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Jane Harper

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Beschreibung

«Australiens sonnenverbrannte Antwort auf die karge Kälte des Skandinavienkrimis.» (New York Times) «‹Hitze› machte Harper über Nacht zum Krimistar» (Spiegel) Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten lastet wie heißes Blei auf dem ländlichen Städtchen Kiewarra mitten im Nirgendwo. Das Vieh der Farmer stirbt, die Menschen fürchten um ihre Existenz. Als Luke Hadler, seine Frau und ihr Sohn Billy erschossen aufgefunden werden, glauben alle, dass der Farmer durchgedreht ist und erweiterten Suizid begangen hat. Aber Sergeant Raco hat seine Zweifel. Aaron Falk kehrt nach zwanzig Jahren zum ersten Mal nach Kiewarra zurück – zur Beerdigung seines Jugendfreundes Luke. Bald brechen alte Wunden wieder auf; das Misstrauen wirft seine langen Schatten auf die Kleinstadt. Und in der Hitze steigt der Druck immer mehr … Ein beklemmender Thriller um Heimat, Loyalität und Vergebung. «Hitze katapultiert Jane Harper sofort in die Elite der Thrillerautoren. Phantastische Charaktere, ein einzigartiges und unglaublich atmosphärisches Setting, ein atemberaubender Plot. Dieses Buch hat einfach alles.» (John Lescroart) «Eines der beeindruckendsten Debüts, die ich je gelesen habe. Ich habe die glühende Hitze Australiens am eigenen Leib gespürt. Jedes einzelne Wort sitzt perfekt. Die Geschichte baut sich wie eine riesige Welle auf, bis sie schließlich auf die Erde kracht und alles auslöscht, was man vorher über diese fesselnde Geschichte gedacht hat. Lesen!» (David Baldacci, Bestsellerautor von «Der Auftrag», «Die Kampagne», «Am Limit»)

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Jane Harper

The Dry

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten lastet wie heißes Blei auf dem ländlichen Städtchen Kiewarra mitten im Nirgendwo. Das Vieh der Farmer stirbt, die Menschen fürchten um ihre Existenz.

Als Luke Hadler, seine Frau und ihr Sohn Billy erschossen aufgefunden werden, glauben alle, dass der Farmer durchgedreht ist und erweiterten Suizid begangen hat. Aber Sergeant Raco hat seine Zweifel.

Aaron Falk kehrt nach zwanzig Jahren zum ersten Mal nach Kiewarra zurück - zur Beerdigung seines Jugendfreundes Luke. Bald brechen alte Wunden wieder auf; das Misstrauen wirft seine langen Schatten auf die Kleinstadt. Und in der Hitze steigt der Druck immer mehr …

 

Ein beklemmender Thriller um Heimat, Loyalität und Vergebung.

 

«The Dry katapultiert Jane Harper sofort in die Elite der Thrillerautoren. Phantastische Charaktere, ein einzigartiges und unglaublich atmosphärisches Setting, ein atemberaubender Plot. Dieses Buch hat einfach alles.» (John Lescroart)

 

«Eines der beeindruckendsten Debüts, die ich je gelesen habe. Ich habe die glühende Hitze Australiens am eigenen Leib gespürt. Jedes einzelne Wort sitzt perfekt. Die Geschichte baut sich wie eine riesige Welle auf, bis sie schließlich auf die Erde kracht und alles auslöscht, was man vorher über diese fesselnde Geschichte gedacht hat. Lesen!» (David Baldacci, Bestsellerautor von «Der Auftrag», «Die Kampagne», «Am Limit»)

Über Jane Harper

Jane Harper ist Journalistin beim Herald Sun. Sie lebt in Melbourne. «The Dry» ist ihr erster Roman, der sofort die australischen Bestsellerlisten erklomm.

Für meine Eltern, Mike und Helen,

die mir immer vorgelesen haben.

Prolog

Natürlich war der Tod auf der Farm nichts Neues, und die Schmeißfliegen waren nicht wählerisch. Sie machten keinen Unterschied zwischen einem Kadaver und einer Leiche.

Die Dürre hatte den Fliegen den Sommer über ein reichhaltiges Angebot beschert. Sie fanden starre Augen und klebrige Wunden, wenn die Farmer von Kiewarra wieder einmal ihre Gewehre auf abgemagertes Vieh richten mussten. Kein Regen hieß: kein Futter. Und kein Futter bedeutete harte Entscheidungen in einer Gegend, die Tag für Tag unter einem sengenden Himmel flirrte.

«Bald kommt der Regen», wiederholten die Farmer gebetsmühlenartig, während die Monate verstrichen und das neue Jahr begann. Sie sagten sich den Satz untereinander laut vor wie ein Mantra, und wenn sie für sich waren, im Flüsterton wie ein Gebet.

Doch die schick gekleideten Meteorologen in Melbourne waren anderer Ansicht. In ihren klimatisierten Fernsehstudios gaben sie an den meisten Abenden um sechs mitleidig und mit einer gewissen Beiläufigkeit ihre Einschätzung ab. Unzweifelhaft die schlimmste Trockenheit seit hundert Jahren. Das Wettergeschehen hatte einen Namen, dessen korrekte Aussprache nie endgültig geklärt wurde: El Niño.

Wenigstens die Schmeißfliegen waren zufrieden. Doch an diesem Tag waren ihre Funde ungewöhnlich – kleiner und mit weicherem Fleisch. Obwohl das keine Rolle spielte. Da, wo es drauf ankam, waren sie alle gleich. Die glasigen Augen. Die nassen Wunden.

Der Körper auf der Lichtung war der frischeste. Die Fliegen brauchten ein wenig länger, um die beiden anderen im Farmhaus zu entdecken, obwohl die Haustür einladend offen stand. Diejenigen, die sich von dem ersten Angebot in der Diele noch weiter vorwagten, wurden mit einem weiteren Fund im Schlafzimmer belohnt. Der Körper war zwar noch kleiner, aber von weniger Rivalen umschwärmt.

Die Fliegen waren die Ersten vor Ort. Das Blut stockte dunkel auf Fliesen und Teppichboden. Draußen hing noch immer die Wäsche an der Spinne, knochentrocken und steif von der Sonne. Ein kleiner Tretroller lag verlassen auf dem Plattenweg. Im Umkreis von einem Kilometer schlug nur ein einziges menschliches Herz.

Und daher reagierte niemand, als irgendwo tief im Innern des Hauses das Baby anfing zu schreien.

Kapitel eins

Selbst wer nur zu Weihnachten einen Fuß in die Kirche setzte, sah sofort, dass der Platz für die Trauergäste nicht reichen würde. Vor dem Eingang hatte sich bereits eine schwarz-graue Menschenmenge gebildet, als Aaron Falk in einer Wolke aus Staub und zerbröselten Blättern angefahren kam.

Nachbarn versuchten, sich möglichst diskret, aber dennoch entschlossen vorzudrängeln, während die Menge sich langsam durch die geöffneten Türen schob. Auf der anderen Straßenseite lauerte das Presserudel.

Falk parkte seinen Wagen neben einem Pick-up, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Das Rauschen der Klimaanlage verstummte, und sofort wurde es im Auto spürbar wärmer. Er gönnte sich einen Moment, um die Menschenmenge in Augenschein zu nehmen, obwohl dafür eigentlich keine Zeit mehr war. Er hatte die Fahrt von Melbourne bis hierher in die Länge gezogen, die fünf Stunden, die man normalerweise für die Strecke brauchte, auf sechs ausgedehnt. Beruhigt, weil er kein bekanntes Gesicht entdecken konnte, stieg er aus.

Die spätnachmittägliche Hitze umhüllte ihn wie eine Decke. Als er die Fondtür aufriss, um sein Jackett herauszuholen, verbrannte er sich fast die Hand. Nach kurzem Zögern nahm er auch seinen breitkrempigen Hut aus steifem braunem Segeltuch von der Rückbank, obwohl der so gar nicht zu seinem Anzug passte. Aber mit einer Haut, die die Hälfte des Jahres mit krebsartig anmutenden Sommersprossen besprenkelt war und ansonsten bläulich bleich wie entrahmte Milch wirkte, war Falk bereit, die modische Entgleisung zu wagen.

Er war ein blasser Typ mit kurzgeschnittenem weißblondem Haar und durchsichtigen Wimpern, und in seinen sechsunddreißig Lebensjahren hatte er schon oft das Gefühl gehabt, dass die australische Sonne ihm irgendetwas mitteilen wollte. Und zwar etwas, das er in den Häuserschluchten Melbournes leichter ignorieren konnte als in Kiewarra, wo Schatten ein rares Gut war.

Falk blickte auf die Straße, die zurück aus der Stadt führte, dann auf seine Uhr. Trauergottesdienst, Leichenschmaus, eine Übernachtung, dann nichts wie weg. Achtzehn Stunden, kalkulierte er. Mehr nicht. Mit diesem Gedanken im Kopf ging er auf die Trauergemeinde zu, eine Hand auf seinem Hut, weil eine jähe heiße Windböe die Kleider flattern ließ.

