Ins Dunkel - Jane Harper - E-Book
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Ins Dunkel E-Book

Jane Harper

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Beschreibung

«Eine sorgfältige Spannungsdramaturgie. Nicht ist so, wie es zu beginn scheint." (Spiegel) Grausamer als die Natur ist nur der Mensch. Fünf Frauen unternehmen eine Wanderung durch den australischen Busch, organisiert von ihrer Firma, ausgerüstet nur mit Kompass und Landkarte.  Tage später kommen nur vier von ihnen zurück. Aaron Falk, Ermittler der australischen Polizei, muss die vermisste Alice Russell unbedingt finden. Sie ist seine Informantin bei einem Unternehmen, das unter dem Verdacht der Geldwäsche steht. Alice kennt nicht nur die Machenschaften der Firma, sondern auch die dunklen Geheimnisse ihrer Kolleginnen, mit denen sie unterwegs war. Die Wildnis ist unerbittlich, lange wird Alice hier nicht überleben. Doch die wahre Gefahr droht von ganz anderer Seite … «Eindringlich, faszinierend und absolut empfehlenswert. Harper ist begnadet darin, Angst und Unbehagen zu erzeugen, und sie zeichnet ein fesselndes Bild einer furchterregenden australischen Landschaft.» (The Times)

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Jane Harper

Ins Dunkel

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Über dieses Buch

Grausamer als die Natur ist nur der Mensch.

 

Fünf Frauen unternehmen eine Wanderung durch den australischen Busch, organisiert von ihrer Firma, ausgerüstet nur mit Kompass und Landkarte.

Tage später kommen nur vier von ihnen zurück.

Aaron Falk, Ermittler der australischen Polizei, muss die vermisste Alice Russell unbedingt finden. Sie ist seine Informantin bei einem Unternehmen, das unter dem Verdacht der Geldwäsche steht. Alice kennt nicht nur die Machenschaften der Firma, sondern auch die dunklen Geheimnisse ihrer Kolleginnen, mit denen sie unterwegs war. Die Wildnis ist unerbittlich, lange wird Alice hier nicht überleben. Doch die wahre Gefahr droht von ganz anderer Seite …

 

«Eindringlich, faszinierend und absolut empfehlenswert. Harper ist begnadet darin, Angst und Unbehagen zu erzeugen, und sie zeichnet ein fesselndes Bild einer furchterregenden australischen Landschaft.» (The Times)

Vita

Jane Harper ist Journalistin beim Herald Sun. Sie lebt in Melbourne. Ihr Debüt «Hitze» wurde von der Presse hochgelobt, wurde von der Sunday Times zum wichtigsten Thriller des Jahres gekürt und war ein internationaler Bestseller. Jane Harper wurde dafür mit dem CWA Gold Dagger, dem wichtigsten britischen Krimipreis, ausgezeichnet. Hollywoodstar Reese Whitherspoon sicherte sich die Filmrechte. «Ins Dunkel» ist ihr zweiter Roman.

Für Pete und Charlotte, in Liebe

Prolog

Später waren sich die vier Frauen nur in zwei Dingen einig. Erstens: Niemand hatte gesehen, wie die Wildnis Alice Russell verschluckte. Und zweitens: Alice hatte eine so scharfe Zunge, dass man sich daran schneiden konnte.

 

Die Frauen erschienen nicht rechtzeitig am Treffpunkt.

Die Mitglieder der Männergruppe, die beachtliche fünfunddreißig Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt um 12 Uhr mittags am Ziel waren, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, als sie aus dem Wald auftauchten. Gut gemacht. Der Tourleiter erwartete die fünf in seiner offiziellen roten Fleecejacke. Die Männer warfen ihre Hightech-Schlafsäcke hinten in den Minibus und stiegen mit einem erleichterten Seufzen ein. Im Bus bot man ihnen Snacks und Thermoskannen mit heißem Kaffee an. Die Männer griffen aber nicht zuerst nach dem Essen, sondern nach dem Beutel, in dem ihre Smartphones lagen. Wieder vereint.

Es war kalt draußen. Daran hatte sich nichts geändert. Die bleiche Wintersonne hatte sich in den letzten vier Tagen nur ein einziges Mal richtig gezeigt. Im Van war es wenigstens trocken. Die Männer lehnten sich zurück. Einer von ihnen machte einen Witz darüber, dass Frauen nicht Karten lesen könnten, und alle lachten. Sie tranken Kaffee und warteten darauf, dass ihre Kolleginnen eintrafen. Seit drei Tagen hatten sie sie nicht gesehen, da konnten sie auch noch ein paar Minuten länger warten.

Nach ungefähr einer Stunde wich ihre Zufriedenheit allmählich Verärgerung. Einer nach dem anderen hievten sich die Männer von ihren weichen Sitzen und stapften den Feldweg auf und ab. Sie reckten ihre Handys gen Himmel, als könnte die zusätzliche Armlänge das schlechte Signal einfangen. Sie tippten ungeduldige SMS, die nicht in der Stadt ankommen würden. Komme später. Wurden aufgehalten. Hinter ihnen lagen ein paar anstrengende Tage; warme Duschen und kühle Bierchen warteten auf sie. Und die Arbeit, morgen.

Der Tourleiter ließ den Waldrand nicht aus den Augen. Schließlich griff er nach seinem Funkgerät.

