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Ich werde das Rätsel um den Hasen lösen. Dann kann ich endlich wieder ein normales Leben führen, "normal" natürlich nur für meine Verhältnisse. Halbnackte Ladenbesitzer, blutrünstige Lehrer, verrückte Eltern und das schönste Mädchen der Welt – nein, das alles ist wahrlich nicht normal. Finns Leben läuft aus dem Ruder. Ein neuer Nachbar, eine neue Schülerin und ein Geheimnis, das sich wie ein Schatten über die Kleinstadt legt. Entführungen und Drohungen übers Internet, Intrigen, Familie, Freundschaften und ein Teenager, dem der Sarkasmus schon aus den Ohren quillt. Und alle warten auf eine Nachricht. Eine Nachricht vom Hasen.
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Colin Hadler
Roman
www.editionkeiper.at
© edition keiper, Graz Oktober 2019
Printauflagen:
1. Auflage: Jänner 2019
2. Auflage: Februar 2019
3. Auflage: Februar 2019
4. Auflage: Oktober 2019 (eBook)
Lektorat: Maria Ankowitsch
Autorenfoto: Florian Kreis
Cover: Mirjam Lingitz
eISBN 978-3-903322-01-1
Für alle Menschen, die noch Bücher lesen.
Prolog
1Eintagsfliege
2Nicht erwünschte Heldentaten
3Nur vier Worte
4Der Schritt Richtung Zukunft
5Abendflammen
6Todesurteil
7Gefährlicher als je zuvor
8Vergangenes bleibt unvergessen
9Fehler im System
10Der Jäger schläft nie
11Offene Rechnungen
12Blutrote Sonne
13Ausgeliefert
14Gut oder böse
15So schlimm kann Liebe sein
16Der Hase
17Letzte Worte
18Feuer im Herzen
19Das was bleibt
Nachwort
Danksagung
20:37
Von: Bianca123
An: Crazy_Bunny
Du hast dir dein Leben auch anders vorgestellt, stimmt’s? Jetzt, da dein kleines Geheimnis draußen ist, wird es nicht mehr lange dauern, bis du in den kompletten Wahnsinn getrieben wirst. Was wird dich wohl eher umbringen? Die Morddrohungen oder deine engsten Freunde? Im Internet hilft dir keine andere Identität, hier bist du auf dich allein gestellt. Allein und hilflos.
21:42
Von: Crazy_Bunny
An: Bianca123
Bianca Cooper. 17 Jahre. Eine kleine Schwester und wohnt in der Blumenstraße 22. Woher ich das weiß? Tja, ich bin nur ein unwichtiges Mobbingopfer, das den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hat als rauszufinden, wo du wohnst. Du kannst nicht immer jeden wie Dreck behandeln, Bianca. Nein, so läuft das nicht. Jeder bekommt das, was er verdient. Kleines Beispiel: Schau aus dem Fenster. Ich winke dir gerade. Bald bin ich nicht mehr so allein, ob du willst oder nicht.
Ich kratze mich an der Nase.
Ein perfekter Satz, um etwas Spannendes einzuleiten.
Erlebnisse, die mein Leben an Kuriosität übertreffen wollen, wurden entweder noch nicht erlebt oder gibt es nicht.
Selbst Gott sitzt mit Popcorn bewaffnet vor seinem riesigen Bildschirm, um alles mitzubekommen. Und der hat sich den Scheiß nun schließlich ausgedacht. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, auf irgendeine Art muss mein Leben atemberaubend sein, oder wenigstens atemraubend, wenn Gott vor Lachen fast an einem Popcorn erstickt.
Es kann aber auch sein, dass der werte Herr im Himmel einfach nur selbstverliebt ist und seiner Kreation Mensch dabei zusieht, wie sie sich alle gegenseitig umbringen, wilden Sex auf Schaukeln haben (ich rede nicht von mir) und Geräte bauen, die andere Geräte zerstören. Klingt doch sinnvoll, oder?
Ich meine, eigentlich will ich ja eine ganz normale Geschichte erzählen. Es ist mir ein Rätsel, wie sich andere darüber beschweren können, dass sie ein zu langweiliges Leben haben.
Ich, zum Beispiel, könnte einer Fliege etliche Stunden dabei zusehen, wie sie einen Haufen Exkremente umkreist. Das ist doch schon spannend genug! Wer sonst würde denn so interessiert Kreise um einen Kackhaufen ziehen?
Vor ein paar Jahren habe ich es sogar probiert, doch als mir nach ein paar Minuten so schwindelig wurde, dass ich in die Mitte kippte, ohne schnell genug zu reagieren, bekam ich eine braune Überraschung. Und dabei hatte ich nicht einmal Geburtstag …
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich vermute bei dem Satz: Eigentlich will ich eine ganz normale Geschichte erzählen.
Aber nein, da muss mir das Motto »Familie kann man sich nicht aussuchen« einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Das Allerschlimmste ist auch noch, dass ich ohne diesen täglichen Wahnsinn gar nicht mehr auskommen würde.