Drinnen war die Kirche noch kleiner, als er sie in Erinnerung hatte. Schulter an Schulter mit Fremden ließ Falk sich tiefer in den Raum schieben. Er entdeckte einen freien Platz an der Wand und zwängte sich neben einen Farmer, dessen Baumwollhemd über dem dicken Bauch spannte. Der Mann nickte ihm kurz zu und starrte dann wieder stur geradeaus. Falk konnte die Falten an seinen Ärmeln sehen, die bis vor kurzem noch hochgekrempelt gewesen waren.

Falk nahm den Hut ab, fächelte sich unauffällig Luft zu und schaute sich um. Gesichter, die er zunächst für fremd gehalten hatte, waren jetzt deutlicher zu erkennen, und ihn überkam eine irrationale Verwunderung angesichts all der Krähenfüße, graumelierten Haare und angesetzten Kilos.

Ein älterer Mann zwei Reihen weiter hinten fing Falks Blick auf, und sie wechselten ein trauriges Lächeln. Wie hieß er noch mal? Falk kramte in seinem Gedächtnis. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu fokussieren. Der Mann war Lehrer gewesen. Falk konnte ihn sich vage vor einer Schulklasse vorstellen, wie er sich tapfer bemühte, gelangweilten Teenagern Freude an Geographie oder Werken oder sonst was zu vermitteln, doch die Erinnerung entglitt ihm immer wieder.

Der Mann machte eine Kopfbewegung in Richtung Bank, signalisierte, dass er für ihn ein Stück rücken würde, doch Falk schüttelte höflich den Kopf und schaute wieder nach vorn. Smalltalk war ihm schon bei angenehmen Anlässen verhasst, und das hier war definitiv eine Million schreckliche Meilen davon entfernt, angenehm zu sein.

Gott, wie klein der mittlere Sarg war. Zwischen den beiden großen wirkte er winzig, und das machte alles nur noch schlimmer. Falls das überhaupt möglich war. Kleine Kinder, denen die gekämmten Haare am Schädel pappten, zeigten darauf: Guck mal, Dad. Die Kiste da ist viel kleiner. Die älteren unter ihnen, die schon wussten, was darin war, zappelten unruhig in ihren Schuluniformen, rutschten ein kleines bisschen näher an ihre Mütter heran und starrten in entsetztem Schweigen geradeaus.

Über den drei Särgen blickte eine vierköpfige Familie von einem vergrößerten Foto. Ihre statisch lächelnden Gesichter waren übergroß und grobkörnig. Falk erkannte das Bild aus den Nachrichten wieder. Es war vielfach verwendet worden.

Darunter hatte man die Namen der Toten mit einheimischen Blumen ausgelegt. Luke. Karen. Billy.

Falk starrte auf Lukes Bild. Das volle schwarze Haar hatte die ein oder andere graue Strähne, aber er sah noch immer fitter aus als die meisten Männer über fünfunddreißig. Sein Gesicht schien älter, als Falk es in Erinnerung hatte, aber ihr letztes Treffen lag ja auch fast fünf Jahre zurück. Das selbstsichere Grinsen war unverändert, ebenso wie der wissende Blick. Ganz der Alte, schoss es ihm durch den Kopf. Die drei Särge sagten etwas anderes.

«Echt tragisch», meinte der Farmer neben Falk unvermittelt. Er hatte die Arme verschränkt, die Fäuste in die Achselhöhlen geklemmt.

«Kann man wohl sagen», bestätigte Falk.

«Haben Sie sie gut gekannt?»

«Eigentlich nicht. Nur Luke, den –» Einen benommenen Moment lang fiel Falk kein Wort ein, um den Mann in dem größten Sarg zu beschreiben. Er tastete im Kopf herum, fand aber nur klischeehafte, kitschige Bezeichnungen.

«Den Vater», brachte er schließlich heraus. «Wir waren in jungen Jahren befreundet.»

«Ja. Ich weiß, wer Luke Hadler ist.»

«Ich glaube, das weiß inzwischen jeder.»

«Wohnen Sie noch hier in der Gegend?» Der Farmer wandte ihm seinen massigen Körper zu und musterte Falk zum ersten Mal richtig.

«Nein. Schon lange nicht mehr.»

«Ach so. Hab aber irgendwie das Gefühl, als hätte ich Sie schon mal gesehen.» Der Farmer runzelte die Stirn, überlegte, wo er ihn einsortieren sollte. «He, Sie sind doch wohl nicht einer von diesen Fernsehfuzzis, oder?»

«Nein. Polizist. In Melbourne.»

«Ach nee? Ihr solltet euch mal unsere feine Regierung vorknöpfen, die die Karre dermaßen in den Dreck gefahren hat.» Der Mann nickte in die Richtung, wo Lukes Leichnam neben dem seiner Frau und seines sechsjährigen Sohnes lag. «Wir schuften uns hier draußen ab, um das Land zu ernähren, erleben die schlimmste Dürre seit hundert Jahren, und die faseln davon, die Subventionen zu kürzen. Irgendwie kann man den armen Hund da vorn fast verstehen. Es ist ein beschi–»

Er stockte. Sah sich in der Kirche um. «Es ist ein echter Skandal, jawohl.»

Falk schwieg, und beide dachten über das Versagen der Regierung nach. In den Zeitungen war ausführlich darüber debattiert worden, wer wohl für die tote Familie Hadler verantwortlich gemacht werden konnte.

«Untersuchen Sie die Sache?» Der Mann deutete erneut mit dem Kopf auf die Särge.

«Nein. Bin bloß als Freund hier», sagte Falk. «Ich glaube auch nicht, dass es da irgendwas zu untersuchen gibt.»

Er wusste nur das, was er wie jeder andere auch in den Nachrichten gehört hatte. Es schien ein klarer Fall zu sein. Die Schrotflinte hatte Luke gehört. Man hatte sie später gefunden, eingeklemmt in dem, was von seinem Mund übrig geblieben war.

«Nein, wohl nicht», sagte der Farmer. «Ich dachte bloß, weil er doch Ihr Freund war und so.»

«In dem Bereich arbeite ich ohnehin nicht. Ich bin Bundesbeamter. Bei der Steuerfahndung.»

«Sagt mir gar nichts.»

«Das heißt, ich jage Geld. Alles mit vielen Nullen am Ende, das nicht da ist, wo es sein sollte. Gewaschen, unterschlagen, so was eben.»

Der Mann erwiderte etwas, aber Falk hörte nicht mehr hin. Sein Blick war von den drei Särgen zu den Trauernden in der ersten Reihe gewandert. Die Bank, die für die Angehörigen reserviert war. Damit sie vor all ihren Freunden und Bekannten sitzen konnten, die ihnen wiederum auf die Hinterköpfe starren und Gott danken konnten, dass es nicht sie selbst getroffen hatte.

Es war zwanzig Jahre her, aber Falk erkannte Lukes Vater auf Anhieb. Gerry Hadlers Gesicht war grau. Die Augen schienen tief im Schädel versunken zu sein. Er saß pflichtgemäß auf seinem Platz in der ersten Reihe, hatte aber den Kopf abgewandt. Er beachtete weder seine Frau, die neben ihm schluchzte, noch die drei Holzkisten, die die sterblichen Überreste seines Sohnes, seiner Schwiegertochter und seines Enkels enthielten. Stattdessen starrte er Falk ins Gesicht.

Irgendwo weiter hinten ertönten die ersten Takte Musik aus Lautsprechern. Die Trauerfeier begann. Gerry neigte den Kopf zu einem fast unmerklichen Nicken, und Falk schob unbewusst eine Hand in die Hosentasche. Er ertastete Gerry Hadlers Brief, der vor zwei Tagen auf seinem Schreibtisch gelandet war. Neun Worte in ungelenker Schrift:

Luke hat gelogen. Du hast gelogen. Komm zur Trauerfeier.

Falk schaute als Erster weg.

 

Es war schwer, sich die Fotos anzusehen. Sie erschienen in einer sich unendlich wiederholenden Abfolge auf einem Bildschirm vor den Trauergästen. Ein fröhlicher Luke im Footballteam der unter Zehnjährigen; eine junge Karen, die auf einem Pony über einen Zaun setzte. Ihr eingefrorenes Grinsen hatte jetzt etwas Groteskes, und Falk sah, dass er nicht der Einzige war, der den Blick abwandte.

Wieder ein anderes Foto, und Falk erkannte zu seiner eigenen Überraschung sich selbst. Ein unscharfes Bild von seinem elfjährigen Gesicht schaute ihn an. Er und Luke Seite an Seite, mit nacktem Oberkörper und offenem Mund. Sie hielten einen kleinen Fisch am Angelhaken hoch und wirkten glücklich. Falk überlegte, wo das Foto entstanden war. Er konnte sich nicht erinnern.

Die Diashow lief weiter. Bilder von Luke, dann Karen, beide lächelnd, als würden sie nie wieder aufhören, und dann war wieder Falk zu sehen. Diesmal hatte er das Gefühl, seine Lunge würde zusammengedrückt. Das leise Murmeln, das durch die Menge wogte, verriet ihm, dass das Foto nicht nur ihn aufwühlte.

