebohrt von leeren Fenstern, und mit Schindeln bedeckt wie mit lappiger Haut. Ich stellte den Motor ab. Päng! Eine Fliegentür aus Maschendraht und schnörkeligem Schmiedeeisen machte sich bemerkbar.

»Ich habe sie nur einmal gesehen, und jetzt hat sie mir ihr Leben vermacht.« Marya starrte auf die klappernde Tür, die uns wie eine uralte falsche Wimper anzwinkerte.

Marya verkrallte sich so heftig in meinen Arm, daß mir die Finger taub wurden.

Ich schaute sie an. »Auf geht’s!«

Gegen den Wind, der die Türen zudrücken wollte, kämpften wir uns aus dem Auto. Draußen knirschten von Eis bedeckte Zweige. Natürlich war der Weg zur Haustür nicht gefegt.

»Oje! Ich dachte, es wäre viel größer«, sagte Marya. Ich blickte auf das große alte Haus. Der Anblick erfüllte mich nicht gerade mit Hoffnung. War Marya von ihrem Erbe enttäuscht? Oder hoffte sie vielleicht auf eine unerwartete Wendung?

»Ach, zum Teufel damit! Um so schneller geht das Packen«, sagte sie plötzlich. Mir schauderte. Ihre optimistische Stimmung war mir fern.

Das Horrorhaus war mit grauen, verwitterten Asbestschindeln verkleidet. An den Erkerfenstern waren die viktorianischen Schnörkel weggebrochen. Eine Steinmauer streckte nach rechts und links die Arme aus, platzfordernd, das Haus an sich drückend.

Marya sah mich an. »Vielleicht bekommst du Appetit aufs Klettern«, meinte sie hoffnungsvoll, aber ich betrachtete immer noch das Haus. Wie hatten mich meine Reisen vom Erhabenen zum Lächerlichen geführt!

»Okay, bringen wir’s hinter uns.« Ich holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach, setzte vorsichtig einen Fuß nach draußen und versank sofort im Schnee. Eisklümpchen krochen mir in die Socken. Wir bahnten uns knirschend den Weg zur Haustür vor.

Ich versuchte aufzuschließen, während Marya die Fliegentür aufhielt. Aber es war zu kalt, der Schlüssel ließ sich nicht ins Schloß stecken. Ich hielt meinen Mund davor und blies heiße Atemluft hinein.

»Hast du das Schloß bald abgeschleckt?« Marya schob mir die Hand auf die Brust, aber ich hatte Angst, meine Lippen könnten an dem zerkratzten Metall festfrieren. Ich richtete mich auf, lehnte mich an Marya und steckte den Schlüssel ins Schloß. Er ließ sich drehen, und die Tür ging auf.

Schweigend betraten wir das Haus. Drinnen war es noch dunkler als draußen und kalt wie eine Leichenhalle. Ich leuchtete mit der Taschenlampe rasch über die Wände – vielleicht war irgendwo ein Ofen.

In einem Zimmer zur Rechten stand eine große Gastherme, deren keramische Rippen einem Gebiß gleich vor sich hin grinsten. Hoffentlich war das Gas nicht abgeschaltet.

»Hast du Streichhölzer?« fragte ich Marya, die bibbernd hinter mir stand. Schweigend riß sie eins an und gab es mir. Die kleine Flamme spiegelte sich in ihren dunklen Augen und ließ den Flaum auf ihrer Oberlippe schimmern. Schwarze Locken umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht.

»Zu Besuch bei Tante Rebecca?« frozzelte ich.

»Ja.«

»Heizen wir dieser verfluchten Bude ein!« Mir wurde plötzlich klar, daß das Haus ja ihr gehörte.

Ich bückte mich und drehte den Gashahn auf; es zischte beruhigend, und als ich ein Streichholz dranhielt, züngelten warme blaue Flämmchen vor den Keramikrippen auf. Wir rückten näher an die Heizung und rieben uns die Hände. Außerhalb unseres Blickfeldes lag das Haus in Düsternis.

»Was meinst du«, sagte ich, als das Frösteln langsam nachließ, »wenn das Gas funktioniert, ist vielleicht auch Strom da?«

»Du meinst, wir brauchen hier nicht im Dunkeln herumzustehen?« Marya küßte mich rasch auf die Lippen.

Ich leuchtete über die Wände, fand einen Lichtschalter und knipste ihn an. Marya und ich standen stockstill vor Erstaunen. Wir waren nicht allein.