Sagen wir einfach, meine Verwandtschaft mit der Neigung dazu, sich aufzuführen, als wäre unser Haus eine Irrenanstalt, hat mich in ihren Bann gezogen. Ja, manchmal finde ich sie sogar attraktiver als die die Scheiße umkreisende Fliege.
»Finn! Komm runter, dein Smoothie ist fertig, aber beeil dich, sonst komme ich in dein Zimmer und flöße ihn dir ein!«
Diese charmante Dame mit dem leichten Kratzen in der Stimme darf ich seit meiner Geburt Mutter nennen. Seitdem sie vor ein paar Wochen den Artikel »Smoothies verbessern deinen IQ« in der seriösen Zeitschrift »Joke« gelesen hat, sitzt in ihr der Gedanke fest, der ganzen Familie dieses Zeug einflößen zu müssen.
Wenn man versucht ihr klarzumachen, dass dieser Artikel aus reinem Sarkasmus besteht und selbst, wenn er wahr wäre, er unseren IQ sowieso nicht mehr retten könnte, ignoriert sie einen.
Ich bin ja der festen Überzeugung, dass meine Mutter, die übrigens den Namen Olivia trägt, zu neunzig Prozent nicht weiß, was sie in den Mixer schüttet. Auch ihr Motto »Schmeckt scheiße, aber ist gesund« rettet mich nicht vor der Annahme, schon mehr als ein Dutzend giftige Pflanzen gegessen zu haben. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur froh, dass sie keine lebendigen Tiere in die Klingen wirft.
Aber was noch nicht ist, kann noch werden.
»Finn! Dein Smoothie wird kalt!«
»Mom, Smoothies sind immer kalt, außer du bist auf den Gedanken gekommen, etwas anderes als normale Kräuter in dein komisches Mix-Gerät zu geben.« Ein bisschen genervt gehe ich die lange Wendeltreppe zu unserer Küche hinunter.
Unser Haus ist ziemlich groß, das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dass mein Vater Luis als Volksschullehrer angestellt ist und den kleinen Hosenscheißern wortwörtlich das Geld aus den Taschen zieht. Was kann er denn dafür, wenn diese jämmerlichen Kinder, die so tun, als wären sie schon erwachsen, ständig ihre Geldtaschen offen liegen lassen.
Ich meine, könnte Geld reden, dann würde es meinem Dad ja förmlich zurufen: »Nimm uns mit, bevor uns diese Kinder wieder für irgendwelche höchst unnötigen Sachen verschwenden.«
Da die meisten dieser niedlichen Kids auch aussehen, als würden sie statt Wasser pures Fett trinken, macht sich mein Vater auch kaum Gedanken darüber, wenn ihr Pausenbrot einmal mehr ausfällt. Das kaufen sie im Übrigen bei der überfreundlichen Bäckerin neben der Schule. Aber Pausenbrot kann man das ein Meter lange Sandwich, dessen Inhalt aus einer Packung Butter, Schmalz, einer geschlachteten Kuh und abgekauten Fingernägeln der Kassiererin besteht, eigentlich nicht nennen.
Meiner Meinung nach sollte mein Dad dafür einen Nobelpreis bekommen, mit dem Titel: »Ich versuche dicke Kinder schlank zu machen, damit ich mir selbst Essen kaufen kann.«
Wie gesagt, dieses nicht ganz so legale Geschäft verhilft uns zu einer Riesenvilla, mit einem Swimmingpool und einem großen Garten. Auf den Pool bin ich weniger stolz, da er statt Wasser eher aus der Pisse meiner kleinen Schwester Mia besteht. Ich wage sogar zu behaupten, dass sie nicht nur deswegen in unseren Swimmingpool uriniert, weil ich ihr einmal als Spaß sagte, dass wir dieses Becken als unser Klo verwenden, sondern auch, weil sie mit ihren fünf Jahren schon so vom Teufel besessen ist und es ihr deswegen Freude macht zu sehen, wie wir in ihrer Pisse schwimmen.
Dass wir das mal klarstellen: Ich wollte keine kleine Schwester. Daran ist allein mein älterer Bruder schuld. Und insgeheim weiß ich, dass er sich eine Schwester auch anders vorgestellt hat. Vielleicht ein bisschen weniger Monster und dafür mehr Mädchen.
Im Prinzip habe ich jetzt meine ganze Familie in diesem Haus vorgestellt. Eine alles mixende Hexe, verheiratet mit einem Volksschulgangster, deren Kinder aus einem kleinen Mädchen, das sich verhält, als wäre es Satan höchstpersönlich, einem dummen Typen, oder besser gesagt meinem Bruder, und mir bestehen.
Willkommen in meinem Leben!
Ich heiße Finn, was meine Mutter ohnehin schon laut und deutlich sagte, habe blaue Augen und dunkelblondes Haar. Viele Leute würden das als hübsch bezeichnen, aber in meiner Familie heißt das eher Barbie mit Downsyndrom. Vielleicht auch, weil ich der Einzige mit blonden Haaren in meiner Verwandtschaft bin. Alle bewegen sich in Braun- bis Schwarztönen, außer meine Mutter, die sich ihre Haare rot färben musste. Ich persönlich finde ja, dass dies ihr Hexenimage nur noch mehr unterstreicht.