Eine Handvoll Park Ranger traf ein. Sie unterhielten sich entspannt und zogen ihre Warnwesten an. Die holen wir im Handumdrehen da raus. Sie wussten, wo die Leute normalerweise vom Weg abkamen, und es würde noch Stunden hell sein. Wenigstens ein paar. Genug. Es würde nicht lang dauern. Sie verschwanden im Busch. Die Männergruppe verzog sich wieder in den Van.

Die Snacks waren längst aufgegessen, und die letzten Reste Kaffee waren bitter und kalt geworden, als der Suchtrupp zurückkehrte. Die Eukalyptusbäume hoben sich als Silhouetten vor dem dunkelnden Himmel ab. Die Gesichter waren jetzt ernst. Das lockere Geplänkel war zusammen mit dem Licht verschwunden.

Die Männer im Van schwiegen. Bei einer geschäftlichen Krisensitzung hätten sie genau gewusst, was zu tun wäre. Der sinkende Dollarkurs, eine unliebsame Klausel in einem Vertrag, überhaupt kein Problem. Hier draußen gab die Wildnis keine Antworten. Sie hielten ihre leblosen Handys wie kaputte Spielzeuge im Schoß.

Worte wurden in Funkgeräte gemurmelt. Autoscheinwerfer bohrten sich in die dichte Wand aus Bäumen, und Atem bildete Wolken in der kühlen Abendluft. Die Suchtrupps wurden zu einem Briefing zusammengerufen. Die Männer im Van konnten nicht verstehen, was im Einzelnen gesprochen wurde, aber das war auch nicht nötig. Der Ton sagte alles. Nach Einbruch der Dunkelheit war an eine Fortsetzung der Suche nicht zu denken.

Schließlich löste sich der Suchtrupp auf. Ein Warnwestenträger setzte sich ans Steuer des Minibusses. Er würde die Männer zur Park-Lodge fahren. Sie würden über Nacht bleiben müssen, weil niemand für die dreistündige Fahrt nach Melbourne und zurück entbehrt werden konnte. Die Männer waren noch dabei, diese Information zu verdauen, als sie den ersten Schrei hörten.

Schrill und vogelähnlich, ein ungewöhnliches Geräusch in der Dunkelheit, und alle Köpfe fuhren herum, als vier Gestalten auf der Hügelkuppe erschienen. Zwei stützten eine dritte, während die vierte neben ihnen her taumelte. Aus der Entfernung wirkte das Blut auf ihrer Stirn ganz schwarz.

Hilfe!, schrie eine von ihnen. Mehr als eine. Hier sind wir. Wir brauchen Hilfe, sie braucht einen Arzt. Bitte helft uns. Gott sei Dank, wir haben euch gefunden, Gott sei Dank.

Die Ranger waren schon losgerannt. Die Männer keuchten mit etwas Abstand hinter ihnen her, ihre Handys hatten sie auf den Minibus-Sitzen zurückgelassen.

Wir haben uns verlaufen, sagte eine. Eine andere: Wir haben sie verloren.

Es war schwer, sie zu verstehen. Die Frauen schrien, weinten, ihre Stimmen ein wildes Durcheinander.

Ist Alice hier? Hat sie es geschafft? Ist sie in Sicherheit?

In dem Chaos, in der Dunkelheit, war es unmöglich zu sagen, welche der vier sich nach Alice’ Befinden erkundigt hatte.

Hinterher, als alles noch schlimmer wurde, sollte jede behaupten, sie wäre es gewesen.

Kapitel eins

«Krieg jetzt keine Panik.»

Federal Agent Aaron Falk, der bis zu diesem Moment gar nicht die Absicht gehabt hatte, in Panik zu geraten, klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte. Er nahm das Smartphone in seine unversehrte Hand und setzte sich im Bett aufrechter hin.

«Okay.»

«Wie’s aussieht, wird Alice Russell vermisst.» Die Frau am anderen Ende sprach den Namen leise aus.

«Wie vermisst?»

«Ganz offiziell. Diesmal ignoriert sie nicht einfach bloß unsere Anrufe.»

Falk hörte seine Partnerin in den Hörer seufzen. Carmen Cooper klang gestresster, als er sie in den drei Monaten, die sie inzwischen zusammenarbeiteten, erlebt hatte, und das wollte was heißen.

«Sie ist irgendwo im Giralang-Massiv verschwunden», fuhr Carmen fort.

«Giralang?»

«Ja, östlich von hier.»

«Ich weiß, wo das ist», sagte er. «Ich dachte eher an den unseligen Ruf der Bergkette.»

«Du meinst die Martin-Kovac-Sache? Danach hört es sich Gott sei Dank nicht an.»

«Wollen wir hoffen. Ist jetzt doch bestimmt zwanzig Jahre her, oder?»

«Fast fünfundzwanzig, glaube ich.»

Aber manche Geschichten wirkten nach. Falk war noch ein halbes Kind gewesen, als das Giralang-Massiv zum ersten Mal die Abendnachrichten beherrschte. Und dann noch drei weitere Male in den folgenden zwei Jahren. Jedes Mal wurden Bilder von Suchtrupps, die mit an ihren Leinen zerrenden Spürhunden durch die Wildnis stapften, landesweit in die Wohnzimmer übertragen. Die meisten Leichen hatten sie schließlich gefunden.

«Was hat sie denn da draußen gemacht?», fragte er.

«So was wie einen Betriebsausflug.»

«Soll das ein Witz sein?»

«Leider nein», sagte Carmen. «Mach den Fernseher an, es kommt in den Nachrichten. Es wurde eine große Suchaktion angeleiert.»

«Moment.» Falk stieg in Boxershorts aus dem Bett und zog sich ein T-Shirt über. Es war kühl. Er tappte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Der Moderator kommentierte gerade den Tag im Parlament.

