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Wenn ein Traumhaus in den Highlands zum Albtraum wird Ein Traumjob als Nanny in den Highlands wird für eine junge Frau zum Albtraum. Die Atmosphäre im Haus ist extrem unheimlich, immer mehr beängstigende Dinge geschehen, bis es schließlich einen tragischen Todesfall gibt – und Rowan unter Mordverdacht gerät. Spannend, äußerst atmosphärisch und gruselig, man glaubt kaum, dass sich die vielen unheimlichen Geschehnisse rational auflösen lassen. Rowan Caine nimmt eine Stelle als Kindermädchen in einem einsam gelegenen Haus in Schottland an, bei einer scheinbar perfekten Familie mit vier Töchtern. Doch ihr Traumjob wird für Rowan zum Albtraum. Die Atmosphäre im Haus ist extrem unheimlich. Sie fühlt sich ständig beobachtet – nicht nur von den Überwachungskameras, die in jedem Zimmer hängen. Dann findet sie die ominöse Warnung eines früheren Kindermädchens an die unbekannte Nachfolgerin Und es geschehen immer mehr beängstigende, unerklärliche Dinge. Auch das Verhalten der Kinder wird immer seltsamer – bis es schließlich einen tragischen Todesfall gibt. Und Rowan gerät unter Mordverdacht. Um ihre Unschuld zu beweisen, greift sie zu einem verzweifelten Mittel. Fulminante Frauen-Psycho-Spannung in den schottischen Highlands »Eine Gespenstergeschichte für das 21. Jahrhundert, ein mitreißender ›Gothic thriller‹, dessen Figuren einem wirklich nahekommen. Mit diesem Buch erweist sich Ruth Ware als die wahre Erbin von Wilkie Collins. Gruselig und total fesselnd – man kann es nicht aus der Hand legen.« JP Delaney »Teuflisch intelligent, wendungsreich und bedrohlich – das bisher beste Buch von Ruth Ware.« Riley Sager Von Ruth Ware sind bei dtv außerdem folgende spannende Thriller erschienen: Woman in Cabin 10 Hinter diesen Türen Wie tief ist deine Schuld Im dunklen, dunklen Wald Der Tod der Mrs Westaway Das Chalet Das College Zero Days
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Seitenzahl: 467
Es schien der ideale Job zu sein: Rowan Caine ist überglücklich, als sie die Stelle als Kindermädchen bei einer reichen Familie in den schottischen Highlands bekommt. Doch in kürzester Zeit wird der vermeintliche Traumjob zum absoluten Albtraum. In dem schönen alten Haus, dessen hinterer Teil aus einem hypermodernen Glasanbau besteht und das mit allen High-Tech-Finessen ausgestattet ist, geschehen beängstigende Dinge. Rowan fühlt sich ständig beobachtet, nicht nur von den Überwachungskameras, die in jedem Zimmer hängen. Auch das Verhalten der vier Töchter wird immer seltsamer. Bis es einen schrecklichen Todesfall gibt – und Rowan unter Mordverdacht gerät. Um ihre Unschuld zu beweisen, greift sie zu einem verzweifelten Mittel …
Von Ruth Ware sind bei dtv außerdem erschienen:
Im dunklen, dunklen Wald
Woman in Cabin 10
Wie tief ist deine Schuld
Der Tod der Mrs Westaway
Das College
Das Chalet
Ruth Ware
Thriller
Für Ian, den ich mehr liebe, als ich mit Worten auszudrücken vermag.
3. September 2017
Sehr geehrter Mr Wrexham,
ich weiß, Sie kennen mich nicht, aber bitte, bitte, bitte, Sie müssen mir helfen
3. September 2017HMP Charnworth
Sehr geehrter Mr Wrexham,
wir kennen uns nicht persönlich, aber Sie haben bestimmt in den Medien von meinem Fall gehört. Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie bitten möchte
4. September 2017HMP Charnworth
Sehr geehrter Mr Wrexham,
ich hoffe, das ist die korrekte Anrede. Ich habe bis jetzt noch nie einem Strafverteidiger geschrieben.
Ich weiß, dass diese Form der Kontaktaufnahme ungewöhnlich ist. Eigentlich hätte ich meinen Rechtsbeistand damit beauftragen müssen, aber der
5. September 2017
Sehr geehrter Mr Wrexham,
vielleicht sind Sie selbst Vater? Oder Onkel? Falls ja, möchte ich an Ihre
Sehr geehrter Mr Wrexham,
bitte helfen Sie mir. Ich habe niemanden umgebracht.
7. September 2017HMP Charnworth
Sehr geehrter Mr Wrexham,
Sie ahnen nicht, wie oft ich diesen Brief neu angefangen und wieder zerrissen habe. Eine Zauberformel gibt es nicht, das weiß ich inzwischen, und ich kann Sie kaum zwingen, sich meines Falls anzunehmen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Ihnen alles so klar wie möglich darzulegen. Egal wie lange es dauert und ob ich damit womöglich alles vermassle, ich werde einfach die Wahrheit erzählen.
Mein Name ist … hier würde ich das Papier am liebsten gleich wieder zerreißen. Denn wenn Sie meinen Namen lesen, wissen Sie sofort, warum ich Ihnen schreibe. Mein Fall ging durch die Presse, mein Name tauchte in sämtlichen Schlagzeilen auf und mein gequältes Gesicht prangte auf allen Titelseiten. Meine Schuld gilt als ausgemacht. Das Maß an öffentlicher Vorverurteilung lässt mir kaum noch Hoffnung auf einen gerechten Prozess. Ich habe Angst, dass Sie mich als aussichtslosen Fall abschreiben und den Brief wegwerfen, sobald Sie meinen Namen lesen. Was ich Ihnen noch nicht mal verdenken könnte. Dennoch bitte ich Sie inständig, mich vorher anzuhören.
Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, und wie Sie der Absenderadresse entnehmen können, befinde ich mich derzeit im schottischen Frauengefängnis HMP Charnworth. Ich habe noch nie Post aus dem Gefängnis bekommen, und weiß gar nicht, wie die Briefe von außen aussehen, aber bestimmt war Ihnen meine derzeitige Wohnsituation schon klar, bevor Sie den Umschlag aufgemacht haben.
Was Sie wahrscheinlich nicht wissen, ist, dass ich in Untersuchungshaft sitze.
Und was Sie nicht wissen können, ist, dass ich unschuldig bin.
Natürlich, das sagen sie alle. Alle, die ich hier getroffen habe, sind unschuldig – laut eigener Aussage zumindest. Aber in meinem Fall ist es wahr.
Sie können sich denken, was jetzt kommt: Ich möchte Sie bitten, mich vor Gericht als mein Strafverteidiger zu vertreten.
Mir ist bewusst, dass das nicht das korrekte Vorgehen ist und dass Angeklagte nicht selbstständig mit einem Anwalt Kontakt aufnehmen sollten. (Oder ist Advokat der richtige Ausdruck? Leider kenne ich mich in der Rechtssprache nicht aus, erst recht nicht mit dem schottischen System. Alles, was ich weiß, habe ich von den Frauen im Gefängnis aufgeschnappt, auch Ihren Namen.)
Einen Rechtsbeistand habe ich schon, er heißt Mr Gates. Und wenn ich es richtig verstehe, müsste eigentlich er einen Anwalt für mich beauftragen. Allerdings ist er auch der Grund, warum ich überhaupt hier gelandet bin. Die Polizei hat ihn für mich bestellt, als ich es mit der Angst zu tun bekam und endlich so schlau war, keine Fragen mehr zu beantworten, bis ich mit einem Anwalt sprechen konnte.
Natürlich dachte ich, er würde die Sache wieder geradebiegen und mir dabei helfen, für mich zu sprechen. Doch als er kam – ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Jedenfalls machte er alles nur noch schlimmer. Er ließ mich nicht reden. »Meine Mandantin wird sich dazu vorerst nicht äußern.« So hat er mir ständig das Wort abgeschnitten, was mich natürlich erst recht verdächtig machte. Ich glaube, wenn ich die Chance gehabt hätte, alles richtig zu erklären, wäre es nie so weit gekommen. Und die Polizei drehte mir die wenigen Worte, die ich sprach, im Mund um.
Natürlich kennt Mr Gates meine Seite der Geschichte. Aber irgendwie – ach, es ist schwer, das in einem Brief zu erklären. Er hört einfach nicht richtig zu. Und wenn doch, dann glaubt er mir nicht. Immer wenn ich ihm meine Geschichte von Anfang an erzählen will, fährt er mit diesen Fragen dazwischen, die bringen mich durcheinander, und so wird alles verzerrt. Und dann will ich ihn nur noch anschreien, dass er endlich still sein soll.
Und ständig kommt er auf das erste Verhörprotokoll zurück, von dieser schrecklichen ersten Nacht auf der Wache, als sie mich stundenlang ausgequetscht haben – Gott, ich weiß gar nicht, was ich da alles gesagt habe. Entschuldigung, jetzt sind mir die Tränen gekommen. Entschuldigen Sie die Flecken. Ich hoffe, Sie können alles noch lesen.