Ich bin einszweiundachtzig und mein Hobby ist es, Freunde zu treffen.
Also, wenn ich welche hätte.
Sagen wir einfach, mein Hobby ist es, mir vorzustellen, dass ich mich mit Freunden treffe, die ich im Moment noch nicht besitze. Das ändert aber nichts daran, dass ich versuche, meinen Ruf in der Schule deutlich zu verbessern. Immerhin habe ich es noch angenehmer als mein großer Bruder Noah.
Über mich lästern alle wenigstens hinter meinem Rücken und ich komme nicht mit einem Gesicht nach Hause, bei dem man meistens kaum mehr identifizieren kann, welche Hautstücke nicht von Kaugummis, Müllresten und Bildern von Schwänzen überdeckt sind. Deswegen glaube ich, irgendwann werde ich auch noch ein Hobby finden, das andere Personen mit einschließt.
Ich mit meinen sechzehn Jahren bin ja noch jung, zumindest redet mir das meine achtzigjährige Oma Alicia ein. Die muss es ja wissen.
Obwohl man ihren Worten auch nicht wirklich trauen kann, denn sie redet von früh bis spät über nichts anderes als über ihre Ehemänner und Lover, die sie in ihrer Jugend verführt hat. Würde mein Opa noch leben und dies mitbekommen, würde er sie höchstpersönlich mit ins Grab nehmen. Ich meine, ich sage ihr auch ständig: »Oma, könntest du bitte wie jede normale Frau in deinem Alter über Krieg, Angst oder Hass reden und nicht über deine höchst eigenartigen Bettgeschichten?«
Ihre Standardantwort ist meistens: »Natürlich, mein Kleiner, ich will dich ja nicht verstören. Ach, apropos klein, dein Opa hatte einen …« Das sind die Momente, wo ich halb kotzend ihr Gerede unterbreche und das Haus verlasse.
Sie ist aber auch einsam, vielleicht redet sie deswegen so viel nutzloses Zeug. Ich habe ihr daher zu ihrem letzten Geburtstag eine kleine Katze gekauft, aber als ich das Miezekätzchen nach einer Woche tot im Mülleimer fand, war ich der Idee sehr abgeneigt, ihr ein weiteres Tier zu kaufen.
Meine Oma argumentierte mit: »Ach, die hat sich sicher verlaufen« und »Die wollte bestimmt nur kontrollieren, ob ich eine gewissenhafte Mülltrennung einhalte«. Ganz ehrlich? Ich glaube ihr kein Wort, aber ich bin froh, dass sie die Katze nicht gleich aufgefressen hat.
Eigentlich sollte mich das Ganze nicht einmal mehr interessieren, da meine Oma jetzt im Altersheim untergebracht ist. Da geht sie nur den Pflegern auf die Nerven, aber die haben das ja studiert und ihnen müsste das nichts ausmachen. Wenn doch, gibt es immer noch die Kündigung oder Suizid.
Ich merke, dass ich vom eigentlichen Thema abschweife. Dem, der die höchst wichtige Pointe am Anfang meines Familiendramas überhört hat, gebe ich einen kleinen Gedankenschub: Smoothie, Mama, Hilfe.
Als ich unsere Küche betrete, schraubt meine Mutter gerade an ihrem Mixer. Neben ihr stehen fünf Gläser, die mit ihrer grünen Kräuterpampe gefüllt sind.
»Irgendwie spinnt dieser verdammte Mixer, vielleicht habe ich etwas Falsches in den Smoothie gegeben.«
»Was hast du denn reingegeben, Mom?«
»Willst du nicht wissen«, ist ihre durchaus beunruhigende Antwort auf meine Frage. Noch schlimmer ist der Gedanke, dass ich dieses Zeug auch noch trinken muss. Gott sei Dank fällt mir in dieser scheinbar aussichtslosen Situation eine Lösung ein. Ich warte, bis meine kleine Schwester kommt, die natürlich auch einen Smoothie trinken muss, und schaue, ob sie nach dem Trinken tot umfällt. Mancher würde dies als grausame Tat abstempeln, aber ich bezeichne es lieber als wissenschaftliches Experiment.
Als sie jedoch das Glas, ohne mit der Wimper zu zucken, austrinkt und danach kräftig rülpst, werden mir zwei Dinge klar. Erstens, ich kann den Smoothie wohl austrinken, ohne dabei einen qualvollen Tod zu sterben, und zweitens, ich finde es höchst unpassend, meiner Schwester beim Rülpsen zuzusehen. Ich meine, können Fünfjährige überhaupt schon rülpsen beziehungsweise so abstoßend sein? Sollten Kinder in diesem Alter nicht ein wenig süßer und anziehender wirken?