«Nichts Wichtiges. Bloß Arbeit. Schlaf weiter», murmelte Carmen in Falks Ohr, und er merkte, dass sie offensichtlich mit jemand anderem sprach. Er hatte sie sich automatisch in ihrem gemeinsamen Büro vorgestellt, hinter ihren Schreibtisch gequetscht, der zwölf Wochen zuvor direkt vor seinen gezwängt worden war. Seitdem arbeiteten sie im wahrsten Sinne des Wortes eng zusammen. Wenn Falk die Beine ausstreckte, stieß er mit den Füßen gegen ihren Stuhl. Falk sah auf die Uhr. Es war nach zehn an einem Sonntagabend. Natürlich war sie zu Hause.

«Siehst du’s?», sagte Carmen zu ihm. Sie flüsterte jetzt aus Rücksicht auf die Person, die bei ihr war. Ihr Verlobter, vermutete Falk.

«Noch nicht.» Falk musste nicht leise sprechen. «Warte.» Ein Liveticker lief unten über den Bildschirm. «Ja, ich seh’s.»

SUCHE NACH VERMISSTER WANDERIN ALICE RUSSELL, 45, AUS MELBOURNE, WIRD BEI TAGESANBRUCH IM GIRALANG-MASSIV FORTGESETZT.

«Eine Wanderin aus Melbourne?», sagte Falk.

«Ich weiß.»

«Seit wann ist Alice –» Er verstummte. Er stellte sich Alice’ Schuhe vor. Hochhackig. Spitz.

«Ich weiß. Sie sagen, sie sei auf einer Art Teambuilding-Übung gewesen. Gehörte zu einer Gruppe, die ein paar Tage durch die Gegend trekken sollte und –»

«Ein paar Tage? Wie lange wird sie denn schon vermisst?»

«Ich weiß nicht genau. Seit letzter Nacht, glaube ich.»

«Sie hat mich angerufen», sagte Falk.

Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. «Wer? Alice?»

«Ja.»

«Wann?»

«Letzte Nacht.» Falk nahm sein Handy vom Ohr und ging die Liste der entgangenen Anrufe durch. Dann sprach er wieder hinein. «Bist du noch da? Heute Morgen ganz früh, um halb fünf. Ich hab’s nicht gehört. Hab erst nach dem Aufwachen gesehen, dass ich eine Nachricht auf der Mailbox hatte.»

Wieder Schweigen. «Was hat sie gesagt?»

«Nichts.»

«Gar nichts?»

«Es war keiner dran. Ich hab gedacht, es wäre ein Versehen gewesen.»

Die Nachrichten blendeten ein Foto von Alice Russell ein, das anscheinend auf einer Party aufgenommen worden war. Ihr blondes Haar war zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt, und sie trug ein silbriges Kleid, das deutlich erkennen ließ, wie viel Zeit sie im Fitnessstudio verbrachte. Sie sah mindestens fünf Jahre jünger aus. Und sie lächelte in die Kamera, wie sie das für Falk und Carmen nie getan hatte.

«Ich hab dann versucht, sie zurückzurufen, so gegen halb sieben», sagte Falk. «Aber sie ist nicht drangegangen.»

Der Fernseher wechselte zu einer Luftaufnahme vom Giralang-Massiv. Berge und Täler erstreckten sich bis zum Horizont, ein welliger grüner Ozean im schwachen Winterlicht.

SUCHE WIRD BEI TAGESANBRUCH FORTGESETZT

Carmen schwieg. Falk konnte sie atmen hören. Diese Berge sahen weitläufig aus. Geradezu riesig. Aus dem Blickwinkel der Kamera wirkte der dicke Teppich aus Baumwipfeln schier undurchdringlich.

«Ich hör mir die Mailbox-Nachricht noch mal genau an und ruf dich dann zurück», sagte er.

«Okay.» Die Verbindung wurde unterbrochen.

Falk setzte sich im bläulich flackernden Licht des Fernsehers auf die Couch. Er hatte die Vorhänge nicht zugezogen, und jenseits des kleinen Balkons konnte er die leuchtende Skyline von Melbourne sehen. Die Signallampe auf der Spitze des Eureka Tower blinkte regelmäßig und rot.

SUCHE WIRD BEI TAGESANBRUCH FORTGESETZT

Er stellte den Fernseher leise und rief seine Mailbox an. Anruf von Alice Russells Handy eingegangen um 4 Uhr 26.

Zuerst hörte Falk gar nichts, und er presste sich das Telefon fester ans Ohr. Dumpfes Rauschen, fünf Sekunden. Zehn. Es schwankte wellenartig, klang wie unter Wasser. Außerdem war da ein gedämpftes Summen, als würde jemand reden. Dann, aus dem Nichts, durchbrach eine Stimme den Geräuschteppich. Falk riss sich das Handy vom Ohr und starrte es an. Die Stimme war so schwach gewesen, dass er sich fragte, ob er sie sich nur eingebildet hatte.

Langsam tippte er auf das Display. Er schloss die Augen in seiner stillen Wohnung und spielte die Nachricht erneut ab. Nichts, nichts, und dann, in der Dunkelheit, eine ferne Stimme, die drei Wörter in sein Ohr sprach.

«… ihr weh tun …»

Kapitel zwei

Es war noch dunkel, als Carmen vor Falks Wohnung hielt. Er wartete schon auf dem Bürgersteig, seinen Rucksack neben sich abgestellt. Die Wanderschuhe waren so lange nicht benutzt worden, dass sie sich steif anfühlten.