Diese Aussage kann ich nicht rückgängig machen, das ist mir klar. Es wurde alles aufgezeichnet. Und es klingt schlimm, das weiß ich auch. Aber es ist falsch rübergekommen, und ich bräuchte nur die Chance, die Geschichte aus meiner Perspektive zu erzählen. Und zwar jemandem, der wirklich zuhört … Verstehen Sie?
Aber vielleicht können Sie es gar nicht verstehen. Sie haben es noch nicht erlebt. Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man an diesem Tisch sitzt und fast zusammenbricht vor Erschöpfung und einem vor Angst so schlecht ist, dass man fast kotzen muss. Sie löchern einen so lange, bis man gar nicht mehr mitbekommt, was man da eigentlich von sich gibt.
Um es auf den Punkt zu bringen:
Ich bin das Kindermädchen im Fall Elincourt, Mr Wrexham.
Und ich habe das Kind nicht umgebracht.
Diesen Brief habe ich gestern Abend begonnen, Mr Wrexham, und als ich heute Morgen beim Aufwachen all die Zettel mit meinen hingekritzelten, flehenden Worten sah, war mein erster Impuls, sie zu zerreißen und noch mal von vorn anzufangen, wie schon ein Dutzend Mal zuvor. Denn ich hatte doch gefasst bleiben und Ihnen alles in Ruhe schildern wollen, klar und verständlich. Und stattdessen heule ich aufs Papier und flüchte mich in Schuldzuweisungen.
Aber ich kann nicht wieder von vorn anfangen, ich muss weitermachen.
Die ganze Zeit schon denke ich, mir muss nur endlich jemand zuhören, damit ich die Dinge in meinem Kopf geraderücken und meine Version der Geschichte erzählen kann, ohne Unterbrechung. Dann wird sich alles klären.
Also. Das ist meine Chance, nicht wahr?
140 Tage lang kann man in Schottland ohne Prozess festgehalten werden. Aber hier im Gefängnis sitzt eine Frau, die seit beinahe zehn Monaten wartet. Wissen Sie, wie lang zehn Monate sind, Mr Wrexham? Lassen Sie mich es Ihnen sagen: Im Fall dieser Frau sind es genau 297 Tage. Sie konnte Weihnachten nicht mit ihren Kindern verbringen, sie hat Muttertag und Ostern sowie Geburtstage und erste Schultage verpasst.
297 Tage. Und immer wieder wird der Beginn ihres Prozesses verschoben.
Laut Mr Gates wird es in meinem Fall nicht so lange dauern, schon allein wegen des öffentlichen Interesses, aber wie kann er sich da sicher sein?
Doch egal, ob 100 Tage, 140 oder 297 … man hat viel Zeit zum Schreiben, Mr Wrexham. Auch zum Grübeln und zum Erinnern. Ich muss herausfinden, was wirklich passiert ist. Denn es gibt so vieles, was ich nicht verstehe, aber eins weiß ich sicher: Ich habe das Mädchen nicht getötet. Und ganz gleich, wie sehr die Polizei versucht, die Fakten zu verdrehen und mir etwas anzuhängen, an dieser Tatsache können sie nicht rütteln.
Ich habe sie nicht getötet – was heißt, dass jemand anders es getan hat. Und dieser Jemand läuft noch frei herum.
Während ich hier drinnen versaure.
Ich sollte wohl langsam zum Punkt kommen. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, vielleicht haben Sie gar nicht bis hierher gelesen.
Aber ich bitte Sie: Glauben Sie mir. Nur Sie können mir helfen.
Bitte kommen Sie mich besuchen, Mr Wrexham. Lassen Sie mich Ihnen die Situation schildern und erklären, wie ich in diesen Albtraum geraten bin. Denn wenn irgendjemand die Geschworenen überzeugen kann, dann Sie.
Übrigens habe ich schon einen Besucherausweis für Sie beantragt – aber sollten Sie vorher noch Fragen haben, können Sie mir jederzeit schreiben. Ich lauf ja nicht weg … haha.
Es ist nicht witzig, ich weiß. Im Fall einer Verurteilung drohen mir –
Aber nein. Darüber denke ich jetzt nicht nach. Es wird nicht geschehen. Ich werde nicht verurteilt, weil ich unschuldig bin. Ich muss nur alle anderen davon überzeugen, und als Erstes Sie.
Bitte, Mr Wrexham, melden Sie sich bei mir und nehmen Sie sich meines Falls an. Ohne allzu pathetisch klingen zu wollen: Sie sind meine einzige Hoffnung.
Mr Gates glaubt mir nicht, das erkenne ich an seinem Blick.
Aber Sie vielleicht schon.
12. September 2017HMP Charnworth
Sehr geehrter Mr Wrexham,
seit drei Tagen sitze ich hier wie auf heißen Kohlen und warte auf eine Antwort von Ihnen. Jedes Mal, wenn die Post kommt, pocht mein Herz vor lauter Hoffen und Bangen, und jedes Mal werde ich enttäuscht.
Entschuldigung. Das grenzt an emotionale Erpressung. Aber so meine ich es gar nicht. Sie sind sicher vielbeschäftigt und es sind erst drei Tage vergangen, aber trotzdem … Vielleicht hatte ich gehofft, dass die Aufregung um meinen Fall, wenn sie schon sonst nichts Gutes bewirkt hat, mir zumindest zu einer gewissen zweifelhaften Berühmtheit verhelfen würde. Und dass Sie deshalb meinem Brief vielleicht mehr Beachtung schenken würden als all den anderen, die Sie wahrscheinlich täglich von Mandanten, Möchtegern-Mandanten und Geistesgestörten bekommen.
Interessiert Sie denn gar nicht, was passiert ist, Mr Wrexham? Mich an Ihrer Stelle würde es interessieren.
Jedenfalls ist es jetzt drei Tage her (erwähnte ich das schon?) und … tja, ich mache mir langsam Sorgen. Hier drin gibt es nicht viel zu tun, da hat man viel Zeit, sich verrückt zu machen und sich die schrecklichsten Dinge auszumalen.
Die letzten paar Tage und Nächte habe ich genau das getan. Was, wenn Sie den Brief nicht bekommen haben? Wenn die Gefängnisverwaltung ihn einbehalten hat? (Könnten sie das einfach, ohne mich zu informieren? Ich weiß es ehrlich nicht.) Und was, wenn ich mich nicht gut genug erklärt habe?
Besonders diese letzte Frage hat mich wach gehalten. Denn dann wäre es meine Schuld, dass Sie nicht geantwortet haben.
Ich wollte meine Geschichte möglichst knapp halten, aber vielleicht war das keine gute Idee. Vielleicht hätte ich gleich mehr ins Detail gehen sollen, um klarzustellen, dass ich unschuldig sein muss. Denn natürlich können Sie mich nicht einfach beim Wort nehmen, das leuchtet mir ein.
Bei meiner Ankunft hier kamen mir – unter uns gesagt – die anderen Frauen vor wie eine andere Spezies Mensch. Nicht, dass ich mich für etwas Besseres halten würde. Aber sie alle schienen so … sie passten so gut hier rein. Sogar die ganz Verängstigten, die Selbstverletzer und die, die nachts schrien, heulten und mit dem Kopf gegen Zellenwände schlugen, sogar die Mädchen, die gerade erst die Schule hinter sich hatten. Sie sahen so … ich weiß auch nicht. Sie sahen aus, als gehörten sie hierher, mit ihren blassen, ausgemergelten Gesichtern, den straff zurückgebundenen Haaren und verpfuschten Tattoos. Sie sahen eben … nun ja, schuldig aus.
Aber ich war anders.
Schon allein, weil ich aus England komme, was es nicht leichter gemacht hat. Manchmal habe ich die anderen gar nicht verstanden, wenn sie wütend wurden und mir irgendwas entgegenbrüllten. Von dem Slang habe ich die Hälfte nicht kapiert. Und man sah mir wohl an, dass ich aus der Mittelschicht bin – woran, weiß ich auch nicht genau, aber für die anderen war es offensichtlich, als hätte ich einen Stempel auf der Stirn mit der Aufschrift »bürgerlich«.
Und vor allem, ich war nie vorher im Gefängnis. Ich glaube, ich habe auch niemanden gekannt, der schon mal im Gefängnis saß – bis ich hierherkam. Überall diese geheimen Codes, die ich nicht verstand, all die Untiefen, die es zu umschiffen galt. Ich begriff nicht, was los war, wenn eine im Flur einer anderen was zusteckte und plötzlich die Wärterinnen brüllend angerannt kamen. Ich habe auch die Prügeleien nie kommen sehen. Ich wusste nie, welche der Frauen mal wieder ihre Medikamente abgesetzt hatte oder gerade von einem Drogentrip runterkam und deshalb um sich schlagen könnte. Ich wusste nicht, wem man zu bestimmten Zeiten unbedingt aus dem Weg gehen sollte und wer unter Dauer-PMS litt. Ich wusste nicht, wie ich mich kleiden oder verhalten sollte, wofür man von anderen Insassinnen geschlagen oder bespuckt werden würde und womit man die Wärterinnen so provozierte, dass sie einen hart angingen.
