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»Ich liebe die Australien-Krimis von Jane Harper.« Stephen King.
Der Bundesermittler Aaron Falk ist auf dem Weg ins südaustralische Weinland, um bei einer Taufe dabei zu sein. Genau vor einem Jahr ist dort eine Frau verschwunden: Kim Gillespie hat offenbar ihr schlafendes Kind auf einer Kirmes zurückgelassen. Danach hat sie niemand mehr gesehen. Das Rätsel ihres Verschwindens ist immer noch nicht gelöst, und eine neue Suche beginnt. Falk versucht, die letzten Schritte von Kim zu rekonstruieren. Er begreift, dass die Ermittler vermutlich einen Fehler begangen haben: Sie haben das gesehen, was sie sehen wollten – und sind auf eine große Täuschung hereingefallen ...
»Wieder einmal beweist Harper, dass sie es wie keine andere versteht, eine Lawine von Spannung zu erzeugen.« David Baldacci.
»Nachdenklich und einfühlsam – Aaron Falk ist viel mehr als ein gewöhnlicher Detective.« New York Times Book Review.
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Was würde eine Mutter dazu bringen, ihr Neugeborenes im Stich zu lassen? Kim Gillespie verschwindet an einem warmen Frühlingsabend von einem belebten Festplatz. Ihr Baby liegt allein im Kinderwagen, umgeben von den Habseligkeiten ihrer Mutter, und wartet vergeblich auf deren Rückkehr. Ein Jahr später wirft die Abwesenheit von Kim Gillespie immer noch einen langen Schatten über das Leben ihrer Freunde und Angehörigen. Bundesermittler Aaron Falk ist mit Kims Familie befreundet, und als er den Vermisstenfall näher untersucht, beginnt er zu ahnen, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Bei seinen Nachforschungen kommen lange gehütete Geheimnisse ans Licht, und Falk muss behutsam vorgehen. Aber manchmal braucht es einen Außenstehenden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen ...
Jane Harper wurde 1980 in Manchester geboren, lebt aber schon lange in Melbourne, Australien. Sie war Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben von Thrillern begann. Gleich mit ihrem Debütroman »Hitze« gewann sie neben zahlreichen anderen Preisen auch den wichtigsten britischen Krimipreis, den »Gold Dagger«.
Bei Rütten & Loening liegt ebenfalls ihr Thriller »Der Sturm« vor.
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Jane Harper
Die Suche
Thriller
Aus dem Englischen von Matthias Frings
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1 — Ein Jahr später
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34 — Kim
Kapitel 35
Kapitel 36 — Rohan
Kapitel 37
Kapitel 38 — Sechs Monate später.
Kapitel 39
Kapitel 40
Dank
Impressum
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Erinnere dich. Die Vorzeichen waren da. Welche gab es?
Später stellten sich alle dieselben Fragen.
Wie konnte es so weit kommen?
Hätten wir es aufhalten können?
Das war die entscheidende Frage, wie Aaron Falk wusste. Und die Antwort lautete wahrscheinlich Ja. Sogar ohne Vorwarnung – und Warnungen gab es durchaus – lautete die Antwort immer Ja. Eine Million Entscheidungen ebneten den Weg zu einer einzigen Tat, und diese Tat konnte wiederum in Millionen andere Wege münden. Es waren jedoch Entscheidungen getroffen worden – manche absichtlich und wohlüberlegt, andere weniger –, und von den Millionen Wegen, die zur Auswahl standen, war dies derjenige, auf dem sie sich nun befanden.
Das Baby schlief, als man es fand. Es war kaum sechs Wochen alt, ein gutes Gewicht für sein Alter, gesund und wohlauf, nur dass es ganz allein war. Im Kinderwagen dürfte es warm genug gelegen haben, und es war sorgfältig in eine handgefertigte Wolldecke eingewickelt.
Es war eine Frühlingsnacht und der südaustralische Himmel war sternenklar. Es war kein Regen vorhergesagt, aber das wasserdichte Verdeck des Kinderwagens war dennoch hochgeklappt. Ein viereckiges Leinentuch, das normalerweise als Sonnenschutz diente, war über die Öffnung zwischen Verdeck und Wagen drapiert worden. Kein Passant hätte dahinter ein schlafendes Mädchen ausmachen können.
Der Kinderwagen stand zusammen mit ein paar Dutzend anderen in dem dafür vorgesehenen Bereich des jährlichen Marralee Valley Food and Wine Festivals und musste sich im Schatten eines Riesenrades gegen ein Durcheinander von Fahrrädern, Rollern und einem einsamen Dreirad behaupten. Er war in der hintersten Ecke abgestellt worden, die Fußbremse fest angezogen.
Alle anderen Transportmittel wurden im Lauf der nächsten Stunden abgeholt, als die Familien zu dem Schluss kamen, dass sie nach all dem Wein und Käse und den Karussellfahrten für heute genug hatten. Kurz nach halb elf waren nur noch der Kinderwagen und das Fahrrad des Hilfselektrikers übrig.
Der Techniker war dabei, sein Kombischloss zu öffnen, als er stutzte. Er schaute sich um. Das Festival hatte dreißig Minuten zuvor offiziell geschlossen, und abgesehen vom Personal war der Platz inzwischen fast menschenleer. Der Techniker steckte das Schloss in seinen Rucksack, ließ die Augen erneut über das rasch dunkler werdende Gelände schweifen und ging dann zum Kinderwagen hinüber. Er beugte sich vor, spähte unter das Leinentuch, richtete sich wieder auf und zog es vollständig ab. Bei dem Schwall kühler Luft rührte das eingewickelte Bündel sich ein wenig. Der Ingenieur zückte sein Handy und tätigte einen Anruf.
Der Name des Babys stand auf dem Etikett des Strampelanzugs. Zoe Gillespie. Ihre Familie wohnte nicht hier in der Gegend – nicht mehr jedenfalls –, aber die Direktorin des Festivals und der diensthabende Polizist, der den Anruf entgegennahm, kannten die Eltern des Mädchens mit Namen.
Das Telefon von Zoes Mutter klingelte in der Windeltasche, die im Ablagefach des Kinderwagens verstaut war. Der Ton schrillte durch die Abendluft. In einer Außentasche mit Reißverschluss befanden sich neben dem Handy ein Autoschlüssel und eine Brieftasche mit Personalausweis, Kreditkarten und Bargeld. Der Techniker eilte zum Besucherparkplatz, um die Schlüssel auszuprobieren. Ein Minivan, der zum Design des Schlüsselrings zu passen schien, war eines der wenigen verbliebenen Fahrzeuge.
Einige Kilometer weiter, im Foyer des besten italienischen Restaurants im Marralee Valley, klingelte das Telefon von Zoes Vater. Er hatte seine Eltern ins Taxi gesetzt und beglich nun die Rechnung, wobei er mit der Restaurantbesitzerin und ihrem Mann plauderte, die ihn beide seit seiner Schulzeit kannten. Er zeigte ihnen gerade Fotos von Zoe – seiner Erstgeborenen und am Sonntag schon fast sechs Wochen alt, kaum zu glauben – woraufhin die Inhaberin darauf bestand, ihm zur Feier des Tages eine Flasche Sekt auf Kosten des Hauses mitzugeben, als sein Handy mit dem Anruf aufleuchtete.
Das Restaurant lag fünfzehn Minuten Fußweg vom Festplatz entfernt. Die Besitzerin missachtete die Geschwindigkeitsbegrenzung, für die sie sich selbst eingesetzt hatte, um Zoes Vater in unter drei Minuten dorthin zu fahren, und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haupteingang. Von dort rannte er an den geschlossenen und verdunkelten Buden vorbei und schaffte es in kaum mehr als vier Minuten zu seiner Tochter.
Das Gelände wurde durchsucht. Zoes Mutter, die neununddreißigjährige Kim Gillespie, wurde nicht gefunden.
Man trommelte Freiwillige zusammen, und das gesamte Areal wurde noch einmal durchkämmt. Anschließend überprüfte man den Parkplatz und die Weinberge, die sich zu beiden Seiten erstreckten. Der Kinderwagen war im östlichen Teil des Geländes abgestellt worden, am hinteren Ende des Festplatzes und nahe des Notausgangs. Dahinter befand sich Buschland mit einem einzelnen Pfad, der nur in eine Richtung führte.
Die Suche folgte dem Pfad bis hinunter zum Stausee. Dann ging es den breiten Wanderweg entlang, auf dem sich um diese Zeit keine Spaziergänger und Dienstfahrzeuge mehr befanden, bis zum höchsten Punkt der zerklüfteten Uferböschung, einem steilen Felsvorsprung, von den Einheimischen nur »Das Gefälle« genannt. Weit darunter zog sich das enorme Gewässer tief und endlos dahin.
Zwei Tage später fanden sie einen Schuh, Kim Gillespies weißen Turnschuh, mit Wasser vollgesogen und schmutzig, geborgen mehr als einen Kilometer weiter östlich, in einem Filter des Damms. Rettungstaucher wurden engagiert, um die Spalte auf dem Grund des Stausees abzusuchen. Sie wagten sich so tief in die höhlenartige Leere wie möglich, während Suchtrupps das Ufer per Land Rover oder zu Fuß patrouillierten und Freiwillige in ihren Wochenendbooten die seichteren Stellen absuchten. Die Suche dauerte eine Woche, dann zwei, bis sie an Intensität verlor und schließlich mit dem Versprechen eingestellt wurde, bei sinkendem Wasserpegel weiterzumachen. Aus Frühling wurde Sommer, dann Herbst. Zoe entwuchs ihrem Kinderwagen und machte ihre ersten Schritte. Ihr erster Geburtstag kam und ging.