Eine jüngere Version seiner selbst stand neben Luke, beide jetzt schlaksig und mit Aknepickeln im Gesicht. Noch immer lächelnd, aber diesmal als Teil eines Quartetts. Lukes Arm war fest um die schlanke Teenagertaille eines Mädchens mit babyblondem Haar geschlungen. Falks Hand hing etwas vorsichtiger über der Schulter eines zweiten Mädchens mit langem schwarzem Haar und dunkleren Augen.

Falk war fassungslos, dass das Foto gezeigt wurde. Er blickte kurz zu Gerry Hadler hinüber, der geradeaus starrte, die Kiefer zusammengepresst. Falk spürte, dass der Farmer neben ihm sein Gewicht verlagerte und einen genau kalkulierten Halbschritt von ihm weg machte. Bei ihm ist der Groschen gefallen, dachte Falk.

Er zwang sich, die Augen wieder auf das Foto zu richten. Auf das Quartett. Auf das Mädchen an seiner Seite. Er sah in diese Augen, bis sie auf dem Bildschirm verschwanden. Falk erinnerte sich, wann das Foto aufgenommen worden war: an einem Nachmittag gegen Ende eines langen Sommers. Es war ein guter Tag gewesen. Und es war eines der letzten Fotos von ihnen vier zusammen. Zwei Monate später war das dunkeläugige Mädchen tot.

Luke hat gelogen. Du hast gelogen.

Falk starrte eine volle Minute lang zu Boden. Als er wieder aufsah, lächelten Luke und Karen an ihrem Hochzeitstag mit steifer Förmlichkeit. Falk war eingeladen gewesen. Er dachte nach, unter welchem Vorwand er abgesagt hatte. Arbeit, höchstwahrscheinlich.

Die ersten Fotos von Billy wurden gezeigt. Rotgesichtig als Baby, dann mit dichtem Haarschopf als Kleinkind, und schon ein bisschen Ähnlichkeit mit seinem Dad. In kurzen Hosen vor einem Weihnachtsbaum. Die Familie verkleidet als Monster-Trio, die dicke Schminke rissig in den lächelnden Gesichtern. Ein Zeitsprung, und eine ältere Karen hielt ein weiteres Neugeborenes in den Armen.

Charlotte. Die Glückliche. Ihr Name war nicht mit Blumen ausgelegt. Wie aufs Stichwort begann Charlotte, jetzt dreizehn Monate alt, in der ersten Reihe auf dem Schoß ihrer Großmutter zu weinen. Barb Hadler zog die Kleine mit einem Arm fester an ihre Brust und wiegte sie in einem nervösen Rhythmus. Mit der anderen Hand drückte sie sich ein Taschentuch ins Gesicht.

Falk, kein Experte in Sachen Babys, wusste nicht, ob Charlotte ihre Mutter auf dem Bildschirm erkannte. Sie wird sich daran gewöhnen, dachte Falk. Notgedrungen. Ein Kind, das mit dem Etikett «einzige Überlebende» aufwachsen würde, musste noch mit ganz anderen Dingen fertigwerden.

Die letzten Takte der Musik verklangen, und der Fotoreigen endete in bedrücktem Schweigen. Als jemand das Licht wieder hochdimmte, war kollektive Erleichterung spürbar. Ein übergewichtiger Geistlicher bewältigte mühsam die zwei Stufen zum Rednerpult, und Falk blickte wieder auf diese furchtbaren Särge. Er dachte an das dunkeläugige Mädchen, an eine Lüge, die vor zwanzig Jahren in die Welt kam, als Angst und jugendliche Hormone durch seine Adern rauschten.

Luke hat gelogen. Du hast gelogen.

Wie lang war der Weg von jener Entscheidung bis zu diesem Moment gewesen? Die Frage schmerzte wie ein Bluterguss.

Als eine ältere Frau in der Menge den Kopf wandte, fiel ihr Blick auf Falk. Er kannte sie nicht, aber sie reagierte reflexartig mit einem höflichen Nicken. Falk schaute weg. Als er wieder hinsah, starrte sie ihn noch immer an. Plötzlich zogen sich ihre Augenbrauen finster zusammen, und sie sprach mit der Frau neben ihr. Falk musste nicht Lippenlesen können, um zu wissen, was sie flüsterte.

Der junge Falk ist zurückgekommen.

Der Blick der zweiten Frau huschte zu seinem Gesicht und gleich wieder weg. Mit einem knappen Nicken bestätigte sie den Verdacht ihrer Freundin. Sie beugte sich zu ihrer Nachbarin auf der anderen Seite und tuschelte mit ihr. Eine beklommene Schwere legte sich auf Falks Brust. Er sah auf die Uhr. Siebzehn Stunden. Dann würde er wieder wegfahren. Wie damals. Gott sei Dank.

Kapitel zwei

«Aaron Falk, hau bloß nicht gleich wieder ab.»

Falk stand neben seinem Wagen und kämpfte mit dem Drang, trotzdem einzusteigen und einfach wegzufahren. Die meisten Trauergäste hatten sich schon auf den kurzen Fußweg zur Leichenfeier gemacht. Falk drehte sich um und musste unwillkürlich lächeln.

«Gretchen», sagte er, als die Frau ihn fest umarmte, die Stirn gegen seine Schulter gedrückt. Er legte das Kinn auf ihr blondes Haar, und sie blieben eine Weile so stehen, leicht vor und zurück schwankend.

«Gott, bin ich froh, dich zu sehen.» Ihre Stimme klang gedämpft aus seinem Hemd.

«Wie geht’s dir?», fragte er, als sie sich von ihm löste. Gretchen Schoner zuckte die Achseln und nahm ihre billige Sonnenbrille ab, hinter der verweinte Augen zum Vorschein kamen.

«Nicht gut. Schlecht, ehrlich gesagt. Und dir?»

«Genauso.»

«Auf jeden Fall siehst du noch aus wie früher.» Sie brachte ein zittriges Lächeln zustande. «Kultivierst noch immer den Albino-Look, wie ich sehe.»

«Du hast dich auch nicht groß verändert.»

Sie stieß ein leises Prusten aus, aber ihr Lächeln wurde breiter. «Nach zwanzig Jahren. Hör doch auf.»

Falk war nicht bloß höflich. Gretchen war noch immer ganz und gar als eines der beiden Mädchen auf dem Foto des Teenager-Quartetts zu erkennen, das in der Kirche gezeigt worden war.

Die Taille, um die Luke den Arm geschlungen hatte, war etwas fülliger geworden, und dem babyblonden Haar hatte sie vielleicht ein bisschen nachgeholfen, aber die blauen Augen und die hohen Wangenknochen waren unverkennbar Gretchen. Ihr elegantes Outfit, das aus Hose und Top bestand, saß einen Tick zu eng für herkömmliche Trauerkleidung, und sie schien sich ein wenig unwohl darin zu fühlen. Falk fragte sich, ob die Sachen geliehen oder bloß selten getragen waren.

Gretchen musterte ihn ebenso prüfend wie er sie, und als ihre Blicke sich trafen, lachte sie. Prompt wirkte sie unbeschwerter, jünger.

«Komm mit.» Sie fasste seinen Unterarm und drückte ihn. Ihre Hand fühlte sich kühl auf seiner Haut an. «Der Leichenschmaus ist im Gemeindesaal. Wir stehen das gemeinsam durch.»

Als sie die Straße hinuntergingen, rief sie einen kleinen Jungen, der irgendwas mit einem Stock anstupste. Er blickte hoch und kam widerwillig näher. Gretchen streckte die Hand aus, aber der Junge schüttelte den Kopf und trabte vor ihnen her, wobei er seinen Stock wie ein Schwert schwang.

«Mein Sohn, Lachie», sagte Gretchen mit einem Seitenblick auf Falk.

«Ach so. Ja.» Nach der ersten Verblüffung fiel Falk wieder ein, dass das Mädchen aus seiner Erinnerung ja jetzt Mutter war. «Ich habe gehört, dass du ein Kind hast.»

«Woher? Von Luke?»

«Muss wohl», sagte Falk. «Ist schon länger her. Klar. Wie alt ist er?»

«Erst fünf, aber schon ein echter Rabauke.»

Sie sahen zu, wie Lachie sein vermeintliches Schwert in unsichtbare Angreifer stieß. Er hatte weit auseinanderstehende Augen und lockiges, schmutzig braunes Haar. In seinen scharfen Gesichtszügen konnte Falk wenig Ähnlichkeit mit Gretchen entdecken. Er überlegte angestrengt, ob Luke irgendwas darüber gesagt hatte, dass Gretchen eine Beziehung hatte oder wer der Vater des Jungen war. Wohl eher nicht. Daran hätte er sich doch hoffentlich erinnert. Falk schielte unauffällig auf Gretchens Hand. Sie trug keinen Ring, aber das musste heutzutage nichts heißen.

«Wie gefällt dir denn das Familienleben so?», fragte er schließlich bewusst allgemein.

«Es ist okay. Lachie ist manchmal ganz schön anstrengend», sagte Gretchen halblaut. «Und wir sind nur zu zweit. Aber er ist ein guter Junge. Und wir kommen klar. Im Moment jedenfalls.»

«Haben deine Eltern immer noch die Farm?»