Ich hörte mich anders an, sah anders aus und fühlte mich anders als die anderen.
Aber dann eines Tages sah ich im Duschraum eine Frau, die von der gegenüberliegenden Seite des Raums auf mich zulief. Sie hatte die Haare straff nach hinten gebunden wie die anderen, ihr Gesicht war versteinert, starr und kalkweiß, Augen wie Granitsplitter. Mein erster Gedanke war: Gott, ist die angepisst, wer weiß, was die vorhat.
Mein zweiter Gedanke war: lieber das andere Bad benutzen.
Und dann begriff ich.
Da war ein Spiegel an der Wand gegenüber. Die Frau war ich.
Im ersten Moment war es ein Schock – die Erkenntnis, dass ich nicht anders war als die anderen. Nur eine weitere Frau, die von diesem seelenlosen System verschluckt wurde. Und doch hat es irgendwie geholfen.
Ich bin immer noch nicht vollständig angepasst. Ich bin immer noch die Engländerin und alle wissen, warum ich hier bin. Im Gefängnis haben Leute, die Kindern was angetan haben, keinen guten Stand, wie Sie sicher wissen. Natürlich habe ich allen gesagt, dass es nicht stimmt. Aber ich weiß ja, was sie denken: Das sagen alle.
Und ich weiß, dass auch Sie das denken. Ich verstehe, dass Sie skeptisch sind. Die Polizei habe ich schließlich auch nicht überzeugt. Ich sitze nun mal im Gefängnis. Ohne Aussicht, auf Kaution freizukommen. Ich muss schuldig sein.
Aber ich bin es nicht.
Wenn sie mich wirklich 140 Tage hierbehalten, bleibt mir ja noch Zeit, Sie zu überzeugen. Das geht wohl am besten mit der Wahrheit, stimmt’s? Also erzähle ich Ihnen jetzt in Ruhe die ganze Geschichte, vom Anfang bis zum Ende.
Und am Anfang war das Inserat.
GESUCHT: Familie sucht erfahrene Kinderfrau
ÜBER UNS: Wir sind eine quirlige sechsköpfige Familie und wohnen in einem wunderschönen (aber sehr abgelegenen!) Haus im schottischen Hochland. Vater und Mutter betreiben gemeinsam ein kleines Architekturbüro.
ÜBER SIE: Sie haben als Erzieherin oder Nanny Erfahrung mit Kindern aller Altersgruppen, vom Kleinkind bis zum Teenager. Sie sind praktisch veranlagt und durch nichts aus der Ruhe zu bringen und kümmern sich eigenverantwortlich um die Kinder. Ausgezeichnete Referenzen, ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis sowie ein Erste-Hilfe-Zertifikat und einen punktefreien Führerschein setzen wir voraus.
DIE STELLE: Die Arbeitszeiten sind wochentags von 8:00 bis 17:00 Uhr, zusätzlich ein Abend Babysitting pro Woche. Die Wochenenden stehen zur freien Verfügung. Wir arbeiten meist von zu Hause aus und koordinieren nach Möglichkeit alle Dienstreisen so, dass immer ein Elternteil zu Hause ist. Gelegentlich kommt es jedoch vor, dass wir beide zeitgleich verreisen müssen, ganz selten auch mal bis zu zwei Wochen. Während dieser Abwesenheiten agieren Sie in loco parentis.
Im Gegenzug erwarten Sie ein attraktives Jahresgehalt von 55000 GBP brutto (inkl. Bonus), Pkw-Mitbenutzung sowie acht Urlaubswochen pro Jahr.
Bewerbungen bitte an Sandra und Bill Elincourt, Heatherbrae House, Carn Bridge.
Ich habe den Wortlaut der Anzeige noch im Kopf. Dabei war ich nicht mal auf Jobsuche, als ich beim Googeln darauf stieß – eigentlich wollte ich nur … Ach, spielt ja keine Rolle. Jedenfalls etwas ganz anderes. Und da war sie plötzlich – wie ein Geschenk, das mir jemand so unerwartet zugeworfen hatte, dass ich es fast nicht gefangen hätte.
Ich las die Anzeige einmal und dann noch ein zweites Mal mit klopfendem Herzen, denn was da stand, klang perfekt. Fast ein bisschen zu perfekt.
Dann las ich sie ein drittes Mal und traute mich fast nicht, auf den Bewerbungsschluss zu schauen – aus Angst, ihn verpasst zu haben.
Aber nein: Er war genau an jenem Tag und ich hatte bis zum Abend Zeit.
Es war unglaublich. Nicht nur das Gehalt – wobei es sich um eine wirklich stolze Summe handelte. Nicht nur die Stellenbeschreibung. Sondern diese glückliche Fügung – wie mir das ganze Paket einfach so in den Schoß fiel, und das zu einem Zeitpunkt, der nicht günstiger hätte sein können.
Meine Mitbewohnerin war gerade auf Reisen. Wir hatten uns in der Kleine-Strolche-Kita in Peckham kennengelernt. Wir arbeiteten beide in der Babygruppe und lästerten immer zusammen über die schreckliche Chefin und die anstrengenden Öko-Eltern mit ihren Scheiß-Stoffwindeln und selbstgemachten …
Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise. Ich habe es durchgestrichen, aber Sie können es bestimmt noch lesen, tut mir leid. Und wer weiß, vielleicht haben Sie selbst Kinder, und vielleicht haben Sie sie ja selbst mit Baumwoll-Popolinchen gewickelt, oder welche Marke zu der Zeit gerade in war.
Und ich verstehe es auch, ehrlich. Es sind die eigenen Kinder, und die sind natürlich jede Anstrengung wert. Sehe ich ein. Aber wenn einem den ganzen Tag die Augen vom beißenden Ammoniakgeruch tränen, weil man all die vollgepinkelten und vollgekackten Stoffteile irgendwo stapeln und am Ende den Eltern übergeben muss … Dabei macht es mir eigentlich nicht viel aus, es gehört zum Job dazu. Aber manchmal muss man eben ein bisschen Dampf ablassen, damit man vor Frust nicht platzt.
Entschuldigung, ich schweife ab. Vielleicht schneidet mir Mr Gates deshalb immer das Wort ab. Weil ich mich mit Worten immer weiter hineinreite und nie weiß, wann es genug ist. Sie zählen wahrscheinlich gerade eins und eins zusammen. Mag wohl Kinder nicht besonders. Steht offen zu ihrem beruflichen Frust. Was, wenn sie auf einmal mit vier Kindern allein ist, ohne einen Erwachsenen zum Dampfablassen?
Genau das hat die Polizei auch getan, hat all die achtlos hingeworfenen Bemerkungen und belastenden Details zu einem Bild zusammengesetzt. Der Triumph in ihren Gesichtern, wenn mir wieder irgendwas rausrutschte – wie die Krähen stürzten sie sich auf jeden Krümel, alles, was sie gegen mich verwenden konnten.
Aber sehen Sie, Mr Wrexham. Ich könnte Ihnen hier den größten Mist auftischen darüber, was für eine fürsorgliche, herzensgute und rundum großartige Person ich bin. Aber es wäre eben genau das: Mist. Und ich habe nicht vor, Ihnen Mist zu erzählen. Ich möchte, mehr als alles andere, dass Sie mir glauben.
Darum erzähle ich Ihnen die Wahrheit. Die ungeschminkte Wahrheit. Und die ist nun mal unangenehm und hässlich. Natürlich bin ich kein Engel. Aber umgebracht habe ich verdammt noch mal niemanden.
Es fällt mir nicht leicht, mich zusammenzureißen. Aber ich muss unbedingt einen klaren Kopf bewahren, alles gedanklich sortieren. Und wie Mr Gates sagt: Ich muss mich an die Tatsachen halten.
Also gut. Tatsachen. Nummer eins. Die Anzeige. Die Anzeige ist eine Tatsache, ja?
Die Anzeige … mit dieser gigantischen Summe.
Da hätten natürlich schon die Alarmglocken schrillen müssen. Es war wirklich ein absurd hohes Gehalt. Es wäre sogar für Londoner Verhältnisse üppig gewesen, und auch für eine Nanny, die nicht mit im Haus wohnte. Aber mit kostenloser Unterkunft, Verpflegung und allem Drum und Dran bis hin zum Auto war es astronomisch.
Es war sogar so astronomisch, dass ich überlegte, ob es sich nicht vielleicht um einen Tippfehler handelte. Oder ob etwas verschwiegen wurde – vielleicht war ja eines der Kinder verhaltensauffällig? Aber so etwas müsste man doch in der Anzeige erwähnen …
Sechs Monate früher hätte ich vielleicht kurz innegehalten, die Stirn gerunzelt und dann die Sache abgehakt, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Aber sechs Monate früher wäre ich wohl gar nicht erst auf die Anzeige gestoßen. Sechs Monate früher hatte ich noch eine Mitbewohnerin, einen Job, den ich mochte, und sogar Aussicht auf eine Beförderung. Mir ging es eigentlich richtig gut. Doch inzwischen sah die Sache ein wenig anders aus.