«Spiel mir die Nachricht vor», sagte Carmen, sobald er eingestiegen war. Sie hatte den Fahrersitz ganz nach hinten geschoben. Carmen war so groß, dass sie Falk in die Augen sehen konnte, wenn sie einander gegenüberstanden, und das galt für nur wenige der Frauen, denen er im Leben begegnet war.

Falk stellte sein Handy auf Lautsprecher und drückte eine Taste. Rauschen füllte den Wagen. Fünf, zehn Sekunden lang nichts, dann erklangen die zwei Wörter, blechern und dünn. Noch ein paar weitere unklare Sekunden, dann war der Anruf beendet. Carmen runzelte die Stirn. «Noch mal.»

Sie schloss die Augen, und Falk betrachtete sie, während sie lauschte. Mit achtunddreißig war Carmen nur sechs Monate älter als er, aber ihre Wege in der Federal Police hatten sich erst kürzlich gekreuzt. Sie war von Sydney nach Melbourne gezogen, um in der Abteilung für Steuerfahndung zu arbeiten. Falk konnte nicht sagen, ob sie die Entscheidung bereute. Carmen öffnete die Augen. Unter dem orangen Licht der Straßenlampe sahen ihre Haut und die Haare dunkler aus als sonst.

«‹Ihr weh tun›», sagte sie.

«Ja, so klingt es zumindest.»

«Hast du noch was anderes gehört, ganz am Ende?»

Falk stellte die Lautstärke auf Maximum und spielte die Nachricht ein weiteres Mal ab. Er merkte, dass er die Luft anhielt, während er angestrengt lauschte.

«Da», sagte Carmen. «Das klingt doch wie ‹Alice›, oder?»

Sie hörten sich die Aufnahme erneut an, und diesmal nahm Falk die schwache Modulation in dem Hintergrundrauschen wahr, einen kurzen Zischlaut.

«Ich weiß nicht», sagte er. «Könnte auch nur eine atmosphärische Störung sein.»

Carmen startete den Motor. Er dröhnte laut in der frühmorgendlichen Stille. Sie fuhr an und rollte auf die Straße, ehe sie wieder etwas sagte.

«Wie sicher bist du dir, dass es ihre Stimme ist?»

Falk versuchte, sich an den Klang von Alice Russells Stimme zu erinnern. Sie war ziemlich markant, häufig abgehackt, immer resolut. «Es deutet nichts darauf hin, dass es nicht ihre ist. Aber schwer zu sagen, ob sie das ist.»

«Sehr schwer. Ich glaube, ich könnte nicht mal beschwören, dass es eine Frau ist.»

«Stimmt.»

Im Rückspiegel schrumpfte die Melbourner Skyline. Am östlichen Horizont verfärbte sich der Himmel allmählich von Schwarz in Dunkelblau.

«Ich weiß, Alice ist anstrengend», sagte er. «Aber ich hoffe wirklich, wir haben sie nicht in Gefahr gebracht.»

«Ich auch.» Carmens Verlobungsring reflektierte das Licht, als sie die Spur wechselte, um auf den Highway zu fahren. «Was hat der Sergeant von der State Police gesagt? Wie heißt er noch mal?»

«King.»

Falk hatte, gleich nachdem er am Vorabend Alice Russells Mailbox-Nachricht abgehört hatte, die Nummer der zuständigen State Police gewählt. Eine halbe Stunde später hatte der Senior Sergeant, der die Suchaktion leitete, zurückgerufen.

«Tut mir leid.» King hatte erschöpft geklungen. «Ich musste erst zu einem Festnetzapparat. Bei dem Wetter ist der Empfang hier draußen noch mieser als sonst. Wie war das mit der Mailbox-Nachricht?»

Er hatte geduldig zugehört, während Falk redete.

«Okay», sagte King, als er fertig war. «Hören Sie, wir haben die Verbindungsdaten ihres Handys überprüft.»

«Prima.»

«Was sagten Sie, in welchem Verhältnis Sie zu Alice Russell standen?»

«Einem beruflichen», sagte Falk. «Vertraulichen. Sie hat mir und Cooper bei einer Ermittlung geholfen.»

«Und dieser Cooper ist wer?»

«Eine Sie. Carmen Cooper, meine Kollegin.»

Falk hörte das Rascheln von Papier, als King sich den Namen notierte.

«Hatten Sie beide mit einem Anruf von ihr gerechnet?»

Falk zögerte. «Eigentlich nicht.»

«Kennen Sie sich mit Überlebenstechniken im Busch aus?»

Falk blickte nach unten auf seine linke Hand. An den Stellen, wo die Verbrennungen nicht ganz so gut verheilt waren, war die Haut noch rosa und seltsam glatt. «Nein.»

«Ihre Kollegin?»

«Ich glaube nicht.» Falk wurde klar, dass er es nicht wusste.

Eine Pause entstand. «Laut dem Telefonanbieter hat Alice Russell heute in aller Früh versucht, zwei Nummern zu erreichen», sagte King. «Die Notrufnummer, also dreimal die Null, und Sie. Haben Sie dafür irgendeine Erklärung?»

Jetzt war Falk derjenige, der einen Moment überlegte. Er konnte den Sergeant am anderen Ende atmen hören.

Ihr weh tun.

«Ich denke, wir sollten zu Ihnen rauskommen», sagte Falk. «Uns persönlich unterhalten.»

«Ich denke, das wäre eine kluge Maßnahme, Mann. Und bringen Sie Ihr Handy mit.»

