Zero Days - Ruth Ware - E-Book

Zero Days E-Book

Ruth Ware

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Beschreibung

Eine atemlose Jagd – eine tödliche Bedrohung Der neue Thriller der Bestsellerautorin Ruth Ware: mitreißend, atemlos, beklemmend »So eine Ruth Ware haben Sie noch nie gelesen. Ein pulsierendes Katz- und Mausspiel voller tödlicher Intrigen, das Jack Cross, Ware's neue, großartige Heldin, an ihre absoluten Grenzen bringt.« David Baldacci Jack und ihr Ehemann Gabe werden von großen Unternehmen engagiert, um deren Sicherheitssysteme zu unterlaufen und so deren Schwachstellen zu finden. Und die beiden sind verdammt gut in ihrem Job! Doch eines abends geht etwas schief und Jack wird verhaftet. Als sie Stunden später entlassen wird, findet sie ihren Mann Gabe ermordet am Schreibtisch. Verzweifelt und fassungslos bricht sie zusammen. Wer kann ihm das angetan haben? Als wenig später ihre Aussage aufgenommen wird, ist Jack schnell klar: Sie selbst ist ins Visier der Ermittler geraten und bereits tief in ein gefährliches Spiel verstrickt. Und die Uhr tickt. Eine verzweifelte Flucht beginnt – und die Suche nach einem skrupellosen Mörder ...

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Seitenzahl: 458

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Über das Buch

Jacintha (Jack) Cross und ihr Ehemann Gabe werden von großen Unternehmen engagiert, um deren Sicherheitssysteme zu unterlaufen und die Schwachstellen zu finden. Und die beiden sind verdammt gut in ihrem Job! Doch eines Abends geht etwas schief und Jack wird verhaftet. Als sie Stunden später entlassen wird, findet sie ihren Mann Gabe ermordet an seinem Schreibcsch. Verzweifelt und fassungslos bricht sie zusammen. Wer kann ihm das angetan haben? Schon wenig später wird ihr klar: Sie selbst ist ins Visier der Ermittler geraten und bereits tief in ein gefährliches Spiel verstrickt. Und die Uhr tickt. Eine atemlose Flucht beginnt – und die Suche nach einem skrupellosen Mörder.

 

 

Von Ruth Ware sind im dtv außerdem erschienen:

Im dunklen, dunklen Wald

Woman in Cabin 10

Wie tief ist deine Schuld

Der Tod der Mrs Westaway

Hinter diesen Türen

Das College

Das Chalet

Ruth Ware

Zero Days

Thriller

Deutsch vonSusanne Goga-Klinkenberg

Für meinen Vater,

der sich schon Sorgen

um Online-Sicherheit gemacht hat,

lange bevor das zum Trend wurde

Samstag, 4. Februar

Minus acht Tage

Die Mauer um das Gelände war ein Kinderspiel. Knapp zwei Meter hoch, aber ohne Metallspitzen oder Stacheldraht oben drauf. Stacheldraht ist meine Nemesis. Er wird nicht ohne Grund in Kriegsgebieten verwendet.

Mit meinen eins siebzig reichte ich nicht weit genug hinauf, um mich hochzuziehen, also kletterte ich auf einen Baum mit einem stabilen Ast, der über den Parkplatz ragte. Dann ließ ich mich hinunter, bis meine Füße die Mauerkrone berührten, und lief leise bis zu einer Stelle, an der ich außer Sichtweite der Überwachungskameras runterspringen konnte.

Jenseits des Parkplatzes befand sich der Notausgang, den Gabe beschrieben hatte, und er sah vielversprechend aus. Die übliche halb verglaste Tür mit horizontaler Entriegelungsstange innen. Zufrieden stellte ich fest, dass sie schlecht eingebaut war, mit einem fast handbreiten Spalt an der Unterseite. Ich brauchte knapp dreißig Sekunden, um eine flache Metallstange mit Haken darunter zu schieben, hoch zu schwingen und in die Entriegelungsstange einzuhängen. Ich zog fest, und die Tür ging auf. Ich hielt die Luft an, wartete auf den Alarm – Notausgänge sind immer riskant –, aber es blieb still.

Drinnen ging automatisch das Licht an – große Leuchtstoffquadrate in einer gekachelten Decke, ein Schachbrett, das sich in die Dunkelheit erstreckte. Das Ende des Korridors war stockdunkel, die Sensoren dort hatten meine Bewegung noch nicht registriert, aber der Bereich, in dem ich mich befand, war taghell. Ich blieb stehen, um mich an das grelle Licht zu gewöhnen.

Licht ist immer ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ein Warnsignal für denjenigen, der die Sicherheitskameras überwacht. Jeder Wachmann schaut sofort von seinem Handy auf, wenn neben ihm plötzlich ein Monitor in weihnachtlichem Glanz erstrahlt. Aber man kann damit durchkommen, wenn man sich ausreichend selbstbewusst bewegt. Schleicht man jedoch mit einer Taschenlampe durch einen unbeleuchteten Gang, ist das deutlich schwieriger zu erklären. Da könnte man ebenso gut ein gestreiftes T-Shirt und einen Sack tragen, auf dem »Beute« steht.

Es war 22:20 Uhr und ich trug meine »Büro«-Kleidung – eine schwarze Hose, die wie das Unterteil eines Hosenanzugs aussah, in Wahrheit aber dehnbarer und atmungsaktiver war, dazu eine dunkelblaue Bluse und einen schwarzen Standard-Blazer. An den Füßen hatte ich schwarze Converse-Turnschuhe, ein grauer Rucksack hing über der Schulter.

Nur meine Haare stachen hervor. Diesen Monat waren sie leuchtend scharlachrot, ein komplett unnatürlicher Farbton, der nicht zu der leicht spießigen Atmosphäre des Unternehmens passte, einer Versicherungsgesellschaft namens Arden Alliance. Gabe hatte eine Perücke vorgeschlagen, aber Perücken waren immer ein Risiko, und ich wollte richtig in die Rolle schlüpfen. Jen – ich hatte beschlossen, dass meine imaginäre Büroangestellte Jen hieß – arbeitete im Kundendienst, dachte aber gern an ihr freies Jahr nach der Uni zurück und hielt sich immer noch für ein bisschen cool. Jen mochte sich ins Zeug legen, um befördert zu werden, aber ihr Haar war der letzte Hauch einer Persönlichkeit, die sie noch ganz nicht dem Job geopfert hatte. Dazu ein bisschen viel flüssiger Eyeliner und ein Zitat von Arya Stark als Tattoo auf dem Schulterblatt.

Der Eyeliner war echt – ohne fühlte ich mich nicht richtig angezogen. Der Universitätsabschluss war imaginär. Ebenso das Tattoo. Ich stand nicht genug auf Game of Thrones, um mir wirklich eins stechen zu lassen, obwohl ich zugeben muss, dass Arya dann schon die Figur meiner Wahl gewesen wäre.

Jen hatte noch Überstunden gemacht und hatte es jetzt eilig, nach Hause zu kommen. Daher die bequemen Schuhe. Der Rucksack war für ihre High Heels – an dem Punkt wich mein Rollenspiel von der Realität ab. Jen mochte High Heels in ihrem Rucksack herumtragen – meiner hingegen war voller Einbruchwerkzeuge und Computerausrüstung mit sehr anrüchiger Software, die Gabe aus dem Dark Web heruntergeladen hatte.

Ich schlich auf leisen Gummisohlen durch den Korridor und versuchte, so auszusehen, als gehörte ich hierher. Auf beiden Seiten waren Türen, dahinter verlassene Büros, nur hier und da leuchtete eine LED, wo jemand versäumt hatte, den Computer herunterzufahren.

In einer Nische blinkte hypnotisch ein Fotokopierer. Ich blieb stehen und schaute links und rechts den Korridor entlang. Hinter mir war es hell, um die Ecke vor mir dunkel, weil die Bewegungsmelder meine Anwesenheit noch nicht registriert hatten. Umso besser – das Licht konnte den Sicherheitsdienst alarmieren, aber umgekehrt funktionierte das auch. Die Wachleute würden kaum von hinten kommen, da der Korridor dort nur zum Parkplatz führte. Kämen sie von vorn, würde mich das aufflammende Licht warnen, und ich könnte umkehren oder mich in einem Büro verstecken. Gabe würde mir wahrscheinlich sagen, ich solle schnellstmöglich den Serverraum finden – aber diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen.

Hinter dem Kopierer befanden sich wie erhofft ein Kabelgewirr und zwei LAN-Anschlüsse, über die Geräte mit dem Hauptnetzwerk der Firma verbunden wurden. Einer war in Gebrauch und mit dem Kopierer verbunden. Der andere war frei. Mit klopfendem Herzen sah ich noch einmal in beide Richtungen und holte einen der kleinen Raspberry-Pi-Computer aus dem Rucksack.