Sie schüttelte den Kopf. «Gott, nein. Die haben sie vor etwa acht Jahren verkauft und sich zur Ruhe gesetzt. Sind nach Sydney gezogen, in eine kleine Wohnung nur drei Ecken von meiner Schwester und ihren Kindern entfernt.» Sie zuckte die Achseln. «Sie sagen, es gefällt ihnen. Das Stadtleben. Dad macht sogar Pilates.»

Bei der Vorstellung, dass der handfeste Mr. Schoner sich jetzt auf seine innere Mitte und auf Atemübungen konzentrierte, musste Falk unwillkürlich lächeln.

«Hattest du keine Lust, mit ihnen nach Sydney zu gehen?», fragte er.

Sie stieß ein freudloses Lachen aus und wies auf die dürren Bäume am Straßenrand. «Und das alles aufgeben? Nein. Ich bin schon zu lange hier, es liegt mir im Blut. Du weißt doch selbst, wie das ist.» Sie stockte unvermittelt und warf ihm einen Blick zu. «Oder vielleicht ja auch nicht. Sorry.»

Falk überging die Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung. «Und was machst du so?»

«Schafzucht. Versuche es zumindest. Hab vor zwei Jahren die Farm der Kellermans gekauft.»

«Ehrlich?» Er war beeindruckt. Das war ein begehrtes Stück Land. War es zumindest gewesen, als er jünger war.

«Und du?», sagte sie. «Hab gehört, du bist zur Polizei gegangen?»

«Stimmt. Bin noch immer dabei.» Schweigend gingen sie ein Stück. Das wilde Vogelgezwitscher aus den Bäumen klang noch immer so, wie er es in Erinnerung hatte. Weiter vorne hoben sich die Grüppchen der Trauergäste wie Schmutzflecken von der staubigen Straße ab.

«Wie ist denn so die Stimmung hier?», fragte er.

«Schrecklich.» Das war eindeutig. Gretchen klopfte sich mit der nervösen Vehemenz einer Exraucherin gegen die Lippen. «Und es war weiß Gott vorher schon schlimm genug. Alle haben Angst, weil das Geld knapp ist und die Dürre einfach nicht vorübergehen will. Und dann ist das mit Luke und seiner Familie passiert, und ich sage dir, Aaron, es ist furchtbar. Absolut furchtbar. Du kannst es spüren. Alle laufen herum wie Zombies. Keiner weiß, was er tun oder sagen soll. Jeder beobachtet jeden und überlegt, wer als Nächster durchdreht.»

«Großer Gott.»

«Ja. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.»

«Warst du noch eng mit Luke befreundet?», fragte Falk neugierig.

Gretchen zögerte, die Lippen zu einer unsichtbaren Linie zusammengepresst. «Nein. Schon seit Jahren nicht mehr. Jedenfalls nicht so wie damals, als wir vier ständig zusammen waren.»

Falk dachte an das Foto. Luke, Gretchen, er selbst. Und Ellie Deacon mit ihrem langen schwarzen Haar. Sie waren als Teenager eine verschworene Truppe gewesen. In dem Alter, in dem man glaubt, die Freunde seien Seelenverwandte und die Freundschaft werde ewig halten.

Luke hat gelogen. Du hast gelogen.

«Du hast ja offensichtlich Kontakt zu ihm gehalten», sagte Gretchen.

«Sporadisch.» Das zumindest war die Wahrheit. «Wir haben uns gelegentlich auf ein Bier getroffen oder so, wenn er in Melbourne zu tun hatte.» Falk schwieg einen Moment. «Aber in den letzten Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das Leben rauscht so vorbei, weißt du? Er hatte seine Familie, ich habe viel gearbeitet.»

«Schon gut, du musst dich nicht rechtfertigen. Wir haben alle ein schlechtes Gewissen.»

Der Gemeindesaal platzte aus allen Nähten. Falk zögerte auf der Eingangstreppe, aber Gretchen zog ihn am Arm.

«Komm, keine Sorge. Die meisten wissen wahrscheinlich gar nicht mehr, wer du bist.»

«Es gibt immer noch viele, die es wissen. Besonders nach dem Foto auf der Trauerfeier.»

Gretchen verzog das Gesicht. «Ja, ich weiß. Ich war auch geschockt. Aber hör mal, die Leute haben jetzt genug eigene Sorgen. Die werden sich gar nicht um dich kümmern. Zieh einfach den Kopf ein. Wir gehen dann hinten raus.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, packte sie Falks Ärmel mit einer Hand, ihren Sohn mit der anderen und bugsierte sie beide in den Saal und durch die Menge. Die Luft hier war zum Schneiden. Die Klimaanlage tat ihr Bestes, kämpfte aber auf verlorenem Posten angesichts der Menge an Trauergästen, die sich ernst unterhielten und Tassen und Teller mit Schokoladentorte in den Händen balancierten.

Gretchen erreichte die rückwärtigen Terrassentüren, wo die kollektive Klaustrophobie etliche hinaus auf den tristen Spielplatz getrieben hatte. Sie suchten sich ein schattiges Fleckchen nahe am Zaun, und Lachie rannte los, um sein Glück auf der glühend heißen Metallrutsche zu versuchen.

«Du musst nicht bei mir stehen bleiben, wenn du damit deinen guten Ruf ruinierst», sagte Falk und zog seinen Hut etwas tiefer ins Gesicht.

«Ach, Quatsch. Außerdem krieg ich das auch allein ganz gut hin.»

Falk ließ den Blick über den Spielplatz gleiten und bemerkte ein älteres Ehepaar, von dem er glaubte, dass es früher mal mit seinem Vater befreundet gewesen war. Die beiden plauderten mit einem jungen Polizisten, der gestiefelt und gespornt in voller Uniform unter der Nachmittagssonne schwitzte und höflich nickte. Seine Stirn glänzte feucht.

«Hey», sagte Falk. «Ist das Barberis’ Nachfolger?»

Gretchen folgte seinem Blick. «Ja. Hast du das mit Barberis gehört?»

«Natürlich. Traurig. Weißt du noch, wie er uns mit seinen Horrorgeschichten über Kinder, die mit Farmmaschinen herumspielen, eine Höllenangst eingejagt hat?»

«Ja, klar. Sein Herzinfarkt war eigentlich zwanzig Jahre überfällig.»

«Trotzdem. Echt schade», sagte Falk und meinte es ehrlich. «Wie heißt denn der Neue?»

«Sergeant Raco, und falls er überfordert aussieht, dann deshalb, weil er es ist.»

«Unerfahren? Scheint aber doch ganz gut mit den Leuten klarzukommen.»

«Das weiß man noch nicht. Er war ja erst gefühlte fünf Minuten hier, als es passiert ist.»

«Verdammt schwierig, es direkt mit so etwas zu tun zu kriegen.»

Gretchens Erwiderung wurde durch eine plötzliche Bewegung an der Terrassentür vereitelt. Die Menge teilte sich respektvoll, als Barb und Gerry Hadler herauskamen und ins Sonnenlicht blinzelten. Ein paar Worte, eine Umarmung, ein tapferes Nicken, weitergehen.

«Wie lange ist es her, dass du zuletzt mit ihnen geredet hast?», flüsterte Gretchen.

«Zwanzig Jahre, bis letzte Woche», antwortete Falk. Er wartete. Gerry stand noch immer auf der anderen Seite des Spielplatzes, als er ihn entdeckte. Er löste sich aus der Umarmung einer beleibten Frau, deren Arme jetzt nutzlos in der Luft hingen.

Komm zur Trauerfeier.

Falk war hier, wie befohlen. Jetzt kam Lukes Vater auf ihn zu.

 

Gretchen war schneller und fing Gerry mit einer Umarmung ab. Er sah Falk über ihre Schulter hinweg an, die Pupillen übergroß und glänzend. Falk fragte sich, ob ihm irgendwelche Medikamente durch den Tag halfen. Als Gerry wieder losgelassen wurde, streckte er die Hand aus und umschloss Falks mit einem heißen, festen Griff. Gretchen blieb neben ihnen stehen.

«Du hast es also geschafft», stellte er ruhig fest.

«Ja», sagte Falk. «Ich habe deinen Brief bekommen.»

Gerry hielt seinen Blick fest.

«Gut. Tja, ich fand es wichtig, dass du dabei bist. Für Luke. Und ich war mir nicht sicher, ob du es schaffen würdest, Junge.» Der letzte Satz hing schwer in der Luft.

«Selbstverständlich, Gerry.» Falk nickte. «War mir auch wichtig, dabei zu sein.»

Gerrys Zweifel waren nicht unbegründet gewesen. Eine Woche zuvor hatte Falk an seinem Schreibtisch in Melbourne gesessen und fassungslos auf Lukes Foto in der Zeitung gestarrt, als das Telefon klingelte. Mit stockender Stimme hatte Gerry ihm mitgeteilt, wann und wo die Trauerfeier stattfinden würde. «Wir sehen dich dann dort», hatte er gesagt, eine Feststellung, keine Frage. Falk war Lukes grobkörnigem, starrendem Blick auf dem Foto ausgewichen und hatte etwas von beruflichen Terminen gemurmelt. In Wahrheit war er unentschlossen gewesen. Zwei Tage später war der Brief gekommen. Gerry musste ihn, praktisch unmittelbar nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, abgeschickt haben.

Du hast gelogen. Komm zur Trauerfeier.