Tag 4

Sonntagmorgen

Die Frau sah ihre eigene Angst in den drei Gesichtern gespiegelt, die sie anstarrten. Ihr Herzschlag dröhnte, und sie konnte das keuchende Atmen der anderen hören. Der von Bäumen umrahmte Ausschnitt Himmel über ihnen war mattgrau. Der Wind rüttelte an den Ästen, ließ einen Wasserschauer auf die Gruppe am Boden herabregnen.

«Wir müssen hier weg. Sofort», sagte die Frau.

Das Paar zu ihrer Linken nickte prompt, beide in ihrer Panik ausnahmsweise einer Meinung, die Augen groß und dunkel. Rechts von ihr kurzes Zögern, dann ein drittes Nicken.

«Was ist mit –»

«Was ist womit?»

«Was ist mit Alice?»

Eine entsetzliche Stille. Zu hören war nur das Ächzen und Rascheln der Bäume, die auf die Vierergruppe herabschauten.

«Alice hat sich das selbst eingebrockt.»

Kapitel drei

Als Falk und Carmen nach ein paar Stunden eine Pause einlegten, war es taghell, und die Stadt lag weit hinter ihnen. Sie standen am Straßenrand und reckten sich. Wolken warfen Schatten auf die Weiden. Die Gegend war dünn besiedelt. Ein Pick-up mit landwirtschaftlichem Gerät auf der Ladefläche donnerte vorbei, das einzige Fahrzeug auf den letzten dreißig Kilometern. Der Lärm erschreckte einen Schwarm Rosakakadus, die kreischend von einem nahen Baum aufstiegen.

«Weiter geht’s», sagte Falk. Carmen gab ihm den Autoschlüssel, und er setzte sich ans Steuer ihres zerbeulten weinroten Wagens. Als er den Motor anließ, überkam ihn sofort ein vertrautes Gefühl.

«Ich hatte auch mal so einen Wagen.»

«Warst aber so vernünftig, ihn rechtzeitig abzustoßen?» Carmen streckte die Beine auf der Beifahrerseite aus.

«Nicht freiwillig. Er ist vor einigen Monaten demoliert worden, in dem Ort, wo ich aufgewachsen bin. Ein Willkommen-zu-Hause-Gruß von ein paar Einheimischen.»

Sie sah zu ihm herüber, ein winziges Schmunzeln. «Ach ja. Ich hab davon gehört. ‹Demoliert› ist eine ziemlich harmlose Umschreibung, finde ich.»

Falk strich mit einer gewissen Wehmut über das Lenkrad. Sein neuer Wagen war okay, aber er vermisste den alten.

«Außerdem ist das Jamies Auto», sagte Carmen, als er anfuhr. «Eignet sich für lange Strecken besser als meiner.»

«Ach so. Wie geht’s Jamie?»

«Gut. Wie immer.»

Falk wusste eigentlich nicht, was das hieß. Er hatte Carmens Verlobten nur ein einziges Mal gesehen. Jamie war ein muskulöser Typ in Jeans und T-Shirt, der bei irgendeiner Sportgetränke-Firma im Marketing arbeitete. Er hatte Falk die Hand geschüttelt und ihm eine Flasche mit einer blauen, sprudelnden Flüssigkeit gegeben, die angeblich seine Leistungsfähigkeit steigern würde. Das Lächeln des Mannes wirkte echt, aber es lag auch noch etwas anderes in seinem Blick, als er Falks große, dünne Gestalt musterte, seine blasse Haut, das weißblonde Haar und die verbrannte Hand. Wenn Falk hätte raten müssen, hätte er gesagt, es war so etwas wie Erleichterung.

Falks Handy summte in der Mittelkonsole. Er wandte den Blick kurz von der leeren Straße auf das Display und reichte Carmen das Telefon. «Dieser Sergeant hat was geschickt.»

Carmen öffnete die Mail. «Also, er sagt, an dieser Trekkingtour haben zwei Teams teilgenommen. Eine Männer- und eine Frauengruppe mit jeweils unterschiedlichen Routen. Er schickt uns die Namen der anderen Frauen.»

«Sind beide Teams von BaileyTennants?»

«Sieht ganz so aus.» Carmen holte ihr eigenes Smartphone hervor und öffnete die Website von BaileyTennants. Aus dem Augenwinkel konnte Falk den schwarz-silbernen Firmenschriftzug der kleinen, aber feinen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft auf dem Display sehen.

«Okay. Breanna McKenzie und Bethany McKenzie», las sie laut von seinem Handy ab. «Breanna ist doch Alice’ Assistentin, oder?» Carmen tippte auf ihr eigenes Display. «Ja, da ist sie. Mein Gott, die sieht aus, als könnte sie Reklame für Vitamine machen.»

Sie hielt Falk ihr Handy hin, und er warf einen Blick auf das glänzende Mitarbeiterfoto einer Frau von Mitte zwanzig. Er verstand, was Carmen meinte. Selbst in dem wenig schmeichelhaften Bürolicht besaß Breanna McKenzie die vor Gesundheit strotzende Ausstrahlung einer Frau, die jeden Morgen joggen ging, regelmäßig Yoga praktizierte und ihrem schimmernden schwarzen Pferdeschwanz gewissenhaft jeden Sonntag eine Pflegepackung verpasste.

Carmen tippte wieder aufs Display. «Über die andere finde ich hier nichts. Bethany. Meinst du, die beiden sind Schwestern?»

«Möglich.» Vielleicht sogar Zwillinge, dachte Falk. Breanna und Bethany. Bree und Beth. Er ließ sich die Namen auf der Zunge zergehen. Sie hörten sich an, als würden sie zusammengehören.