Habe ich irgendetwas beobachtet? Habe ich vielleicht etwas übersehen? Wer die Familie kannte und mochte, stellte sich diese Fragen ein ums andere Mal.
Zoes Mutter kehrte nicht zu ihr zurück.
Ein Jahr später
Jemand war schon da.
Aaron Falk verspürte einen leisen Anflug ungerechtfertigter Wut, als er neben dem anderen Auto hielt. Fast verschluckt vom Buschland beidseits der Straße, war die Abzweigung noch schlechter auszumachen gewesen, als Falk es in Erinnerung gehabt hatte. Tatsächlich war sie so gut versteckt, dass Falk leichtfertig angenommen hatte, das, was am anderen Ende des Weges auf ihn wartete, würde heute ihm allein gehören. Falsch gedacht, wie er nun erkannte, während er den Motor ausschaltete und einen Seufzer unterdrückte.
Im Jahr zuvor war er allerdings auch nicht allein dort gewesen. Damals hatte Greg Raco auf dem Beifahrersitz gesessen, und Falk war den Anweisungen seines Freundes gefolgt, als sie sich dem Ende ihrer achtstündigen Fahrt näherten. Raco hatte das Navi schon ignoriert, seit sie die Grenze von Victoria nach Südaustralien hinter sich gelassen hatten. Seine gute Laune war ansteckend gewesen, und sie hatten sich die Zeit vertrieben, indem sie Neuigkeiten ausgetauscht und sich abwechselnd um die Musikauswahl gekümmert hatten. Racos neugeborener Sohn sollte an diesem Wochenende in derselben Kirche getauft werden, wo Jahrzehnte zuvor auch Raco und seine Brüder getauft worden waren. Seine Frau und die beiden Kinder hatten die Reise schon früher angetreten und warteten auf ihn, aber Racos Polizeidienst hatte ihn aufgehalten. Es war offensichtlich, dass er sich riesig darauf freute, sie wiederzusehen, weswegen Falk ein wenig überrascht war, als Raco sich unvermittelt vorbeugte, etwas auf der leeren Straße ins Visier nahm und auf eine Baumgruppe deutete. »Siehst du die Lücke vor uns? Dort abbiegen.«
Sie waren immer noch dreißig Minuten von der Stadt entfernt, und Falk konnte nichts erkennen. Dieser Abschnitt Buschland sah genauso aus wie jeder andere. »Wo denn?«
»Da, Kumpel, genau da!«
Falk hatte die Abzweigung trotzdem verpasst und musste auf der Straße mehrere Meter zurücksetzen, bevor er den einspurigen Weg fand. Er hatte den unbefestigten Untergrund begutachtet und zweifelnd an die Federung seines Sedan gedacht.
»Wohin fahren wir?«
»Kleiner Abstecher.« Raco hatte gegrinst. »Vertrau mir, es lohnt sich.«
Er hatte recht gehabt. Es war den Halt absolut wert gewesen, damals wie heute.
Dieses Jahr, ohne Racos Hinweise, war Falk so langsam gefahren, dass er fast im Schritttempo unterwegs war, und dennoch hatte er es geschafft, die Abzweigung zu verpassen. Erst im letzten Moment hatte er sie im Rückspiegel entdeckt, hatte weiter zurückgesetzt, als es selbst auf dieser einsamen Landstraße ratsam war, und war dann den schmalen Weg entlanggeholpert, der aussah, als würde er geradewegs ins Nichts führen. Am anderen Ende befanden sich eine kleine Lichtung – und ein weiterer Wagen.
Falk blieb noch einen Moment lang im Auto sitzen und starrte nach vorn, wo sich das dichte Buschland teilte. Der Himmel war eine helle Kuppel, die in lebhaftem Frühlingsblau erstrahlte. Darunter wucherte ein undurchdringlicher Flickenteppich aus verschiedenen Grüntönen, ganz typisch für das Marralee Valley. Im Jahr zuvor hatte es Falk hier auch deshalb besonders gefallen, weil Racos Abstecher zur Lichtung so unerwartet kam. Jetzt, im Licht des Spätnachmittags, war sie sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.
Falk stieg aus und streckte sich. Die Bewegung ließ den Besitzer des anderen Fahrzeugs zusammenzucken, doch der Mann drehte sich nicht um. Er stand in angemessenem Abstand vor einer hölzernen Sicherheitsabsperrung. Zu seinen Füßen befand sich Marralee Valley, aber er starrte darüber hinweg in die Ferne und seine Arme waren auf eine Weise verschränkt, die vermuten ließ, dass seine Gedanken ganz woanders waren. Eine bunte Schnabeltasse baumelte an seinem Zeigefinger und hinter ihm saß ein robustes Kleinkind an einem hölzernen Picknicktisch und drosch mit einer Schachtel Rosinen auf dessen Oberfläche ein. Als Falk seine Wagentür zuschlug, rieb der Mann sich mit einer Hand die Augen, wandte sich um und gab dem Kind die Tasse.
Es war der Ehemann.
Falk erkannte ihn sofort wieder, gefolgt von der blitzartigen Erkenntnis, dass es sich bei dem kleinen Mädchen, das sich nun eine Handvoll getrockneter Früchte in den Mund stopfte, um Zoe Gillespie handeln musste, die in seiner Vorstellung bis zu diesem Moment immer noch ein sechs Wochen altes Baby gewesen war.
Der Mann nickte Falk zu, und als seine Tochter den letzten Bissen verputzt hatte, nahm er sie auf den Arm und trug sie zum Wagen. Er schien zu spüren, dass er erkannt worden war, und seine Körpersprache lud nicht zu Fragen oder Gesprächen ein. Falk fand das durchaus verständlich. Der arme Kerl hatte seinerzeit sicher viele Fragen beantworten müssen. Ehemänner mussten das immer.
»Sie sind wegen der Taufe in Marralee, oder?«, sagte der Mann wie aus dem Nichts. Er war zwischen den beiden Wagen stehen geblieben und sah erleichtert aus, als wäre ihm etwas klar geworden. »Der von Racos Sohn?
»Ja, genau.«
Falk wusste, dass Kim Gillespie auf die eine oder andere Weise fünfundzwanzig Jahre lang Teil der Großfamilie der Racos gewesen war. Von dem Herbstnachmittag, als sie im Teenageralter zum ersten Mal mit schwingendem Pferdeschwanz an ihrem Haus vorbeigeradelt war, bis zu der Nacht, in der sie weniger als fünf Kilometer entfernt auf dem hell erleuchteten Festivalgelände verschwand. Die Taufe im letzten Jahr war sofort abgesagt worden, nachdem Kim vermisst gemeldet wurde. Die Racos hatten ganze zwölf Monate gebraucht, um einen neuen Termin anzusetzen.
Falk trat einen Schritt auf Kims Ehemann zu und streckte seine Hand aus. »Aaron Falk.«
»Rohan Gillespie. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Nur kurz.«
Rohan war fast so groß wie Falk, und obwohl er erst zweiundvierzig war, schien es, als wäre er im letzten Jahr ein gutes Stück gealtert.
»Sind Sie auch wegen der Taufe hier?«, fragte Falk.
»Ja. Also, nein, eigentlich wegen des Suchaufrufs.« Rohan sah müde aus, als er seine Tochter in ihren Babysitz hob. »Aber zur Taufe gehen wir auch.«
»Wann findet der Suchaufruf statt?«
»Heute Abend, auf dem Festplatz.«
»Das Festival wird heute eröffnet?«
»Ja.«
»Ein guter Zeitpunkt für den Aufruf.«
»Ich hoffe es.« Rohan ließ die Sicherheitsgurte des Babysitzes einrasten und tätschelte die Beine seiner Tochter. Er wandte sich wieder Falk zu. »Sie kamen mir gleich bekannt vor, als Sie anhielten. Ein Freund von Greg Raco, nicht wahr? Sie standen auf der Zeugenliste?«
»Das ist richtig.«
Rohan legte den Kopf schräg und versuchte sich zu erinnern. »Helfen Sie mir auf die Sprünge. In der Nähe des Eingangs?«
»Beim Riesenrad.«
Rohan kniff die Augen zusammen und schien sich zu besinnen. »Ach ja, ich entsinne mich.«
Falk war erstaunt, dass der Mann sich noch ein Jahr später an ihn erinnerte, wenn auch nur vage. Falk war ein Besucher von auswärts gewesen, einer von hunderten, aber dennoch eine Befragung wert. Wahrscheinlich hatte Rohan persönlich die Polizei auf Falks Anwesenheit aufmerksam gemacht – Da war noch so ein Kerl, groß, um die Vierzig, kurzes Haar, graublond vielleicht. Freund von Raco, aber allein, hing irgendwie da rum – bei dem Versuch, Stunden nach dem Vorfall jede noch so kleine Information aus seinem Gedächtnis hervorzukramen.