Der Pi war kleiner als ein Taschenbuch. Ich schob ihn hinter den Kopierer, wo er unauffällig in dem Haufen Blätter verschwand, die aus dem Dokumenteneinzug gefallen waren. Ich verband ihn mit einer Steckdose und das LAN-Kabel mit dem leeren Port. Sekunden später knisterten meine Bluetooth-Kopfhörer, und die tiefe Stimme meines Mannes drang in mein Ohr, seltsam intim in der Stille des verlassenen Gebäudes.

»Hey, Schatz … dein Pi ist gerade online gegangen. Wie läuft’s?«

»Okay.« Ich sprach leise, kaum mehr als ein Flüstern. »Ich versuche gerade, mich zurechtzufinden.« Ich legte ein Blatt über den Pi, hängte mir den Rucksack über die Schulter und ging durch den Korridor und um die Ecke. »Wie geht’s dir?«

»Ach, du weißt schon.« Gabe klang trocken. »Ich spiele ein bisschen Dark Souls auf der PS. Ich kann ja nicht viel machen, bis du mich in den Serverraum bringst.«

Ich lachte, aber das war nur ein halber Scherz. Das mit Dark Souls mochte nicht stimmen – ich wusste genau, dass er auf keinen Fall spielen würde; im Gegenteil, er hockte zweifellos vor seinem Monitor und verfolgte angespannt meine Bewegungen auf den Grundrissen, die wir von der Planungsabteilung erhalten hatten. Der Rest hingegen traf zu. Diese Phase war für Gabe immer am schwierigsten – wenn er abwarten und zuhören musste, ohne mir helfen zu können, falls es ein Problem gab.

»Wo bist du?«

»In einem Korridor, der vom Notausgang in Ost-West-Richtung verläuft. Dieses Gebäude ist – oh, Mist.«

Ich blieb abrupt stehen.

»Was?« Gabe klang wachsam, aber nicht übermäßig besorgt. Ich hätte kaum Oh, Mist gesagt, wenn ich mit einem Wachmann zusammengestoßen wäre. Das hätte sich ganz anders angehört.

»Da vorn ist eine Sicherheitstür. Ist die auf dem Grundriss?«

»Nein«, sagte Gabe. »Die muss neu sein.«

Ich konnte hören, wie seine Finger über die Tastatur flogen. »Moment, ich versuche, über deinen Pi ins Sicherheitssystem zu gelangen. Was kannst du sehen?«

»Einen PIR-Sensor.« Ich schaute zu dem blinkenden Infrarot-Oval über der Tür.

»Okay, warte, der Sensor könnte einen Alarm auslösen.«

»Ach, echt?«, sagte ich. Das war mir natürlich klar. Ich machte mir keine Sorgen wegen der Tür an sich – zusammen kamen Gabe und ich durch die meisten Sperren. Aber ein PIR-Sensor bedeutete normalerweise einen Bewegungsmelder – und wenn ich den nach Feierabend auslöste, lief ich Gefahr, die Wachleute zu alarmieren. Andererseits hatte der Notausgang auch keinen Alarm ausgelöst, was ich als gutes Zeichen deutete. Ich ging langsam näher.

»Jack?«, fragte Gabe. Die Tasten klickten nicht mehr. »Jack, Schatz, sprich mit mir. Was machst du? Wir wollen doch kein zweites Zanatech.«

Zanatech. Argh. Nur ein Wort: Hunde. Ich habe nichts gegen sie als Haustiere, aber ich hasse Wachhunde. Die können wirklich Schaden anrichten. Und sehr schnell rennen.

Ich trat noch einen Schritt näher und hielt den Atem an.

Der Sensor registrierte meine Anwesenheit, leuchtete auf, und ich schloss die Augen, machte mich auf Sirene und schnelle Schritte gefasst … doch nichts passierte, außer dass die Tür sanft aufschwang.

»Jack?« Gabes Stimme klang drängend an mein Ohr, als er mich erleichtert ausatmen hörte. »Was ist passiert?«

»Alles in Ordnung. Die Tür ist offen. Ich glaube nicht, dass sie etwas ausgelöst hat.«

Ich konnte förmlich hören, wie Gabe die Zähne zusammenbiss und eine ungehaltene Erwiderung unterdrückte. Ich hätte warten sollen, während er versuchte, über den Pi aufs Sicherheitssystem zuzugreifen und herauszufinden, ob die Tür alarmgesichert war. Aber das konnte Stunden dauern, und in diesem Job war Nichtstun riskant. Manchmal musste man sich einfach auf sein Bauchgefühl verlassen.

Außerdem war es nicht wirklich ein Bauchgefühl, und das wusste Gabe. Es war ein durch jahrelange Erfahrung geschärfter Instinkt.

»Du hoffst, es hat nichts ausgelöst«, sagte er schließlich, und ich kicherte siegesgewiss. Wäre ein Alarm oder, schlimmer, Hundegebell ertönt, während Gabe Ich hab’s dir doch gesagt! schrie, wäre mir das Lachen allerdings schnell vergangen. Aber Gabe war wirklich kein schlechter Verlierer, das war eine seiner vielen guten Eigenschaften. Er widmete sich schon dem nächsten Problem. »Wo bist du jetzt? Vor den Aufzügen?«

»Ja«, sagte ich und schaute mich um. Die Lobby war mit einer hohen Yuccapalme und einem futuristischen Metallstuhl ausgestattet. »Hier gehen drei Korridore ab und …« Ich schaute auf die Anzeige über den Aufzügen. »Oh Mann, vierzehn Stockwerke. Wissen wir, wo der Serverraum ist?«

»Warte mal«, sagte Gabe. Computertasten klickten. »Die IT scheint im fünften Stock zu sein, also fang dort an. Wo bist du, im Erdgeschoss?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Ich sah mich um. »Das Parkhaus geht über zwei Etagen.«

Gegenüber hing eine Infotafel. Anscheinend befand ich mich im ersten Stock. Weiter oben stand 5 – IT / HR. So viel zu Gabes Computer-Zauberkünsten.

Ich schickte ihm rasch ein Foto des Schildes mit dem Kommentar No shit sherlock und hörte sein tiefes Lachen, als die Nachricht ankam.

»Was soll ich sagen – wir Techs sollen ja ständig Probleme lösen, die die Leute eigentlich selbst lösen müssten.«

»Fick dich, Medway«, sagte ich gutmütig, und er lachte wieder, ein leises, anzügliches Glucksen, das meinen Bauch in Schwingungen versetzte.

»Würde ich ja, aber ich hab da jemand Heißeres im Kopf. Und sie wird in ein oder zwei Stunden zu Hause sein. Falls sie mal ihren Arsch hochkriegt.«

Ich musste lächeln, ließ meine Stimme aber streng klingen. »Ich komme überhaupt nicht nach Hause, wenn du mich nicht in den Serverraum bringst. Also konzentrier dich auf die Arbeit und lass meinen Arsch da raus.«

Die Bedientafel des Aufzugs war eine Hightech-Variante, bei der man seine Karte einlesen und dann eine Etage auswählen musste. »Der Aufzug hat einen Kartenleser, also dürften die oberen Etagen nur mit Karte zugänglich sein.«

»Den kann ich wahrscheinlich erst ausschalten, wenn du mich in den Serverraum gebracht hast. Es wird Zeit, dass du dich reinhängst, Babe.«

Ich seufzte theatralisch und sah mich nach dem Notausgang, also der Treppe, um. Eine Tür in der Ecke der Lobby wies mir den Weg, aber vorher ließ ich noch einen verwanzten USB-Stick vor den Aufzugtüren fallen. Gabe hatte mir ein halbes Dutzend mitgegeben, unschuldig aussehende kleine Dinger, die er mit selbstentwickelten Trojanern versehen hatte. Mit etwas Glück würde am Montag jemand den Stick aufheben und in seinen Computer stecken, um den Besitzer ausfindig zu machen. Die Person würde nur einen Haufen nichtssagender Word-Dokumente vorfinden, während sich ein hinterhältiges Stückchen Code auf der Festplatte einnistete, Kontakt zum Mutterschiff aufnahm und einen Lese- und Schreibzugriff auf den Computer ermöglichte, solange dieser mit dem Internet verbunden war.

Im fünften Stock ließ ich einen weiteren USB-Stick fallen und berührte mein Headset.

»Du befindest dich in einer kleinen Lobby«, sagte ich mit Roboterstimme. »Korridore führen nach Norden, Osten und Westen. Südlich von dir ist ein Aufzug, in der Ferne ein hoher, strahlend weißer Turm. Nein, warte, das war jetzt aus Colossal Cave Adventure.«

»USB-Stick fallen lassen«, sagte Gabe, und ich lachte.