In der Nacht hatte Falk nicht gut geschlafen.

Jetzt blickten sie beide verlegen zu Gretchen herüber, die ihren Sohn mit gerunzelter Stirn dabei beobachtete, wie er wackelig über das Klettergerüst turnte.

«Du übernachtest hier», sagte Gerry. Auch das wieder eine Feststellung. Falk nickte.

«Über dem Pub.»

Kindergeheul ertönte vom Klettergerüst, und Gretchen stöhnte frustriert auf.

«Mist. Ich hab’s kommen sehen. Entschuldigt mich.» Sie trabte davon. Gerry packte Falk am Ellbogen und drehte ihn von den anderen Trauergästen weg. Seine Hand zitterte.

«Ich muss mit dir reden. Bevor sie zurückkommt.»

Falk riss seinen Arm mit einer kleinen, beherrschten Bewegung los, damit die Leute hinter ihnen nichts merkten. Er wusste nicht, wer alles da war, wer sie beobachtete.

«Herrgott, Gerry, was willst du eigentlich?» Er zwang sich, eine Körperhaltung anzunehmen, die hoffentlich nicht allzu angespannt wirkte. «Falls du vorhast, mich irgendwie zu erpressen, kann ich dir gleich sagen, vergiss es.»

«Was? Meine Güte, Aaron. Nein. Überhaupt nicht.» Gerry sah ehrlich erschrocken aus. «Falls ich Ärger hätte machen wollen, hätte ich das doch wohl schon vor Jahren getan. Ich hab es nur zu gern auf sich beruhen lassen. Menschenskind, ich würde es auch weiterhin am liebsten auf sich beruhen lassen. Aber das kann ich nun nicht mehr, oder? Nachdem das hier passiert ist. Karen und Billy sind ja auch tot, der Kleine noch keine sieben Jahre alt.» Gerrys Stimme schlug um. «Hör mal, das mit dem Brief tut mir leid, aber ich musste dafür sorgen, dass du kommst. Ich muss es wissen.»

«Was wissen?»

Gerrys Augen sahen im grellen Sonnenlicht fast schwarz aus.

«Ob Luke vorher schon mal getötet hat.»

 

Falk schwieg. Er fragte nicht, was Gerry meinte.

«Du weißt –» Gerry verbiss sich, was er hatte sagen wollen, als eine diensteifrige Frau angetrippelt kam, um ihm mitzuteilen, dass der Geistliche ihn sprechen müsse. Möglichst unverzüglich.

«Himmelherrgott, was für ein Chaos», blaffte Gerry, und die Frau räusperte sich und veränderte ihre Mimik zu einem Ausdruck duldsamer Nachsicht. Er wandte sich wieder Falk zu. «Ich geh dann mal. Ich melde mich.» Er schüttelte Falk die Hand und hielt sie einen Moment länger als nötig fest.

Falk nickte. Er verstand. Gerry sah gebeugt und klein aus, als er hinter der Frau davonging. Gretchen hatte ihren Sohn inzwischen getröstet und stellte sich neben Falk. Sie folgte seinem Blick.

«Es geht ihm furchtbar», sagte sie halblaut. «Ich habe gehört, er hat gestern Craig Hornby im Supermarkt angeschrien und ihm vorgeworfen, ihm würde das alles nicht richtig nahegehen oder so. Kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor. Craig und er sind seit fünfzig Jahren Freunde.»

Falk konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwem, vor allem dem stoischen Craig Hornby, diese drei schrecklichen Särge nicht nahegehen konnten.

«War Luke denn wirklich vorher überhaupt nichts anzumerken?» Er konnte sich die Frage nicht verkneifen.

«Was denn zum Beispiel?» Eine Fliege landete auf Gretchens Lippe, und sie pustete sie ungeduldig weg. «Dass er mitten im Ort mit einer Waffe rumfuchtelt und droht, seine Familie um die Ecke zu bringen?»

«Gott, Gretch, war doch nur eine Frage. Ich meine, wirkte er depressiv oder so?»

«Sorry. Das liegt an der Hitze. Die macht alles noch schlimmer.» Sie hielt inne. «Weißt du, fast alle in Kiewarra sind schon am Rande der Verzweiflung. Aber ganz ehrlich, Luke war nicht schlimmer dran als alle anderen. Jedenfalls gibt keiner zu, dass ihm irgendwas in der Richtung aufgefallen ist.»

Gretchen sah finster drein.

«Ist aber schwer zu sagen», fuhr sie nach einer Pause fort. «Alle sind total wütend. Aber sie sind eigentlich nicht bloß wütend auf Luke. Die Leute, die am meisten über ihn wettern, hassen ihn nicht deswegen, weil er das gemacht hat. Es ist eigenartig. Man könnte fast meinen, sie beneiden ihn.»

«Wieso das?»

«Weil er etwas getan hat, wozu sie sich selbst nicht durchringen können, glaube ich. Weil er jetzt aus allem raus ist. Wir anderen müssen hier bis zum bitteren Ende ausharren, er dagegen muss sich keine Gedanken mehr machen um die Ernte oder überfällige Raten oder wann es endlich regnet.»

«Verzweifelte Lösung», sagte Falk. «Die eigene Familie mit in den Tod zu nehmen. Wie hält sich Karens Familie?»

«Soviel ich weiß, hatte sie keine sonstigen Angehörigen. Hast du sie mal kennengelernt?»

Falk schüttelte den Kopf.

«Einzelkind, wie Luke», sagte Gretchen. «Ihre Eltern sind gestorben, als sie noch ein Teenager war. Danach hat sie hier bei einer Tante gelebt, die aber auch schon seit ein paar Jahren tot ist. Ich denke, Karen war inzwischen eine hundertprozentige Hadler.»

«Warst du mit ihr befreundet?»

«Nicht direkt. Ich –»

Von der Terrassentür ertönte das Klimpern einer Gabel gegen ein Weinglas. Die Leute verstummten und wandten sich Gerry und Barb Hadler zu, die Hand in Hand vor der Tür standen. Inmitten all dieser Leute wirkten sie sehr allein.

Die beiden sind verwaiste Eltern, dachte Falk plötzlich. Fast hätten sie auch noch eine Tochter gehabt, aber sie wurde tot geboren, als Luke drei Jahre alt war. Falls sie danach versucht hatten, noch ein Kind zu bekommen, war es ihnen nicht geglückt. Stattdessen hatten sie all ihre Energie auf ihren einzigen Sohn gerichtet.

Barb räusperte sich. Ihr Blick huschte über die Trauergäste.

«Wir wollten euch allen danken, dass ihr gekommen seid. Luke war ein guter Mann.»

Sie sprach zu schnell und zu laut und presste zwischen den Sätzen die Lippen zusammen, als wollte sie sich selbst bremsen. Die Pause zog sich hin, bis sie peinlich wurde, und dann noch etwas länger. Gerry stierte stumm vor sich auf den Boden. Barb öffnete die Lippen mühsam wieder und atmete gierig ein.

«Und Karen und Billy waren wunderbar. Ihr Tod ist», sie schluckte, «so furchtbar. Aber ich hoffe, ihr werdet euch irgendwann richtig an Luke erinnern. An den Luke von früher. Er war vielen von euch ein Freund. Ein guter Nachbar, ein fleißiger Mann. Und er hat seine Familie geliebt.»

«Ja klar, bis er sie abgeschlachtet hat.»

Die Worte kamen von irgendwo hinten in der Menge und waren ganz leise gesprochen, aber Falk war nicht der Einzige, der den Kopf herumriss. Der Sprecher war ein massiger Mann, dem seine geschätzt vierzig Jahre nicht gutgetan hatten. Fleischige Oberarme, offenbar mehr Fett als Muskeln, spannten sein T-Shirt, als er die Arme verschränkte. Sein Gesicht war hochrot, er hatte einen ungepflegten Bart und den herausfordernden Blick eines Menschen, der anderen gern Angst macht. Trotzig fixierte er jeden, der sich umgedreht hatte, um ihn missbilligend anzusehen, bis einer nach dem anderen den Blick abwandte. Barb und Gerry hatten anscheinend nichts mitbekommen. Immerhin das bleibt ihnen erspart, dachte Falk.

«Wer ist das Großmaul?», flüsterte er, und Gretchen sah ihn überrascht an.

«Erkennst du ihn nicht? Das ist Grant Dow.»

«Das gibt’s doch nicht.» Falk sträubten sich die Nackenhaare, und er wandte den Kopf ab. Er erinnerte sich an einen Fünfundzwanzigjährigen mit sehnigen Muskeln wie Draht. Der Kerl da hatte offenbar ziemlich harte zwanzig Jahre hinter sich. «Menschenskind, hat der sich verändert.»

«Ist aber immer noch ein Oberarschloch. Keine Angst. Er hat dich bestimmt nicht gesehen. Sonst hättest du’s schon gemerkt.»

Falk nickte und starrte geradeaus. Barb begann zu weinen, was die Zuhörer als Zeichen dafür interpretierten, dass die Ansprache zu Ende war. Einige kamen auf sie zu, andere entfernten sich von ihr, je nach Gefühlslage. Falk und Gretchen blieben, wo sie waren. Gretchens Sohn kam angerannt und drückte das Gesicht gegen die Hose seiner Mutter. Sie hievte ihn sich mit einiger Anstrengung auf die Hüfte, er lehnte den Kopf auf ihre Schulter und gähnte.