Wir standen in einem Devotionalien-Disneyland. Der Raum war übersät mit Abbildern der heiligen Jungfrau – sie thronte auf Kommoden, in Vitrinenschränken oder Wandnischen. Göttlich, mütterlich, heiter stand die Jungfrau auf Natternschwänzen, balancierte auf Mondsicheln oder schwebte auf lavendelblauen Wolken. Begleitet von der heiligen Martha, der heiligen Rita, der heiligen Theresa, der heiligen Katharina und der heiligen Klara, gab es Unsere Liebe Frau samt Freunden in unzähligen Varianten. Und hoch über diesen Heerscharen wölbte sich die Zimmerdecke – ein gipsener Himmel, übersät mit Stalaktiten und Myriaden von Glitzerpartikeln. Das Ganze hatte den Charme eines Motelzimmers, für das der Papst das Design entworfen hatte.

»In der Gesellschaft von Heiligen sind wir wohl sicher«, bemerkte Marya.

»Tja, wahrscheinlich.« Plötzlich brach die Erinnerung an Italien wieder über mich herein. Italienische Devotionalien als Billigreproduktion. All’ americano zwar, aber die Botschaft war dieselbe. Mir schauderte von neuem.

»Ich erinnere mich an die Glitzerdecke.« Marya deutete nach oben. Ich stellte sie mir als Kind vor: wie sie die funkelnden Stalaktiten bestaunte.

»Wie scheußlicher Weihnachtsschmuck«, murrte ich. Die Disneyland-Version jener grandiosen Statuen, die ich in Rom, Florenz und Siena gesehen hatte!

Marya wanderte durchs Haus, in Gedanken bei der Vergangenheit, und sah sich die Räume an. Transparente Plastikfolie, mit Pappestreifen festgetackert, bedeckte die Fenster: eine erfolgreiche Methode, Wind und Luft fernzuhalten. Für solide Wärmedämmung der Wände sorgte Plastiktäfelung in Holzdekor. Die Folie vor den Fenstern blähte sich und fiel zusammen wie eine schwache Lunge, die das Haus nur mühsam am Leben erhielt.

Ich ging ins Wohnzimmer. An den falschen Holzwänden hingen Drucke aus dem Leben der Jungfrau: Unbefleckte Empfängnis, Verkündigung, Geburt, Läuterung, Himmelfahrt. Rebeccas Wohnzimmer funkelte von Glitzer, billigbunten Drucken und Heiligenfiguren.

»Die Heiligen«, flüsterte ich. »Der Heiligenkult.«

»Was?«

»Im Mittelalter war Heiligenverehrung Das Ding. Fast das einzige Ding. Damals sahen die Leute überall Wunder, und ehe die Kirche strenge Kanonisierungsverfahren einführte, hätte der Heiligenkult fast die Verehrung Jesu Christi ersetzt.«

»Herrgott, was für eine scheußliche Tapete!« bemerkte Marya.

»Alles – die Leichen der Heiligen, ihre Kleider, sogar die Instrumente, mit denen man sie gefoltert hatte – machte man zu Reliquien, die Massen von Anbetern anlockten. Und alles, was an Gutem im Ort geschah, wurde ihrer Fürbitte zugeschrieben. Ohne die kirchliche Bürokratie hätte sich das Christentum durchaus zu einer Art Hinduismus entwickeln können, mit vielen Gottheiten.«

»Igitt! Was ist denn das?« Marya zeigte auf eine Nachbildung der heiligen Lucia, die uns ihre herausgerissenen Augen auf einem Teller darbot. »Schauerlich«, sagte sie neugierig. »Ich dachte erst, es sind Ostereier.«

»Sie war eine der ersten christlichen Märtyrerinnen. Die Römer haben ihr die Augäpfel rausgerissen.«

»Wieso hat sie dann noch Extraaugen im Gesicht?«

»Keine Ahnung. Heilige kriegen vielleicht ein Paar mehr.« Ich nahm die Lucia in die Hand und betrachtete sie genauer. Sie war handgeformt, nicht gegossen, aus einfachem Brennton, und Lucias blinden Ausdruck hatten feinste Pinselstriche geschaffen.

»Ein Wahnsinnsdekor.« Marya spazierte zu dem gemauerten Kamin. Der Sims, über dem ein Madonnenbild hing, war über und über mit Wachs bekleckert, ein Hinweis auf die unzähligen Kerzen, die Rebecca der Madonna geweiht haben mußte.