»Längst erledigt. Was du übrigens wüsstest, wenn du es geschafft hättest, dich in die Überwachungskameras zu hacken. Also – welcher Korridor?«

Ich sah mir die drei unauffälligen Flure an und horchte auf das Klicken von Gabes Maus. Er versuchte, den Grundriss zu durchschauen.

»Du bist durch den Notausgang reingekommen, und Lift C ist hinter dir, richtig?«, fragte er.

»Ja. Zumindest nehme ich an, es ist Lift C. Auf der linken Seite ist eine Tür mit der Aufschrift HR, falls das hilft.«

»Das tut es. Du musst den Korridor geradeaus nehmen, glaube ich.«

Ich reckte den Daumen nach oben, obwohl Gabe mich noch nicht sehen konnte, und ging zu der Glastür. Sie schwang nicht automatisch auf.

»Okay, hier haben wir eine weitere Sicherheitstür – und ich bin auf der falschen Seite. Da ist ein Kartenleser. Was nun, Inspektor Superhirn?«

»Kannst du irgendwo einen Code eingeben?«

»Über ein Tastenfeld. Numerisch.«

»Das ist doch schon mal was. Gib mir eine Sekunde. Keine Ahnung, ob ich schon durchkomme, aber vielleicht kann ich den Code über deinen Pi aus ihrem System ziehen.«

Ich wartete mit verschränkten Armen und hörte Gabes Finger hektisch auf der Tastatur klicken, während er gelegentlich vor sich hin fluchte. Wieder zupfte ein Lächeln an meinen Lippen, und einen kurzen Moment lang wünschte ich mir, ich wäre daheim in unserem Wohnzimmer, damit ich seinen breiten Oberkörper umschlingen und einen Kuss auf seinen warmen Nacken drücken könnte, wo das schwarze Haar kurz rasiert war. Ich liebte Gabe immer und überall, am meisten aber, wenn er mit gesenktem Kopf dasaß und völlig in seine Arbeit vertieft war. Nicht nur war es sexy, jemandem bei etwas zuzusehen, das er sehr, sehr gut konnte, es ging auch um die Kameradschaft, das Gefühl, wir beide gegen den Rest der Welt.

Und manchmal auch gegeneinander. Wir waren zwar verheiratet, aber das hieß noch lange nicht, dass wir keine Konkurrenten waren. Ich war auch gut in meinem Job. Sehr gut sogar.

Ich schlenderte zum Tastenfeld und tippte 1234 ein. Nichts geschah, nur der Sensor leuchtete kurz rot auf. Mehr hatte ich auch nicht erwartet, aber es war den Versuch wert. Dann gab ich 4321 ein. Wieder nichts. Ich riskierte keinen dritten Versuch, um keine Sperre auszulösen, doch dann fiel mir etwas ein, und ich durchwühlte meine Tasche nach der Druckluftdose.

»Wie läuft’s, Schatz?«, fragte ich, während ich den Deckel abschraubte.

Die Antwort war ein knurriges Gemurmel. »Ich bin im System, komme aber nicht zur Admin. Ich versuche, mich in die E-Mails zu hacken, falls jemand mal den Code verschickt hat.«

»Tick tack, Medway. Falls du mich schnell zu Hause haben willst, wäre es allmählich an der Zeit, deinen wohlgeformten Hintern zu bewegen.«

Als Antwort kam nur ein Brummen, halb frustriert, halb belustigt. Ich klemmte die Dose in den Türspalt und drückte. Ein langes, lautes Zischen, als Luft durch den schmalen Spalt gepresst wurde – und dann glitt die Tür auf. Ich krähte triumphierend. Das Klicken verstummte.

»Äh … was war das gerade?«

»Nur ich, die ein Problem löst, das Tech-Genies eigentlich auch selbst lösen können sollten.«

»Moment, du hast die Tür aufbekommen? Wie?«

»Weißt du doch, Baby. Druckluft durch Türspalt. Der Temperaturwechsel verwirrt den PIR-Sensor. So hackt man.«

»Ach, fick dich.«

»Ich dachte, das hätten wir schon geklärt – das ist Ihr Job, Mr. Medway.«

Gabes Ärger löste sich in Gelächter auf. »Ja, ist es. Und da wir gerade von wohlgeformten Hintern sprechen, beeil dich, Babe. Wie du schon sagtest: Tick tack.«

»Tick tack«, stimmte ich zu und ging durch den langen Korridor. Eine nach der anderen gingen die Lampen an. Auch hier Büros und kein Serverraum. Ich spähte durch eine unbeschriftete Tür – dahinter war nur ein Schrank mit Hausmeisterbedarf, Mopp und Eimer. Das letzte Licht ging an, ich konnte jetzt bis zum Ende des Gangs sehen.

Mein Headset knisterte. »Immer noch nichts?«

»Nein«, sagte ich knapp und hielt inne, um zu lauschen.

»Hast du –«, setzte Gabe an.

»Pst!«, zischte ich. Es klickte leise, als er sein Mikro stummschaltete, damit nicht mal sein Atem mich ablenkte.

Da vorn waren Geräusche. Zum Glück keine Schritte, sondern das leise Summen von Computerlüftern und Klimaanlagen, die Überstunden machen. Man hört Serverräume, bevor man sie sieht.

»Ich hab ihn«, flüsterte ich Gabe zu. »Oder hinter der Tür da vorn steht eine Cessna.«

Beim Näherkommen sah ich eine Tür mit Belüftungsschlitzen, auf der »Zutritt für Unbefugte verboten« stand. Ich ignorierte es und drückte den Türgriff. Natürlich abgeschlossen, aber wirklich schlecht war, dass es kein Schlüsselloch gab. Ein normales Schloss hätte ich wohl knacken können, doch die Tür hatte nur einen Kartenleser links neben dem Griff. Es gab keine Tastatur, um einen Code einzugeben. Die Tür war gut eingepasst, ohne jeden Spalt darunter. Drinnen gab es mit ziemlicher Sicherheit einen Entriegelungsknopf, doch ich bezweifelte, dass ich ihn mit so wenig Bewegungsspielraum betätigen konnte. Die Belüftung war so eingebaut, dass die Lamellen nach unten zeigten, und die Öffnungen waren zu klein, um brauchbar zu sein. Selbst wenn ich das Gitter abmontiert hätte, hätte ich nicht durchgepasst. Außerdem sollte ich nichts beschädigen.

»Babe?«, fragte Gabe.

»Es gibt einen Durchzugleser. Keine Chance, einen Code einzugeben.«

»Scheiße.« Ich sah förmlich, wie er nachdenklich an seinem Bart zupfte und nach einem Ausweg suchte. Eine Magnetstreifenkarte zu kodieren war nicht schwer, wenn man die nötige Ausrüstung hatte und den Code kannte, aber den kannten wir ja nicht. Und selbst wenn er ihn aus den Intranetdateien ziehen konnte, war ich hier und das Codiergerät zu Hause. Wir mussten die Sache heute Abend abschließen.

»Oben drüber?«, fragte Gabe, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Genau das dachte ich auch gerade.«

Ich schaute mir die Räume links und rechts vom Serverraum an. Links war ein gewöhnliches Büro mit Glaswand, in dem zwei Schreibtische standen. Die Tür war vermutlich offen, die Glaswand jedoch nicht ideal. Rechts hingegen – das war gut. Eine Toilette. Dass es eine Herrentoilette war, machte für meine Zwecke keinen Unterschied.

»Houston, wir haben eine Toilette«, murmelte ich.

»Ready, steady, Klo.«

»Mach ruhig Witze, du sitzt gemütlich zu Hause auf deinem Hintern.« Ich hörte ihn lachen, als ich die Tür aufstieß.

Ich zog die Jacke aus und sah mich um. An der Wand zum Korridor waren die Waschbecken. Rechts von mir zwei Pissoirs, direkt vor mir die Kabinen. Ich öffnete die Tür der linken Kabine und stellte befriedigt fest, dass es sich um eine Standardausführung handelte – mit einem soliden Spülkasten, der mir bis zur Brust reichte. Spülkästen in der Wand zu verstecken mochte schick sein, wäre für mein Vorhaben aber denkbar ungünstig gewesen. Ich klappte den Toilettendeckel herunter, stieg darauf und kletterte auf den Spülkasten. Jetzt stand ich geduckt unter der Decke. Ich testete kurz mein Gleichgewicht und ob meine Ausrüstung gesichert war, dann drückte ich vorsichtig gegen die Deckenplatte.