»Sie sind auch bei der Polizei, nicht wahr?« Rohan verstaute die Babytasse neben Zoe, bevor er die Wagentür schloss. »Daher kennen Sie Greg?«
»Ja, aber wir arbeiten nicht zusammen. Ich bin bei der AFP, in der Finanzabteilung. Bundespolizei«, fügte er erklärend hinzu, als Rohan etwas verwirrt dreinschaute. »Raco ist bei der Staatspolizei in Victoria.«
»Ach so, verstehe.« Aus dem Wageninnern ertönte ein leises, ungeduldiges Wehklagen, und Rohan seufzte. »Wie auch immer. Ich sollte besser los. War nett, Sie wiederzusehen. Übernachten Sie bei den Racos?«
»Ja.«
»Dann sehe ich Sie wahrscheinlich beim Suchaufruf. Sie werden alle dabei sein.«
»Da haben Sie sicher recht. Ich hoffe, es kommt etwas dabei heraus.«
»Danke.« Die Antwort kam automatisch, und Falk spürte, wie angespannt sein Gegenüber war. Es musste aufreibend sein, die Hoffnung so lange am Leben zu halten. Wie erfolgreich konnte ein Suchaufruf zwölf Monate nach dem Verschwinden einer Person schon sein? Ein guter Ausgang war jedenfalls nicht zu erwarten.
Falk sah zu, wie Rohan zurücksetzte und davonfuhr, bevor er an die Absperrung trat. Mit beiden Händen auf dem Geländer erlaubte er es sich, einen Moment zu entspannen und den Anblick zu genießen. Wolkenfetzen zogen über den Himmel und warfen zarte Schatten auf die Gebäude zu seinen Füßen. Aus dieser Höhe wirkte die Stadt klein, ihre Umgebung üppig und voller Leben. Lange Reihen von Weinstöcken zogen mit ihrer menschengemachten Perfektion den Blick auf sich. Weit in der Ferne konnte er den weitaus weniger perfekten, zerklüfteten Durchbruch ausmachen, durch den der Murray River sich seinen Weg bahnte.
Rohan hatte ausgesehen wie ein Mann, der schlecht schläft. Nicht erstaunlich, wenn man die Umstände bedachte, dazu die Elternpflichten für ein Kleinkind. Aber er fragte sich, was genau Rohan nachts wachhielt.
Wahrscheinlich waren es mehrere Dinge. Die Aussage des Jungen vom Erste-Hilfe-Posten beispielsweise. Was der Junge gesehen haben wollte oder, wichtiger noch, was er nicht gesehen hatte. Einige der angeblichen Sichtungen von Rohans Frau. Die Betrunkene an der Bar vielleicht, das aufgeschnappte Weinen aus den Toiletten. Glaubwürdig oder nicht, war das die Art von Dingen, die einem im Kopf herumspukten.
Falk rieb sich über die Stirn und gönnte seinen Augen einen letzten Blick auf die herrliche Aussicht, bevor er sich abwandte. Er stieg in den Wagen und studierte die Wegbeschreibung für den letzten Teil seiner Reise.
Als Falk auf der Lichtung vorsichtig zurücksetzte, überlegte er, dass Rohan Gillespie in schlaflosen Nächten wahrscheinlich am meisten über die Entscheidungen nachdachte, die er selbst an diesem Abend getroffen hatte. Über die kurze Zeitspanne, in der seine Bewegungen nicht nachprüfbar waren. Falk versuchte sich zu erinnern, wie lang die Spanne gewesen war. Acht Minuten? Sieben? Nicht viel Zeit, aber genug, um dem Ehemann einer vermissten Frau Kopfschmerzen zu bereiten.
Außerdem die Entscheidung, das Festival zu verlassen. Dieser Moment, als er Frau und Kind zum Abschied gewunken und sich allein in Richtung Stadt aufgemacht hatte. Die Stunden, die zu diesem Moment geführt hatten. Die Tage und Monate, die zu diesem Abend geführt hatten. Dinge, die man gar nicht bewusst wahrnahm. Die kleinen Entscheidungen, die schlussendlich etwas so viel Größeres ergaben.
Falk lenkte seinen Wagen den schmalen Weg entlang, tauchte zwischen den Bäumen auf und bog auf der Straße Richtung Westen ab. Er gab Gas.
Das sind Entscheidungen, die einem nachhängen, dachte er und wandte den Kopf, als er eine provisorische Werbetafel passierte, deren Farben sich bunt gegen das grüne Buschland abhoben. Nur noch dreißig Minuten bis zum jährlichen Marralee Valley Food and Wine Festival!, verkündete sie.
Die kleinen Dinge, die man hätte anders machen können. Das war der Stoff, aus dem Alpträume gemacht waren.
Das Déjà-vu, das ihn die ganze Reise über begleitet hatte, entfaltete sich vollends, als Falk die lange unbefestigte Einfahrt hinauffuhr und vor einem Cottage aus Naturstein zum Stehen kam.
Die Stadt Marralee schien sich nicht groß verändert zu haben, und er hatte auf der Fahrt zum Cottage Ausschau nach den örtlichen Sehenswürdigkeiten gehalten, auf die Raco ihn vor einem Jahr hingewiesen hatte. Der Pub, in den Raco und seine Brüder einkehrten, seit sie alt genug waren zu trinken, die Parkbank, auf der sie getrunken hatten, als sie es noch nicht waren. Eine Reihe von Geschäften, deutlich nobler als in Racos Jugend, mit ihren bemalten, historischen Markisen, handgemachten Seifen und Biogemüse in den Auslagen. Die baumgesäumte Straße, die zur Schule führte. Das Cricketfeld. Die Abzweigung zum Festplatz.
Selbst im Schneckentempo einer Besichtigungstour hatten Falk und Raco letztes Jahr nur wenige Minuten gebraucht, um einmal durch die Stadt und wieder hinauszufahren. Kaum lag die Hauptstraße hinter ihnen und um sie herum wieder Buschland, als Raco auf die unbefestigte Einfahrt mit einem bemalten Schild am Zaun gezeigt hatte.
Penvale Vineyard. Weinprobe nur mit Voranmeldung.
Am anderen Ende der Einfahrt hatten sie den Pfeil ignoriert, der Besucher zum Büro führte, waren stattdessen zur Vorderseite des Cottage gefahren und hatten vor der Haustür von Racos Bruder geparkt.
Ein Jahr später nun stand Falk vor derselben Haustür und klopfte. Er hatte stets gefunden, ein Trauma müsse eigentlich die Umwelt genauso zeichnen wie die Menschen, aber das geschah eher selten. Kam vermutlich darauf an, um was für ein Trauma es sich handelte. Hier jedenfalls sah alles gut aus. Mehr als gut. Die Weinberge leuchteten in der Nachmittagssonne mit derselben Intensität wie vor zwölf Monaten. Das Schild »Herzlich Willkommen« war neu gemalt worden, und sorgfältig kultivierte Reihen von Rebstöcken erstreckten sich in gefälliger Symmetrie. Die Weinblätter schimmerten frisch und grün und erweckten durch eine Brise fast den Eindruck, sie würden im Licht dieses Frühlingstages leise atmen.
Im Inneren des Hauses hörte Falk eiliges Fußgetrappel, gefolgt von schwereren Schritten. Die Tür öffnete sich, und da stand Raco, ein kleines Mädchen zu seinen Füßen und ein einjähriger Junge auf seinem Arm.
»Da bist du ja. Willkommen!« Raco grinste. Da er keine Hand frei hatte, begnügte er sich mit einem Kopfnicken. »Komm rein, mein Freund. Rita ist draußen hinter dem Haus. Pass auf, wo du hintrittst«, fügte er hinzu, als seine fünfjährige Tochter Eva, die förmlich an ihm klebte, sich zwischen seinen Beinen verfing. Über Racos Schulter hinweg wurde Falk von dem einjährigen Jungen mit einem glasigen, vorwurfsvollen Blick bedacht.
Die Kinder sahen älter aus, als Falk erwartet hatte, aber das war immer so. Rita hatte ihm zwar Fotos gemailt, aber das letzte Mal, dass er sie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, war gut sechs Monate her, als sie Eva nach Melbourne gebracht hatten, um ein Musical zu sehen.
Falk kam nicht umhin, festzustellen, dass auch Raco dieser Tage älter aussah. Sein dunkles lockiges Haar war jetzt graumeliert und sein jungenhaftes Gesicht zeigte Falten, die früher schlicht nicht vorhanden gewesen waren. Er war jünger als Falk, nicht einmal Vierzig, aber nach dem letzten Jahr hatte Falk zum ersten Mal das Gefühl, dass er anfing, seinem Alter entsprechend auszusehen.
»Bier? Wasser?«, rief Raco über den Kopf seines Sohnes hinweg, als Falk ihm den Flur entlang folgte. »Und es gibt natürlich literweise Wein.«
»Ein Bier wäre toll, danke.«
»Kein Problem.« Raco kickte vorsichtig ein Spielzeug aus dem Weg. Es mochte das Haus seines Bruders sein, aber Raco fühlte sich hier offenbar vollkommen zu Hause.
In mancher Hinsicht hatte sich Raco in den fünf Jahren, die Falk ihn kannte, kaum verändert. Er lächelte immer noch viel und gerne, und er hatte eine Art mit Menschen zu sprechen, die ihnen das Gefühl gab, dass er nicht nur genau verstand, was sie sagen wollten, sondern sich auch wirklich dafür interessierte. Aber er hatte diese ungestüme Rauheit abgelegt, die ihn bei ihrer ersten Begegnung ausgezeichnet hatte, in einer Scheune, die einem von Falks Freunden gehört hatte. Es war damals höllisch heiß gewesen, und das Anwesen trug noch die blutigen Spuren des Todes.