Meine Freundin, die Kollegin bei den Kleinen Strolchen, war zwei Monate zuvor auf Reisen gegangen. In dem Moment, als sie mir ihre Pläne angekündigt hatte, hatte ich es gar nicht so schlimm gefunden – ehrlich gesagt ging sie mir oft auf die Nerven mit ihrer Angewohnheit, die Spülmaschine zwar einzuräumen, aber nie anzuschalten, und mit ihrem endlosen Europop-Gedudel, das durch die Wände dröhnte, bevorzugt genau dann, wenn ich schlafen wollte. Ich wusste schon, dass ich sie vermissen würde, aber mir war nicht klar, wie sehr.
Sie hatte ihre Sachen dagelassen, denn ausgemacht war, dass sie die Hälfte ihrer Miete weiterzahlen und ich ihr dafür das Zimmer freihalten würde. Für mich war das ein guter Kompromiss – vor ihr hatte ich einen Horrormitbewohner nach dem anderen gehabt und war nicht scharf darauf, schon wieder eine Facebook-Anzeige zu schalten und stundenlang per WhatsApp und E-Mail die schrägsten Vögel auszusortieren. Außerdem fühlte es sich gut an – wie eine Garantie, dass sie zurückkommen würde.
Am Anfang genoss ich die Freiheit, die Wohnung für mich zu haben, im Wohnzimmer jederzeit fernsehen zu können, was immer ich wollte, doch irgendwann war der Reiz des Neuen verflogen und ich fühlte mich immer einsamer. Ich vermisste ihr Auf einem Wein kann man nicht stehen am Feierabend. Ich vermisste es, mit ihr über Val, die Kitaleiterin, zu lästern und Anekdoten über nervige Eltern auszutauschen. Als ich mich um die Beförderung beworben und sie nicht bekommen hatte, ging ich allein ins Pub und weinte in mein Bier, während ich mir vorstellte, wie viel besser es mit ihr wäre. Wir hätten uns zusammen aufgeregt und sie hätte Val auf der Arbeit hinterm Rücken den Mittelfinger gezeigt. Und die hätte sich umgedreht und es fast mitbekommen, und wir hätten uns kaputtgelacht.
Mit Niederlagen umgehen ist nicht meine Stärke, Mr Wrexham. Egal, ob es um Prüfungen, Dating oder Jobs geht. Also eigentlich alles, wobei man scheitern kann. Um mir Kummer zu ersparen, stecke ich mir die Ziele immer möglichst niedrig. Oder stecke mir, wie im Bereich Dating, gleich gar keine Ziele und versuche es lieber gar nicht erst, um bloß keine Abfuhr zu riskieren. Darum bin ich auch nicht an die Uni gegangen. Meine Noten waren zwar in Ordnung, aber aus Angst, nicht angenommen zu werden, bewarb ich mich nicht um einen Studienplatz. Ich stellte mir vor, dass sie meine Bewerbung lesen und nur verächtlich lachen würden: »Was bildet die sich ein?«
Mein Motto war immer: Lieber die einfache Prüfung mit Bravour bestehen als in der schwierigen durchfallen. So kannte ich es von mir. Was ich aber nicht von mir wusste, bevor meine Mitbewohnerin auszog, war, dass Alleinsein auch nicht meine Stärke ist. Und ich glaube, das war es, was mich über meinen Schatten springen und bis zum Ende der Anzeige scrollen ließ, nervös und neugierig zugleich.
Die Polizei hat bei der ersten Befragung um das Gehalt viel Aufhebens gemacht. Dabei habe ich mich gar nicht deswegen beworben. Auch nicht wegen meiner Mitbewohnerin, obwohl ich nicht bestreiten kann, dass alles nie passiert wäre, wenn sie nicht gegangen wäre. Nein, der wahre Grund … Tja, den wahren Grund kennen Sie wahrscheinlich. Er stand ja in allen Zeitungen.
In der Kita meldete ich mich krank und verbrachte den ganzen Tag damit, an meinem Lebenslauf zu feilen und alles zusammenzutragen, was nötig sein würde, um die Elincourts davon zu überzeugen, dass ich genau die war, die sie suchten. Polizeiliches Führungszeugnis, tick. Erste-Hilfe-Zertifikat, tick. Lobhudelnde Arbeitszeugnisse, tick, tick, tick.
Nur der Führerschein war ein Problem. Aber das schob ich beiseite, darum würde ich mich kümmern, wenn es so weit war. Wenn es überhaupt so weit käme. Ich dachte nicht weiter als bis zum Vorstellungsgespräch.
Dem Bewerbungsschreiben fügte ich die Bitte hinzu, bei den Kleinen Strolchen keine Referenz einzuholen. Meine Chefin solle nicht wissen, dass ich mich nach einer anderen Stelle umsah. Was ja auch stimmte. Ich schickte das Ganze per Mail an die Elincourts, und dann hieß es abwarten.
Ich hatte mein Bestes für eine Einladung zum Vorstellungsgespräch gegeben. Mehr konnte ich nicht tun.
Die folgenden Tage waren hart, Mr Wrexham. Nicht so hart wie das Warten hier drin, aber trotzdem schlimm. Denn ich wollte dieses Vorstellungsgespräch unbedingt. Ich war selbst überrascht davon, wie wichtig es mir war. Mit jedem Tag, der verging, schwand meine Hoffnung ein bisschen mehr, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht bei den Elincourts nachzufragen. Ich wusste, dass ich mir keinen Gefallen damit täte, wenn ich allzu verzweifelt wirkte.
Sechs Tage später aber bekam ich eine Mail:
Elincourt. Schon der Name versetzte meinen Magen in den Schleudergang. Meine Finger zitterten so stark, dass ich die Mail kaum öffnen konnte, und mein Herz pochte wie verrückt. Aussortierten Bewerberinnen würden sie doch nicht extra schreiben, oder? Eine E-Mail bedeutet doch sicher …
Ich öffnete die Mail.
Liebe Rowan Caine,
vielen Dank für Ihre Bewerbung und bitte entschuldigen Sie, dass wir uns erst jetzt bei Ihnen melden, aber wir waren tatsächlich von der Vielzahl an Bewerbungen überrascht. Von Ihrem Lebenslauf waren wir sehr beeindruckt und wir würden Sie gern zu einem persönlichen Gespräch einladen. Die Kosten für die Zugfahrt von und nach London erstatten wir Ihnen selbstverständlich. Außerdem möchten wir Ihnen anbieten, in unserem Haus zu übernachten, da wir sehr abgelegen wohnen und die An- und Abreise nicht in einem Tag zu schaffen ist.
Auf eines möchte ich Sie vorweg hinweisen, für den Fall, dass es sich auf Ihr Interesse an der Stelle auswirken sollte.
Seit dem Kauf von Heatherbrae haben wir Kenntnis bekommen von allerlei abergläubischen Vorstellungen, die sich um das Haus und seine Geschichte ranken. Zwar haben sich hier nicht mehr Todesfälle und Tragödien ereignet als in jedem anderen alten Gebäude auch, doch aus irgendeinem Grund waren die Ereignisse in unserem Haus Nährboden für so manche Spukgeschichte hier in der Gegend. Leider hat das unsere bisherigen Nannys derart beunruhigt, dass in den letzten vierzehn Monaten vier von ihnen gekündigt haben.
Wie Sie sich vorstellen können, war das für die Kinder jedes Mal sehr belastend, ganz zu schweigen von den beruflichen Unannehmlichkeiten, die für meinen Mann und mich daraus entstanden.
Deshalb möchten wir von vornherein auf diese Misslichkeit hinweisen und bieten außerdem ein großzügiges Gehalt in der Hoffnung, eine Person zu finden, die sich verbindlich auf eine langfristige Zusammenarbeit von mindestens einem Jahr einlassen möchte.
Falls Ihnen das nicht zusagt oder der Aberglaube um das Haus Sie abschreckt, teilen Sie uns das bitte umgehend mit, da uns wirklich daran gelegen ist, das Hin und Her für unsere Kinder zu minimieren. Vor diesem Hintergrund setzt sich das Gehalt aus zwei Komponenten zusammen: einer monatlich ausbezahlten Grundvergütung und einem großzügigen Jahresbonus, der nach Ablauf von zwölf Monaten fällig wird.
Sollten Sie nach wie vor Interesse an der Stelle haben, lassen Sie mich bitte wissen, wann Sie in der kommenden Woche für ein Vorstellungsgespräch zur Verfügung stehen.
Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.
Mit herzlichen Grüßen,
Sandra Elincourt
Ich beendete das E-Mail-Programm und starrte einen Moment lang schweigend auf den Bildschirm. Dann stand ich auf, gab einen stummen Freudenschrei von mir und reckte die Faust in die Luft.