Sie bewegte sich sofort, eine Wolke aus Staub und toten Fliegen rieselte auf mich herunter. Ich zog mich hoch und betete, dass die Wand zwischen den beiden Räumen mein Gewicht tragen würde. Sie knarrte leise, als ich den Bizeps anspannte, und noch einmal, als ich ein Bein hoch und in die schmale Öffnung schob. Doch sie hielt, und keine zwanzig Sekunden später lag ich auf dem Bauch zwischen der abgehängten und der echten Decke. Es war sehr, sehr heiß, weil hier die silbernen Leitungen der Klimaanlagen verliefen, die auf Hochtouren arbeiteten, um die Serverschränke im Raum darunter zu kühlen. Als ich die Taschenlampe im Halbkreis schwenkte, sah ich den Kriechraum, der sich vor mir in die Dunkelheit erstreckte. Ich nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne und robbte voran, wobei ich mich so nah wie möglich an der tragenden Wand hielt. Dann bohrte ich die Fingernägel in eine Deckenplatte, die sich meiner Einschätzung nach in der Ecke des Serverraums befinden musste. Sie ließ sich leicht hochziehen wie eine Falltür, doch ich war beängstigend weit oben. Reihen blinkender Serverschränke, die keinen Halt boten. Es wäre ein Sprung aus zweieinhalb Metern Höhe. Ich konnte mich hinunterlassen – mein Oberkörper war ziemlich kräftig –, wäre aber wohl kaum in der Lage, mich wieder hochzuziehen. Was zu der drängenden Frage führte, ob sich die Tür des Serverraums von innen ohne Magnetstreifenkarte öffnen ließ.

Ich legte mich flach auf die Trennwand, steckte den Kopf durch die Öffnung und leuchtete mit der Taschenlampe in den Raum unter mir. Es gab ein Bedienfeld neben dem Türgriff, aber ich konnte nicht erkennen, ob es sich um eine Entriegelungsvorrichtung oder einen Feueralarmknopf handelte. Oder nur um einen Lichtschalter. Ich musste näher heran.

Ganz vorsichtig legte ich die Deckenplatte beiseite und kroch zur Mitte des Raums. Die Unterkonstruktion knarrte ein wenig, bewegte sich aber nicht. Mit angehaltenem Atem zog ich eine zweite Platte hoch. Sie saß fester, und ich musste mit aller Kraft daran ziehen. Eine Ecke gab nach, ich zog noch fester.

Dann brach mit einem Geräusch wie ein Donnerschlag die ganze Platte in zwei Hälften, und ich purzelte nach hinten.

Einen Moment lang lag ich wie erstarrt da, die halbe Platte in der Hand. Der Knall war so laut gewesen, dass mir die Ohren klingelten, und ich konnte mir vorstellen, wie der Krach durch den Deckenraum über dem Korridor gehallt sein musste, die Decke vibrierte wie eine Trommel. Um mich herum rieselte körniger Staub herunter, die Panzer winziger Insekten landeten in meinen Haaren und meinem Gesicht, und ich hörte Gabes panische Stimme im Ohr.

»Jack! Jack! Alles okay? Babe, bist du in Ordnung? Was ist passiert?«

»Mir geht’s gut«, flüsterte ich und berührte das Headset, um zu prüfen, ob es noch richtig saß. Meine Finger zitterten vor Schreck. »Ich – ich hab gerade eine Deckenplatte zerbrochen.«

»Es klang wie ein Schuss!« Ich hörte, wie erleichtert er war, und wünschte mir plötzlich sehnlichst, er wäre hier bei mir. Ihm ging es genauso, das wusste ich. Dies war immer der schwierigste Teil – wenn etwas ganz oder beinahe schiefging und der andere nicht helfen konnte.

»Mein Gott, Süße, tu mir das nicht an. Ich dachte, sie hätten dich erschossen.«

»Mir geht’s gut, aber verdammt, Gabe, das war total laut. Falls noch jemand auf dieser Etage arbeitet, hat er es garantiert gehört.«

»Ich komme nicht in die Überwachungskameras, bevor du nicht den Drive angeschlossen hast.« Gabe klang jetzt ernst und so, als wäre er beunruhigt, wollte es aber nicht zeigen – weil er mich nicht mit seiner Nervosität anstecken wollte und weil ich auf seinen Beschützerinstinkt manchmal gereizt reagierte. »Im Ernst, Liebes, alles okay?«

»Alles bestens.« Ich legte die zerbrochene Platte weg, stützte mich auf die Ellbogen und tastete mich vorsichtig ab. Mein Herzschlag wurde langsamer, in Rucksack und Taschen schien nichts zu fehlen. Dann merkte ich, dass die Taschenlampe durch das Loch in der Decke gefallen war und auf dem Boden des Serverraums lag. Und ich hatte immer noch keine Ahnung, ob es eine Entriegelungsvorrichtung gab.

Scheiß drauf, es gab nur einen Weg in diesen Serverraum – und falls ich nicht wieder rauskam, war das eben so. Notfalls würde ich hier übernachten. Ich hatte schon Schlimmeres getan.

Ich ließ meine Stimme fest klingen. »Ich gehe runter.«

»Wie hoch ist es?«

»Zweieinhalb Meter, höchstens drei.«

»Hals- und Beinbruch. Nein, nicht wörtlich nehmen!«

»Wird schon«, sagte ich knapp, schätzte die Fallhöhe ab, tauchte die Fingerspitzen in die Kletterkreide, die an meinem Rucksack hing, und ließ mich langsam hinunter, meine Muskeln vor Anstrengung hart angespannt. Genau darum verbrachte ich fünf langweilige Vormittage pro Woche im Fitnessstudio. Nicht, um in Skinny Jeans zu passen, und schon gar nicht für Gabe, dem meine Kleidergröße völlig egal war. Nein, ich machte es für solche Momente, in denen alles von der Kraft meines Bizeps und meines Griffs abhing.

Dafür und um vor Wachleuten wegzurennen, was heute Abend hoffentlich nicht nötig werden würde.

Kurz darauf hing ich nur noch an den Fingerspitzen, die Arme gestreckt. Ich sah nach unten. Vielleicht noch ein Meter bis zum Boden. Das war nicht optimal, und ich wünschte, ich hätte etwas Stoßdämpfenderes als Converse getragen, aber meine Finger protestierten schon. Ich zählte bis drei.

Und ließ los. Ich landete lautlos wie eine Katze auf allen vieren. »Bin drin.«

»Du bist verdammt brillant. Sag ich dir das eigentlich oft genug? Hast du die USB-Sticks und den zweiten Pi?«

»Ja.« Ich richtete mich auf und kramte im Rucksack nach dem Polsterumschlag, dessen Inhalt Gabe sorgfältig vorbereitet hatte. »Wo sollen die hin?«

»Okay«, sagte Gabe, seine Stimme war jetzt pure Konzentration. »Hör zu, du tust Folgendes …«

 

Etwa fünf Minuten später steckte ich den letzten USB-Stick ein, wischte mir die schwitzenden Handflächen ab und sah mich nach der Taschenlampe um. Zuerst konnte ich sie nicht entdecken, bemerkte dann aber ein Leuchten unter dem hintersten Serverschrank. Ich musste sie versehentlich dorthin gestoßen haben, als ich mich hatte fallen lassen.

Sie lag ganz hinten, aber ich konnte sie mit der Metallstange herausholen. Ich leuchtete auf das Bedienfeld neben der Tür.

Ein grüner Knopf. Unbeschriftet, aber es musste eine Entriegelung sein. Der Brandschutz verbot es doch garantiert, Leute in Räumen einzusperren, die mit elektronischen Geräten gefüllt waren.

Bevor ich den Knopf drückte, sah ich zur Decke hoch. Zwei Platten fehlten: eine hatte ich herausgenommen, die andere war durchgebrochen. Schäden an der Einrichtung gehörten nicht zum Plan, aber Unfälle ließen sich nicht immer vermeiden. Allerdings wäre es vielleicht ratsam, in der Herrentoilette noch mal raufzuklettern und die Platte wieder einzusetzen.

Ich dachte gerade darüber nach, als Gabes Stimme erklang. Sein Tonfall war anders.

»Babe? Bist du noch da?«

»Ich will gerade gehen. Was ist los?«

»Sie kommen. Ich habe gerade Zugriff auf die Kameras gekriegt. Ein Wachmann auf der Hintertreppe, noch einer beim Hauptaufzug. Sie verlassen gerade den dritten Stock.«

»Wie viel Zeit habe ich?«

»Zwei Minuten, höchstens. Vielleicht weniger.«

»Soll ich hierbleiben?«

»Nein, sie durchsuchen alle Räume. Jemand muss den Lärm gehört haben.«

»Okay. Ich versuch’s.«

Nervös drückte ich den grünen Knopf. Einen Moment lang tat sich nichts, mein Magen zog sich zusammen. Hatten die Wachen irgendwie den Mechanismus deaktiviert? Ich zog am Griff – und die Tür schwang nach innen auf.

»Wo sind sie?«, flüsterte ich und schlich geduckt in den Korridor. Die Lampen gingen an, als ich die Bewegungsmelder auslöste. Die Wachleute würden sofort merken, dass jemand hier war.