»Zünden wir die Kerzen an.« Ich riß ein Streichholz an. Die Flamme warf flackerndes Licht auf das Porträt. Auf diesem Billigdruck einer russischen Ikone hatte Maria ein flaches Gesicht, und sie hielt ihren Kopf in einem Winkel, den nur ein Chiropraktiker gutheißen konnte. Sie bot ihre Brust einem überproportional großen Jesuskind dar, das die Brustwarze mit schiefen Blicken musterte.

»Auweia!« Ich folgte Maryas Blick.

Der Fernsehsessel, noch auf die Position eingestellt, in der Rebecca gestorben war, stand so vor dem Kaminsims, daß die Madonna und der Glitzerhimmel sich bequem betrachten ließen. Waren dem Putz Glitzerteilchen beigemengt? So was wurde mit Plastiksplittern gemacht. Oder nahm man früher Glimmer?

Ich ging zum Sessel und legte meine Hand auf die Rückenlehne. Leichenstarre auch hier. Ich gab ihr einen kräftigen Schubs. Quietschend klappte die Fußstütze weg, zugleich rastete die Lehne in Aufrechtstellung ein.

Trotz der schäbigen Qualität der Figuren und Bilder zeugte der Raum von einer Glaubensfreude, die über fröhliche Innigkeit weit hinausging. Es gab nicht den kleinsten Hauch jener Feierlichkeit, die ich sonst mit Frömmigkeit in Verbindung brachte. Und die Objekte standen im richtigen Verhältnis zueinander. Kleine Drucke und Ikonen wurden von bedeutenderen Stücken des Kitschtriumphs nicht in den Hintergrund gedrängt.

Ich ging noch einmal zur heiligen Lucia und sah mir genau an, wie die Hände die Untertasse mit den Augäpfeln hielten. »Ich war schon lange nicht mehr im Museum«, sagte ich, »aber das Zeug hier sieht verdammt gut aus.«

»Ach, Liebling, dir fehlt nur Europa.« Marya nahm mich in den Arm. »Wir fahren bald mal hin.«

»Ja, sicher.« Würde ich wirklich mit Marya fahren? Würde es ihr Spaß machen, auf unseren Ausflügen in unförmigen weißen Turnschuhen herumzustiefeln, die die Füße so gut vor dem Kopfsteinpflaster schützten? Niemals. In meiner Phantasie sah ich Marya eher auf dem Tennisplatz oder in einer Felswand der Rockys.

Sie hörte auf zu reden, und wir sahen uns schweigend um. Überall PVC-Böden mit klaffenden Fugen an den schiefen Türschwellen. Die Küchenschränke mit Kiefernfurnier beklebt. Astlöcher blinzelten uns an.

»Dies muß die Gourmet-Küche sein«, bemerkte Marya und drückte sich rasch an mir vorbei ins nächste Zimmer.

Ich öffnete einen Küchenschrank. »Hey, sieht ganz so aus, als hätte hier jemand geplündert!« Ich stierte auf das Chaos im Innern.

»Die Anwälte hatten ja gesagt, daß eingebrochen wurde.«

»Grabräuber wären auf dem Friedhof erfolgreicher«, seufzte ich. »Dir scheint es ja nichts auszumachen, daß hier so wenig zu holen ist.«

»Warum auch?« fragte die ewig fröhliche Marya. »Wir machen einfach klar Schiff und fahren wieder nach Hause.«

Warum sollte sie auch enttäuscht sein? Marya war finanziell abgesichert und als Managerin sowieso auf dem Weg zum Erfolg. Ihre Träume verwirklichten sich in der pragmatischen Welt der Lokalpolitik, während der Sport als Ventil für ihre Ängste fungierte. Das war alles kilometerweit entfernt von meinem Leben als Kunsthistorikerin, als Intellektuelle.

»Wir können mit dem Elektrobräter Gourmet spielen«, entschied sie und riß hinter dem Herd einen Fetzen Vinyl von der Wand. Der Kunststoff war von der Hitze braun und gelb gesprenkelt.

»Wie ich diesen katholischen Scheiß hasse!« Sie starrte auf eine heilige Martha, die samt Drachen über dem Herd hing. »Gebratener Drache!«

»Das sind doch nur Geschichten von Wundern. Nur Märchen. Sie sagen uns vor allem etwas über die Denkgewohnheiten der Menschen von damals.«

»Ich würde dem Aberglauben nicht solche Komplimente machen«, sagte sie abweisend.