Ich hatte es geschafft. Ich hatte es wirklich geschafft.
Aber ich hätte wissen müssen, dass das alles zu schön war, um wahr zu sein.
Ich hatte es geschafft, Mr Wrexham. Die erste Hürde war genommen. Aber mehr war es auch nicht: die erste Hürde. Als Nächstes galt es, das Vorstellungsgespräch ohne Patzer zu überstehen.
Fast exakt eine Woche nach Sandra Elincourts Mail saß ich in meiner Aufmachung als Rowan die Musternanny im Zug nach Schottland. Meine sonst eher buschigen Haare glänzten sauber gekämmt in einem ordentlichen, aber flotten Pferdeschwanz, meine Nägel waren gepflegt, das Make-up sorgfältig, aber dezent. Mein Outfit sollte vermitteln, dass ich sympathisch und nahbar war, dabei tüchtig und verantwortungsbewusst, hochprofessionell, abernicht zu stolz, um über den Boden zu kriechen und Babykotze aufzuwischen: ein schicker Tweed-Rock, ein perfekt sitzendes weißes Baumwolloberteil mit Cashmere-Strickjacke drüber. Noch nicht ganz Norland-College-würdig, aber die Richtung stimmte.
Ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Ich hatte so etwas noch nie gemacht. Nicht die Kinderbetreuung, das natürlich schon. Das war seit fast zehn Jahren mein Beruf, wenn auch hauptsächlich in Kitas und weniger in Familien.
Nein: das hier. Mich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Eine Zurückweisung zu riskieren.
Ich wollte es so sehr. Ich wollte diesen Job so sehr, dass ich beinahe Angst davor bekam, was mich erwarten würde.
Zu meinem Ärger hatte der Zug Verspätung, weshalb ich statt der planmäßigen viereinhalb Stunden am Ende sechs Stunden bis nach Edinburgh brauchte. Als ich endlich am Bahnhof Waverley ausstieg und meine steifen Beine strecken konnte, war es schon nach fünf und ich hatte meinen Anschluss nach Carn Bridge verpasst. Zum Glück sollte jeden Moment der nächste Zug dorthin kommen, und während ich am Gleis wartete, schrieb ich Mrs Elincourt eine Nachricht, um ihr die Verspätung mitzuteilen und mich mit Nachdruck dafür zu entschuldigen.
Dann endlich kam der Zug – viel kleiner als der Intercity und viel älter. Ich suchte mir einen Fensterplatz und weiter ging es nach Norden. Ich beobachtete, wie sich die Landschaft veränderte. Nach und nach wurde die grüne Hügellandschaft vom Aschblau und Lila der Heidemoore abgelöst, dahinter erhoben sich Berge, die mit jedem Bahnhof, den wir passierten, dunkler und schroffer wirkten. Die Schönheit der Gegend ließ mich den Ärger über die Verspätung vergessen, beim Anblick der steilen, unerbittlichen Berge wirkte alles andere klein und unbedeutend. Ich merkte, wie auch meine Anspannung, die mir wie ein Stein im Magen gelegen hatte, langsam nachließ. Und etwas in mir begann zu … ich weiß nicht, Mr Wrexham. Es war, als spürte ich auf einmal Hoffnung. Hoffnung, dass es tatsächlich wahr werden könnte.
Es ist schwer zu beschreiben, aber irgendwie fühlte es sich an, wie nach Hause zu kommen.
Wir passierten Perth, Pitlochry, Aviemore – Namen, die mir vage bekannt vorkamen. Der Himmel zog sich immer mehr zu. Schließlich die Ansage »Carn Bridge, nächster Halt Carn Bridge«, und der Zug lief in einem kleinen viktorianischen Bahnhof ein. Ich stieg aus und blickte mich unschlüssig auf dem Bahnsteig um.
Sie werden abgeholt, hatte Mrs Elincourt in ihrer E-Mail vor meiner Abreise geschrieben. Was hieß das? Würde ein Taxi kommen? Jemand mit einem Schild mit meinem Namen drauf?
Ich folgte der kleinen Gruppe von Reisenden zum Ende des Bahnsteigs und blieb dann etwas ratlos stehen, während die anderen sich auf parkende Autos verteilten und Freunde und Verwandte begrüßten. Meine Tasche war schwer und ich stellte sie ab und ließ den Blick über den dämmrigen Bahnsteig schweifen. Die länger werdenden Schatten kündigten den Abend an und der flüchtige Optimismus, den ich auf der Zugfahrt gespürt hatte, schwand langsam dahin. Was, wenn Mrs Elincourt meine Nachricht von unterwegs nicht bekommen hatte? Geantwortet hatte sie nicht. Vielleicht war ein vorbestelltes Taxi schon vor Stunden unverrichteter Dinge wieder weggefahren, und mich hatten sie längst abgeschrieben.
Auf einmal waren die Schmetterlinge im Bauch zurück –schlimmer als vorher.
Es war zwar Anfang Juni, aber so weit nördlich war die Abendluft überraschend kühl, vor allem nach der stickigen Wärme in London. Ich fröstelte leicht und zog meine Jacke fester zu gegen den kalten Wind, der von den Hügeln kam. Der Bahnsteig hatte sich geleert und ich war allein.
Ich hatte große Lust auf eine Zigarette, wusste aber aus Erfahrung, dass es keinen guten Eindruck machte, beim Vorstellungsgespräch nach Rauch zu stinken. Ich warf einen Blick aufs Handy. Der Zug war auf die Minute pünktlich gekommen – also pünktlich zu der neuen Zeit, die ich Mrs Elincourt mitgeteilt hatte. Fünf Minuten würde ich ihr noch geben und dann anrufen.
Doch dann waren die fünf Minuten um und ich beschloss, mich noch mal fünf Minuten zu gedulden. Ich wollte sie nicht bedrängen, falls sie sich nur ein bisschen verspätete. Vielleicht war ja einfach nur viel Verkehr.
Weitere fünf Minuten vergingen, und als ich gerade in meiner Tasche wühlte auf der Suche nach dem Ausdruck von Mrs Elincourts Mail, kam mir ein Mann auf dem Bahnsteig entgegen, die Hände in den Hosentaschen.
Im ersten Moment blieb mir das Herz stehen. Aber dann kam er näher und unsere Blicke begegneten sich. Das konnte er unmöglich sein. Viel zu jung. Dreißig, fünfunddreißig dem Aussehen nach. Er war außerdem – was mir selbst in meiner Aufregung nicht entging – extrem gutaussehend, auf diese unrasierte Art, hochgewachsen und schlank, mit strubbeligem braunem Haar.
Er trug einen Overall, und als er die Hände aus den Taschen nahm, sah ich den Schmutz an seinen Fingern – Erde oder Motoröl, vermutete ich, allerdings hatte er offenbar versucht, es abzuwaschen. Kurz überlegte ich, ob er vielleicht Gleisarbeiter war, aber dann stand er vor mir und sprach mich an.
»Rowan Caine?«
Ich nickte.
»Ich bin Jack Grant.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als amüsierte er sich über einen Witz, der nur für ihn bestimmt war. Er hatte einen schottischen Akzent, der aber weicher und klarer klang als bei der Frau aus Glasgow, mit der ich mal zusammengearbeitet hatte. Seinen Nachnamen sprach er kürzer und heller aus, als ein Engländer es tun würde. »Ich arbeite im Heatherbrae House. Sandra hat mich gebeten, Sie abzuholen. Tut mir leid, dass ich etwas zu spät bin.«
»Hallo«, sagte ich, auf einmal schüchtern, ohne zu wissen warum. Ich räusperte mich und fügte hinzu: »Ähm, kein Problem.«
»Darum sehe ich auch so aus.« Er blickte etwas beschämt auf seine Hände. »Sie hat mir erst vor einer halben Stunde gesagt, dass ich Sie abholen soll. Ich war gerade dabei, den Rasenmäher zu reparieren, aber ich wollte nicht zu spät kommen, also bin ich direkt los. Soll ich Ihre Tasche nehmen?«
»Ist nicht nötig, danke.« Ich hob die Tasche auf. »Ist gar nicht schwer. Danke fürs Abholen.«
Er zuckte die Schultern. »Nichts zu danken. Ist ja mein Job.«
»Sie arbeiten also für die Elincourts?«
»Für Bill und Sandra, ja. Sag einfach Jack zu mir, okay? Ich bin der … hm, ich weiß gar nicht, wie ich meinen Job nennen würde. Ich glaube, auf der Gehaltsliste der Firma führt Bill mich als Fahrer, aber ›Mädchen für alles‹ würde es besser treffen. Ich mach den Garten, repariere die Autos, fahre die Familie nach Carn Bridge rein und zurück. Und du wirst die neue Nanny?«
»Ist noch nicht klar«, antwortete ich nervös, doch als er mich von der Seite angrinste, musste ich gegen meinen Willen lächeln. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Ansteckendes. »Ich habe mich jedenfalls beworben. Haben sie viele eingeladen?«
»Zwei oder drei. Du machst dich schon mal besser als die erste. Die konnte kaum Englisch – wer weiß, wer ihr die Bewerbung geschrieben hatte, aber nach dem, was ich von Sandra gehört habe, wird’s die ganz sicher nicht werden.«
»Oh.« Irgendwie war ich erleichtert. Ich hatte mir schon reihenweise Mary-Poppins-Verschnitte in frisch gestärkten Blusen vorgestellt. Ich strich mir den Rock glatt und machte mich ein bisschen größer. »Gut. Nicht für sie, meine ich. Gut für mich.«
Wir waren jetzt auf dem fast leeren Parkplatz vor dem Bahnhof und gingen auf einen langen schwarzen Wagen zu, der auf der anderen Straßenseite stand. Jack klickte in seiner Hosentasche auf den elektronischen Schlüssel, die Lichter blinkten auf, und die Türen klappten nach oben auf wie Fledermausflügel. Ich starrte mit offenem Mund auf das Gefährt. Ich musste an den langweiligen grauen Volvo meines Stiefvaters denken, der sein ganzer Stolz war, und lachte kurz auf. Jack grinste.