»Im vierten, glaub ich.« Gabes Stimme klang angespannt. Vermutlich hing er über den Monitoren, um den Grundriss des Gebäudes mit den Kamerabildern abzugleichen. Baupläne und technisches Kauderwelsch – darin war ich gar nicht gut, während er praktisch dafür lebte. »Hey, ich kann dich sehen.«

Ich blickte hoch und schaute ins starre schwarze Auge einer Überwachungskamera. Ich warf Gabe eine Kusshand zu und stellte mir vor, wie er zurückgrinste. Dann fragte ich mich, ob irgendein erstaunter Wachmann das jetzt auch gesehen hatte.

Gabes Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Stopp. Ein Wachmann ist direkt vor dir, will gerade in die Lobby im fünften Stock. Mach kehrt, geh zur Hintertreppe; vielleicht schaffst du es runter, bevor der Typ im vierten Stock fertig ist. Nicht rennen – er ist genau unter dir und würde dich hören.«

Gehorsam bewegte ich mich leise mit großen Schritten in die andere Richtung, dankbar für meine Gummisohlen. Ich war fast an der Treppe, als Gabe sich in scharfem Ton meldete.

»Abbruch! Er ist auf der Treppe.«

Fuck. Ich konnte nicht reden, das wusste Gabe. Er sah seine Frau auf den Monitoren, gefangen wie eine Maus zwischen zwei Katzen. Es gab keinen Ausweg. Ich musste mich verstecken.

»Schnell, in ein Büro«, befahl er. Ich war schon dabei, die Türen zu probieren. Erste abgeschlossen. Zweite abgeschlossen. Was waren das bloß für Leute? Misstrauten sie ihren Kollegen so sehr? Dritte abgeschlossen. Verzweifelt durchwühlte ich den Rucksack nach meinen Dietrichen, steckte einen ins Schlüsselloch und stocherte wild darin herum. Das Glück war auf meiner Seite, das Schloss gab mit einem erfreulichen Klicken nach. Ich glitt hinein, verschloss die Tür und drückte mich mit dem Rücken ans Holz, versuchte mein heftig klopfendes Herz zu beruhigen.

»Ich kann dich sehen«, sagte Gabe eindringlich. Ich wandte den Kopf, er hatte recht. Selbst wenn ich mich an die Tür drückte, war ich durch die Glasscheibe zu sehen, und die Wachen kamen näher. Ich konnte ihre Schritte im Korridor hören, ihre Stimmen wurden lauter.

Mir blieben nur Sekunden.

Sie durchsuchen die Büros, schoss mir Gabes Warnung durch den Kopf. Wenn sie die Tür öffneten, war ich geliefert.

Ich warf mich auf den Boden, rollte seitwärts unter ein Sofa. Ich lag da, das Gesicht in den Teppich gepresst, das Blut pochte in meinen Ohren. Einen Moment lang dachte ich an Jen, meine imaginäre Büroangestellte, und fragte mich, was sie wohl davon halten würde. Ich musste ein hysterisches Kichern unterdrücken.

Ich hielt die Luft an und drehte den Ring an meiner linken Hand mit dem Daumen. Das machte ich immer, wenn ich gestresst war – eine Angewohnheit irgendwo zwischen Nägelkauen und Daumendrücken, nur war sie mit Gabe verbunden. Es ergab durchaus Sinn, da mein Schicksal so oft in den Händen meines Mannes lag.

Ich hörte Schritte vor der Tür, die Klinke wurde gedrückt.

»Auch abgeschlossen.«

»In diesem Stockwerk ist überall abgeschlossen«, sagte eine andere Stimme. »Hier, ich habe den Hauptschlüssel.«

Ein Schlüsselbund wurde klirrend geworfen, ich unterdrückte ein Lachen, als er auf dem Boden landete.

»Tu mir den Gefallen und gib ihn mir das nächste Mal einfach.« Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt, die Tür geöffnet. Das Licht einer Taschenlampe schwenkte durch den Raum. Ich hielt den Atem an und betete, dass sie nicht unter das Sofa leuchteten. Ein Schreibtischstuhl wurde zur Seite gerollt, dann fiel die Tür wieder zu.

Ich atmete zitternd und möglichst leise aus.

»Keiner drin. Was ist mit den Klos?«

»Leer.« Die Stimme klang hohl, als käme sie aus dem Inneren der Toilette. Eine Pause und dann: »Warte mal …«

Von meiner Position aus konnte ich nichts sehen, hob vorsichtig die Hand und berührte mein Headset.

»Sprich mit mir«, hauchte ich.

»Sie haben die Deckenplatte gefunden«, flüsterte Gabe.

Scheiße.

»Sieh dir das an«, sagte ein Wachmann.

Ich hörte Schritte, als der andere durch den Korridor ging. Er öffnete die Toilettentür, sie schloss sich mit einem leisen Geräusch hinter ihm.

Ich wollte gerade unter dem Sofa hervorkriechen, als Gabe sich drängend meldete.

»Los, los, geh. Jetzt!«

Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Ich war schon auf den Beinen, riss die Tür auf, sah mich um, unsicher, in welche Richtung ich laufen sollte.

»Weg von den Aufzügen!« Ich rannte los und bog um die Ecke, wo ich fast gegen die nächste Sicherheitstür geprallt wäre, doch Gabe hatte sie schon geöffnet.

»Der Notausgang ist rechts von dir«, sagte Gabe, und ich stürzte hindurch, gelangte in ein schwindelerregendes Treppenhaus, das spiralförmig nach unten in die Dunkelheit führte. Die schwere Tür schlug hinter mir zu, doch das war mir egal. Ich hatte meine Chance auf einen diskreten Abgang sowieso verspielt. Bloß weg hier.

Ein Stockwerk runter. Noch ein Stockwerk. Mein Herzschlag hämmerte in meinen Ohren.

»Du bist fast da«, sagte Gabe. »Du schaffst das – noch drei Etagen, dann scharf links, da ist ein Notausgang.«

»Und wenn der eine Alarmanlage hat?«, keuchte ich. Noch eine Treppe. Die vorletzte.

»Scheiß auf die Alarmanlage. Die andere Tür war auch nicht gesichert. Falls doch, stelle ich sie ab. Du schaffst das, hörst du mich? Du schaffst das.«

»Okay.« Ich war außer Atem, konnte jetzt nicht reden. Die letzte Treppe, dann taumelte ich nach links. Tatsächlich, da war der Notausgang – und dahinter die Freiheit.

Ich schlug auf die Stange, horchte auf einen Alarm – wieder nichts. Das würde ich im Bericht vermerken. Jetzt aber war ich erst mal draußen, an der ersehnten frischen Luft.

»Wahnsinn!«, johlte Gabe in meinem Ohr und lachte zittrig, beinahe hysterisch. »Mein Gott. Du warst unglaublich. Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffst.«

»Ich auch nicht.« Mein Herz schlug wie verrückt, aber ich zwang mich, langsam über den Parkplatz zu gehen. Falls hier draußen noch mehr Wachleute waren, erregte ich besser keine Aufmerksamkeit. »Fuck, das war echt kein Vergnügen.«

Gabe lachte sein tiefes, dreckiges Lachen, das ich so liebte. »Erstens, werde ich ganz sicher. Und zweitens wissen wir beide, dass das gelogen ist. Du hast jede Minute genossen.«

Ich spürte, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. »Na schön … ein bisschen habe ich es genossen.«

»Ein bisschen? Du hattest einen Riesenspaß!«

»Suchen die noch nach mir?«

»Ja, im fünften Stock. Einer hat den Serverraum geöffnet, aber sie haben die Sticks noch nicht entdeckt. Du warst großartig, Babe.«

»Ich weiß«, sagte ich bescheiden und hörte Gabe lachen.

»Kommst du ab jetzt allein klar? Ich muss ins Netzwerk, bevor sie merken, was hier läuft.«

»Ja, bin fast am Auto. Wir sehen uns in …« Ich sah aufs Handy. »Vierzig Minuten? Um diese Zeit dürften die Straßen leer sein.«

»Soll ich was zu essen bestellen?«

Ich merkte, dass ich hungrig war. Ich aß nie vor einem Job – mit vollem Magen herumzurennen, fühlt sich nicht gut an. Doch nun lief mir beim Gedanken an Essen das Wasser im Mund zusammen.

»Ja«, sagte ich mit Nachdruck. »Eine große Pizza mit Pilzen, Paprika … Nein, vergiss es. Ich will den Portobello Veggieburger von Danny’s Diner mit Trüffel-Mayo und extra Zwiebeln. Meinst du, die haben noch auf?«

»Klar.«

»Super. Denk an den Krautsalat. Und extra Pommes. Nein, lieber Süßkartoffelpommes. Und sag ihnen, sie sollen es nicht in dieselbe Tüte packen wie dein Essen. Letztes Mal musste ich deinen ekligen Bacon Jam von meinem Burger kratzen.«

»Verstanden. Keine Pommes. Extra Bacon. Bis gleich, Babe. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch«, sagte ich glücklich und nahm das Headset ab.