«Wir können später noch rausfinden, warum sie dabei war», sagte Carmen. «Die Nächste ist Lauren Shaw.»

«Der Name ist uns doch auch schon mal begegnet, oder?», sagte Falk. «Irgendwas im mittleren Management?»

«Genau, sie ist – ach ja, stimmt, Strategische Leiterin der Unternehmensplanung.» Carmen hielt ihm wieder das Handy hin. «Keine Ahnung, was das heißen soll.»

Was auch immer sie machte, Laurens schmales Gesicht gab nichts preis. Ihr Alter war schwierig zu schätzen, aber Falk vermutete irgendwas zwischen Mitte bis Ende vierzig. Ihr Haar war mittelbraun, ihre hellgrauen Augen blickten direkt in die Kamera, und ihre Miene war so ausdruckslos wie ein Passfoto.

Carmen blickte wieder auf die Liste mit den Namen. «Wow.»

«Was ist?»

«Hier steht, dass Jill Bailey auch dabei war», sagte sie.

«Im Ernst?» Falk blickte weiter geradeaus auf die Straße, doch der besorgte Druck, den er seit letzter Nacht in der Brust spürte, pulsierte und wurde stärker.

Carmen rief Jills Foto gar nicht erst auf. Sie beide kannten die fülligen Gesichtszüge der Vorstandschefin. Ihr fünfzigster Geburtstag stand bevor, und weder teure Kleidung noch Friseurbesuche konnten verhindern, dass man ihr jedes Jahr ansah.

«Jill Bailey», sagte Carmen, während sie die Mail des Sergeant weiter runterscrollte. Plötzlich verharrte ihr Daumen. «Scheiße. Und ihr Bruder war in der Männergruppe.»

«Ganz sicher?»

«Ja. Daniel Bailey, Geschäftsführer. Steht hier schwarz auf weiß.»

«Das gefällt mir überhaupt nicht», sagte er.

«Nee, mir auch nicht.»

Carmen klickte leise mit den Fingernägeln auf ihr Handy, während sie nachdachte. «Also gut. Wir wissen nicht genug, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen», sagte sie schließlich. «Diese Mailbox-Nachricht liefert überhaupt keinen Kontext. Es ist in jeder Hinsicht – realistisch, statistisch – am wahrscheinlichsten, dass Alice Russell sich irgendwie verlaufen hat.»

«Ja, das ist am wahrscheinlichsten», sagte Falk. Er fand, dass sie sich beide wenig überzeugt anhörten.

Sie fuhren weiter, und die Radiosender verklangen im Nichts, während die Landschaft vorbeiflog. Carmen fummelte an dem Knopf herum, bis sie einen knisternden Mittelwellensender fand. Die Nachrichten zur vollen Stunde wurden mal lauter, mal leiser. Die Wanderin aus Melbourne wurde noch immer vermisst. Die Straße schwang in weitem Bogen nach Norden, und plötzlich konnte Falk die Berge des Giralang-Massivs am Horizont sehen.

«Warst du schon mal da?», fragte er, und Carmen schüttelte den Kopf.

«Nein. Du?»

«Nie.» Das stimmte, aber er war in einer Gegend aufgewachsen, die dieser nicht unähnlich war. Eine einsame Landschaft, wo Bäume dick und dicht auf einem Boden wuchsen, der nichts gern hergab.

«Die jüngere Geschichte hier verleidet mir die Gegend irgendwie», sagte Carmen. «Ich weiß, es ist albern, aber …» Sie zuckte die Schultern.

«Was ist eigentlich aus Martin Kovac geworden?», fragte Falk. «Sitzt er immer noch?»

«Keine Ahnung.» Carmen tippte wieder auf ihrem Smartphone. «Nein. Er ist tot. Ist vor drei Jahren im Gefängnis gestorben. Mit zweiundsechzig. Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Er hatte eine Schlägerei mit einem Mitinsassen, ist mit dem Kopf auf den Boden geknallt und nicht wieder aufgewacht. Kann nicht behaupten, dass mir das besonders leidtut.»

Falk ging es ebenso. Die erste Leiche war die einer vierundzwanzigjährigen Lehramtsreferendarin aus Melbourne gewesen, die ein Wochenende in der freien Natur verbringen wollte. Eine Gruppe von Campern hatte sie gefunden, Tage später. Der Reißverschluss ihrer Shorts war aufgerissen worden, der Rucksack mit ihrer Trekking-Ausrüstung fehlte. Sie war barfuß, erwürgt mit ihren eigenen Schnürsenkeln.

Im Laufe der folgenden drei Jahre waren noch zwei weitere Frauenleichen und eine Vermisste nötig gewesen, bis erstmals der Name des Wanderarbeiters Martin Kovac in Zusammenhang mit den Morden gebracht wurde. Doch da war der Schaden schon längst angerichtet. Ein langer und anhaltender Schatten war auf die friedlichen Berge des Giralang-Massivs gefallen, und Falk gehörte zu einer ganzen Generation, die damit aufgewachsen war, jedes Mal zu frösteln, wenn der Name fiel.

«Kovac hat bis zu seinem Tod nicht gestanden, die drei Frauen ermordet zu haben», las Carmen laut von ihrem Handy ab. «Auch nicht die vierte, die Vermisste, die nie gefunden wurde. Sarah Sondenberg. Das war besonders traurig. Sie war erst achtzehn. Erinnerst du dich an die Appelle der Eltern im Fernsehen?»