Ich lasse den Gedanken mal wieder aus meinem Kopf verschwinden und nehme das Glas, das ich im nächsten Moment auch völlig leer trinke. Was für ein Wunder, ich lebe.
Als ich beiläufig nach meiner Mutter sehe, gibt es einen fürchterlichen Knall. Auch wenn ich selbst nicht sehr von Emotionen geprägt bin, wird mein Herz zu Feuer und Flamme, denn so einen schönen Anblick gibt es sonst nur im Märchen.
Der Mixer liegt, in allen Einzelteilen verstreut, in unserer Küche. Meine Mutter schaut mit einem entsetzten Blick, als hätte sie ein Esel in den Arsch gebissen, auf den Boden.
Wegen meinem natürlichen Hang zu Sarkasmus kann ich in dem Moment gar nichts anderes sagen als: »O NEIN! Das tut mir ja so leid, jetzt bekommen wir gar keine Geschmacksorgasmen von deinen guten Smoothies mehr.«
Meine Mutter geht mit geballter Faust an mir vorbei.
»Ich hoffe, du bist zufrieden.«
Ich will ihr noch »Ja, bin ich« zurufen, doch ich schüttle nur den Kopf. Danach hole ich unseren Besen aus der Abstellkammer, um wenigstens ein bisschen Ordnung zu schaffen.
Als ich das zu meiner Zufriedenheit nach ein paar Minuten geschafft habe und unser Haus verlasse, bläst mir eine kühle Brise ins Gesicht. Ich sollte den letzten Nachmittag noch genießen, bevor es wieder in den Schulalltag geht.
Schule.
Man muss sich nur vorstellen, dass man alle Kinder, die kurz davor sind, als geistig behindert eingestuft zu werden, einsammelt und in ein kleines Zimmer steckt, in dem es nach nicht gewaschenen Socken riecht. Da ich diesem Trend auf keinen Fall nachlaufen will, trage ich gar keine mehr. Trotzdem kommt in mir langsam der Verdacht auf, dass dies meinem Eigengeruch nicht sonderlich zum Besseren verhilft …
Überraschenderweise stört mein neuer Nachbar meine Gedanken.
»Na, Kleiner, was treibst du denn hier?«, fragt der etwa fünfundvierzigjährige Mann und krault dabei seinen durchaus schlecht rasierten Schnurrbart. Etwas verwirrt schaue ich ihn an und bekomme kein Wort aus meinem Mund.
»Tja, da hat es dir wohl die Sprache verschlagen«, grunzt er, ohne auf meine Antwort zu warten. »Mein Name ist Lenny. Lenny Förster. Und du bist?«
Ich schnappe nach Luft und bringe nicht mehr heraus als: »Eh, ich bin der Finn.«
»Na also, kannst ja doch reden. Ich bin hier neu hergezogen und wollte mich mal vorstellen.«
Langsam entspanne ich mich und bringe selbst ein Schmunzeln zustande. Dieser Lenny ist wohl einer, der die Gesellschaft von anderen genießt.
»So ist das also, Lenny, na dann, viel Spaß hier am Arsch der Welt. Falls du was brauchst, kannst du gerne zu mir kommen«, sage ich und reiche ihm meine Hand. Als er mir seine gibt und wir uns lächelnd die Hände schütteln, stelle ich fest, dass alte Männer dazu neigen, behaarte und vollgeschwitzte Hände zu besitzen.
»Na dann, wir sehen uns, Finn.«
Nach seinen Worten verschwindet er genauso schnell, wie er gekommen ist. Ich schaue ihm noch zu, wie er auf sein Grundstück gegenüber trottet. Komischer Typ.
Lenny ist etwas kleiner als ich, deswegen muss ich zu ihm hinunterschauen, wenn ich mit ihm rede. Er trägt einen Strohhut und, wie schon erwähnt, einen Schnurrbart. Auch wenn er auf den ersten Blick etwas skurril wirkt, spiele ich mit dem Gedanken, mich mit ihm anzufreunden. Natürlich soll es nur eine Nachbarschaftsfreundschaft sein, denn es wäre wohl eher merkwürdig, einen fünfundvierzigjährigen Mann als normalen Freund zu bezeichnen, noch dazu als einzigen.
Bevor ich wieder in meine Gedanken verfalle, die, nebenbei gesagt, höchst uninteressant sind, fährt ein Auto vor unseren Garten. Es gehört keinem anderen als meinem Dad, und da mein Bruder Noah gerade mit seinem Training fertig sein sollte, vermute ich, dass sich beide in diesem Wagen befinden.
Ich möchte jetzt auf keinen Fall, dass irgendjemand denkt, mein großer Bruder sei stark, nur weil er ins Fitnessstudio geht. Meine Vermutung ist ja, dass er dort nur hingeht, weil der Snackautomat billiger ist als in unserer Schule. Letztens habe ich ihn sogar darauf angesprochen und mit provokanter Stimme angedeutet: »Wie kommt es, dass du nach zwei Monaten Fitness noch immer gleich armselig aussiehst wie vorher?«
Solchen Bloßstellungen geht er meistens mit Kommentaren wie »In der Ruhe liegt die Kraft« oder »Du hast noch viel zu lernen!« aus dem Weg. Ich weiß aber nicht, ob seine geistige Verfassung so weit ausreicht, selbst zu wissen, dass das keine weisen Sprüche, sondern lediglich Yoda-Zitate sind.