Über die Mauer zu klettern, war diesmal schwieriger, weil meine Muskeln wehtaten und mein Herz noch vom Adrenalin hämmerte, aber ich stieg auf eine Recyclingtonne, sprang auf der anderen Seite runter und lief zum Auto. Ich kramte in der Tasche nach dem Schlüssel und sah nicht hoch, aber das hätte auch keinen Unterschied gemacht. Als ich um die Ecke bog, warteten sie schon auf mich.

Ich lief dem Sicherheitschef direkt in die Arme.

Sonntag, 5. Februar

Minus sieben Tage

Bitte versuchen Sie es noch einmal.« Ich war allmählich genervt, versuchte aber, ruhig zu bleiben. So wie man reagiert, reagiert auch die Person, mit der man spricht. Erste Regel im Umgang mit Menschen: Wenn du nett bleibst, bleiben es die anderen mit größerer Wahrscheinlichkeit auch. Aber das hier war verdammt nervig. Welchen Sinn hatte eine »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte, wenn der Bürge sich nicht meldete? »Ich versichere Ihnen, dass er Bescheid weiß und alles bestätigen kann.«

»Damit ich das richtig verstehe«, sagte der Polizist müde und rieb sich übers Gesicht. »Sie sind eine – wie nennen Sie das? Ein Pentesterin?«

»Ich weiß, das ist ein blöder Name. Es ist die Abkürzung für Penetrationstesterin.«

Der Beamte prustete, der Wachmann, der meinen Rucksack in der Hand hatte, grinste, und ich wurde noch wütender.

»So heißt es wirklich, das versichere ich Ihnen. Ich teste Sicherheitssysteme, das ist mein Beruf.«

»Und Ihr Mann ist ein Hacker?«

»Er ist kein Hacker« – gut, das war eine Notlüge, natürlich war Gabe ein Hacker, nur nicht so, wie der Polizeibeamte meinte –, »er ist ebenfalls Pentester. Er kümmert sich um die digitale Seite, ich um die physische. Die Unternehmen beauftragen uns, in ihre Systeme einzudringen, und wir schlagen dann vor, was sie besser machen können. Lesen Sie das.« Ich hielt ihm den Brief hin, den Gabe mir heute Morgen gegeben hatte, und er leuchtete mit der Taschenlampe darauf.

»Hiermit bestätige ich, dass ich Jacintha Cross und Gabriel Medway von Crossways Security beauftragt habe, einen physischen und digitalen Penetrationstest in den Geschäftsräumen von Arden Alliance durchzuführen«, las er vor, zuckte mit den Schultern und sah zu dem Wachmann. »Was halten Sie davon? Ist das Firmenbriefpapier?«

»Keine Ahnung«, sagte der Wachmann. Er sah aus, als hätte er die ganze Sache satt und wollte nur zurück an seinen Schreibtisch, anstatt auf einem windigen Parkplatz herumzustehen. »Den nächtlichen Wachdienst haben sie ausgelagert, ich bin bei Baxter Bland angestellt. Sieht für mich okay aus, das Logo ist genau so auf allen Schildern, aber das könnte sie auch aus dem Internet haben.«

»Und dieser Jim Cauldwell …« Der Polizist tippte auf die Unterschrift. »Er ist der – wie sagten Sie doch gleich? Der Cisco?«

»Der CISO«, wiederholte ich geduldig. »Der Chief Information Security Officer, Leiter der IT-Sicherheit. Wir sind in seinem Auftrag hier, das ist seine persönliche Handynummer. Könnten Sie vielleicht Ihren Chef anrufen?«, fragte ich den Wachmann. »Ich weiß, Sie sind nicht bei Arden Alliance angestellt, aber Jim sagte, er hätte das mit der Sicherheitsfirma geklärt. Also müsste jemand bei Ihnen bestätigen können, dass ich die Wahrheit sage.«

»Sie machen wohl Witze.« Der Wachmann sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Es ist nach Mitternacht am Wochenende. Auf keinen Fall rufe ich meinen Chef auf seiner Privatnummer an, selbst wenn ich sie hätte. Er reißt mir den Kopf ab.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Wir hatten absichtlich einen Samstag für den Test ausgewählt, weil Arden an diesem Tag bloß eine Minimalbesetzung hatte, nur Kundendienst und die absolut nötigen Sicherheits- und IT-Leute. Sonntags hatten sie komplett geschlossen, sodass Gabe mit etwas Glück den ganzen Tag Zeit gehabt hätte, um in den Systemen herumzuschnüffeln, bevor die IT-Abteilung montags zurückkam und den Braten roch. Rückblickend war das eine ganz schlechte Idee gewesen. Offenbar hatte sich Jim Cauldwell mit der übrigen Belegschaft ins Wochenende verabschiedet.

»Ich versuche es noch mal bei diesem CISO-Typen«, sagte der Polizist sichtlich verärgert. Eigentlich sollte ich echte Verbrecher fangen, schwang in seinem Tonfall mit. »Wenn ich ihn wieder nicht erwische, muss ich Sie mit aufs Revier nehmen.«

Ich seufzte. Das konnte eine lange Nacht werden.

 

Etwa zwei Stunden später waren wir auf dem Revier. Jim Cauldwell war immer noch nicht rangegangen (ich musste Gabe dazu bringen, eine Art Strafklausel in den Vertrag aufzunehmen; das war schon das zweite Mal dieses Jahr). Der Beamte redete mittlerweile von Festnahme. So ein Mist. Eine Nacht in der Zelle konnte ich aushalten – ich hatte schon Schlimmeres erlebt –, aber wenn die Sache wirklich aus dem Ruder lief und wir einen Anwalt einschalten mussten, würde das teuer werden.

»Kann ich bitte meinen Mann anrufen?« Ich wollte die Panik in meiner Stimme unterdrücken, aber sie war da, ein kleiner zittriger Ton, der mich irgendwie alles andere als seriös klingen ließ. »Ehrlich, das ist alles ein großes Missverständnis. Vielleicht kann er jemanden in der Firma erreichen.«

»Klar«, sagte der Polizist müde und schob mir das Telefon hin. Meine Tasche mit dem, was der Beamte als »Computerausrüstung, Dietriche und Einbruchwerkzeuge« beschrieben hatte, hatten sie an der Empfangstheke zurückgelassen. Ich mochte noch nicht verhaftet sein, es fühlte sich aber sehr danach an.

Ich kannte Gabes Nummer zum Glück auswendig, die Tasten fühlten sich klebrig an. Es klingelte und klingelte. Mein Magen verkrampfte sich, und ich merkte, dass ich meinen Ring wieder und wieder um den Finger drehte. Der angeschlagene Stein blitzte im Lampenlicht. Das war … seltsam. Jim Cauldwell mochte sein Handy auf »Nicht stören« gestellt haben, als er ins Bett gegangen war. Aber Gabe? Er würde nie das Handy ausschalten, wenn ich bei einem Job war. Andererseits hatte ich gesagt, ich sei am Auto, und es war … Ich schaute auf die Uhr über dem Schreibtisch. Himmel, fast zwei. Vielleicht war er eingeschlafen?

»Er geht nicht ran«, stöhnte ich und legte auf. Der Beamte sah mich an, als wüsste er genau, wie ich mich fühlte. »Hören Sie, es tut mir leid – wie war doch gleich Ihr Name?«

»PC Williams«, sagte der Beamte.

»PC Williams, ich weiß, dass ich Ihre Zeit verschwende, das tut mir wirklich leid. Mehr kann ich nicht sagen. Wir wurden beauftragt, ins Gebäude einzubrechen, der CISO kann das bestätigen. Bei Vertragsabschluss sagte man uns, die Nummer sei rund um die Uhr besetzt. Aber der Idiot, der uns angeheuert hat, hat das offenbar vergessen und sein Handy ausgeschaltet.«

»Und Sie können niemanden sonst anrufen?«, erkundigte sich PC Williams. »Niemanden, der bestätigen kann, dass Sie die sind, für die Sie sich ausgeben?«

»Meinen Ausweis haben Sie ja. Falls Sie meinen, ob jemand bestätigen kann, dass ich eine echte Pentesterin bin und keine Verrückte mit einer Druckluftdose, dann nein. Nicht außerhalb der Bürozeiten der Firma.« Ich stützte den Kopf in die Hände. Der Adrenalinrausch war verflogen, und ich war so erschöpft, dass mir fast die Tränen kamen. »Das heißt …«

Oh Gott! Nein. Der Knoten im Magen war wieder da.

Nicht er. Lieber würde ich die Nacht in einer Zelle verbringen.

»Das heißt?«, fragte Williams, und ich biss mir auf die Lippe.