Und wie er sich erinnerte. Zwei Jahrzehnte später sah er noch immer die Verzweiflung in den Augen der Eltern vor sich.

Carmen versuchte weiterzuscrollen, seufzte dann. «Mist. Nichts geht mehr. Das Netz ist weg.»

Falk war nicht überrascht. Die Bäume auf beiden Seiten der Straße warfen Schatten, die kein Morgenlicht durchließen.

Keiner sagte noch etwas, bis sie vom Highway abfuhren. Carmen faltete die Landkarte auseinander und gab Anweisungen, als die Straße immer schmaler wurde und die Berge dunkel vor der Windschutzscheibe aufragten. Sie kamen an einer kleinen Reihe von Läden vorbei, die Ansichtskarten und Trekking-Zubehör verkauften. An einem Ende war ein kleiner Supermarkt und am anderen eine einsame Tankstelle.

Falk schaute auf die Tankanzeige und setzte den Blinker. Auch Carmen stieg aus, während er tankte. Sie mussten beide gähnen, das frühe Aufstehen forderte seinen Tribut. Hier draußen war es kühler, und die Luft fühlte sich frostig an. Carmen reckte sich ächzend, und er ging hinein, um zu bezahlen.

Der Typ hinter der Theke trug eine Beanie-Mütze und einen Siebentagebart. Er nahm Haltung an, als Falk hereinkam.

«Wollen Sie in den Nationalpark?» Er sprach mit der Hast eines Menschen, der ausgehungert nach Gesprächen ist.

«Ja.»

«Wegen der Vermissten?»

Falk blinzelte. «Allerdings, ja.»

«Wegen der sind schon massenhaft Leute durchgekommen. Die haben Suchtrupps angefordert. Gestern haben bestimmt zwanzig Leute hier getankt. Den ganzen Tag Hochbetrieb. Und heute genauso.» Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Falk sah sich diskret um. Ihr Wagen war der einzige an den Zapfsäulen. Und auch im Tankstellenshop waren keine anderen Kunden.

«Hoffentlich finden sie die bald», redete der Typ weiter. «Ist gar nicht gut, wenn jemand vermisst wird. Und auch nicht gut fürs Geschäft. Schreckt die Leute ab. Ich schätze, da kommen üble Erinnerungen hoch.» Er wurde nicht genauer. Kovacs Name musste nicht erwähnt werden, vermutete Falk, nicht in dieser Gegend.

«Haben Sie heute schon irgendwas Neues gehört?», fragte Falk, doch der Mann schüttelte den Kopf.

«Nee. Ich glaub aber nicht, dass sie schon fündig geworden sind, weil sie noch nicht wieder zurückgekommen sind. Und bei mir stoppen sie in beide Richtungen. Wenn sie kommen und wenn sie wieder wegfahren. Die nächste Tanke ist erst in über fünfzig Kilometern. Richtung Norden ist es sogar noch weiter. Hier tanken sie alle. Nur für alle Fälle, wissen Sie? Wenn sie da oben waren, haben auf einmal alle den Drang, auf Nummer sicher zu gehen.» Er zuckte die Achseln. «Gut für uns, würde ich sagen.»

«Leben Sie schon lange hier draußen?»

«Lange genug.»

Als Falk ihm seine Kreditkarte gab, bemerkte er das kleine rote Lämpchen einer Überwachungskamera hinter der Theke.

«Gibt’s auch Kameras für die Zapfsäulen?», fragte Falk, und der Mann folgte seinem Blick nach draußen. Carmen stand gegen den Wagen gelehnt, die Augen geschlossen und das Gesicht nach oben gewandt.

«Ja, klar.» Er schaute noch einen Moment länger nach draußen als nötig, ehe er den Blick wieder losriss. «Muss sein. Die meiste Zeit bin ich hier alleine. Da will ich nicht riskieren, dass einer einfach abhaut.»

«Ist die Vermisste mit ihrer Gruppe hier gewesen?», sagte Falk.

«Klar. Am Donnerstag. Die Cops haben sich schon eine Kopie von den Aufnahmen geben lassen.»

Falk zückte seinen Ausweis. «Könnte ich auch eine bekommen?»

Der Typ sah sich den Ausweis an, zuckte dann mit den Schultern. «Dauert ’nen Moment.»

Er verschwand nach hinten. Während Falk wartete, blickte er durch die Glastür nach draußen. Jenseits der Straße erhob sich eine grüne Wand. Die Berge verdeckten den Himmel. Plötzlich fühlte er sich wie umzingelt. Er fuhr zusammen, als der Typ zurückkam.

«Die letzten sieben Tage», sagte er und drückte Falk einen USB-Stick in die Hand.

«Guter Mann, danke. Sehr nett von Ihnen.»

«Kein Problem, hoffe, es bringt was. Da draußen sollte man nicht zu lange herumirren. Das Schlimmste ist die Panik. Nach ein paar Tagen sieht allmählich alles gleich aus, und du traust deinen eigenen Augen nicht mehr.» Er schielte nach draußen. «Das macht die Leute verrückt.»

Tag 1

Donnerstagnachmittag

Regentropfen sprenkelten die Windschutzscheibe, als der Van anhielt. Der Fahrer stellte den Motor ab und drehte sich in seinem Sitz um.

«Da wären wir, Leute.»

Neun Köpfe wendeten sich den Fenstern zu.

«Ich steige nur aus, wenn wir nach links gehen, nicht nach rechts», rief eine Männerstimme von der Rückbank, und die anderen lachten.