»Hey, Finn, na, wie war dein Tag?«, fragt mich Dad, als er aus dem Auto steigt, wie erwartet dicht gefolgt von meinem Bruder.
»Wie immer«, gebe ich als emotionslose Antwort und will gerade wieder ins Haus verschwinden, als er mir räuspernd auf die Schulter tippt und einen Fünfzig-Euro-Schein aus der Hosentasche zieht.
»Ich habe mir gedacht, du könntest morgen Nachmittag etwas mit deinem Bruder unternehmen, vielleicht schaut ihr mal zum Rummelplatz.«
Ich schaue ihn ungläubig an und verbiete mir den Kommentar: »Du machst das doch nur, weil du sonst keine anderen Freunde für deinen Erstgeborenen findest und deswegen auf die nicht vorhandene Brüderliebe zurückgreifst.« Ich lache nur leicht und sage stattdessen: »Na, welches Kind musste heute auf sein Mittagessen verzichten?«, nehme das Geld, drehe mich um und verschwinde ins Haus.
Super, jetzt muss ich morgen nach der Schule auch noch mit meinem Bruder abhängen.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, aber mein Bruder ist eher eine Birne und hat auf einem Apfelbaum nichts zu suchen.
Er ist eigentlich das genaue Gegenteil von mir. Dunkelbraunes Haar, braune Augen und zu allem Überfluss trägt er meistens auch noch ein schwarzes oder braunes T-Shirt. Ich wage sogar zu behaupten, dass, wenn er sich auf die Parkwiese in unserer Stadt legte, ihn jeder mit einem Penner verwechseln würde.
Eines muss man der lebenden Kastanie aber lassen, mit seinen siebzehn Jahren achtet er sehr auf seine Hygiene. Er besetzt die Dusche manchmal den ganzen Abend und wenn Ferien sind, läuft er meistens nackt im Haus herum. Seit das so ist, habe ich das Spiel »Blinde Kuh« erst wirklich lieben gelernt. Vor ein paar Tagen hat bei uns eine kleine Gruppe von Kindern an der Tür geläutet, um Kekse zu verkaufen. Doch als mein Bruder, der sich in seiner nackten Phase befand, die Tür öffnete, sind sie schreiend weggelaufen. Das Traurige an der Geschichte ist ja: Noah wollte wirklich Kekse kaufen.
Ich stecke das Geld in meine Hosentasche und gehe die Stufen zu meinem Zimmer hinauf. Hastig ziehe ich mir meinen Schlafanzug an, der aus einer Jogginghose und einem zu großen T-Shirt besteht, und lege mich ins Bett. Danach schnappe ich mir mein Tagebuch, das neben mir auf dem Nachtkasten liegt, um einen neuen Eintrag zu beginnen.
Liebes Tagebuch,
in meinem chaotischen Umfeld geht es gerade drunter und drüber. Sagen wir, trotz meiner Bezeichnung als Barbie mit Downsyndrom ist mein Leben nicht aus Plastik. Statt einer bezaubernden Frau bekomme ich meinen nackten Bruder, und mein Traumschloss besteht aus einem vollgepissten Pool. Weil ich weiß, dass dies hier niemand lesen wird, schreibe ich jetzt mein schlimmstes und intimstes Geheimnis auf.
Haha! Glaubst du wirklich, ich würde irgendwas in dieses verdammte Tagebuch schreiben? Nein. Natürlich nicht! Wer ist denn auch so bescheuert?
Finn
Ich werfe das Buch gegen die Wand und mache das Licht aus. Mit offenen Augen liege ich im Bett und starre gegen die Zimmerdecke. Eigentlich ist es noch relativ früh, um schlafen zu gehen, doch gegen meinen Willen fallen mir nach ein paar Minuten die Augen zu.
Die Ruhe hält jedoch nicht lange an. Mitten in der Nacht werde ich geweckt. Ein Rumpeln im unteren Stockwerk.
Muss ich schon zur Schule?
Müde greife ich zu meinem Handy und schaue auf die Uhr.
3:27 erstrahlt auf dem Bildschirm. Ich reibe mir die Augen.
Was um alles in der Welt machen meine Eltern so spät?
Ich schlucke. Sind es meine Eltern?
Sofort bin ich hellwach und halte den Atem an. Schon wieder das Kratzen unter mir. Es hört sich so an, als würde jemand Schubladen durchsuchen. Ich schleppe mich aus meinem Bett und schlüpfe in meine Hausschuhe. Wahrscheinlich mache ich mir ohne Grund Sorgen. Wie immer. Ich öffne meine Zimmertür und gehe leise zum Schlafzimmer meiner Eltern. Behutsam drücke ich die Klinke runter und spähe auf das Bett. Der Mond scheint durch das Fenster. Ich sehe sie. Meine Mom und meinen Dad.