»Egal.«

Nein. Ihn würde ich auf keinen Fall anrufen. Nicht mal, wenn es bedeutete, dass sie mich verhafteten.

»Machen Sie schon«, sagte ich resigniert. »Sie müssen Ihre Arbeit tun, das verstehe ich. Nehmen Sie mich fest.«

Der Beamte schüttelte seufzend den Kopf, aber es war keine Weigerung, sondern die müde Einsicht ins Unvermeidliche. Er wollte das alles ebenso wenig wie ich – den Papierkram, den Ärger, die Wahrscheinlichkeit, dass sich die ganze Sache erledigt hatte, sobald der CISO aufwachte und die Liste verpasster Anrufe entdeckte.

Andererseits war ich bei einem Einbruch ertappt worden, mitsamt einem Rucksack voll falscher Papiere und Ausweise und einigen sehr dubiosen Werkzeugen. Ich hätte mich selbst auch verhaftet.

»Ich rede mal mit meinem Kollegen.« Er schob seinen quietschenden Stuhl zurück, und ich nickte.

Als die Tür hinter ihm zufiel, sackte ich in dem Plastiksitz zusammen und legte den Kopf in den Nacken, starrte auf die Deckenplatten. Sie wirkten solide. Jedenfalls solider als die, die ich zerbrochen hatte. Ich dachte über meine Lebensentscheidungen nach, über Jim Cauldwell, den ich in diesem Augenblick inbrünstig hasste, und über Gabe, der unerklärlicherweise offenbar schnarchte, statt zu tun, wofür man uns bezahlte. Es war ganz und gar untypisch für ihn, sich einfach ins Bett zu legen. Normalerweise war ich diejenige, die nach Hause kam, ein Takeaway verschlang und ins Bett fiel, nachdem ich über Mauern geklettert, Kameras ausgewichen war und Schlösser geknackt hatte, während mein Adrenalinspiegel an der Decke klebte. Wenn ich am nächsten Tag aufstand, saß Gabe gewöhnlich noch am Schreibtisch und testete die Grenzen der Sicherheitssysteme aus.

In gewisser Weise wollten wir beide erwischt werden. Die Rolle des Angreifers zu übernehmen, machte Spaß, aber dem Sicherheitsteam danach den Bericht zu präsentieren, war kein Vergnügen. Wir mussten alles mit ihnen durchgehen, alle Fehler im System, alle verpassten Gelegenheiten, bei denen sie den Hack hätten stoppen können. Eigentlich aber wollte der Kunde hören, dass seine Sicherheitssysteme gehalten und seine Leute gute Arbeit geleistet hatten.

Leider konnte ich das diesmal nicht guten Gewissens behaupten, auch wenn man mich erwischt hatte. Denn das war auf meine eigenen Fehler zurückzuführen und nicht auf besonders professionelle Wachleute. Es war idiotisch gewesen, dass ich die Deckenplatte zerbrochen hatte, vor allem aber, dass ich vor dem Gebäude geparkt hatte, in das ich einbrechen wollte. Sonst wäre ich wahrscheinlich unbehelligt rein- und rausgelangt. Aber es durfte nicht sein, dass man nach Büroschluss unbemerkt durch mehrere Notausgänge gelangte. In meinem Bericht musste ich sie zur Schnecke machen, gleichzeitig jedoch meine eigene Inkompetenz eingestehen, was nicht nur unerfreulich war, sondern auch von den sehr realen Sicherheitslücken ablenken würde.

Ich konnte nur hoffen, dass Gabe etwas gefunden hatte, das die Mühe wert war und nicht mit einem Aber letztlich haben sie Sie ja erwischt abgetan werden konnte. Unverschlüsselte Passwörter. Sensible Kundendaten. Einen Admin-Zugang, mit dem ein echter Hacker beträchtlichen Schaden anrichten könnte.

Ich überlegte wieder, warum Gabe nicht ans Telefon ging, als eine wohlbekannte Stimme hinter mir ertönte.

»Sieh an, sieh an, wen haben wir denn da?«

Ich schoss hoch und drehte mich um, Wut durchzuckte mich.

Jeff Leadbetter. Scheiße.

»Wenn das nicht Jack fucking Cross ist.« Er grinste wie eine Katze, die eine besonders saftige Maus in eine Ecke gedrängt hat. »Was hast du diesmal angestellt, Cross?«

»Nichts, das weißt du.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um zu verbergen, wie sehr mich seine Gegenwart verunsicherte. »Ich kann nur den Typen nicht erreichen, der uns angeheuert hat.«

»Sanjay sagt, wir hätten ein Mädchen, das eine schräge Geschichte über Test-Penetration erzählt.« Er lachte, dass seine breiten Schultern bebten. »Da dachte ich mir, von denen gibt es nicht allzu viele. Warum hast du mich nicht angerufen, um für dich zu bürgen?«

Das weißt du genau, dachte ich, sagte aber nur: »Ich hatte keine Ahnung, dass du Dienst hast.«

Jeff grinste. »Na ja, du kennst den Spruch. Allzeit bereit. Gut siehst du aus, Cross. Das ganze Gerenne hält dich fit, was?«

Was sollte ich dazu sagen? Verpiss dich war naheliegend. Aber das sagte man nicht zu einem ranghohen Polizeibeamten, wenn man kurz vor der Verhaftung stand. Ich konnte ihn zumindest anstarren und aus der Fassung bringen. Ich hatte nichts, wofür ich mich schämen musste.

Doch Jeff bemerkte, wie ich nervös den Ring an meinem Finger drehte. Ich ließ die Arme sinken und verfluchte die dumme Angewohnheit, aber er hatte schon eine Augenbraue hochgezogen und sah mich an.

»Sieh an, sieh an. Verlobt, Cross? Macht endlich jemand eine ehrliche Frau aus dir?«

»Verheiratet, um genau zu sein«, stieß ich hervor. Nicht, dass es dich was angeht, hätte ich gern hinzugefügt.

»Also nicht mehr Cross?«

»Ich habe meinen Namen behalten, wenn du’s unbedingt wissen musst.«

Kopfschüttelnd sagte er: »Das hättest du dir bei mir nicht erlauben können.«

Tja, Gabe ist eben kein unsicheres Arschloch mit Patriarchatskomplex.

»War sie denn legitim dort, Sir?«, fragte Williams von hinten, worauf Jeff sich lachend umdrehte.

»Ja, war sie. Zumindest ist sie, was sie vorgibt zu sein. Wir kennen uns schon sehr lange, nicht wahr, Jack?«

»Ja.« Ich presste die Lippen aufeinander.

»Ich könnte Geschichten erzählen …« Jeff musterte mich von oben bis unten, registrierte meinen eng anliegenden Blazer und die Stretchhose mit einem Blick, der geradezu lasziv wirkte.

Ich könnte auch Geschichten erzählen, dachte ich, aber wir beide wussten, dass es dafür zu spät war. Ich hatte schon bei unserer Trennung versucht, diese Geschichten zu erzählen, und es war nicht gut ausgegangen.

Von allen Polizeirevieren, auf die man mich hätte schleppen können, musste es ausgerechnet dieses sein. Dabei arbeitete er normalerweise am anderen Ende der Stadt. Entweder hatte man ihn versetzt, oder er war als Vertretung hier.

Es herrschte Schweigen. Ich wusste, was er wollte. Er wollte, dass ich bettelte. Dass ich Bitte, Jeff, bittehilf mir sagte.

Nun, das würde nicht passieren, und wenn es eine Nacht im Gefängnis bedeutete.

»Also … soll ich sie gehen lassen, Sir?«, fragte die Stimme hinter ihm, und mich überkam eine Welle der Erleichterung. Ich hatte PC Williams fast vergessen. Jeff konnte nichts tun, solange Williams dabei war. Er schwieg einen Moment, stand nur da und grinste auf mich herab, und ich grub die Nägel in die Schreibtischplatte. Er konnte nicht … oder doch? Er würde Williams doch nicht unter einem Vorwand wegschicken, allein mit mir im Verhörraum bleiben, mich zwingen, dieser langsamen, sanften Stimme zuzuhören, die mir selbst jetzt noch Schauer über den Rücken jagte?

Dann lachte er und zuckte mit den Schultern.

»War nur Spaß. In Ordnung.« Er sprach zu mir, obwohl Williams ihn gefragt hatte. »Hau ab. Aber du bist mir was schuldig.«

»Oh, ich werde es nicht vergessen«, sagte ich giftig. Ich stand auf und zupfte meine Jacke zurecht. »Ich vergesse nie etwas. Da kannst du dir sicher sein.«

»Bekomme ich kein Dankeschön?«, fragte Jeff und rührte sich nicht von der Tür weg. Sein breiter Körper füllte den Raum aus.