Raco legte jetzt das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Mannes an den Tag, der dem Schlimmsten ins Auge geblickt und sich behauptet hatte. Er hatte sich auf seine Rolle als Sergeant einer kleinen Landgemeinde eingelassen und wurde von den Einheimischen in Kiewarra gemocht und respektiert. Als ehemaliger Einwohner von Kiewarra fand Falk, dass diese Leistung nicht hoch genug einzuschätzen war.
»Er ist hier«, rief Raco in den Flur, der zu einer hellen Küche und weiter auf eine erhöhte Veranda mit spektakulärem Blick auf die Weinberge führte. Eine kleine Frau in einem gemusterten Kleid lehnte mit der Hüfte an einem hölzernen Pfosten. Ihr dunkles Haar glänzte in der Sonne. Die Aussicht beachtete sie nicht, stattdessen studierte sie mit zusammengezogenen Brauen das gedruckte Flugblatt in ihrer Hand. Als Falk hinaustrat, legte sie das Blatt auf einen Tisch und sicherte es mit einem Wasserglas.
»Aaron.« Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie auf ihn zukam und sanft seinen Arm berührte. Rita Raco blickte ihm einen Moment lang in die Augen, bevor sie ihn umarmte. »Wie schön, dich zu sehen.«
Ihre Worte kamen von Herzen, das wusste er, und er spürte eine Welle der Zuneigung für sie beide. Das war die Sache mit Rita und Raco: Ihre Freundschaft war so tief und bedingungslos, wie Falk es noch nie zuvor erlebt hatte.
»Wie lange haben sie dich uns überlassen?«, fragte Rita, während sie Henry nahm und ihn mit einer Banane in der Hand in seinen Hochstuhl setzte.
»Eine Woche.« Falk hatte um zwei gebeten, sich aber ein klares Nein abgeholt. Beim derzeitigen Arbeitspensum hatte er auch nichts anderes erwartet. »Wenn das in Ordnung ist?«
»Natürlich.« Rita lächelte und drückte seine Hände, ohne hinzuzufügen: Kannst du wirklich nicht länger bleiben? Falk mochte sie dafür umso mehr. Das war die andere Sache mit den Racos: Sie gaben ihm nie das Gefühl, dass das, was er geben konnte, zu wenig war.
»Danke, dass du den langen Weg auf dich genommen hast.« Raco verschwand in der Küche und tauchte kurz darauf mit drei Flaschen Bier in der Hand wieder auf. »Zum zweiten Mal.« Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich ein wenig, als er Falk und Rita je eine Flasche reichte.
»Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen.«
Falk war aufrichtig erstaunt und gerührt gewesen, als Rita und Raco eines Abends vor der Geburt ihres Sohnes nach Melbourne gekommen waren, um ihn zum Essen auszuführen. Er hatte ein Restaurant vorgeschlagen, von dem er wusste, dass sie es mögen würden, und nachdem sie bestellt hatten, hatte das Paar ihn gefragt, ob er Patenonkel des Babys werden wolle. Außerdem würden sie ihren Sohn gerne Henry Aaron Raco nennen, wenn er einverstanden wäre.
»Wirklich? Ihr wollt nicht jemanden aus der Familie fragen oder …«
»Nein, Aaron. Wir wollen dich«, war Racos schlichte Antwort. »Also, was meinst du?«
»Ja, gerne. Ich danke euch«, hatte Falk automatisch geantwortet. »Was muss ich tun?«
»Nicht viel. Ein guter Einfluss sein.«
»Wir wollten jemanden, dem wir vertrauen«, hatte Rita lächelnd gesagt. »Und wer wäre da besser als du?«
Später, als Raco zur Toilette gegangen war, hatte Rita ihr Glas mit dem Dessert ausgekratzt und es dann beiseitegeschoben.
»Weißt du, seine Eltern und Großeltern waren ziemlich religiös.« Sie beugte sich vor. »Er mag etwas weniger gläubig sein, aber man wird das nie ganz los. Sitzt tief, verstehst du? Vielleicht spielt er diese Sache mit dem Paten ein wenig runter, aber in Wahrheit bedeutet es ihm viel.«
»Ich weiß, Rita. Und ich fühle mich geehrt. Ehrlich. Ich habe das nicht erwartet.«
Rita hatte Falk ein wenig traurig angeschaut. »Wirklich nicht? Auch nicht nach allem, was wir schon miteinander durchgemacht haben?«
»Es ist nur, weil ihr so viele Verwandte habt …«
»Das stimmt. Aber wir wollten dich.« Sie hatte seine Hand genommen und auf ihren Bauch gelegt. »Es läuft nicht so ab wie im Film, fürchte ich. Und noch eine Warnung: Es steht dir mehr Kirchenkram bevor, als ich persönlich angenehm finde.«
»Ist notiert, aber ich bin trotzdem dabei.« Unter seiner Handfläche konnte Aaron spüren, wie der zukünftige Henry Aaron Raco sich regte, und er empfand einen plötzlichen Beschützerinstinkt. »Danke, Rita. Ich werde mein Bestes geben.«
»Das wissen wir.«
Habe ich wirklich mein Bestes gegeben?, fragte er sich jetzt, als der dreizehn Monate alte Henry ihn mit unverhohlenem Misstrauen betrachtete. Er hatte die besten Absichten gehabt. Er war letztes Jahr zur Taufe ins Marralee Valley gekommen mit dem Vorsatz, seinen Teil beizutragen, aber dann war nichts nach Plan gelaufen. Als er wieder zurück in Melbourne war, wuchs ihm die Arbeit über den Kopf. Manchmal hatte er das Gefühl, sich kaum umgedreht zu haben, und schon waren Monate vergangen, in denen er sich nicht bei den Racos gemeldet hatte.
Nun denn, dachte er und lächelte Baby Henry an. Ab jetzt wird es anders.
Henry zwinkerte, dann verdrehte er seine dunklen Augen, als geniere er sich für Falk.
»Einfach ignorieren.« Raco lachte und setzte dem Kind einen Sonnenhut auf. »Nimm dir einen Stuhl.«
Falk zog den Stuhl neben Rita zu sich heran, während ihre Tochter Eva sich an den Tisch lehnte und mit einer glitzernden Haarklammer spielte. Eva war groß für eine Fünfjährige. Sie hatte die lockigen Haare ihrer Mutter, aber die Augen ihres Vaters. Ein wenig überfordert von seiner Anwesenheit, warf sie Falk immer wieder verstohlene Blicke zu. Ihre Eltern hatten einmal erwähnt, dass er es war, von dem sie die Puppe bekommen hatte, die in den letzten fünf Jahren ihre ständige Begleiterin gewesen war. Dies, zusammen mit der Tatsache, dass sie ihn nur selten persönlich sah, machte ihn zu so etwas wie dem Weihnachtsmann.
»Vorsicht auf dem Tisch, Schatz«, sagte Rita, als Eva sich nach vorn beugte, um Falk ihre zweite glitzernde Haarklammer hinüberzuschieben und dabei fast Ritas Wasserglas umwarf.
»Vielen Dank, Eva.« Falk nahm die Klammer entgegen und brachte das Glas in Sicherheit. Darunter lag das Flugblatt, das Rita betrachtet hatte. Kim Gillespies Gesicht lächelte Falk vom Papier herauf an.
Das Foto war bei Sonnenschein aufgenommen worden, der sich in ihrem brünetten Haar fing. Sie hatte weiche Gesichtszüge, die sie ein wenig jünger als ihre neununddreißig wirken ließen, und sie sah glücklich aus. Falk fragte sich, wann es aufgenommen worden war.
»Er ist schon eine Weile da draußen«, murmelte Rita unvermittelt, und als Falk aufblickte, sah er gerade noch Racos zustimmendes Nicken.
Rita und Raco fixierten beide die Reihen von Rebstöcken, die sich unter ihnen erstreckten. Im ersten Moment sah Falk nichts, doch als er ihren Blicken folgte, konnte auch er die Gestalt eines Mannes erkennen, der die Reihen entlangging. Er war allein und bewegte sich nur langsam voran. Unvermittelt blieb er stehen, als hätte etwas seine Aufmerksamkeit erregt. Dann ging er weiter.
»Wie geht es deinem Bruder?«, fragte Falk, und Raco und Rita wechselten einen Blick.
»Charlie?« Raco rieb sich das Kinn. »Ja, nicht schlecht. Wenn man die Umstände bedenkt.«
Falk nickte. Wenn es jemanden gab, der noch mehr Fragen auf sich zog als der Mann einer vermissten Person, dann war es ihr ehemaliger Partner, wie freundschaftlich die Trennung auch immer gewesen sein mochte.
Charlie Raco und Kim Gillespie hatten eine siebzehnjährige Tochter. Sie hatten sich mehrfach getrennt und wieder versöhnt. Angefangen hatte ihre Beziehung im Teenageralter, war zwei Jahrzehnte lang ein einziges Auf und Ab gewesen und vor gut sechs Jahren in die Brüche gegangen. Man hatte sich auf gemeinsames Sorgerecht und die Aufteilung der Vermögenswerte geeinigt, ohne dass es nötig gewesen wäre, einen Anwalt einzuschalten. Falk wusste das, weil jeder hier es wusste. Die Einzelheiten ihrer Beziehung waren im letzten Jahr ausgiebig durchleuchtet worden.
Falk wandte sich erneut den Rebstöcken zu, aber nun lagen sie wieder verlassen da. Er konnte nicht sehen, wohin Charlie Raco gegangen war. Stattdessen streckte er eine Hand aus und zog das Flugblatt unter Ritas Glas hervor.