Scheiße.
Panik steigt in mir auf. Irgendjemand befindet sich unerwünscht in unserem Haus. Ein Einbrecher? Ein Obdachloser? Ein …
Meine Hand beginnt zu zittern. Ein Mörder?
Das Geräusch wiederholt sich.
Schritte.
Eine Schweißperle tropft von meiner Stirn, aber ich schließe die Tür meiner Eltern wieder und drehe mich um.
Ich werde in die Küche gehen. Genau dorthin, von wo das Geräusch kommt.
Vorsichtig gehe ich die Stiege hinunter und versuche mich in der Dunkelheit zu orientieren. Diesmal muss ich den Helden spielen. Diesmal muss ich mich beweisen.
Was, wenn der Eindringling eine Waffe hat?
Ich bleibe stehen.
Stille.
Hat er mich gehört?
Mein Atmen wird unregelmäßig, doch ich gehe weiter. Ich kann nicht zurück. Nicht mehr.
Die letzte Stufe.
Umrisse sind zu erkennen und langsam gewöhne ich mich an das Licht.
Hier steht er also.
In der rechten Hand eine Flasche Wodka und in der linken ein Messer. Ich halte an und flüstere in Richtung des Unbekannten: »Du Trottel.«
»Warum hast du ein verdammtes Messer in der Hand?!«
Ich bemerke das verweinte Gesicht meines Bruders, nehme ihm das Messer aus der Hand und lege es behutsam wieder in das Besteckfach. Mein Blick ist weiterhin auf ihn gerichtet.
Ich reiße mich zusammen und setze eine möglichst freundliche Miene auf. »Na, was ist denn los?«
Noah schaut mich gedankenverloren an und gibt keinen Mucks von sich. Er öffnet nur seine Flasche Wodka und will gerade einen Schluck trinken, als ich sie ihm aus der Hand reiße.
»Du bist siebzehn und Wodka ist ab achtzehn, du Möchtegern-Gangster.« Ich mit meinen sechzehn Jahren öffne fassungslos die Flasche und trinke einen Schluck, um mich nach diesem Schock zu beruhigen.
»Das ist ja wirklich Wodka«, erkenne ich völlig entsetzt und nehme einen zweiten Schluck.
Noah wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und setzt sich auf die Couch hinter ihm. Er deutet mit seinem rechten Arm an, dass ich es ihm gleichtun soll. Ich befolge seine Anweisung und geselle mich zu ihm. In einem leicht beschwipsten Zustand lächle ich in sein trauriges Gesicht, und als er fast wieder anfangen muss zu weinen, verkneife ich mir ein Lachen.
»Finn, ich muss dir was erzählen.«
Als mein Bruder diesen ernsten Ton anschlägt, drücke ich ihm die Wodkaflasche dann doch in die Hand. »Erst trinken, dann weinen.«
Noah findet das wohl nicht so witzig und redet weiter.
»Egal was du jetzt von mir hören wirst, ich bitte dich einfach, dass du mich nach diesem Gespräch so behandelst wie zuvor.«
»Also scheiße?«
»Du weißt, was ich meine, Finn. Ich werde immer dein Bruder bleiben.«
Ich schaue ihn verdutzt an: »War das schon die schlechte Nachricht?«
»Ich habe ja noch gar nichts gesagt.«
»Doch! Du sagtest, dass du für immer mein Bruder bleiben wirst.«
Noah schaut mich böse an und verliert die Geduld.
»Ich bin schwul, Finn.«
Als diese Worte seinen Mund verlassen, starre ich ihn fassungslos an.
»Wow … ich … ehm … du stehst aber nicht zufällig auf deinen jüngeren Bruder, der neben dir sitzt?!«
Noah beginnt wieder leicht zu wimmern und kauert sich auf der Couch zusammen.
»Nein, aber unsere Eltern werden es schlimm finden … sie wollen doch sicher Enkelkinder …«
Ich mustere meinen großen Bruder nachdenklich und sage nichts. Vielleicht bin ich zu fies zu ihm gewesen, und er wünscht sich einfach nur jemanden, der zu ihm steht. Es hat ihn sicher viel Überwindung gekostet, mir das zu sagen. Ich begreife den Ernst der Lage und nehme Noah in den Arm.
Mit mitfühlender Stimme heitere ich meinen großen Bruder wieder auf:
»Ach Noah … das mit den Enkelkindern ist doch egal, so wie du aussiehst, will sowieso niemand ein Kind von dir, und überhaupt hättest du eh keine Frau gefunden …«
Als er noch mehr zu weinen anfängt, zweifle ich an meiner Methode, Leute zu trösten.
Finn, hör endlich auf, dich wie ein Arschloch zu verhalten.