»Ein Tesla. Ziemlicher Hingucker, oder? Vollelektrisch. Für mich persönlich wär’s nichts, aber Bill … Na ja, wirst du ja sehen. Er ist ein Technikfreak.«
»Ach ja?« Meine Antwort klang gleichgültig, aber insgeheim war ich froh, etwas über diesen Mann ohne Gesicht zu erfahren, ein Informationshappen, eine erste Verbindung.
Jack trat einen Schritt zurück und ich legte meine Tasche auf dem Rücksitz ab.
»Willst du hinten sitzen oder lieber vorne?«, fragte er.
»Oh, vorne, bitte!«, sagte ich. Die Vorstellung, hoheitsvoll hinten zu sitzen und ihn als Chauffeur zu behandeln, war mir mehr als unangenehm.
»Da hat man auch die bessere Aussicht«, sagte er, ließ die Fledermausflügel per Knopfdruck wieder einklappen und hielt mir die Beifahrertür auf.
»Nach Ihnen, Ms Caine.«
Ich registrierte zuerst gar nicht, dass er mit mir sprach, und rührte mich nicht. Dann machte es klick bei mir, ich schreckte auf und stieg hastig in das Auto.
Ich hatte mir schon gedacht, dass die Elincourts Geld hatten. Immerhin konnten sie sich einen Fahrer beziehungsweise ein »Mädchen für alles« leisten und hatten eine Au-pair-Stelle mit fünfundfünfzigtausend Pfund Jahresgehalt ausgeschrieben. Aber erst, als wir uns Heatherbrae House näherten, dämmerte mir, wie reich sie wirklich waren.
Mir wurde flau im Magen.
Es geht mir nicht ums Geld, wollte ich Jack erklären, als wir vor einem hohen Eisentor hielten, das sich langsam nach innen öffnete, offenbar von einem Sender im Auto gesteuert. Aber das wäre auch nicht ganz ehrlich gewesen.
Wie viel die beiden wohl verdienen?, überlegte ich.
Der Tesla rollte gespenstisch leise die lange, gewundene Auffahrt hoch, nur der Kies knirschte unter den Reifen.
»Krass«, murmelte ich vor mich hin, als wir um eine weitere Kurve bogen und noch immer kein Haus in Sicht war.
Jack warf mir einen Seitenblick zu. »Ganz schön riesig, was?«
»Hm, ja.«
Klar waren Grundstücke hier günstiger als unten im Süden, aber nachgeworfen bekam man sie sicher auch nicht. Auf einer holprigen Brücke überquerten wir einen reißenden Bach mit torfbraunem Wasser und fuhren dann durch ein Kiefernwäldchen. Plötzlich glaubte ich, etwas Rotes zwischen den Bäumen aufblitzen zu sehen. Ich reckte den Hals, um etwas zu erkennen, aber es war schon zu dunkel. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet.
Dann erreichten wir eine Lichtung und ich sah Heatherbrae House zum ersten Mal.
Ich hatte etwas anderes erwartet, eine moderne Protzvilla vielleicht oder eine weitläufige Ranch mit Blockhütten. Aber weit gefehlt. Ich blickte auf ein schlichtes viktorianisches Landhaus, kompakt und symmetrisch wie eine Kinderzeichnung von einem Haus, mittig eine glänzende schwarze Haustür und Fenster zu beiden Seiten. Das Gebäude war nicht besonders groß, aber solide gebaut, aus Granit, und ich konnte nicht genau sagen, warum, aber für mich strahlte es Wärme, Luxus und Komfort aus.
Es war dunkel geworden, und als Jack die Scheinwerfer ausschaltete, waren die Sterne und ein paar Lampen im Haus die einzigen Lichtquellen weit und breit. Die Szene erinnerte an diese nostalgietriefenden Glitzerfotografien, die meine Oma immer gern als Puzzle-Motive hatte.
Der verwitterte, mit Flechten bewachsene graue Stein, das goldene Licht, das durch die Ornamentglasfenster schien, die verblühten Rosen, einzelne Blütenblätter auf dem Kies – das alles wirkte so seltsam perfekt, dass es fast unerträglich war.
Beim Aussteigen sog ich die kühle Abendluft ein, die frisch und klar war wie Mineralwasser und nach Kiefern duftete. Auf einmal überkam mich eine unbändige Sehnsucht nach diesem Leben und allem, wofür es stand. Der Kontrast zu meinem eigenen Elternhaus, dem tristen Einheitsbungalow in der Vorstadt mit seinen – bis auf meines – makellos ordentlichen Zimmern, doch ganz ohne Ambiente und Komfort, stimmte mich bitter. Mehr, um den Gedanken zu verdrängen, und nicht etwa, weil ich mich schon bereit fühlte, Sandra Elincourt kennenzulernen, steuerte ich auf das Vordach des Hauses zu.
Etwas kam mir sofort komisch vor. Aber was? Die Haustür wirkte auf den ersten Blick ganz gewöhnlich, sie war aus Holz und in sattem, glänzendem Schwarz gestrichen, aber irgendwas stimmte nicht, etwas fehlte. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, was es war: Es gab kein Schlüsselloch.
Einen Türklopfer oder eine Klingel allerdings auch nicht. Wie sollte ich mich bemerkbar machen? Etwas ratlos drehte ich mich zu Jack um, doch der saß noch im Tesla und starrte auf den großen Touchscreen, der als Armaturenbrett diente.
Ich wollte gerade an der Tür klopfen, als mir in der Mauer links etwas ins Auge fiel. Ein gespenstisch erleuchtetes Glockensymbol war wie aus dem Nichts aufgetaucht, strahlte aus dem vermeintlich festen Gestein heraus. Jetzt erkannte ich, dass das, was ich für einen Teil des Gemäuers gehalten hatte, in Wahrheit ein clever integriertes Touchpanel war. Ich wollte draufdrücken, aber es enthielt offensichtlich einen Bewegungssensor, denn noch bevor ich es berühren konnte, ertönte eine Klingel im Innern des Hauses.
Irritiert ließ ich die Hand sinken und dachte daran, was Jack gesagt hatte: Bill ist ein Technikfreak. Hatte er das gemeint?
»Rowan Caine! Hallo!« Die Frauenstimme schien aus dem Nichts zu kommen und ich zuckte erschrocken zusammen. Verwirrt sah ich mich nach einer Kamera, einem Mikro oder einem Lautsprechergitter um, um hineinzusprechen. Aber da war nichts. Jedenfalls nichts, was ich sehen konnte.
»Ähm … j-ja«, sagte ich in die Luft hinein und kam mir unendlich blöd vor. »Hallo. Ist das … Mrs Elincourt?«
»Ja! Aber sag ruhig Sandra! Ich zieh mich schnell um, bin in zehn Sekunden unten. Sorry, dass ich dich warten lasse.«
Die Anzeige erlosch, doch kein Klick- oder Piepton signalisierte mir, dass sie aufgelegt hatte. Ich stand da und fühlte mich auf seltsame Art beobachtet und ignoriert zugleich.
Nach einer gefühlt langen Wartezeit, vermutlich aber nur dreißig Sekunden, ertönte plötzlich wildes Hundegebell und die Tür ging auf. Zwei schwarze Labradore sprangen heraus, gefolgt von einer schlanken, honigblonden, etwa vierzigjährigen Frau, die lachte und hilflos versuchte, die Tiere festzuhalten, die fröhlich jaulend um uns herumwuselten.
»Hero! Claude! Hierher jetzt!«
Aber die Hunde hörten nicht und sprangen mich so stürmisch an, dass ich ein paar Schritte zurückwich. Der eine drückte mir seine Schnauze in den Schritt, was schmerzhaft war, und ich lachte etwas nervös, während ich versuchte ihn wegzuschieben. Ich dachte an meine Strumpfhose und hoffte inständig, er würde sie nicht kaputtreißen, denn ich hatte nur ein Paar als Ersatz dabei. Als er wieder an mir hochsprang, musste ich niesen und spürte ein Jucken am Hinterkopf. Mist. Hatte ich das Asthmaspray eingesteckt?