»Zara hat sie machen lassen«, sagte Rita.
Falk nickte. Zara war die siebzehnjährige Tochter. Er überflog den Text. Alle wichtigen Informationen waren vorhanden. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. »Und was ist für heute Abend geplant?«
»Aus Anlass des Jahrestages hat das Festival eingewilligt, eine Schweigeminute einzulegen«, sagte Raco. »Anschließend gibt es einen Aufruf von der Hauptbühne.«
»Wozu genau wird denn aufgerufen?« Die Frage kam unverblümter heraus, als Falk beabsichtigt hatte. Er setzte neu an: »Ich meine, gibt es Zweifel? Ich dachte, nachdem sie den Schuh gefunden haben, war es ziemlich …«
»Keine Zweifel«, warf Rita schnell ein. »Aber Fragen, nehme ich an. Über Kims Gemütszustand an diesem Abend.« Sie warf einen Blick in Richtung Haus und Falk vermutete, dass Kims ältere Tochter sich irgendwo dort drinnen aufhielt. »Aber wir versuchen, Zaras Erwartungen niedrig zu halten.«
»Sie kämpft?«, fragte Falk.
Als die kleine Eva bei diesen Worten interessiert aufblickte, schenkte Rita ihr schnell ein beruhigendes Lächeln, bis sie sich auf der Suche nach noch mehr Geschenken für Falk entfernte. Dann erst sprach sie weiter.
»Ehrlich gesagt ist es nicht nur Zara, die Antworten braucht. Wir alle würden gerne mehr wissen. Ich meine, ich muss immer noch oft daran denken«, sagte sie, und Raco nickte zustimmend. »Was Kim sich dabei gedacht haben muss, ihr eigenes Baby zu verlassen.«
Falk las die Bildunterschrift unter dem Foto der Vermissten. Kim Gillespie, 39. Zuletzt gesehen am Eröffnungsabend des Marralee Valley Food and Wine Festivals. Braunes Haar, braune Augen, mittelgroß, 168 cm. Trug eine dunkelgraue Jacke, weißes oder cremefarbenes T-Shirt, schwarze Jeans oder Leggins, weiße Turnschuhe. Falk war Kim nie vorgestellt worden und hatte sie, soweit er wusste, vor ihrem Verschwinden nur zwei Mal gesehen – einmal auf dem Display eines Handys und einmal aus der Ferne.
»Ich nehme an, dass die Einheimischen inzwischen alles ausgesagt haben, was sie wissen, aber am Eröffnungsabend kommen überwiegend Touristen.« Raco trank einen großen Schluck Bier. »Es werden heute Abend wahrscheinlich um die tausend sein. Viele Familien kommen jedes Jahr. Vielleicht werden auf diese Weise einige Erinnerungen wachgerüttelt.« Er runzelte wieder die Stirn. »Ob es uns gefällt oder nicht.«
Falk nickte. Im Lauf der Jahre hatte er es mit allen Arten von Zeugenaussagen zu tun gehabt, und zu den am wenigsten hilfreichen – schlimmer als verweigerte Aussagen, schlimmer noch als glatte Lügen – gehörten die von wohlmeinenden Augenzeugen, die glaubten, etwas mitbekommen zu haben. Es geschah selten aus böser Absicht, die meisten wollten einfach nur helfen. Falk verübelte es ihnen nicht, es gab da einfach etwas in der menschlichen Natur, das Leute dazu trieb, Leerstellen füllen zu wollen. Doch was sie gesehen hatten, und was sie glaubten, gesehen zu haben, war nicht unbedingt ein und dasselbe.
Falk ließ seinen Blick wieder über die Rebstöcke schweifen und dachte an seine eigene Aussage im letzten Jahr. Der hiesige Polizist war jung gewesen und seine Fragen manchmal nicht offen und neutral genug. Er hätte es besser wissen sollen, und wenn sie in der gleichen Befehlskette gestanden hätten, wäre es von Falk auch angesprochen worden.
Wie wirkte Kim auf ihn?
Falk konnte dazu nichts sagen. Nicht ansatzweise.
Vermutlich hätte er sich aus diesen Minuten an gar nichts erinnern können, wenn Kim nicht verschwunden wäre, aber so war das Leben. Unbedeutende Details wurden mit einem Mal bedeutsam. Er hatte versucht, nur das zu erwähnen, woran er sich mit Sicherheit erinnern konnte.
Die Zeit. Es war zwanzig Uhr gewesen, und er wusste das, weil das Kinderfeuerwerk begonnen hatte. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und er erinnerte sich, dass ihm die Lichter und die Musik plötzlich heller und lauter vorgekommen waren, wie stets in der Dunkelheit.
Es war voll gewesen. Überall Trubel, er aber war allein. Er hatte den Festplatz vom östlichen Ende bis zum Haupteingang am westlichen Ende überquert. Er war vom Hauptbüro des Festivals zum Stand des Penvale Weinguts zurückgekehrt, wo Raco und Rita auf ihn warteten. Er hatte sich durch die Familien geschlängelt, die ihre Kinderwagen und Fahrräder in der Bucht neben dem Riesenrad abstellten oder abholten, und ging gerade am Riesenrad selbst vorbei, als er unvermittelt seine Schritte verlangsamte und stehen blieb.
Der junge Polizist hätte ihn nach dem Grund fragen sollen, hatte es aber unterlassen. Also hatte er geschwiegen. Es war für die Geschehnisse des Abends sowieso nicht von Belang.
Und da haben Sie Kim Gillespie gesehen?, fragte der Polizist stattdessen.
Nein. Eine schrille Rückkopplung aus den Lautsprechern des Riesenrades hatte Falks Aufmerksamkeit erregt, und er hatte, immer noch abgelenkt, auf das Fahrgeschäft geblickt. Ein Mann in seiner Nähe war wegen des Geräuschs ebenfalls zusammengezuckt und ihre Blicke hatten sich kurz getroffen, vereint in einvernehmlicher Irritation. Damals hatte Falk den Mann nicht wirklich gekannt, konnte aber später bezeugen, dass es sich um Rohan Gillespie handelte. Rohan hatte mit einem Paar gesprochen, das ein müde aussehendes Kleinkind dabeihatte. Die Familie war später ausfindig gemacht und als Touristen aus Queensland identifiziert worden.
Über ihren Köpfen hatte das Riesenrad wieder begonnen, gemächlich seine Runden zu drehen. Die Gondeln waren geschlossen und so konstruiert, dass ganze Familien oder Freundesgruppen darin Platz fanden. Vielleicht sollten so auch Stürze vermieden werden, sinnierte Falk später, unbeabsichtigte oder beabsichtigte Stürze.
Das alles hatte nicht lange gedauert, und zu diesem Zeitpunkt – Falk hatte sich bei diesem Teil seiner Aussage vorgebeugt, um sicherzugehen, dass der junge Polizist ihn richtig verstand – verlor er bereits das Interesse daran, was sich am Riesenrad abspielte. Falks Blick war zu etwas anderem gewandert, gleich nachdem er und Rohan den Blickkontakt abgebrochen hatten. Rohan hatte sich umgedreht, um etwas zu den Touristen zu sagen, und auf eine dunkelhaarige Frau mit Baby ganz oben im Riesenrad gewiesen. Die Bewegung hatte ausgereicht, um erneut Falks Aufmerksamkeit zu erregen, und, angetrieben eher von einem animalischen Überlebensinstinkt als von echter Neugierde, hatte auch er nach oben geblickt. Er hatte mehr gespürt als gesehen, dass Rohan zu der Gondel hinaufwinkte. Zuerst gab es keine Reaktion, dann sah man eine kleine Bewegung am Fenster der obersten Gondel. Falk war schon dabei gewesen, sich abzuwenden, als sie zurückgewinkt hatte.
Jetzt, ein Jahr später, saß Falk auf der Veranda von Racos Bruder, vor sich auf dem Tisch ein Bild von Kim.
Zuletzt gesehen am Eröffnungsabend …
Der zeitliche Ablauf vieler Ereignisse an diesem Abend war umstritten, aber zumindest das Kinderfeuerwerk ließ sich exakt verorten. Falks Aussage war eine von mehreren, die genutzt wurde, um Rohans Bewegungsradius nachzuvollziehen, Angaben, die sämtlich bestätigt wurden, von dem Moment an, als er Frau und Tochter auf dem Riesenrad zum Abschied zugewinkt hatte, bis zu dem Moment zweieinhalb Stunden später, als sein Handy mit der Nachricht vibrierte, dass sein Kind allein im Kinderwagen entdeckt worden war.
Wie lange Kim geblieben war, nachdem ihr Mann den Festplatz verlassen hatte, war immer noch nicht geklärt. Genauso wenig wie die Frage, was im Verlauf dieser zweieinhalb Stunden geschehen war.
Vielleicht hatte sie sich verirrt. Vielleicht war sie die Frau, die sich vor dem Bierzelt den zunehmend feuchtfröhlichen Festivitäten einer Gruppe von Menschen, die sich nie gemeldet hatte, angeschlossen hatte. Die Stimmung wurde dort jedenfalls so ausgelassen, dass der Barmann sich genötigt sah, ihr nichts mehr zu trinken zu geben.