«Ich glaub, der Kleine muss ins Bett», sagte sie. «Wann fährst du zurück nach Melbourne?»

Falk blickte auf die Uhr. Fünfzehn Stunden.

«Morgen», sagte er laut.

Gretchen nickte und sah ihn an. Dann beugte sie sich vor, schlang ihren freien Arm um seinen Rücken und zog ihn näher. Falk spürte von hinten die Hitze der Sonne und von vorne die Wärme ihres Körpers.

«War schön, dich wiederzusehen, Aaron.» Der Blick ihrer blauen Augen wanderte über sein Gesicht, als wollte sie es sich einprägen, dann lächelte sie ein wenig traurig. «Vielleicht bis in zwanzig Jahren wieder.»

Sie ging. Er schaute ihr hinterher, bis sie verschwunden war.

Kapitel drei

Falk saß auf der Bettkante und betrachtete gleichgültig eine Riesenkrabbenspinne an der Wand. Die Temperatur war mit dem Untergehen der Sonne nur unwesentlich gesunken. Nach dem Duschen hatte er sich Shorts angezogen, und seine feuchten Beine prickelten unangenehm auf dem billigen Baumwolllaken. Ein Schild, das an einer Eieruhr hing, die neben dem Duschkopf klebte, hatte ihn streng dazu ermahnt, die Körperreinigung auf drei Minuten zu beschränken. Schon nach zweien hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt.

Die dumpfen Geräusche aus dem Pub dröhnten durch den Boden, und gelegentlich kam ihm eine gedämpfte Stimme vage bekannt vor. Eigentlich hätte er gern mal nachgesehen, wer alles da unten war, aber ihm war nicht nach Gesellschaft. Irgendwer ließ ein Glas fallen, und das Klirren durchbrach die Geräuschkulisse. Es wurde kurz still, dann folgte vielstimmiges Hohngelächter. Die Spinne bewegte ein einzelnes Bein.

Falk zuckte zusammen, als das Telefon auf dem Nachttisch schrill klingelte. Es hatte ihn erschreckt, aber im Grunde war er nicht überrascht. Es kam ihm vor, als hätte er seit Stunden auf dieses Klingeln gewartet.

«Hallo?»

«Aaron Falk? Gespräch für Sie.» Die Stimme des Barmanns war tief und hatte einen leichten schottischen Akzent. Vor Falks innerem Auge erschien die imposante Gestalt, die ihm zwei Stunden zuvor wortlos einen Zimmerschlüssel im Austausch für seine Kreditkartendaten ausgehändigt hatte.

Falk war sicher, ihn noch nie gesehen zu haben, weil er dieses Gesicht garantiert nicht vergessen hätte. Der Mann war Ende vierzig, hatte breite Schultern und einen rötlichen Vollbart, vermutlich ein Backpacker, der irgendwann hier hängengeblieben war. Er hatte kein Wiedererkennen gezeigt, als er Falks Namen las, bloß ungläubig geschaut, weil jemand etwas von ihm wollte, das nicht unmittelbar mit Alkohol zu tun hatte.

«Wer ist es denn?», fragte Falk, obwohl er es sich schon denken konnte.

«Das müssen Sie ihn schon selbst fragen», sagte der Barmann. «Für das Entgegennehmen und Weiterleiten von Nachrichten werd ich nicht bezahlt. Ich stell jetzt durch.» Es wurde lange still in der Leitung, dann hörte Falk jemanden atmen.

«Aaron? Bist du das? Gerry hier.» Lukes Vater klang erschöpft.

«Gerry. Wir müssen uns mal unterhalten.»

«Stimmt. Komm zu uns nach Hause. Barb wollte sowieso mit dir reden.» Gerry nannte ihm die Adresse. Dann langes Schweigen, gefolgt von einem schweren Seufzer. «Und übrigens, Aaron. Sie weiß nichts von dem Brief. Oder überhaupt von irgendwas. Ich hätte gern, dass das so bleibt, okay?»

 

Falk folgte Gerrys Wegbeschreibung über triste, staubige Landstraßen und bog zwanzig Minuten später in eine kurze gepflasterte Zufahrt. Eine Verandalampe warf einen orangefarbenen Lichtschein auf ein gepflegtes Holzhaus. Er hielt an, und sofort öffnete sich quietschend die Fliegengittertür, in der Barb Hadlers gedrungene Silhouette erschien. Einen Moment später tauchte ihr Mann hinter ihr auf. Seine große Statur warf einen langen Schatten auf die Zufahrt. Als Falk die Verandastufen hochging, konnte er sehen, dass beide noch ihre Trauerkleidung trugen.

«Aaron. Mein Gott, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen! Danke, dass du gekommen bist. Komm rein», flüsterte Barb und streckte ihm ihre freie Hand entgegen. Auf dem anderen Arm hielt sie die kleine Charlotte fest an die Brust gedrückt und wiegte sie in einem energischen Rhythmus. «Die Kleine ist leider ziemlich unruhig. Will einfach nicht einschlafen.»

Soweit Falk das beurteilen konnte, schlief Charlotte tief und fest.

«Barb.» Falk beugte sich über das Kind und umarmte Lukes Mutter. «Schön, dich zu sehen.» Sie hielt ihn lange fest, den molligen Arm um seinen Rücken gelegt, und er spürte, wie sich etwas in ihm entspannte. Er erinnerte sich gut an den süßen, blumigen Duft ihres Haarsprays. Genau die Marke hatte sie schon benutzt, als sie für ihn noch Mrs. Hadler gewesen war. Sie lösten sich voneinander, und er konnte zum ersten Mal Charlotte richtig anschauen. Sie war rot im Gesicht und wirkte selbst im Schlaf unzufrieden, wie sie da an der Brust ihrer Großmutter lag. Ihre kleine Stirn war leicht gerunzelt, und Falk bemerkte schockiert, dass ihn das auf beinahe unheimliche Weise an ihren Vater erinnerte.

Er trat ins Licht der Diele. Barb musterte ihn von oben bis unten. Er konnte sehen, wie sich ihre Augen röteten. Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange mit warmen Fingerspitzen.

«Menschenskind. Du hast dich kaum verändert», sagte sie. Falk fühlte sich erstaunlicherweise schuldig. Er wusste, dass sie eine junge Version ihres eigenen Sohnes in ihm sah. Barb schniefte und wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab, wobei kleine weiße Fusseln auf ihre Bluse fielen. Sie achtete nicht darauf und bedeutete ihm mit einem traurigen Lächeln, ihr zu folgen. Sie ging voraus durch den Flur. Beide ignorierten geflissentlich die gerahmten Familienschnappschüsse an den Wänden. Gerry folgte ihnen.

«Ihr habt ein hübsches Häuschen, Barb», sagte Falk höflich. Sie war immer eine tadellose Hausfrau gewesen, aber als er sich jetzt umschaute, bemerkte er überall eine gewisse Unordnung. Ein Beistelltisch war mit schmutzigen Tassen vollgestellt, der Eimer für Verpackungsmüll quoll über, überall lagen stapelweise ungeöffnete Briefe. Das alles zeugte von einer Nachlässigkeit, die sicher der Trauer geschuldet war.

«Danke. Wir wollten etwas Kleines, das weniger Arbeit macht, nachdem –» Sie stockte kurz. Schluckte. «Nachdem wir Luke die Farm verkauft hatten.»

Sie traten auf die Terrasse mit Blick auf einen ordentlichen kleinen Garten. Die Holzbretter knarrten unter ihren Füßen, und die Abendluft machte die sengende Hitze des Tages allmählich etwas erträglicher. Sämtliche Rosenbüsche waren säuberlich geschnitten und sahen sehr tot aus.

«Ich habe versucht, sie mit recyceltem Wasser am Leben zu halten», sagte Barb, die Falks Blick bemerkt hatte. «Am Ende hat die Hitze sie doch erledigt.» Sie dirigierte Falk zu einem Korbsessel. «Wir haben dich in den Nachrichten gesehen. Hat Gerry dir das erzählt? Vor ein paar Monaten. Da ging es um diese Firmen, die ihre Investoren übers Ohr gehauen und ihre Ersparnisse unterschlagen haben.»

«Der Fall Pemberley», sagte Falk. «Üble Geschichte.»

«Die haben dich gelobt, Aaron. Im Fernsehen und in den Zeitungen. Du hast dafür gesorgt, dass die Leute ihr Geld zurückgekriegt haben.»

«Nur zum Teil. Einiges war längst weg.»

«Na, jedenfalls haben sie dich gelobt.» Barb tätschelte sein Knie. «Dein Dad wäre stolz auf dich.»

Falk zögerte. «Danke.»

«Wir waren traurig, als wir erfahren haben, dass er gestorben ist. Krebs ist einfach furchtbar.»

«Ja.» Darmkrebs, vor sechs Jahren. Es war kein leichter Tod gewesen.

Gerry, der am Türrahmen lehnte, machte zum ersten Mal seit Falks Ankunft den Mund auf.