»Hero!«, rief die Frau erneut. »Hero, lass das! Aus!« Sie trat unter dem Vordach hervor und hielt mir die Hand entgegen. »Rowan Caine, willkommen! Ich bin Sandra! Still jetzt, Hero, wirklich!« Endlich gelang es ihr, die Leine am Halsband einzuklinken, und sie zerrte den Hund zu sich heran. »Tut mir wirklich leid, sie sind eigentlich total lieb. Du hast doch nichts gegen Hunde?«
»Nein, gar nicht«, antwortete ich, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich hatte zwar nicht direkt was gegen Hunde, aber sie lösten Asthmaattacken bei mir aus, wenn ich kein Antihistaminikum nahm. Und ob Asthma oder nicht, ich wollte ihre Nasen nicht zwischen meinen Beinen, erst recht nicht bei einem Vorstellungsgespräch. Ich spürte eine Enge in der Brust, aber hier draußen konnte das eigentlich nur psychosomatisch sein. »Du bist ein ganz Feiner«, sagte ich mit der größten Begeisterung, die ich aufbringen konnte, und tätschelte dem Hund den Kopf.
»Eine ganz Feine. Hero ist ein Mädchen, Claude ist der Rüde. Sie sind Geschwister.«
»Eine ganze Feine bist du«, korrigierte ich halbherzig. Hero leckte mir überschwänglich die Hand und ich unterdrückte den Drang, sie sofort am Rock abzuwischen. Hinter mir schlug eine Autotür zu, gefolgt von Jacks knirschenden Schritten auf dem Kies. Erleichtert sah ich zu, wie die Hunde sich nun ihm zuwandten und ihm freudig bellend entgegensprangen, während er meine Tasche vom Rücksitz holte.
»Hier, Rowan. Hat mich gefreut«, sagte er. Er stellte die Tasche ab und sagte dann zu Sandra: »Ich mache mich wieder an die Arbeit, wenn das in Ordnung ist. Oder brauchst du mich noch für etwas anderes?«
»Wie?«, sagte Sandra, die durch irgendetwas abgelenkt schien. Dann nickte sie. »Ach ja, der Rasenmäher. Kannst du ihn wieder zum Laufen bringen?«
»Das hoffe ich. Wenn nicht, ruf ich morgen Aleckie Brown an.«
»Danke, Jack«, sagte Sandra und sah ihm nach, als er um das Haus bog, seine große, breitschultrige Silhouette zeichnete sich vor dem Abendhimmel ab. Sie schüttelte den Kopf. »Der Mann ist so ein Schatz. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn machen würden. Er und Jean haben immer zu uns gestanden – und das macht die ganze Nanny-Geschichte noch unbegreiflicher.«
Die Nanny-Geschichte. Ich hatte mich schon gefragt, wann sie diesen rätselhaften Umstand ansprechen würde, der mir auf der ganzen Zugfahrt im Hinterkopf rumgespukt hatte: Vier Frauen hatten die Stelle vorzeitig verlassen.
Vor Freude über die Einladung hatte ich diesen Teil von Sandras Mail anfangs erfolgreich verdrängt. Erst als ich die Anreise-Infos noch mal nachlesen wollte, war ich wieder darüber gestolpert, und diesmal stach der Satz richtig heraus – so seltsam und befremdlich war er. Während der langweiligen Stunden im Zug hatte ich eine Weile darüber gegrübelt, die Worte auseinandergenommen, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, die Sache lachend abzutun, und einem leicht verwirrten, eher mulmigen Gefühl.
Dabei glaubte ich gar nicht an übernatürliche Kräfte, Mr Wrexham, das sollte ich gleich klarstellen. Weshalb mich auch die Legenden nicht im Geringsten beunruhigten, im Gegenteil, mir kamen Geschichten von Hausbediensteten, die aufgrund mysteriöser Begebenheiten das Weite suchten, ziemlich lächerlich vor – so was gab es nur in viktorianischen Schauergeschichten.
Aber es war nun einmal Fakt, dass vier Frauen im letzten Jahr ihre Stelle bei den Elincourts aufgegeben hatten. Dass man einmal das Pech hatte, eine besonders ängstliche und abergläubische Angestellte zu erwischen, war bestimmt nicht ungewöhnlich. Aber vier hintereinander …
Was also bedeutete, dass höchstwahrscheinlich noch etwas anderes vor sich ging, und so hatte ich mir auf der langen Fahrt nach Schottland alle möglichen Erklärungen zusammengereimt. Vielleicht war ja Heatherbrae House eine zugige Ruine oder Mrs Elincourt eine besonders schwierige Arbeitgeberin. Bisher zumindest schien das aber nicht der Fall zu sein. Es würde sich schon zeigen.
Im Haus wurden die Hunde nicht etwa ruhiger, sondern schienen im Gegenteil noch ausgelassener und aufgeregter, weil man der Fremden Zutritt gewährt hatte. Am Ende gab Sandra den Versuch auf, sie unter Kontrolle zu bringen, und zerrte sie am Halsband in ein Hinterzimmer, damit sie endlich Ruhe gaben.
Kaum war sie weg, wühlte ich hastig in meiner Tasche nach dem Asthmaspray und inhalierte verstohlen. Dann wartete ich im Eingangsflur, während ich die Atmosphäre des Hauses auf mich wirken ließ.
Es war nicht allzu groß, ein typisches Einfamilienhaus. Die Einrichtung wirkte nicht protzig, aber hochwertig und vor allem sehr wohnlich. Doch eins war offensichtlich: Sie hatten Geld. Das polierte Holzgeländer, der flauschige Läufer auf der eleganten Treppe, der gemütliche, bronzefarbene Samtsessel darunter, der alte Perserteppich auf den Fliesen im Flur, das langsame, beständige Ticken der antiken Standuhr neben dem hohen Fenster, der alte Refektoriumstisch an der Wand – alles strahlte auf subtile, fast beklemmende Weise Luxus aus. Dabei war es nicht besonders ordentlich – Zeitungen lagen stapelweise um ein Sofa verstreut, ein Kinder-Regenstiefel stand verwaist neben der Haustür – und trotzdem wirkte nichts fehl am Platz. Die Sofakissen waren prall, es gab keine Hundehaarbüschel in den Ecken, keine Schrammen und keinen Schmutz auf der Treppe.
Sogar der Geruch stimmte – keine Spur von Küchendünsten oder nassem Hund, bloß Holzrauch, Bienenwachspolitur und ein Hauch von Rosenblüten.
Es war so … es war einfach perfekt, Mr Wrexham. Es war so lauschig und heimelig, ein Zuhause, wie ich es mir – mit genug Geld, Geschmack und Zeit – selbst geschaffen hätte.
All das ging mir durch den Kopf, als am anderen Ende des Flurs eine Tür zufiel und Sandra zurückkam. Sie schüttelte sich die vollen, honigblonden Haare aus dem Gesicht und lächelte.
»Tut mir wirklich leid, sie sehen hier nicht so viele Leute, da ist es jedes Mal aufregend, wenn jemand Neues kommt. Sie sind wirklich nicht immer so, versprochen. Also noch mal von vorn. Hallo Rowan, ich bin Sandra.«
Und sie streckte mir zum zweiten Mal die Hand hin, eine braungebrannte, schmale Hand mit drei oder vier wertvoll aussehenden Ringen an den Fingern. Ich nahm sie lächelnd an und war überrascht von ihrem kräftigen Händedruck.
»So, nach der langen Reise bist du bestimmt ganz müde und ausgehungert. Du bist doch von London gekommen, oder?«
Ich nickte.
»Komm, ich zeig dir erst mal dein Zimmer, da kannst du dich frisch machen. Und wenn du wieder runterkommst, essen wir. Es ist ja schon nach neun, hatte ich gar nicht gemerkt. War die Fahrt anstrengend?«
»Nein, war nicht so schlimm«, sagte ich. »Nur lang. Es gab eine Signalstörung in York, weshalb ich den Anschlusszug verpasst habe. Was mir wirklich leid tut, ich bin normalerweise pünktlich.«
Das jedenfalls stimmte. Bei all meinen sonstigen Fehlern und Schwächen komme ich wirklich selten zu spät.