Vielleicht war sie aber auch zu einer der Buden gegangen, um ihr Glück zu versuchen und ein blaues Spielzeugkänguru zu gewinnen, ähnlich dem, dass später in einer Mülltonne gefunden wurde. Oder sie war diejenige, die auf dem Platz mit dem Mann mit der modischen Beaniemütze geplaudert hatte. Oder sie hatte in den Toiletten geweint oder sich in das offene Fenster eines weißen oder grauen Wagens auf dem Parkplatz gelehnt. Vielleicht hatte sie aber auch nichts von alldem getan. Vielleicht hatte sie den Kinderwagen abgestellt, sich von dem schlafenden Baby abgewandt und war allein zum Stausee gegangen.
»Hoffentlich kommt heute Abend wenigstens irgendetwas Hilfreiches dabei heraus«, sagte Rita jetzt, während sie Kims Gesicht auf dem Flugblatt betrachtete.
Falk nickte. Wenn er Rita und Raco doch nur etwas mehr von diesem Moment am Riesenrad erzählen könnte. Es würde keine Antworten liefern, aber er hätte ihnen und ihrer Familie gerne etwas Neues erzählt, egal wie unbedeutend. Aber er konnte es nicht. Das meiste von dem, an das Falk sich erinnerte, wenn er sich die Szene vor seinem geistigen Auge ausmalte, war höchstwahrscheinlich nachträglich hinzugefügt, das wusste er. Erinnerungen waren flüchtig und anfällig für Irrtümer und Ausschmückungen. Wie oft er auch an diesen Abend zurückdachte, wie viele Details er auch immer heraufbeschwören konnte und wie kristallklar sie scheinen mochten, es änderte nichts daran, wie es wirklich gewesen war. Und in Wirklichkeit hatte er kaum aufgesehen.
Raco führte Falk über das Gelände zum kleinen Gästehaus des Weinguts. Es war noch genau so, wie er es vom letzten Jahr in Erinnerung hatte. Ein sauberes, mit Schindeln verkleidetes, weiß gestrichenes Studio, das nicht weit vom Haupthaus lag, komplett mit eigenem Badezimmer und kleiner Küchenausstattung, dazu als Bonus ein Postkartenblick auf die Weinberge.
»Rita droht manchmal damit, hier einzuziehen«, grinste Raco, als er die Tür aufschloss und Falk den Schlüssel in die Hand drückte. »Aber die verdammten Blagen finden dich immer.«
Das Bett war frisch bezogen, und ein kleiner Kühlschrank enthielt Erfrischungsgetränke. Auf einem Regal über dem Nachttisch stapelten sich ein paar Taschenbücher. Falk stellte seine Tasche ab und spürte das unbändige Verlangen, sich ein großes Glas kaltes Wasser einzuschenken, auf der Veranda in einen der Gartensessel zu plumpsen und die Stille zu genießen, während die Abendsonne schwer wurde und versank. Raco lehnte im Türrahmen, und aus seinen leicht hängenden Schultern schloss Falk, dass es seinem alten Freund genauso ging. Stattdessen wusch sich Falk nur die Hände, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, und dann machten sie sich zusammen auf den Rückweg zum Haus.
Racos Bruder Charlie war in der Küche und plauderte mit Rita, während sie den Tisch für ein frühes Abendessen deckten. Er grinste, als Falk eintrat.
»Willkommen zurück«, sagte er und beugte sich über die Tischplatte, um Falk die Hand zu schütteln. »Schön, dich zu sehen.«
Charlie, der mittlere von drei Jungs, war in jeder Hinsicht Racos großer Bruder. Er war größer und stämmiger als Raco, und seine Gesichtszüge, in denen eine eindeutige Familienähnlichkeit zu erkennen war, fielen dennoch etwas grober und handfester aus. Beide Brüder teilten jedoch das unbeschwerte Lächeln, und obwohl Charlie Falk erst einmal begegnet war, besaß er offenkundig die Gabe aller Racos, stets außerordentlich erfreut zu scheinen, wenn Falk auftauchte.
Charlie wirkte etwas mitgenommener, als Falk ihn vom letzten Jahr in Erinnerung hatte. Unter der Küchenlampe sah man, dass er nachlässig rasiert war, und das leicht spannende T-Shirt mit dem Logo des Weinguts unter seinem Karohemd ließ vermuten, dass er ein wenig zugenommen hatte.
»Wir dachten, wir sollten lieber früh essen.« Charlie beugte sich vor, um nach dem Auflauf im Ofen zu sehen. »Ich weiß nicht, ob wir später noch Gelegenheit dazu haben werden.« Er richtete sich auf und schaute in eine Richtung, von der Falk annahm, dass sich dort die Schlafzimmer befanden.
»Möchtest du, dass ich Zara hole?«, fragte Rita, die seinem Blick gefolgt war.
»Ist schon gut.« Charlie öffnete eine Schublade und legte eine Handvoll Besteck auf den Tisch. »Ich mache das.«
Er verschwand im Flur, und Falk hörte, wie er an eine Tür klopfte, gefolgt von einem gedämpften Gespräch. Es klang entspannt, und wenige Minuten später erschien Charlie mit einer stillen Teenagerin im Schlepptau.
Zara war auffallend schön. Sie sah mehr wie eine feminine Version von Charlie und Raco aus als wie ihre Mutter, vor allem ihre Augen – die waren eindeutig. Falk war sicher, dass, wäre er ihr einfach so auf der Straße begegnet, er sie sofort als eine Raco erkannt hätte.
»Erinnerst du dich an unseren Freund Aaron?«, fragte Raco und schnallte seinen Sohn im Hochstuhl fest.
»Oh, ja«, sagte Zara höflich, sah von ihrem Handy auf und schnappte sich einen Küchenstuhl. »Hallo.«
Sie nahm Platz, blickte aber nicht sofort wieder auf ihr Handy, sondern studierte Falks Gesicht. Sie hatte geweint und versuchte nicht, es zu verbergen. Ihr prüfender Blick hatte etwas Vertrautes, aber leicht Befremdliches für Falk. Er hätte nicht sagen können, woran das lag, bis ihm klar wurde, dass man ihn heute schon einmal so gemustert hatte. Es war dieselbe Art und Weise, auf die Rohan Gillespie ihn angesehen hatte, als sie am Aussichtspunkt neben ihren Fahrzeugen standen. Kein Misstrauen, aber vielleicht ein entfernter Cousin davon. Eine Art beflissenes, sehr spezielles Interesse, das Hinterbliebene gegenüber jedem an den Tag legten, der vielleicht etwas Neues beitragen konnte. Weißt du etwas?
»Willst du für heute Abend noch ein wenig üben?«, fragte Charlie seine Tochter. »Deine Rede vor uns proben?«
Zaras Augen ließen von Falk ab. »Nein, ist schon gut.«
Charlie sah aus, als wolle er widersprechen, er hielt sich aber zurück. Stattdessen nickte er und reichte ihr einen Teller.
Schon vor Kims Verschwinden hatte Zara mit ihrem Vater auf dem Weingut gewohnt. Hier in Marralee Valley waren ihre Schule und ihre Freunde, hatte man Falk letztes Jahr erklärt, aber er wäre überrascht, wenn die Dynamik einer neuen Beziehung und das Baby bei der Entscheidung keine Rolle gespielt hätten.
Charlie und Kim hatten nie geheiratet, auch nicht, als sie mit Anfang zwanzig Zara bekamen. Wenn er Charlie nun so betrachtete, fragte Falk sich, ob die zwei Jahrzehnte, die er und Kim auf die eine oder andere Art miteinander verbracht hatten, so stattgefunden hätten, wäre da nicht die gemeinsame Tochter gewesen. Falk kannte ihn nicht gut genug, um darüber Vermutungen anzustellen.
Wie dem auch sei, Kim, Charlie und Zara hatten hier auf dem Weingut zusammengelebt, bis Zara elf war, aber laut Raco schritt die Zerrüttung der Beziehung langsam, aber stetig voran, bis beide einvernehmlich entschieden, dass es besser wäre, sich für immer zu trennen. Kim hatte in Adelaide einen Job gefunden und drei Jahre später Rohan geheiratet. Zara war die Braujungfer gewesen, und Charlie hatte nicht nur teilgenommen, sondern auch als Hochzeitsgeschenk den Wein für den Empfang geliefert.
Nun saßen Vater und Tochter mit bekümmerten Mienen hier am Küchentisch, während sie mit ihren Gabeln im Essen stocherten.
An Falks erstem Abend vor einem Jahr war es kaum möglich gewesen, an diesem Tisch sein eigenes Wort zu verstehen. Ein Lautsprecher auf dem Küchentresen hatte laute Musik abgespielt, und Falk erinnerte sich daran, dass Rita neben ihm saß, das Handy eingeklemmt zwischen Schulter und Kinn, und versuchte, mit jemandem zu sprechen, während sie den frisch geborenen Henry stillte und sich mit ihrer freien Hand Oliven in den Mund steckte. Charlie war um den Tisch gelaufen und hatte Gläser aufgefüllt, während er versuchte, Raco gegen ihren älteren Bruder Ben aufzustacheln, der als Detective Sergeant oben in Brisbane arbeitete.