»Es sind Überreste mittelalterlichen Denkens. Überleg doch mal, wie es damals zuging, als die Menschen sich ihr ganzes Leben nicht mehr als zwei oder drei Kilometer von ihrem Zuhause entfernten. Ihr Leben bestimmten Kräfte, die sie nicht verstanden, und so brauchten sie die Einbildung, das ist alles.«

»Und warum hängt diese Nonne über dem Herd?«

»Sie ist nur eine ordinäre Alltags-Heilige. Ein Schutzengel, der dich geleiten und behüten soll.« Ich lächelte sie an und strich ihr mit der Hand über die linke Brust. Das hier war schließlich nicht Maryas Fachgebiet.

»Woolworth-Reliquien! Die müssen doch einen Wert haben, irgendwo, für irgend jemanden, einen Sammler vielleicht.« Ihre Hand streichelte mein Haar in derselben Geschwindigkeit, mit der ich ihre Brust liebkoste.

»Morgen wird das Testament verlesen, Marya. Du hörst dir das an, während ich diesen Schrott zusammenpacke. Du entscheidest, ob du was davon behalten willst, wir setzen uns ins Auto und sind auf und davon. Hat dann alles nur ein paar Tage gedauert.«

»Deshalb liebe ich dich. Du machst die Dinge so einfach.« Marya sah mich voller Bewunderung an. Auch sie machte die Dinge einfach. Wir beide wußten, wie man das Leben meistert. Deswegen klappte es mit uns beiden. Mit Marya gab es keine Komplikationen, keine emotionalen Straßensperren in der Dämmerung, keine wochenlang andauernden Dramen, die nur langsam abgebaut wurden.

»Ob das heiße Wasser funktioniert?« Ich ging zu einer schmalen Tür und schaute die Treppe hinab, dorthin, wo Spinnen den kleinen Keller mit Beschlag belegten. In einer Ecke, neben einem Metallregal mit spinnwebüberzogenen Kanistern, blubberte ein Heißwasserboiler vor sich hin. Ein Kartoffelkeller, eklig auszuräumen.

»Dir muß kalt sein, Liebling. Deine Füße werden ja nie richtig warm.« Marya kam zu mir. »Zieh die Strümpfe aus, und ich rubbel sie dir«, bot sie mir an.

»Ich weiß was Besseres.« Ich drehte den Hahn an der Spüle auf und fühlte, wie das lauwarme Wasser heiß wurde. »Wetten, daß oben eine richtige Badewanne mit Klauenfüßen steht?«

»Ich steige dazu und fick dir die Seele aus dem Leib«, schnurrte Marya.

Ich war nicht angetörnt, aber das war nicht der Grund, warum wir beide plötzlich schwiegen. Marya starrte auf ein Foto, das auf dem Küchentisch lag. Ich wußte, wen es zeigte, aber ich war nicht darauf vorbereitet, in welcher Umgebung. Es zeigte Rebecca, unsere geisterhafte Gastgeberin – in Siena.

3

Nicht Rebeccas Anblick machte mir weiche Knie; es war das Ambiente. Mir wurde plötzlich schlecht, als ich die Umgebung erkannte. Mittelalterliche Gebäude mit Stufendächern, Hängepfosten und Bandbalken säumten eine enge, gewundene Straße, in der sich ein berühmter Schrein befand – vor dem sich Touristen fotografieren ließen: Die Jungfrau zeigt auf ihr dornenumkränztes, flammendes Herz.

Nur eine Fotografie. Vorn im Bild eine ältere Touristin, unverkennbar Amerikanerin, mit einer Kodak-Brownie-Kamera. Die Touristin war Rebecca. Ich hatte an derselben Stelle gestanden, als ich vor der Madonna vom Heiligen Herzen abgelichtet wurde. Das Foto mußte es noch geben. Es verewigte den Augenblick, da ich die letzte Selbstachtung verloren hatte.

Ich rannte zum Ausguß und drehte den Wasserhahn auf.

»Was ist los?« fragte Marya beunruhigt. Sie beugte sich über mich und tätschelte mir den Rücken.

»Gar nichts. Faß mich nur nicht an.« Ich atmete tief durch, spritzte mir Wasser ins Gesicht und richtete mich auf. Marya sah mich an, besorgt, fast ängstlich.

Vergiß endlich die Vergangenheit, befahl ich mir. Wenn der Zufall mich mit Marya zu diesem Foto geführt hatte, war das vielleicht die Chance, endlich mit jenen Ereignissen fertig zu werden, die letzten Sommer zu meinem Zusammenbruch geführt hatten – einem Zusammenbruch, der schon nicht mehr aufzuhalten war, als ich mich vor die Jungfrau Maria stellte.