«Weißt du eigentlich, dass ich versucht habe, mit euch Kontakt zu halten, nachdem ihr weggezogen wart?» Er sagte das beiläufig, es klang aber so, als wollte er sich rechtfertigen. «Hab deinem Dad geschrieben und ein paarmal versucht, ihn anzurufen. Aber er hat sich nie gemeldet. Irgendwann hab ich’s dann aufgegeben.»

«Kann ich verstehen», sagte Falk. «Er hat die Kontakte nach Kiewarra nicht unbedingt gepflegt.»

Eine Untertreibung. Alle drei taten so, als hätten sie es nicht gemerkt.

«Wollen wir was trinken?» Gerry verschwand ins Haus, ohne eine Antwort abzuwarten, und kam kurz darauf mit drei Gläsern Whiskey zurück. Falk sah es mit Verblüffung. Er konnte sich nicht erinnern, dass Gerry je etwas Härteres getrunken hatte als Bier. Die Eiswürfel waren schon halb geschmolzen, als Falk das Glas entgegennahm.

«Cheers.» Gerry legte den Kopf nach hinten und trank einen großen Schluck. Falk wartete darauf, dass er das Gesicht verzog. Vergeblich. Er nippte höflichkeitshalber an seinem Drink und stellte das Glas wieder ab. Barb beäugte ihres angewidert.

«Du solltest so was nicht trinken, wenn das Baby dabei ist, Gerry», sagte sie.

«Blödsinn, Barb, der Kleinen ist das schnurzegal. Die schläft doch wie tot», sagte Gerry, und eine grauenhafte Stille trat ein. Irgendwo im tintenschwarzen Garten zirpten nächtliche Insekten. Falk räusperte sich.

«Wie geht’s dir, Barb?»

Sie blickte nach unten und streichelte Charlottes Wange. Als sie den Kopf schüttelte, fiel eine Träne auf das Gesicht des Babys. «Natürlich», setzte Barb an, verstummte dann. Blinzelte mehrmals. «Ich meine, natürlich hat Luke das nicht getan. Niemals. Das weißt du. Er hätte sich selbst nicht getötet. Und schon gar nicht seine wunderbare Familie.»

Falk sah zu Gerry hinüber. Er stand noch immer im Türrahmen und starrte in sein halbleeres Glas.

Barb redete weiter. «Ein paar Tage bevor es passiert ist, habe ich mit Luke gesprochen. Und es ging ihm gut. Ich schwöre, er war normal.»

Falk wusste nicht, was er sagen sollte, und nickte bloß. Barb deutete das als ermutigendes Zeichen.

«Siehst du, du verstehst das, weil du ihn gekannt hast. Aber viele Leute hier bei uns sind da anders. Die glauben einfach, was man ihnen sagt.»

Falk verkniff sich die Bemerkung, dass er Luke seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie blickten beide zu Gerry hoch, der weiter seinen Drink betrachtete. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten.

«Deshalb haben wir gehofft –» Barb wandte wieder den Kopf, zögerte. «Deshalb habe ich gehofft, dass du uns hilfst.»

Falk starrte sie an.

«Wie das, Barb?»

«Na ja, indem du rausfindest, was wirklich passiert ist. Um Lukes Namen reinzuwaschen. Und für Karen und Billy. Und Charlotte.»

Sie fing an, Charlotte in den Armen zu wiegen, ihr den Rücken zu streicheln und beruhigende Laute von sich zu geben. Das Baby hatte sich noch immer nicht gerührt.

«Barb.» Falk beugte sich in seinem Sessel vor und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich klamm und fiebrig an. «Das alles tut mir unendlich leid. Was ihr durchmacht. Luke war damals wie ein Bruder für mich, das weißt du. Aber ich bin dafür nicht der Richtige. Falls ihr Zweifel habt, müsst ihr euch an die Polizei wenden.»

«Wir haben uns an dich gewendet.» Sie zog ihre Hand weg. «Du bist bei der Polizei.»

«Ich meine die Polizei, die sich mit so etwas befasst. Ich mache das nicht mehr. Das wisst ihr. Ich bin jetzt bei der Steuerfahndung. Überprüfe Konten, Geld.»

«Genau.» Barb nickte.

Gerry gab ein leises, kehliges Geräusch von sich. «Barb meint, dass Geldsorgen eine Rolle gespielt haben könnten.» Er hatte sich um einen neutralen Tonfall bemüht, was ihm gründlich misslungen war.

«Ja, und ob ich das meine», fauchte sie. «Warum ist das für dich so unwahrscheinlich, Gerry? Luke hat das Geld mit beiden Händen rausgeworfen. Wenn er mal was hatte, hat er es gleich auf den Kopf gehauen.»

Stimmt das?, überlegte Falk. Er hatte Luke nie als sonderlich spendabel erlebt.

Barb sah ihn wieder an. «Ehrlich, zehn Jahre lang hab ich gedacht, es wäre richtig gewesen, dass wir Luke die Farm verkauft haben. Aber in den letzten zwei Wochen lässt mir der Gedanke keine Ruhe, dass wir ihm eine viel zu schwere Bürde aufgehalst haben. Bei der Dürre, wer weiß. Alle sind verzweifelt. Gut möglich, dass er sich irgendwo Geld geliehen hat. Oder dass er Schulden hatte, die er nicht zurückzahlen konnte. Vielleicht ist jemand gekommen, dem er was schuldete.»

Sie schwiegen eine Weile. Falk nahm sein Whiskeyglas und trank einen kräftigen Schluck. Er war lauwarm.

«Barb», sagte er schließlich. «Das mag sich für euch vielleicht nicht so anfühlen, aber die zuständigen Beamten werden alle diese Möglichkeiten in Erwägung gezogen haben.»

«Von wegen», entgegnete sie heftig. «Die wollten nichts davon hören. Die sind von Clyde hergekommen, haben sich einmal kurz umgesehen und gesagt: ‹Alles klar, da ist mal wieder ein Farmer durchgedreht›, und das war’s. Fall erledigt. Ich hab denen doch angesehen, was sie gedacht haben. Nix als Schafe und Weiden. Da muss einer ja schon halb übergeschnappt sein, überhaupt hier draußen zu leben. Ich hab’s in ihren Gesichtern gesehen.»

«Die haben Leute aus Clyde hergeschickt?», fragte Falk überrascht. Clyde war die nächstgelegene größere Stadt mit einer voll ausgestatteten Polizeistation. «Nicht den Neuen hier im Ort? Wie heißt er noch mal?»

«Sergeant Raco. Nein. Der war da ja erst eine Woche oder so hier. Die haben Leute hergeschickt.»

«Habt ihr diesem Raco von euren Bedenken erzählt?»

Ihr trotziger Blick beantwortete seine Frage.

«Wir erzählen dir davon», sagte sie.

Gerry stellte sein Glas mit einem dumpfen Knall auf dem Tisch ab, und sie zuckten beide zusammen.

«Gut, ich denke, du kennst jetzt unsere Meinung», sagte er. «Es war ein langer Tag. Wir sollten Aaron die Gelegenheit geben, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Zu überlegen, inwieweit das für ihn Sinn ergibt. Komm, Junge, ich bring dich raus.»

Barb öffnete den Mund, als wollte sie widersprechen, aber Gerry warf ihr einen Blick zu, und sie blieb stumm. Sie legte Charlotte auf einem Sessel ab und zog Falk in eine klamme Umarmung.

«Denk drüber nach. Bitte.» Ihr Atem war heiß an seinem Ohr. Dann setzte sie sich wieder und hob Charlotte auf. Sie schaukelte sie so forsch, dass das Baby schließlich die Augen aufschlug und ärgerlich losweinte. Barb lächelte zum ersten Mal, strich der Kleinen über das Haar und tätschelte ihr den Rücken. Falk hörte sie unmelodisch summen, als er Lukes Vater zurück in die Diele folgte.

Gerry begleitete ihn zu seinem Wagen.

«Barb macht sich was vor», sagte er. «Sie hat sich in den Kopf gesetzt, dass irgendein geheimnisvoller Schuldeneintreiber der Täter war. Das ist Quatsch. Luke konnte mit Geld umgehen. Natürlich hat er eine schwere Zeit durchgemacht, wie alle anderen auch. Und er ist auch schon mal Risiken eingegangen, aber im vernünftigen Rahmen. Auf so was hätte er sich niemals eingelassen. Außerdem hat Karen die Buchhaltung für die Farm gemacht. Sie hätte was gesagt. Hätte uns informiert, wenn die Dinge so schlecht gestanden hätten.»

«Und was denkst du?»

«Ich denke – ich denke, dass er mächtig unter Druck stand. Und sosehr es mich auch quält, und ich kann dir sagen, es bringt mich fast um: Ich denke, es ist genau das passiert, wonach es aussieht. Und jetzt will ich wissen, ob ich einen Teil der Schuld daran mittrage.»

Falk lehnte sich gegen sein Auto. Ihm dröhnte der Schädel.

«Wie lange weißt du es schon?»

«Dass Luke gelogen hat, als er dir ein Alibi verschafft hat? Die ganze Zeit. Also gut zwanzig Jahre, oder? Ich hab Luke an dem Tag, als es passiert ist, allein auf seinem Fahrrad gesehen. Weit weg von der Stelle, an der ihr beide angeblich wart. Ich weiß, dass ihr nicht zusammen wart.» Er hielt inne. «Das habe ich noch nie jemandem erzählt.»