»… und versucht dann natürlich so zu tun, als wäre er beleidigt wegen dieser Unterstellung, so von wegen: ›Ich bin Beamter, ich würde niemals ohne entsprechende Zulassung mit einem Anhänger fahren.‹ Und ich – «
»Schwachsinn!« Raco hatte gelacht und sich ein Stück Brot aus der Schüssel neben den Nudeln geschnappt. »Das Ding ist zugelassen, verdammt nochmal, er hat sich nämlich vor ein paar Monaten über den Aufwand beschwert. Warum er also vorgibt …«
»Eben! Ich sag also, pass mal auf, Kumpel, Greg weiß, dass er zugelassen ist. Ich meine, vielleicht willst du deinen Anhänger nicht verleihen, aber gib nicht vor, dass du keinen hast …«
Wie sich Falk erinnerte, hatte Charlie ihr Geplänkel unvermittelt abgebrochen, als Zara in die Küche kam. Damals hatte ihr Gesicht noch ganz anders ausgesehen, ihre Miene unbeschwert und weich. Sie hatte ein kleines Lächeln im Gesicht, während sie eine Nachricht auf ihrem Handy las.
»Hey«, hatte Charlie durch den Raum gerufen. »Was hat deine Mutter wegen heute Abend gesagt? Habt ihr eine Zeit ausgemacht?«
Zara hatte überrascht aufgesehen. »Keine Ahnung. Ich dachte, du rufst sie an.«
»Was? Warum …?«
»Das habe ich dir doch gesagt. Sie hat sich nicht gemeldet. Und du hast ›Okay‹ gesagt.«
Charlie kniff die Augen zusammen. »Weil ich davon ausging, dass du es noch mal versuchst.«
»Oh, und ich dachte, du machst das.«
»Nein.« Charlie griff bereits nach seinem Telefon. »Du solltest dich darum kümmern, wie du verdammt nochmal sehr genau weißt.«
»Ich habe es versucht. Sie ist nicht drangegangen. Ich schreibe ihr – «
»Ja, naja, das wird dann wohl reichen müssen.«
Rita hatte inzwischen ihr Telefonat beendet und tätschelte Henry den Rücken. Seine Augen waren vor Wohlbehagen geschlossen und sein winziger milchtrunkener Kopf lag auf ihrer Schulter, während sie nach einer weiteren Olive griff. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Eine Spur Frustration hatte sich in Charlies Stimme geschlichen. »Es ist nur Kim. Sie hat Zara gestern Abend eine SMS geschrieben. Will heute Abend vorbeikommen, um ihr Geburtstagsgeschenk abzugeben, aber es wird niemand hier sein.«
Zara hatte ein wenig verschämt dreingeschaut. »Ich habe es versucht, okay? Seit sie das Baby hat, antwortet sie kaum.«
Charlie hatte sie ignoriert und Kims Nummer gewählt. Sie waren alle verstummt, und Falk hatte das entfernte Tuten am anderen Ende der Leitung gehört. Irgendwann hörte es auf.
»Siehst du?«, sagte Zara triumphierend. »Sie geht nie ran.«
Charlie ignorierte sie und versuchte es ein zweites Mal. Wieder lauschten alle eine gefühlte Ewigkeit dem Ton in der Leitung. Kurz bevor er wieder abbrach, setzte eine kurze Stille ein. Dann hörte man ein Knistern. Das Bild einer Frau erschien auf dem Bildschirm.
»Kim, hallo.« Charlie hatte fast ein wenig überrascht geklungen. Er hatte sein Telefon gegen eine Weinflasche gelehnt. »Wie geht es dir?«
»Hallo, Charlie.« Kim Gillespies Stimme wurde sofort sanfter, als ihre Tochter vor der Kamera auftauchte. »Hallo, Zara, meine Süße.«
Es war das erste und einzige Mal, dass Falk Kim hatte sprechen hören. Die Verbindung war gut, aber die Telefonleitung hatte ihrer Stimme dennoch eine flache Färbung gegeben.
»Wo bist du?« Charlie hatte die Hand ausgestreckt, um das Handy besser auszurichten, und Falk konnte sie zum ersten Mal richtig sehen. Kims Gesichtszüge waren durch die nach oben gekippte Kamera ein wenig verzerrt, aber er sah ihr dunkles Haar. »Immer noch unterwegs?«
»Ja. Wir sind … äh … gerade in der Nähe der Ostbrücke«, hatte Kim gesagt, und Falk hatte den besagten Straßenabschnitt vor Augen gehabt, etwa vierzig Minuten von der Stadt entfernt. »Hör zu, Charlie, was gibt’s? Es passt gerade schlecht. Zoe schläft auf der Rückbank.«
Falk hatte mitbekommen, wie bei der Erwähnung ihrer neuen Schwester etwas über Zaras Miene huschte. Der Gesichtsausdruck verflüchtigte sich schnell wieder, wenn auch nicht ganz. Kim schien es nicht bemerkt zu haben. Stattdessen drehte sie sich um und lauschte jemandem außerhalb des Bildschirms.
»Ist das Rohan?« Charlie hatte sich geräuspert. »Herzlichen Glückwunsch zum Nachwuchs, Mann.«
Das Bild wurde kurz unscharf, als Kim das Telefon zum Fahrersitz schwenkte, wo Rohan eine Hand zum Gruß hob.
»Danke, Kumpel.« Seine Stimme klang freundlich, aber reserviert. »Sorry, wir sollten leise reden, falls das geht.«
»Charlie?« Kim war kurz angebunden, als sie wieder ins Telefon sprach. »Wir reden später, okay? Ich sehe Zara und dich ja sowieso gleich.«
»Warte, Kim. Darum geht es eigentlich, um euer Eintreffen heute Abend.« Charlie hatte sich vorgebeugt. »Wir werden nicht da sein, tut mir leid.«
Eine Pause war eingetreten, in der nur das Brummen des Motors zu hören war.
»Ist das heute Abend?«, fragte Rohan.
»Ja. Erinner…?« Der Ton war plötzlich abgebrochen, als hätte Kim eine Hand auf das Mikro gelegt. Eine weitere Pause und ein undeutlicher Dialog. »… hingehen, während du im Restaurant bist.«
Auf der anderen Seite des Tisches war Rita aufgestanden und hatte Falk das Baby gereicht.
»Kannst du ihn nehmen, solange ich auf der Toilette bin?«
»Ja, klar.« Henry lag schon in seinem Arm, während er noch antwortete. Er setzte sich aufrechter hin und legte eine stützende Hand unter den kleinen, unruhigen Kopf, weil er sich daran erinnerte, dass man das so machte. Er drückte das Baby an seine Brust und spürte an seinem Hals das rhythmische Ein- und Ausatmen. Es war eine ungewohnte Empfindung, aber sehr angenehm, mit diesem frischen Geruch und dem kleinen, kompakten Gesicht an seiner Schulter.
Als er sich wieder auf das Telefongespräch konzentrierte, schien es an Fahrt zugelegt zu haben. Zara sprach jetzt schnell.
»… und ich habe ihnen schon gesagt, dass ich sie treffen würde. Das ist doch okay, oder?«
Keine Antwort vom anderen Ende. Die Augen auf den Bildschirm geheftet, rieb Charlie sich das Kinn.
»Ich meine …« Zara hatte ihrem Vater einen Blick zugeworfen. »Dad muss sich sowieso um den Stand auf dem Festival kümmern.«
Charlie hatte genickt. »Ja, du weißt, wie es ist. Der übliche Ansturm am ersten Abend.«
»Also ist keiner von euch beiden zu Hause?«, hatte Kim nach längerem Schweigen gefragt. »Ihr seid beide auf dem Festival?«
»Ja.« Charlie hatte genickt. »Tut mir leid.«
»Was ist mit Rita und Greg?«
»Wir sind alle dort.«
»Verstehe.« Kim schien kurz überlegt zu haben. »Okay – «
»Okay?« Zara hatte gelächelt. »Toll, danke, Mum.«
Falk konnte Kims Gesicht nicht sehen, aber es war selbst für ihn nicht zu überhören, dass sie sich das anders vorgestellt hatte. Aber Zara hatte ihre Chance gesehen und sie ergriffen. Für einen kurzen Moment setzte wieder allgemeines Schweigen ein.
»Charlie.« Da war ein neuer Unterton in Kims Stimme, als sie erneut das Wort ergriff. Falk wusste nicht, wie sie sich normalerweise anhörte, aber wenn er hätte raten müssen, wäre sie ihm nun leicht verärgert vorgekommen. »Zara und du, könnt ihr nicht auf mich warten?
Charlie schüttelte schon den Kopf. »Pass auf, Kim, es geht wirklich nicht. Tut mir leid, aber wir finden einen anderen Tag. Ich muss den Stand betreuen, und Zara ist siebzehn. Sie will mit ihren Freunden abhängen, du erinnerst dich doch …«
»Ja, natürlich erinnere ich mich, ich …« Der Ton brach abrupt ab, und der Bildschirm wurde schwarz. Falk dachte kurz, Kim hätte Kamera und Mikro mit ihrer Hand abgedeckt, aber als die Sekunden verrannen und sich nichts mehr tat, fragte er sich, ob die Verbindung einem Funkloch zum Opfer gefallen war.
Auch Charlie hatte unsicher gewirkt. »Bist du noch da?«
Stille in der Leitung, bis Rohans Stimme ertönte, lauter diesmal.
»Hallo? Könnt ihr uns jetzt hören?« Er merkte offenbar, dass er durchkam, und senkte die Stimme wieder. »Sorry, Leute. Ist alles ein bisschen schwierig mit Zoe hier. Also lasst es uns doch so machen, dass Zara heute ausgeht. Wir wünschen dir viel Spaß, Zara, und wir überlegen uns etwas für ein andermal.«
»Toll. Okay.« Zara wollte das Telefonat anscheinend möglichst schnell beenden, bevor Kim und Rohan es sich anders überlegten.