Ich würde mich zwingen, das Foto zu betrachten; ich nahm es zitternd in die Hand.

»Bitte«, sagte ich, »bitte halt mich ganz fest.« Von Maryas kräftigen Armen umfangen, riskierte ich einen Blick.

Ich konzentrierte mich auf Rebeccas Gesicht, nicht auf das Drumherum. Ihr bleiches Abbild auf abgegriffenem Fotopapier: eine Frau in kariertem Faltenrock; mit einer Hand umklammerte sie die längliche Handtasche, mit der anderen, so schien es, fummelte sie an ihrem BH-Träger.

»Das ist sie, tatsächlich.« Marya ließ mich los und griff nach dem Foto. Sie hielt es sich näher vor die Augen, und gemeinsam starrten wir drauf.

Rebecca beherrschte den Vordergrund, neben ihr wirkte die Kapelle winzig. Seltsam, wie diese unangenehme Frau ein Kunstwerk von solcher Vollendung klein machte.

Rebecca sah aus wie die klassische alte Jungfer aus dem Witzblatt. Ich ließ meinen Blick von den mißtrauischen Augen zu den straff zurückgekämmten Haaren wandern, die ihr ganzes Gesicht, auch die zackige Narbe, wie geliftet aussehen ließen. Sogar ohne Brille konnte ich noch den scheußlich klaffenden Striemen, der auf ihr Ohr zulief, erkennen. Woher stammte diese Narbe?

Baumwollbehandschuhte Finger umklammerten die Tasche: Die Welt ist voller Bazillen und paß auf dein Geld auf. In der Handtasche aus Filz steckten garantiert Rosenkränze. Wie werden wohl unsere nächsten Tage hier aussehen? Wie wird es sich anfühlen, Rebeccas materialisierte Frömmigkeit zu verpacken?

»Sei so nett und hol mir meine Brille, Schatz.« Ich kniff die Augen zusammen.

Marya war im Nu zurück. Ich setzte die Halbbrille auf und nahm mir das Foto erneut vor. Jetzt war alles scharf. Und ich merkte, daß die Frau keineswegs verhärmt und leidend wirkte. In ihrem Blick lag wilder Triumph. Von Enttäuschung keine Spur; im Gegenteil, ihre Lippen umspielte eine Selbstzufriedenheit, die Mona Lisa nur schlecht gelaunt aussehen ließ. Sie schien zutiefst beglückt, vor der Jungfrau zu posieren. Dieselbe Statue, dieselbe schreckliche Stelle.

»Sie sieht interessant aus«, sagte ich. »Siehst du den irren Schimmer in ihren Augen? Jetzt kann ich sie mir in diesem verrückten Glitzerpalast endlich vorstellen.« Das Foto weckte in mir heißes Interesse für das Haus und für die Frau. Das kam mir gelegen. Rebecca zwang mich, mich dem angsteinflößenden Schrein erneut zu stellen. Vielleicht wäre sie mir gar eine tröstende Begleiterin. Womöglich war ich deswegen nach Montana gekommen.

Wer hatte Rebecca fotografiert? Wer mich geknipst hatte, wußte ich. Mein Gesichtsausdruck war mit ihrem nicht zu vergleichen. Ich holte tief Luft und schob die Erinnerung beiseite. Bei näherer Betrachtung wurde mir klar, daß Rebecca keineswegs mit ihrem Büstenhalter beschäftigt war – sie deutete auf etwas, nämlich auf die gebenedeite Jungfrau hinter sich, und sie blickte dabei direkt ins Objektiv. Sie schaute mich an.

Ich riß die Brille runter, und gnädig verschwammen Rebeccas Konturen. Ich lehnte mich an die Wand und warf das Foto auf den Tisch.

»Ist doch nicht so interessant, was?« flüsterte Marya. »Du siehst immer noch angeschlagen aus. Wie wär’s mit einem Tee?«

»Tut mir leid, ich weiß nicht, was mit mir los war«, log ich.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Schließlich ist Rebecca meine doofe Verwandte«, spottete Marya vorsichtig. Wie unsicher waren wir doch noch miteinander.

Es tat gut jetzt, krach bum, Tür auf, Tür zu, in den Schränken herumzusuchen und auf eine angeschlagene Emailleteekanne zu stoßen. Ich entdeckte sogar eine Schachtel Teebeutel, Red Rose, die höchstens ein Jahrzehnt auf dem Buckel hatten. Es war gut, am Leben zu sein und sich um das Nächstliegende zu kümmern.