«Ich habe Ellie Deacon nicht umgebracht.»

Irgendwo in der Dunkelheit versteckt kreischten die Zikaden.

Gerry nickte und blickte auf seine Füße. «Aaron, ich habe nicht eine Sekunde lang gedacht, dass du das getan hast, sonst hätte ich nämlich nicht geschwiegen. Was meinst du denn, warum ich nichts gesagt habe? Es hätte dein Leben zerstört. Diesen Verdacht wärst du jahrelang nicht losgeworden. Hätten sie dich bei der Polizei angenommen? Luke hätten sie wegen Falschaussage drangekriegt. Und wofür das alles? Das Mädchen hätte es nicht wieder lebendig gemacht. Sie hat sich umgebracht, realistisch betrachtet, und ich kenne noch einige andere, die das genauso gesehen haben. Ihr Jungs hattet nichts damit zu tun.» Gerry scharrte mit der Spitze seines Stiefels über den Boden. «Das hab ich zumindest gedacht.»

«Und jetzt?»

«Jetzt? Gott. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich hab immer gedacht, Luke hat gelogen, um dich zu schützen. Aber jetzt hab ich eine ermordete Schwiegertochter und ein ermordetes Enkelkind, und die Fingerabdrücke meines toten Sohnes überall auf seiner Schrotflinte.»

Gerry fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.

«Ich habe Luke geliebt. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Aber Karen und Billy habe ich auch geliebt. Und Charlotte. Ich hätte bis an mein Lebensende behauptet, dass mein Sohn niemals in der Lage wäre, so etwas zu tun. Aber da ist diese Stimme in mir, die flüstert: Stimmt das wirklich? Bist du dir sicher? Und deshalb frage ich dich. Hier. Jetzt. Hat Luke dir das Alibi gegeben, um dich zu schützen, Aaron? Oder hat er gelogen, um sich selbst zu schützen?»

«Es hat nie irgendeinen Hinweis darauf gegeben, dass Luke etwas mit Ellies Tod zu tun hatte», sagte Falk vorsichtig.

«Stimmt», sagte Gerry. «Vor allem, weil ihr euch gegenseitig Alibis geliefert habt, nicht wahr? Wir wissen beide, dass er gelogen hat, und keiner von uns hat etwas gesagt. Meine Frage ist also, ob ich dadurch das Blut meiner Schwiegertochter und meines Enkels an den Händen habe.»

Gerry neigte das Gesicht in den Schatten, sodass Falk seinen Blick nicht mehr erkennen konnte.

«Und das solltest du dich selbst auch fragen, bevor du wieder zurück nach Melbourne abhaust. Wir haben beide die Wahrheit verschwiegen. Wenn ich schuldig bin, dann bist du es auch.»

 

Die Fahrt über die Landstraßen zurück zum Pub kam ihm noch länger vor. Falk schaltete das Fernlicht ein, und die Scheinwerfer schnitten weiße Lichtkegel in die Dunkelheit. Er fühlte sich wie der einzige Mensch weit und breit. Nichts vor ihm, nichts hinter ihm.

Er spürte den widerlichen Schlag unter den Rädern fast schon, bevor er registrierte, dass irgendetwas Kleines über die Straße flitzte. Ein Kaninchen. Da, und gleich wieder verschwunden. Falks Herz hämmerte. Er stieg automatisch auf die Bremse, aber er war tausend Kilo zu schwer und achtzig Stundenkilometer zu schnell. Keine Chance. Der Aufprall war wie ein Faustschlag gegen die Brust, und er löste etwas in Falks Kopf. Eine Erinnerung, die er seit Jahren vergessen geglaubt hatte, glitt an die Oberfläche.

 

Das Kaninchen war noch ganz klein und lag zitternd in Lukes Händen. Er hatte dreckige Fingernägel. Wie immer. An den Wochenenden war es für achtjährige Jungs in Kiewarra besonders langweilig. Sie waren durch das hohe Gras gerannt, einfach so, ohne ein bestimmtes Ziel, als Luke plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Er bückte sich zwischen den hohen Halmen, und als er sich einen Moment später wieder aufrichtete, hielt er das winzige Tierchen hoch. Aaron lief zu ihm und sah es sich an. Sie streichelten es, ermahnten sich gegenseitig, nicht zu fest zu drücken.

«Es mag mich. Es ist meins», sagte Luke. Den ganzen Weg zurück zu Lukes Elternhaus dachten sie sich Namen aus.

Sie fanden einen Pappkarton für das Kaninchen und beugten die Köpfe darüber, um ihr neues Haustier zu begutachten. Es zitterte unter ihren prüfenden Blicken, rührte sich aber ansonsten nicht. Angst maskiert als Kapitulation.

Aaron lief ins Haus, um ein Handtuch zu holen, womit sie den Karton auspolstern wollten. Er brauchte länger als gedacht, und als er wieder hinaus ins helle Sonnenlicht trat, war Luke ganz still. Er hatte eine Hand in dem Karton. Sein Kopf schnellte hoch, als er Aaron hörte, und er riss die Hand heraus. Aaron ging näher heran. Er wusste nicht recht, was er da gesehen hatte, aber instinktiv wollte er den Moment hinauszögern, an dem er in die Kiste schaute.

«Es ist gestorben», sagte Luke. Sein Mund war eine schmale Linie. Er sah Aaron nicht in die Augen.

«Wie?»

«Keine Ahnung. Auf einmal war’s tot.»

Aaron fragte noch ein paarmal, bekam aber immer dieselbe Antwort. Das Kaninchen lag auf der Seite, unverletzt, aber reglos, die Augen schwarz und leer.

 

«Denk drüber nach», hatte Barb zum Abschied zu Falk gesagt. Aber als er die endlosen Landstraßen entlangfuhr, das tote Tier noch frisch unter seinen Rädern, musste Falk immerzu an ihre jugendliche Viererclique denken und an Ellie Deacon. Und er fragte sich, ob Ellies dunkle Augen ebenso leer geblickt hatten, als das Wasser in ihre Lunge geströmt war.

Kapitel vier

Das gelbe Absperrband der Polizei hing noch immer in Fetzen vor der Tür von Luke Hadlers Farmhaus. Es leuchtete im Morgenlicht, als Falk neben dem Streifenwagen auf einem Stück toter Wiese parkte. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, doch als Falk ausstieg, prickelte seine Haut bereits vor Hitze. Er setzte seinen Hut auf und sah sich um. Er hatte keine Wegbeschreibung gebraucht. Als Kind und Jugendlicher hatte er hier fast ebenso viel Zeit verbracht wie in seinem eigenen Elternhaus.

Luke hatte nicht viel verändert, seit er die Farm von seinen Eltern übernommen hatte, dachte Falk, als er den Klingelknopf drückte. Die Glocke ertönte tief im Innern, und auf einmal hatte er das beklommene Gefühl, in die Vergangenheit zurückversetzt worden zu sein. Er wollte schon einen Schritt zurücktreten, weil er fest damit rechnete, dass ein großspuriger Sechzehnjähriger die Tür aufreißen würde.

Nichts geschah. Die Fenster mit den geschlossenen Vorhängen starrten wie erblindete Augen.

Falk hatte fast die ganze Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht, was Gerry gesagt hatte. Am Morgen dann hatte er ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass er noch ein oder zwei Tage länger bleiben könnte. Nur bis zum Wochenende. Es war Donnerstag. Am Montag musste er wieder zur Arbeit. Aber bis dahin würde er zu Lukes Farm fahren und sich für Barb die Buchführung anschauen. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Gerrys Reaktion nach zu urteilen, sah er das auch so.

Falk wartete einen Moment, ging dann ums Gebäude herum. Der Himmel wölbte sich weit und blau über gelben Weiden. In der Ferne hielt ein Drahtzaun dunkles Gestrüpp in Schach. Falk nahm zum ersten Mal richtig wahr, wie einsam das Anwesen lag. Als Kind war es ihm immer voller Leben erschienen. Sein eigenes Elternhaus war zwar nur ein kurzes Stück mit dem Fahrrad entfernt, aber es lag unsichtbar irgendwo hinter dem Horizont. Als er sich jetzt umschaute, war überhaupt nur ein einziges anderes Haus in Sicht: ein langgestrecktes graues Gebäude, das sich an die Flanke eines fernen Hügels schmiegte.

Ellies Haus.

Falk fragte sich, ob ihr Vater und Cousin noch immer da oben wohnten, und wandte sich instinktiv ab. Er schlenderte über den Hof, bis er Sergeant Greg Raco in der größten der drei Scheunen fand.

Der Polizist kniete in einer Ecke und durchstöberte einen Stapel alter Kisten. Eine Rotrückenspinne, still und glänzend in ihr Netz gebettet, kümmerte sich nicht weiter um das Treiben keine zwei Meter von ihr entfernt. Falk klopfte auf das Metalltor, und Raco drehte sich um, das Gesicht mit Staub und Schweiß verschmiert.

«Mensch, haben Sie mich erschreckt. Ich hab Sie nicht kommen hören.»