»Es … es tut mir leid, so war das nicht gemeint. Gegen Bezahlung würde sicher jede Frau mit dir schlafen.«
Verweint und trotzdem etwas wütend blickt er mir ins Gesicht. »Hörst du mir überhaupt zu, Finn? Ich bin schwul!«
Ich nicke: »Stimmt, hätte ich fast vergessen. Männer würden gegen Bezahlung auch mit dir schlafen. Mich ausgeschlossen, dass du es schon mal weißt!«
Noah nimmt sich ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzt sich die Nase. Danach steht er abrupt auf: »Danke für deine Hilfe«, sagt er sarkastisch und dreht sich beleidigt um.
»Bis zum Rummelplatz, großer Bruder«, flüstere ich mit einem großen Grinsen.
Ich habe versucht, ihn aufzuheitern, doch leider muss ich feststellen, dass ich trotz des Alkohols kein Stück witziger bin als nüchtern. Hoffentlich hat er meine Bemerkungen nicht zu ernst genommen. Ich will eigentlich nur alles richtig machen. Ob man es glaubt oder nicht.
Die Situation hat selbst mich überfordert. »Morgen sieht die Welt wieder anders aus«, denke ich und gehe wieder ins Bett. Zufrieden rolle ich mich in die Decke, als wäre ich ein menschlicher Hotdog, und falle nach wenigen Sekunden in meinen langersehnten Schlaf.
Sonnenstrahlen wecken mich aus meinem Traum und Vögel beginnen vor meinem Fenster zu zwitschern. Elegant erhebe ich mich aus meiner Schlafposition und gehe zum Fenster, um ein altes Paar Socken nach der Amsel zu werfen. Danach ziehe ich meine Vorhänge zu und reibe mir die Augen. »Kack Schultag!«
Verschlafen hole ich mir meine Klamotten aus dem Schrank und ziehe sie im dunklen Raum an. Als ich die Zimmertür öffne, steht meine Mutter im Gang. Ich erwarte ein »Guten Morgen« oder ein »Gut geschlafen?« von ihr, doch sie schaut mich nur emotionslos an und gibt ein »Scheiße siehst du aus, musst dringend ins Bad« von sich.
Genervt befolge ich den Rat meiner Mutter. Ich hasse es, ihr recht geben zu müssen, aber als ich mich im Spiegel betrachte, kommt mir fast der Alkohol von letzter Nacht wieder hoch. Meine Haare stehen zerzaust in alle Richtungen weg und zwei Augenringe verstärken dieses Mülltonnen-Aussehen nur noch. Schnell richte ich mich her und begebe mich zum Frühstückstisch. Mein Vater sitzt schon dort, ausgestattet mit einer Tasse Kaffee und einer Zeitung.
Neben ihm meine Mutter am Herd und meine kleine Schwester, die an irgendeinem nicht definierbaren Lebensmittel rumkaut.
»Wo ist Noah?«
»Der ist heute früher zur Schule gegangen«, murmelt mein Dad vor sich hin. »Ach, und übrigens, hast du das schöne Vogelgezwitscher auch gehört?«, fragt er mich mit einem leicht fröhlichen Unterton.
Ich schaue ihn müde an und nuschle: »Ja, bevor ich Socken nach ihnen geworfen habe.«
Fassungslos mischt sich meine Mutter in das Gespräch ein: »Also wirklich! Heute fehlen dir sämtliche Manieren. Luis, sag etwas dazu.«
Mein Vater runzelt die Stirn: »Deine Mutter hat recht, du hättest wenigstens ein Gewehr nehmen können, dann wären sie gleich tot. So hast du eine sechzigprozentige Chance danebenzutreffen.«
Olivias Gesichtsausdruck wird noch entsetzter, doch bevor sie etwas sagen kann, wechsle ich das Thema.
»Was gibt es denn zum Frühstück?«
»Gebratene Vögel, wenn du so etwas nochmal machst«, gibt sie als patzige Antwort.
»Was sind Vögel, Mama?«, fragt meine Schwester nachdenklich.
Ich beginne zu lachen und fühle mich bestätigt: Meine kleine Schwester ist dumm!
Meine Mutter wirft mir einen wütenden Blick zu und streichelt Mia übers Haar: »Ach Schätzchen, stell dir vor, Murmeltiere hätten Flügel und würden Regenwürmer essen, das sieht dann aus wie ein Vogel.«
Wow! Besser hättest du es nicht beschreiben können, Mom.
Meine Schwester bohrt interessiert in der Nase: »Was sind Murmeltiere?«
Ich erhebe mich von meinem Platz, schnappe meine Schultasche und gehe in Richtung Tür, um diesem Wahnsinn zu entgehen.
Als ich die Straße runterschlendere, sehe ich Lenny, der in seinem Garten sitzt und mir zuwinkt.
»Schönen Schultag!«
Zurückwinkend gehe ich die Gasse bis zur Bushaltestelle entlang und entferne mich immer weiter vom Haus. Bei meinem Lieblingsplatz im Bus angekommen, verfalle ich wieder in Gedanken.
»Was sind Vögel?« Diese drei Worte gehen mir durch den Kopf.