Über dem Abwaschbecken war ein Schalter. Hatte Rebecca etwa einen Müllschlucker? Als ich ihn anknipste, erstrahlte vor mir eine seltsame Szenerie: Das schwarze Fenster über dem Becken wurde durchsichtig, als purpur- und magentarote Leuchten den ummauerten Platz hinter dem Haus erhellten.

»Hoppla, sieh dir das an!« Mein Tonfall brachte Marya an meine Seite. Im Garten standen lauter schneebedeckte klumpige Formen.

»Ich durfte damals nicht in den Garten.« Marya lächelte. »Ich mußte drinnen spielen. Ich erinnere mich noch, ich war furchtbar sauer.«

»Vielleicht sind das Zwergobstbäume.«

»Oder ein Kruzifixbeet.« Marya löschte die Lichter. »Ich krieg hier noch ’ne Gänsehaut.«

Ich legte die Teebeutel in zwei angeschlagene weiße Teetassen.

»Wie hat deine Mutter reagiert, als ihr hier wart und Rebecca dich nicht in den Garten ließ?«

»Sie hat zu mir gehalten, hat mir sogar Kino versprochen, obwohl ich herummaulte. Ich hatte schließlich den ganzen Tag im Auto gesessen, da war es verständlich, daß ich raus wollte, spielen.«

»Ich mag Frauen, die ihre Mütter mögen«, sagte ich und mußte sofort an Ilona denken. Hätte ich nur nichts gesagt. Ilona haßte ihre Mutter.

4

Der Dienstag morgen war grau und harsch. Wir wachten um sechs auf, horchten auf den Wind und das sanfte Rascheln der Folien an den Erdgeschoßfenstern. Der erste Stock hatte zusätzliche Sturmfenster, die Rebecca wahrscheinlich nie abgenommen hatte. Das Haus war extrem gut isoliert, frische Luft hatte keine Chance.

Die Heizung hatte ich zwar abends abgedreht, doch hing miefige Wärme im ganzen Haus. Unter Rebeccas Bettdecken waren wir leicht verschwitzt. Ich hatte Kopfschmerzen, einen trockenen Hals und einen schlechten Geschmack im Mund.

Ich stand auf, schlüpfte in meinen Bademantel und sah aus dem Fenster. Mein erster Morgen in Montana. Der Wind war eingeschlafen, und eine weiße Decke breitete sich bis zu den Hängen der Beartooth Mountains. Am Himmel trieben flauschige Blumenkohlwolken wie Segelschiffe mit achterlichem Wind. Ich fühlte mich seltsam unberührt von diesem blauweißen Spektakel.

»Wunderschön, findest du nicht, Liebling?«

»Ja«, log ich, und auch mein Körper log, als sie ihn berührte. Ich wandte mich ab.

»Heute ist doch die Testamentseröffnung?«

»Ja«, sagte sie. »Ich fahre besser allein hin.«

Ich schwieg. Es war schmerzlich und blöd. Wären Marya und ich ein Heteroehepaar, gälten wir als frischverheiratet. Wir würden zusammen zum Notar gehen, zumindest würde ich ihm vorgestellt. Aber so, wie die Dinge standen, hatte ich keinen Anteil am Tagesgeschehen.

»Tut mir schrecklich leid, Liebling«, sagte sie, »aber es ist wirklich besser, wenn ich alleine gehe. Es wäre unpassend …«

»Gewiß. Ich mach uns einen Tee.« Ich ging hinunter in die Küche.

»Ich besorge Kartons«, sagte Marya, als sie Minuten später die Küche betrat. »Morgen helfe ich dir dann mit dem ganzen Krempel. Ein Teil kommt auf den Müll, der Rest zur Heilsarmee.«

»Willst du nichts zur Erinnerung an deine Tante behalten? Vielleicht finde ich ja nostalgische Klamotten, einen Topfhut mit Federn oder ein elegantes Kostüm, das du zum Notar anziehen möchtest?«

Marya küßte mich. »Doch nicht in dieser Absteige!« Sie lachte. »Eher Stützstrümpfe und Omaschuhe.« Sie zuckte die Achseln und sah sich um. »Die Bildergalerie hier brauch ich auch nicht. Nur dich.«

Als Marya fort war, wälzte ich nur noch schwarze Gedanken. Je schneller ich packte, um so früher konnte ich wieder zurück. Ich erhob mich. Aber zurück wohin? Zu meinem Problem: Wie mache ich Karriere, ohne zu publizieren? Wohl kaum. Nicht einmal meine Studenten hatten mich in letzter Zeit beflügelt, und mein Forschungsgebiet schien tot, ausgetrocknet. Zum Glück lagen sechs Wochen Semesterferien vor mir.