»Ich – « begann Kim im selben Moment, in dem Charlie seufzte und sich vorbeugte.
»Pass auf«, hatte er gesagt. »Warum kommt ihr stattdessen nicht beim Festival vorbei? Wir sind die ganze Zeit dort.«
»Nein, Dad, ich treffe doch …«, hatte Zara geflüstert, und Charlie hatte ihr ein Zeichen gegeben, still zu sein.
»Also …« Kim hatte gezögert, dann aber wohl eine Entscheidung getroffen. »Gut, in Ordnung. Wir kommen zum Festival.«
»Ich treffe mich heute Abend mit meinen Eltern.« Rohan klang wenig begeistert. »Vater musste wegen ein paar Untersuchungen ins Krankenhaus. Aber ich denke … Ja, wir könnten vielleicht vorbeischauen.«
»In Ordnung.« Charlies Antwort war ein klein wenig verzögert gekommen, fast, als hätte er nicht mit ihrem Einverständnis gerechnet. Doch als Falk hinüberschaute, sah er, dass Charlie schon wieder lächelte. »Gut, wir treffen euch dann dort.«
»Okay«, sagte Kim auf eine Weise, dass Falk sich fragte – sogar damals schon – ob sie ihre Einwilligung nicht schon bereute. »Bis dann.«
»Toll. Tschüss, Mum.« Zara hatte beim Aufstehen ihren Stuhl nach hinten geschoben, den Zeigefinger schon ausgestreckt. »Hab dich lieb.«
»Auf Wiedersehen, Zara. Ich habe dich sehr lie…«
Zara hatte auf den Bildschirm getippt und das Gespräch beendet.
Sie konnte damals unmöglich wissen, was geschehen würde, dachte Falk jetzt, während er zwölf Monate später das Mädchen vor sich anblickte. Es stand ein Schmerz in ihren Augen, der vor einem Jahr noch nicht dort gewesen war, und Zara war in Gedanken weit weg, während sie durch das Fenster auf die Weinreben starrte.
Falk hätte wetten können, dass sie dieses Gespräch im Geiste häufig noch einmal durchlebte. Das Ende davon, zumindest. Wie sie sich vorbeugte, um den Bildschirm zu berühren. Wie ihr Zeigefinger auf das Display tippte, die Berührung von Haut auf Glas, als sie die letzten Worte ihrer Mutter, die an sie gerichtet waren, abschnitt. Falk hoffte, dass er unrecht hatte, aber er bezweifelte es. Zara sah so aus, als verfolge sie dieser Moment bis in den Schlaf.
Als sie zu Abend gegessen und die Kartons mit den Flugblättern in Charlies Land Rover verstaut hatten, stand die Sonne schon tief über den Weinbergen. Rita und die Kinder – Henry schon in ein Badetuch gehüllt –, kamen zur Haustür, um gute Nacht zu sagen. Raco küsste sie und nahm neben Zara auf der Rückbank Platz, während Charlie den Motor anließ.
Vom Beifahrersitz aus beobachtete Falk, wie Rita ihnen hinterherwinkte. Ihr Lächeln verschwand nicht, aber er nahm sehr wohl den Hauch von Anspannung darin wahr. Er wusste nicht genau, ob sie erleichtert war oder es bedauerte, dass sie nicht mitfahren konnte.
Charlie war schweigsam während der Fahrt. Im Kofferraum rutschten die Kartons mit den Flugblättern hin und her und verursachten ein dumpfes Geräusch, als er aus der Einfahrt in die Straße bog. Im letzten Jahr waren sie dieselbe Strecke gefahren, damals hatte es geklirrt, weil sie Kisten mit Charlies Shiraz-Wein geladen hatten.
»In den meisten Jahren mache ich ein paar Flaschen«, hatte er Falk beim Einladen der Kisten erzählt. »Einfach nur, um zu sehen, wie er so wird.«
»Also ist es kein wichtiger Bestandteil eures Geschäfts?«, hatte Falk gefragt und Charlie musste lachen.
»Nicht mal ein kleiner Teil. Ein paar Kellereien hier in der Gegend kaufen so ziemlich alles von der Rebe weg, aber nur zu meinem Vergnügen halte ich ein wenig zurück, fülle es ab und verkaufe es auf Festivals und Bauernmärkten. Oder verschenke ein paar Flaschen an Freunde, ob sie es mögen oder nicht.«
»Verstehe.« Falk hatte in eine der Kisten gegriffen, eine Flasche herausgezogen und auf dem Etikett das Logo des Weingutes studiert. Er hatte versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, so etwas von Anfang bis Ende herzustellen, von der Traube bis zur Flasche. »Ist er lecker?«
»Allerdings.« Charlie hatte gegrinst. »Wenn ich das so sagen darf.«
Falk hatte die Flasche zurückgestellt. »Du wolltest nie in die Fußstapfen deiner Familie treten?«
»Nein, Mann. Das wollte ich nicht.« Charlie hatte den Kopf so entschieden geschüttelt, dass Falk lächeln musste. Die Racos waren eine Polizistenfamilie, und die drei Brüder hatten während ihrer gesamten Jugend ihren Vater vor Augen, der ihrer Gemeinde lange Zeit als Sergeant gedient hatte. Nachdem er den Ort mit fester Hand tadellos in Ordnung gehalten hatte, war er vor fünfzehn Jahren in Pension gegangen und mit ihrer Mutter weggezogen, um ein wenig die Sonne in Queensland zu genießen. Wie Falk wusste, war er dann vor ein paar Jahren gestorben, aber zwei seiner drei Söhne waren mit einer Karriere bei der Polizei in seine Fußstapfen getreten.
»Hat mich nie gereizt«, hatte Charlie gesagt. »Man muss schon ein bestimmter Typ sein, glaube ich. Nichts für ungut.«
Falk hatte gelacht. »Schon in Ordnung.«
»Ich bin allerdings ein bisschen beleidigt«, hatte Raco gelassen verkündet, während er eine Kiste geraderückte.
»Ich weiß. Das bist du deswegen, weil du genau dieser Typ bist«, gab Charlie grinsend zurück, und schlug den Kofferraumdeckel zu.
Dieses Jahr scherzte auf der Fahrt zum Festival niemand, und es wurde kaum ein Wort gewechselt. Auf Marralees engen Straßen herrschte schon reger Touristenverkehr, und sie kamen nur langsam voran. Endlich sahen sie den Festplatz. Er lag nur wenige Kilometer vom Weingut entfernt, wie Falk sich vom letzten Jahr erinnerte. Nahe genug, um zu laufen, hätten sie nicht die vielen Flugblätter dabei, aber niemand beschwerte sich. Sie fuhren gerade auf den Parkplatz, als Zara unvermittelt das Schweigen brach.
»Glaubt ihr, dass es etwas bringt?«
Raco rutschte ein wenig auf seinem Sitz herum. »Der Suchaufruf?«
»Ja.«
Falk betrachtete Zara im Seitenspiegel. Sie ließ die Augen über die anderen Autos gleiten und beobachtete aufmerksam deren Insassen. Er wusste nicht, was sie sich davon erhoffte.
»Ich glaube, das kommt darauf an, was du mit ›etwas bringen‹ meinst«, sagte Raco. »Wird es ein paar Erinnerungen wachrufen und uns möglicherweise helfen, die Zeitabläufe genauer festzulegen? Ja, hoffentlich. Wirst du erfahren, was genau deine Mutter an diesem Abend getan hat? Wohl eher nicht. Tut mir leid, ich wünschte …«
»Nein, ich weiß, ist schon okay.« Zara wirkte gefasst, aber ihre Augen waren weiterhin ruhelos, zogen von einem Auto zum nächsten.
Als sie sich dem Festplatz näherten, sah Falk, dass sich hier kaum etwas verändert hatte. Er konnte irgendwo in der Ferne eine Band spielen hören, deren schwache Klänge sich mit dem vertrauten gleichmäßigen Gebrabbel von hunderten von Menschen mischten. Parkwächter mit Sonnenbrillen auf der Nase und in Signaljacken ordneten die Autos zu einer einzigen Schlange und dirigierten sie auf ein noch offenes Feld.
Letztes Jahr war es Charlie gewesen, der sie entdeckt hatte.
»Hey«, hatte er gerufen, als er mit dem Wagen langsam vorwärts rollte. »Sieht so aus, als hätte es deine Mutter geschafft.«
»Wo?« Zara hatte von ihrem Handy aufgeblickt, als Charlie auf einen weißen Minivan zu ihrer Linken deutete. Ein Mann – Rohan Gillespie, wie Falk seinerzeit richtig vermutet hatte – stand neben dem Kofferraum und versuchte, einen Kinderwagen aufzuklappen.
»Oh, gut.« Zarahs Augen kehrten schon wieder zu ihrem Handy zurück.
Charlie hatte kurz gehupt, und Rohan schaute vom Kinderwagen hoch. Charlie hatte auf die Bremse getreten, aber ein wartendes Auto hinter ihnen und der Parkplatzordner hatten ihn zum Weiterfahren gedrängt.
»Ist ja gut, bin schon weg«, hatte Charlie gemurmelt und Gas gegeben. Im Rückspiegel hatte er zu seiner Tochter geschaut, ein kleines Stirnrunzeln hinter der Sonnenbrille. »Sorg dafür, dass du deine Mutter auf dem Festplatz erwischst, ja?«