Ich biss die Zähne zusammen. »Danke.«

Eine kurze Pause, dann lachte Jeff auf und trat beiseite. »Na los, verschwinde. Und mach uns keinen Ärger mehr.«

Erst als ich in die kühle Nachtluft trat, spürte ich plötzlich die kalten, nassen Flecken unter meinen Achseln, den Schweiß purer Panik.

Ich fürchtete mich noch immer vor Jeff Leadbetter. Und würde es womöglich immer tun.

 

Es war fast vier Uhr morgens, als ich zu Hause in der Salisbury Lane ankam. Ich fühlte mich halb trunken vor Erschöpfung, und meine Augen schmerzten vor Müdigkeit, als ich mechanisch durch die fast menschenleeren Straßen Südlondons kurvte. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, das Auto bei Arden Alliance zu lassen, aber es stand im Parkverbot. Und wenn ich einmal im Bett war, würde ich wahrscheinlich zwölf Stunden schlafen. Die Chance, rechtzeitig aufzuwachen, bevor das Auto mit einer Kralle versehen oder, schlimmer noch, abgeschleppt wurde, war gering.

Also nahm ich ein Uber zu der Stelle, an der man mich erwischt hatte, und fuhr langsam und mit offenen Fenstern nach Hause. Ich hoffte, dass mich der schlechte Instantkaffee, den man mir auf dem Revier angeboten hatte, zumindest noch eine weitere Stunde wach halten würde. Doch während sich die Straßen hypnotisch vor mir entrollten, musste ich mir eingestehen, dass es ein Fehler gewesen sein könnte. Erst bog ich falsch ab und landete in einem unbekannten Wohngebiet, was mir erschreckend spät auffiel. Es dauerte, bis ich wieder auf eine mir bekannte Straße gelangte. Meine schlaftrunkene Navigation war aber nicht das eigentliche Problem, sondern dass ich am Steuer einzuschlafen drohte. Das war das Letzte, was ich nach dieser Nacht gebrauchen konnte. Doch die Kombination aus kühler Nachtluft, dem Kaffee und dem wütenden Kreischen der Runaways im Autoradio hielt mich irgendwie wach, und schließlich parkte ich nach einer der längsten und beschissensten Nächte meines Lebens vor unserem Häuschen.

Vor der Tür wühlte ich im Rucksack nach den Schlüsseln, unterdrückte dabei ein Gähnen und ließ sie beinahe fallen, als ich sie endlich gefunden hatte. Ich fing sie gerade noch auf, stieß dafür aber eine Milchflasche um. In der Ferne begann ein Hund hysterisch zu bellen. Ich verfluchte meine Ungeschicklichkeit und richtete mich auf, rechnete schon damit, das Flurlicht würde angehen und Gabes verschlafene Gestalt die Treppe herunterkommen. Nichts geschah. Er schlief wohl wirklich tief und fest.

Ich brauchte zwei oder drei Versuche, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Mir war fast schwindlig vor Müdigkeit. Doch sowie die Tür aufschwang, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

Als Erstes bemerkte ich den Geruch – und begriff erst mal nicht, was er bedeutete. Ich wusste nur, dass der normale, angenehme Geruch von Essen und Wäsche und dieser ganz besondere, unbeschreibliche Duft von Zuhause fehlten. Besser gesagt, sie waren da, wurden aber von etwas überlagert. Etwas völlig Unerwartetem, Unpassendem, das ich einen Moment lang nicht einordnen konnte. Es war ein seltsamer, eisenhaltiger, fast süßlicher Geruch, der mich an … an … was doch gleich erinnerte?

Und dann begriff ich. So rochen die Metzgereien in der High Street.

Nach Blut.

Doch selbst da verstand ich es noch nicht. Wie auch?

Ich verstand es nicht, als sich die Klinke der Wohnzimmertür glitschig und klebrig unter meiner Hand anfühlte.

Ich verstand es nicht, als ich hineinging und Gabe entdeckte, zusammengesackt über seinem Computer, in der größten Blutlache, die ich je gesehen hatte.

Weil – weil es nicht seins sein konnte, oder? Unmöglich, dass ein einziger Mensch so viel Blut in sich hatte. Es musste eine Erklärung geben – irgendeine schreckliche, verdrehte, verrückte Erklärung.

»Gabe?«, wimmerte ich. Er rührte sich nicht. Der Computerbildschirm war schwarz, nur die Leuchten des großen PC-Towers flackerten in der dunklen Pfütze, die sich vom Schreibtisch über seinen Schoß auf den Boden ausgebreitet hatte.

Ich wollte nicht hineintreten, aber es ließ sich nicht vermeiden.

»Gabe«, rief ich verzweifelt, doch er rührte sich nicht, und so setzte ich einen Fuß in die eklige, glitschige Masse. Ich spürte, wie sie zäh an meinen Schuhen sog, als ich über den Teppich ging.

Ein Schluchzen saß in meiner Kehle, das entwich, als ich ihn an der Schulter berührte. Ein wimmerndes, verzweifeltes Geheul wie von einem Tier, das Schmerzen litt.

»Gabe, Gabe, wach auf, wach auf!«

Er sagte nichts, hob nicht den Kopf, ließ nicht erkennen, dass er mich gehört hatte. Ich drückte mit der Schulter gegen seinen Körper, zwang ihn hoch und nach hinten.

Er war unerträglich schwer – neunzig Kilo Knochen und Muskeln – , und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn bewegen konnte, doch dann kippte er unvermittelt auf dem Stuhl nach hinten, und ich sah, was sie ihm angetan hatten.

Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten, grauenhaft, brutal, unbegreiflich. Kein sauberer chirurgischer Schnitt, sondern ein fleischiges Loch, als hätte ihm jemand oder etwas die Luftröhre aus dem Hals gerissen und eine Wunde hinterlassen, die wie ein scharlachroter lachender Mund aufklaffte.

Ungeheure Übelkeit durchflutete mich, ich taumelte zurück, stolperte durch den Blutsee, schlug die Hand vor den Mund, atmete schnell und unregelmäßig.

Gabe.

Ich konnte nicht die Augen von ihm wenden, von seinem Kopf, der in einem unnatürlichen Winkel nach hinten hing. Er sah so tot aus, dass ich nicht leugnen konnte, was geschehen war.

Und dennoch war es immer noch Gabe. Die kräftige, gebogene Nase, wie die eines römischen Senators. Die Wangenknochen. Die Form seiner Lippen. Sein rauer Bart und die weiche Haut an seinem Hals. All das war immer noch Gabe, der Mann, den ich liebte. Aber ich stand vor seiner Leiche.

Meine Beine drohten nachzugeben, und ich tastete mich zum Sofa, zog die Knie an die Brust und schaukelte hin und her. Ich merkte, dass ich ein seltsames Geräusch von mir gab, zwischen Heulen und Wimmern und Gabes Namen.

Es konnte nicht wahr sein. Es konnte nicht wahr sein. Es konnte nicht sein. Nicht Gabe, der liebe, lustige, geschickte Gabe, dessen große, starke Hände einen festsitzenden Deckel öffnen oder behutsam einen Amselflügel schienen konnten. Mein Gabe, der alles reparieren und selbst den schlimmsten Tag mit einer riesigen, allumfassenden Umarmung retten konnte.

Das hier aber konnte selbst er nicht mehr in Ordnung bringen.

Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß und auf Gabes Leiche starrte, auf die flackernden Computerleuchten, die sich in der dunklen Blutlache spiegelten. Zehn Minuten? Zwanzig? Ich zitterte unkontrolliert, mir war schrecklich, unerträglich kalt.

Dann endlich riss ich mich zusammen. Ich wusste, was ich zu tun hatte – was ich hätte tun sollen, sowie ich zur Tür hereingekommen war.

Meine steifen Hände zitterten, als ich im Rucksack nach dem Handy wühlte. Ich wusste, ich hatte es dabei, hatte das Uber damit gebucht, brauchte aber trotzdem ewig, um es zu finden. Und als ich es fand, war das Display leer und dunkel.

Ich musste mich an der Wand entlangschieben, um in unsere kleine Küche zu gelangen, wo es ein Ladegerät gab. Ich brauchte drei Versuche, um das Kabel einzustöpseln, so sehr zitterten meine Hände. Metall traf auf Metall, ich hinterließ rötliche Schlieren auf dem Display. Endlich war es angeschlossen.

Der Startvorgang dauerte quälend lange, die Helligkeit tat mir in den Augen weh. Der Sperrbildschirm. Ich wählte 999. Und wartete.

Als sich eine Frau meldete, war ich zunächst nicht sicher, ob ich überhaupt sprechen konnte, doch meine Stimme klang erstaunlich fest.

»Polizei«, antwortete ich auf ihre Frage. Ich schluckte. Ich musste mich zusammenreißen. Musste. Ich hatte schon zu lange gewartet. »Bitte schnell. Mein Mann – wurde ermordet.«