Ich setzte mich und starrte auf den Teebeutel in der Tasse. Meine Zukunft war so tot wie die Teeblätter in diesem Beutel. Vielleicht war nicht meine Karriere am Ende, sondern schlimmer noch – ich selbst. Ich ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und weinte.

Schließlich beruhigte ich mich. Ich trat ans Fenster und sah den Wolken zu, wie sie über den Himmel zogen.

Ich putzte mir die Nase und suchte einen Staubsauger, ohne Erfolg.

Den Vormittag verbrachte ich in der Küche, den Nachmittag im Speisezimmer mit seinen fleckigen, versilberten Tellern. Das Foto von Rebecca stopfte ich ohne neuerliche Betrachtung in eine Schublade. Alles ohne jeden Wert. Das Übliche. Ein Leben, das aus inniger Frömmigkeit bestand und aus nichts sonst. Meine Gedanken zu Rebeccas Miene waren Fantasien gewesen.

Mit dem Wohnzimmer war ich beinahe fertig. Zum Glück. Rebeccas Leben einzupacken war zeitraubend, traurig und am Ende grotesk. Ihr Schlafzimmer weckte keine freudigen Erwartungen.

Ich schaute mich in der Küche um. Mein Gott, wie schnell alles einstaubte. Wieder fiel mir die schmale Tür auf, die zum Keller führte. Vorsichtig zog ich sie auf. Nur der übliche muffige Geruch. Letzte Nacht war ich wohl überreizt gewesen. Die Madonna auf dem Foto hatte mir die reinste Paranoia verpaßt. Als Beweis, daß ich mich nicht mehr fürchtete, würde ich jetzt in den Keller gehen.

Ich warf einen Blick auf die steilen Stufen, nahm die Taschenlampe vom Küchentisch und stieg in Rebeccas Verlies hinab.

5

Der Lichtstrahl blieb an Spinnwebschleiern hängen. Durch ein kleines, mit vergilbtem Zeitungspapier zugeklebtes Fenster drang nur spärliche Helligkeit. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne kämpfte sich durch alte Anzeigen – eine eigentümliche Variante von Glasmalerei. In einer Ecke keuchte und pfiff der Heißwasserboiler. Vor den Metallregalen blähten sich die Spinnweben. Es zog wie Hechtsuppe.

Mit meiner Taschenlampe wischte ich Spinnweben beiseite und betrachtete das Regal genauer. Auf dem obersten Brett lagen eine bläulich schimmernde Metallsäge, eine Kreissäge mit scharfen Zähnen, Meißel und Stemmeisen in verschiedenen Größen. In zweiter Reihe lauter spitze Instrumente, darunter ein Eispickel, so einer wie Maryas – und mindestens so scharf.

Von der Fürsorge, die Rebecca ihren Heiligenstatuen angedeihen ließ, zeugten selbstklebende Plastikfolie, rostige Kanister, metallene Schutzschilde, Moltofill, Hühnerdraht, Härter, Dichtungsmasse und Kleber. Neben den Eisenwaren harrten lädierte Heilige der Reparatur. Ich würde Marya vorschlagen, das Werkzeug zu behalten. Ein erstaunliches Erbe.

Ich trat ans Fenster. Das Tageslicht kämpfte sich durch die Landwirtschaftsbeilage des Billings Banner. »Danroy Chemie« lautete die Überschrift zu einem Hohelied auf Insektizide.

Ich kratzte ein Stück Zeitung weg. Durch die rissige Scheibe sah ich ein Stück Steinmauer, die Zufahrt und dahinter, zwischen den Schneebänken – ein Auto. Nicht Maryas Auto.

Draußen war es bitterkalt; der große Schlitten wartete mit laufendem Motor.

Der Motor heulte auf; der unsichtbare Fahrer hatte Gas gegeben und brauste davon. Ich drückte das Zeitungspapier wieder fest. Da war einer nur neugierig, auf uns, die Fremden in diesem einsam gelegenen Haus.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie Rebecca mit frierenden Fingern und selbstgemachtem Mehlkleister die Zeitung ans Fenster geklebt hatte. Der Wasserboiler gab ein lautes Zischen von sich. Ich fand eine Büchse Rattengift neben einer armlosen heiligen Lucia; keine Hand, kein Teller, keine Augäpfel.