Vielleicht ist meine Schwester gar nicht dumm, sondern genial. Sie ist sich sicher bewusst, dass Vögel Tiere sind, aber weiter kommt unser Verstand auch nicht. Sind es Fleischbällchen, die am Himmel fliegen und Sour Cream Sauce kacken, oder doch behaarte Ratten, die in einem Atomkraftwerk geschlafen haben und deswegen fliegen können? Ich schüttle den Kopf.
Klar, dass ich mit solchen Gedanken keine Freunde habe.
Noch immer leicht betrübt über die Tatsache, dass ich meine Frage nicht beantworten kann, steige ich aus dem Bus und befinde mich vor meiner Schule. Hunderte Jugendliche stürmen in das hässlich-graue Gebäude und reden wie wild durcheinander. Inmitten des Ansturms bin ich.
Die Tür meiner Klasse steht offen und beweist mir erfreulicherweise, dass ich nicht zu spät dran bin. Mit schnellen Schritten betrete ich das Tor zur Hölle und finde mich auf einem Schlachtfeld wieder. Überall liegen Papierflieger und Bleistiftstummeln am Boden. Ich habe die Hoffnung schon längst aufgegeben, in einer Klasse mit vernünftigen Jugendlichen zu sein, denn wäre das so, würden statt Papierfliegern wenigstens Zigaretten herumliegen.
Ohne ein Wort mit meinen Mitschülern zu wechseln, begebe ich mich auf meinen Platz. Die anderen sitzen in Gruppen zusammen und erzählen sich, was sie an ihren freien Tagen gemacht haben, oder sie starren so vernarrt auf ihr Handy, als wäre es erst gestern erfunden worden.
Würde mich nicht wundern, wenn sie sich selbst bald in lebensgroße Emojis verwandeln würden.
Das Läuten der Schulglocke verleitet alle dazu, sich auf ihre Plätze zu begeben. Nach ein paar Minuten herrscht absolute Stille.
Nicht weil es geläutet hat oder wir uns in der Schule befinden – es ist nur Ruhe, weil uns Frau Professor Klingenbach unterrichtet. Pünktlich betritt sie den Raum und spuckt ihren Kaugummi in das Gesicht eines Schülers in der ersten Reihe. Ohne einen Mucks erheben wir uns von den Plätzen. Frau Klingenbach schaut wütend in die Runde.
»Habe ich gesagt, dass ihr aufstehen sollt?«
Meine Klassenkameraden schütteln den Kopf und setzen sich wieder.
»Aufstehen!«, raunt die Professorin und geht zu ihrem Lehrerpult. Sie setzt sich, schlägt die Beine übereinander und schaut zur Tür.
»Na, kommst du endlich?!«, giftet sie und tippt ungeduldig mit ihren Fingern auf den Tisch.
Nach ihren Worten öffnet sich die Klassentüre erneut und ein Mädchen betritt den Raum.
»Das ist eure neue Mitschülerin!«
Keine Antwort.
»Worauf wartest du? Stell dich vor.«
Das Mädchen knetet nervös ihr T-Shirt und schaut hilflos in die Gesichter meiner Klassenkameraden.
»Ich … ich heiße Claire, bin sechzehn und gerade neu hierhergezogen.«
Sie setzt ein künstliches Lächeln auf.
Frau Klingenbach beißt auf ihre Unterlippe und schaut sie weiterhin an.
»Gut so, Mädchen, sag der Klasse doch, warum du umgezogen bist.«
Claire schaut die Professorin verwirrt an und flüstert: »Ich sagte Ihnen doch, das will ich nicht.«
Unbeeindruckt schmunzelt Frau Klingenbach: »Deswegen sollst du es ja sagen.«
Für einen kurzen Moment herrscht Totenstille im Raum. Anscheinend hat Claire die Lehrerin schon vorher darum gebeten, dieses Thema nicht anzusprechen.
Verfluchte Professorin Klingenbach.
»Na, also? Ich habe nicht ewig Zeit!«
Ich versuche ruhig zu bleiben, doch es hilft nichts. Ich springe von meinem Platz auf und schlage gegen meinen Tisch: »Sie können sie doch nicht zwingen, etwas zu sagen, was sie nicht will!«
Überrascht drehen sich meine Mitschüler zu mir um.
Schweigen.
Toll, Finn! Du bist ja fast schon ein Magnet für Probleme.
Bis jetzt hat sich das noch niemand getraut. Aus gutem Grund.
»Das hättest du nicht sagen sollen, Finn«, fährt mich Frau Klingenbach an. »Sofort ins Lehrerzimmer!«
Ich gehe ohne ein weiteres Wort an den Reihen vorbei Richtung Tür. Für einen kurzen Moment treffen sich die Blicke von mir und Claire. Sie hat wunderschöne blaue Augen und langes, hellbraunes Haar. Nicht nur ihre Sommersprossen ziehen mich in den Bann, sondern auch ihr Lächeln. Ich weiß nicht warum, aber auf irgendeine Art verzaubert sie mich. Irgendetwas an ihr hat mich dazu gebracht, etwas zu machen, was ich sonst nie wagen würde.