»Deine Nachricht hab ich bekommen. Entschuldige, dass ich nicht geantwortet habe. Ich hab sie erst nicht gesehen, weil ich gerade die Kinder in der Badewanne hatte, und ich konnte nur ganz kurz rausrennen, um Jack zu bitten, dass er dich abholen soll. Du musstest hoffentlich nicht zu lange am Bahnhof warten.«
Es war zwar eigentlich keine Frage, aber ich antwortete trotzdem. »Nicht zu lange, nein. Die Kinder sind also im Bett?«
»Die drei jüngsten, ja. Maddie ist acht, Ellie fünf, und das Baby Petra ist achtzehn Monate. Sie sind alle schon im Bett.«
»Und Nummer vier?«, fragte ich und musste plötzlich an das rote Etwas denken, das ich zwischen den Bäumen hatte aufblitzen sehen. »Ihr habt vier Kinder, nicht wahr?«
»Rhiannon ist vierzehn, aber gibt sich wie vierundzwanzig. Die ist im Internat – das haben wir uns nicht ausgesucht, ich hätte sie lieber zu Hause, aber hier in der Nähe gibt es keine weiterführende Schule. Die nächste ist über eine Stunde Fahrt entfernt, und das wäre einfach zu viel jeden Tag. Also geht sie aufs Internat in der Nähe von Inverness, aber sie kommt fast jedes Wochenende nach Hause. Mir bricht es jedes Mal das Herz, wenn sie wieder fährt, aber ihr gefällt es ganz gut.«
Wenn du sie so gern zu Hause hättest, warum zieht ihr dann nicht um?, dachte ich.
»Also werde ich sie gar nicht kennenlernen?«, fragte ich.
Sandra schüttelte den Kopf. »Leider nicht, aber du würdest sowieso die meiste Zeit mit den Kleinen verbringen. Außerdem können wir uns so heute Abend in Ruhe unterhalten, die Kinder siehst du dann morgen früh. Oh, und leider kann mein Mann Bill auch nicht dabei sein.«
»Ach so?« Das kam überraschend für mich, fast wie ein Schock. Ihn würde ich also gar nicht treffen. Ich hatte geglaubt, dass er die Person kennenlernen wollte, die sich um seine Kinder kümmern würde … aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Das ist ja schade.«
»Ja, er ist zurzeit verreist, dienstlich. Ich habe hier ziemlich zu kämpfen gehabt, nachdem so viele Nannys dieses Jahr gegangen sind. Die Kinder hat es völlig aus der Bahn geworfen, was ja verständlich ist, und die Firma hat sehr darunter gelitten. Wir sind beide Architekten in unserem Zwei-Mann-Betrieb. Na ja, ein Mann, eine Frau!« Sie lächelte und ich sah ihre schneeweißen, perfekt geraden Zähne aufblitzen. »Wir sind nur zu zweit, sodass wir schon bei zwei Projekten gleichzeitig völlig ausgelastet sind. Wir versuchen, alles so zu schieben, dass immer einer von uns hier ist, aber seit Katya, unsere letzte Nanny, weg ist, herrscht nur noch Chaos. Ich kümmere mich im Moment um alles, was hier anfällt, während Bill versucht, die Geschäfte am Laufen zu halten – und ich muss es gleich vorab sagen: Wer immer die Stelle bekommt, sollte nicht mit einer entspannten Einarbeitungsphase rechnen. Normalerweise versuche ich, im ersten Monat nur von zu Hause aus zu arbeiten, um sicherzustellen, dass alles läuft, aber das wird diesmal nicht gehen. Bill kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein und bei den aktuellen Projekten werde ich dringend vor Ort gebraucht. Wir suchen also eine sehr erfahrene Nanny, die wir von Anfang an mit den Kindern allein lassen können. Und sie sollte möglichst bald anfangen.« Sie sah mich leicht besorgt an, mit einer Falte zwischen den markanten Augenbrauen. »Findest du dich in der Beschreibung wieder?«
Ich schluckte. Zeit, die Zweifel abzuschütteln und in meine Rolle als Rowan die Musternanny zu schlüpfen.
»Auf jeden Fall«, sagte ich und die Sicherheit in meiner Stimme überzeugte mich beinahe selbst. »Meinen Lebenslauf habt ihr ja gelesen …«
»Ja, der hat uns schwer beeindruckt«, sagte Sandra. Ich spürte, wie ich rot wurde, und nickte dankend. »Im Ernst, das ist einer der besten, die wir je bekommen haben. Du bringst alles mit, was wir brauchen, vor allem die Erfahrung mit verschiedenen Altersstufen. Aber wie steht es mit deiner Kündigungsfrist im Job? Also, natürlich« – sie redete jetzt schnell, es schien ihr unangenehm zu sein –, »natürlich wäre das Wichtigste, dass wir die richtige Nanny finden, das versteht sich von selbst. Aber wir brauchen wirklich jemanden, der mehr oder weniger sofort anfangen kann. Da will ich gleich mit offenen Karten spielen.«
»Ich habe vier Wochen Kündigungsfrist«, sagte ich, woraufhin sie einen leichten Schmollmund zog, und ich fügte hastig hinzu: »Aber eventuell kann ich eine Verkürzung aushandeln, ich habe auch noch ziemlich viel Resturlaub. Ich müsste mich noch mal mit dem Kalender hinsetzen und nachrechnen, aber ich glaube, ich könnte die Frist auf zwei Wochen herunterdrücken. Vielleicht noch weniger.«
Falls sie mir in der Kita entgegenkamen. Sie hatten mir weiß Gott nicht viel Anlass gegeben, loyal zu sein.
Erleichterung huschte über Sandras Gesicht, dann erst schien ihr aufzufallen, wo wir waren.
»Herrje, jetzt quatsche ich schon im Flur auf dich ein. Ich sollte vielleicht mit dem Vorstellungsgespräch warten, bis du wenigstens die Jacke ausgezogen hast. Komm, ich zeig dir dein Zimmer und nachher setzen wir uns in die Küche und unterhalten uns, und du bekommst was zwischen die Zähne.«
Sie wandte sich um und stieg die lange, gewundene Treppe hinauf, ihre Schritte fast lautlos auf dem dicken, samtweichen Teppich. Ich folgte ihr. Auf dem ersten Absatz blieb sie stehen und legte einen Finger an die Lippen. Auch ich blieb stehen und sah mich um. Ein kleiner Tisch, darauf eine Vase mit hellroten Pfingstrosen, die langsam verblühten. Ein Korridor führte ins Halbdunkel, die einzige Lichtquelle war ein rosa Steckdosenlicht an der Wand. Ein halbes Dutzend Türen führte von ihm ab. Die Tür ganz am Ende war mit schiefen Holzbuchstaben beklebt, und nachdem meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte ich die Wörter lesen: Prinzessin Ellie und Königin Maddie. Die Tür direkt bei der Treppe war nur angelehnt, im Zimmer dahinter brannte ein Nachtlicht, leises Babyschnarchen war zu hören.
»Die Kinder schlafen«, flüsterte Sandra. »Hoffe ich zumindest. Vorhin habe ich sie noch quasseln gehört, aber jetzt scheint alles still zu sein. Besonders Maddie hat einen leichten Schlaf, also muss ich hier immer auf Zehenspitzen herumschleichen. Bill und ich schlafen hier im ersten Stockwerk, Rhiannon im zweiten. Hier entlang.«
Der Treppenabsatz im zweiten Stock war etwas kleiner, und es gingen drei Türen davon ab. Die mittlere stand offen, dahinter befand sich eine kleine Kammer mit Besen und Lappen sowie einem kabellosen Staubsauger, der gerade geladen wurde. Sandra schloss hastig die Tür.
Die Tür links war zu und darauf stand, offenbar mit rotem Lippenstift geschrieben: KEIN ZUTRITT – VERPISS DICH ODER STIRB.
»Rhiannons Zimmer«, sagte Sandra und sah mich mit halb belustigtem, halb resigniertem Ausdruck an. »Und das hier« – sie drehte den Knauf der hinteren rechten Tür – »ist deins. Also, ich meine …« Sie brach ab, wirkte beinahe verlegen. »Ich meine, hier bringen wir immer die Nanny unter und du schläfst heute Nacht auch hier. Tut mir leid, ich wollte nicht einfach so Fakten schaffen!«
Ich lachte etwas angespannt und folgte ihr ins Zimmer. Es war dunkel, doch anstatt das Licht anzuknipsen, zückte Sandra ihr Handy. Ich dachte, sie würde vielleicht die Taschenlampe einschalten, aber sie tippte auf ihren Touchscreen, und das Licht ging an.
Und zwar nicht nur die Deckenleuchte – die gab nur einen schwachen goldenen Schein ab –, sondern auch die Leselampe neben dem Bett, eine Stehlampe am Fenster neben einem niedrigen Tisch und eine kleine Lichterkette, die um das Kopfteil des Bettes geschlungen war.
Die Überraschung muss man mir angesehen haben, denn Sandra lachte entzückt auf.
»Ziemlich cool, oder? Wir haben natürlich auch Schalter, oder besser gesagt Touchpanels, aber dies ist ein Smart Home. Heizung und Licht und so weiter werden per Handy gesteuert.« Indem sie ein paarmal über den Bildschirm wischte, wurde das Deckenlicht erst viel heller und dann gedimmt, und im En-suite-Bad am anderen Ende des Zimmers ging das Licht an und gleich darauf wieder aus.
»Und nicht nur das Licht …«, sagte Sandra. Sie fuhr mit dem Finger über den Bildschirm und tippte auf ein Symbol, woraufhin aus einem unsichtbaren Lautsprecher leise Musik ertönte. Miles Davis, vermutete ich, auch wenn ich mich mit Jazz nicht gut auskannte.