»Was hattest du wohl im Sinn, Rebecca?« fragte ich die Regale mit ihren modrigen alten Behältern voller Bleiche, Öl, Speck und Pech. Der Keller faszinierte mich, machte mich neugierig auf Rebeccas Leben.

»Aua!« Mein Zeh war irgendwo gegengestoßen, und ein scharfer Schmerz durchfuhr mein Bein. Ich bückte mich. Im rissigen Betonfußboden steckte eine Figurine an einer Kette. Ich zog sie raus.

Eine kleine gußeiserne Madonna – die Madonna Milagrosa – baumelte vor meinen Augen. Die Figur, etwa acht Zentimeter lang, kauerte auf einer Wolke; aus jeder Hand sprossen zwei Strahlen.

Als ich sie genauer betrachten wollte, streifte das Ding meine Wange, und ich machte einen Satz: die Madonna hatte mir die Haut aufgeritzt.

Vorsichtig schwang ich sie durch die Luft und schaute sie mir dann im schwachen Licht des Fensters genauer an.

»Jesus Christus!« entfuhr es mir. Der Rücken der Figur war mit scharfen, leicht gebogenen Nägeln und Heftzwecken übersät. Eine Einladung zum Kult des Leidens.

6

Ich ließ die Madonna fallen; mir war auf einmal übel.

Ich betrachtete das Ding auf dem Boden: Für religiöse Frauen war der Teufel eine alltägliche Versuchung. Er steckte tief in ihnen, in den Frauen selbst, so lautete die entsprechende Logik. Auf die Männer lauerte der Teufel dagegen in der Außenwelt, war eine Herausforderung, der Mann sich zu stellen hatte. Männer kasteiten sich, um Vollkommenheit zu erlangen; die Frauen mußten den Teufel aus sich herausprügeln.

Ich sah Rebecca vor meinem inneren Auge – wie sie in diesem schäbigen Keller mit der nägelbewehrten Madonna ihren Rücken traktierte, bis das Blut floß. Absurderweise durchzuckte mich plötzlich der Gedanke an Maryas Eispickel.

»Hey, Rebecca, Hauptsache du überstehst die Nacht!« schrie ich gegen die Stille an. »Was hast du noch versteckt? Etwas Wertvolles? Warum bist du nicht beim Figurenkneten geblieben?«

Ich schickte mich an, wieder hinaufzugehen, ließ meine Augen noch einmal über die Borde mit den Werkzeugen, Kanistern, Gipsbrocken wandern und – halt! Da war ein rötlicher Schimmer.

Kupferner Glanz hielt meinen Blick gefangen. Zwischen einem Kanister Bon Ami und einer Streichholzschachtel glitzerte ein kupferner Quader.

»Doch hoffentlich kein kleines feines, handgefertigtes Daumenschraubenset, Rebecca«, sagte ich wieder laut. Ich hätte mich nicht stärker irren können.

Ich langte mit einer Hand durch die Spinnweben. Meine Finger tasteten blind nach dem kleinen Ding. Ich holte es ans Licht, blies den Staub fort.

Eine Kupferdose, verziert mit Filigranarbeiten: Insekten, die so echt wirkten, als würden sie gleich loskrabbeln und zubeißen; perlenbesetzte Blumen, die sich unter schwerer Sonne zu biegen schienen. Völlig anders als alles, was es sonst in diesem Hause gab. So lebendig, so schöpferisch. So italienisch. Was hatte dieses Kunstwerk hier zu suchen?

Ich barg das juwelengeschmückte Kleinod in meiner Hand. Es gehörte mir, das spürte ich, nicht nur weil ich es gefunden hatte, sondern weil es nicht in diesen Schrotthaufen der Verzweiflung gehörte. So wie ich nicht nach Montana gehörte. Meine Heimat war Italien.

Ich befühlte die kupferne Oberfläche. Mir kam die Fotografie mit Rebecca und der Madonna in den Sinn. Ilona mochte auf immer eine schmerzende Wunde bleiben, deswegen durfte ich vor Italien, vor Siena noch lange nicht die Augen zukneifen.

Platz schaffen für Gedanken an das Land, an die Stadt. Italien. Siena. Die Kupferdose schickte mich über Längen- und Breitengrade.

Ich erinnere mich noch gut an jene glitzernden Reliqienbüchsen mit den unerfreulichen Überbleibseln irgendwelcher Heiligenleben. Knochensplitter, Stoffetzen, geweihte Reste. Italien. Der Campingplatz, auf dem das Ende begann. Das Ende mit Ilona.