Linker Hand war eine solide Gäste-Lodge aus Holz, die Schutz gegen die Kälte versprach und gemütlich und warm aussah. Licht drang aus den Fenstern, und dahinter erstreckte sich einladend eine Reihe von Ferienunterkünften.

Rechter Hand war ein matschiger Fußweg zu sehen, der von einem verwitterten Schild markiert wurde. Eukalyptusbäume formten mit ihren verzweigten Wipfeln eine Art Bogengang, und der Pfad mäanderte torkelnd dahin, bis er nach einer jähen Biegung im Wald verschwand.

«Sorry, heute geht’s für Sie alle nach rechts.» Der Fahrer schob die Tür des Minibusses auf, und eisige Luft strömte herein. Nacheinander kamen die Passagiere in Bewegung.

Bree McKenzie kletterte nach draußen, wich in letzter Sekunde einer großen Pfütze aus. Sie drehte sich um, wollte Alice warnen, doch die sprang schon aus dem Wagen und landete blind, da ihr die blonden Haare ins Gesicht wehten, mit einem ihrer teuren Wanderschuhe im Wasser.

«Scheiße.» Alice strich sich die Haare hinter die Ohren und schaute nach unten. «Das fängt ja gut an.»

«Tut mir leid», sagte Bree automatisch. «Ist der Strumpf nass geworden?»

Alice inspizierte ihren Schuh. «Nein. Hab noch mal Glück gehabt, glaub ich.» Kurzes Zögern, dann lächelte sie und ging weiter. Bree atmete erleichtert auf.

Sie fröstelte, zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals zu. Der Duft von feuchten Eukalyptusbäumen hing in der frischen Luft, und als sie sich umschaute, sah sie, dass der Parkplatz praktisch leer war. Nachsaison, dachte sie. Sie ging zum Heck des Vans, wo die Rucksäcke ausgeladen wurden. Sie sahen schwerer aus, als sie sie in Erinnerung hatte.

Lauren Shaw war schon da, ihr großer dünner Körper vorgebeugt, während sie versuchte, ihren Rucksack ganz unten aus dem Berg der anderen zu ziehen.

«Brauchen Sie Hilfe?» Bree kannte Lauren nicht so gut wie einige andere Führungskräfte, aber sie verstand es, sich nützlich zu machen.

«Nein, geht schon.»

«Lassen Sie mich mal.» Bree griff genau in dem Moment nach dem Rucksack, als Lauren ihn freibekam. Es folgte ein ungeschicktes Gezerre, weil sie beide in entgegengesetzte Richtungen zogen.

«Ich hab’s schon. Danke.» Laurens Augen waren genauso kühl und grau wie der Himmel, aber sie lächelte Bree kurz an. «Brauchen Sie Hilfe?»

«Gott, nein.» Bree winkte ab. «Alles klar. Danke.» Sie blickte hoch. Die Wolken schienen dichter zu werden. «Hoffentlich kriegen wir keinen Regen.»

«Der Wetterbericht klingt nicht so gut.»

«Ach so. Na ja, man soll die Hoffnung nie aufgeben.»

«Nein.» Brees Optimismus schien Lauren beinahe zu amüsieren. «Nein. Da haben Sie wohl recht.» Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch da rief Alice ihren Namen. Lauren schaute zu ihr rüber und hievte sich den Rucksack auf die Schultern.

«Entschuldigen Sie mich.»

Sie ging mit knirschenden Schritten über den Kies zu Alice und ließ Bree mit den Rucksäcken allein. Bree zog ihren heraus und bei dem Versuch, ihn zu heben, taumelte sie leicht unter dem Gewicht.

«Man gewöhnt sich dran.»

Bree blickte auf und sah, dass der Fahrer sie angrinste. Er hatte sich vorgestellt, als sie in Melbourne in den Van geklettert waren, aber sie hatte seinen Namen schon wieder vergessen. Jetzt sah sie ihn sich genauer an. Er war jünger, als sie zunächst gedacht hatte, wahrscheinlich in ihrem Alter oder ein paar Jahre älter. Jedenfalls höchstens dreißig, aber mit den knorrigen Händen und Knöcheln eines Bergsteigers. Er war dünn, wirkte aber dennoch stark. Auf der Brust seiner roten Fleecejacke war der Schriftzug Executive Adventures aufgestickt, aber sie sah kein Namensschild. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob er attraktiv war oder nicht.

«Achten Sie darauf, dass er richtig sitzt.» Der Mann nahm ihr den Rucksack ab und half ihr, die Arme durch die Träger zu schieben. «Dann trägt er sich deutlich besser.»

Seine langen Finger stellten die Schlaufen und Gurte ein, bis das Gewicht sich plötzlich nicht wirklich leicht, aber doch angenehmer anfühlte. Bree öffnete den Mund, um ihm zu danken, als der penetrante Geruch von Zigarettenrauch durch die feuchte Luft wehte. Sie drehten sich beide danach um. Bree wusste schon, welcher Anblick sich ihr bieten würde.

Bethany McKenzie stand ein Stück von der Gruppe entfernt, mit hochgezogenen Schultern. Eine Hand schirmte die Zigarette gegen den Wind ab, die andere steckte tief in der Tasche ihrer Jacke. Sie war auf der Fahrt eingeschlafen, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, und als sie aufwachte, hatte sie verlegen ausgesehen.

Der Fahrer räusperte sich. «Sie dürfen hier nicht rauchen.»

Beth stockte mit Rauch in der Lunge. «Wir sind im Freien.»

«Wir sind auf dem Gelände der Lodge. Und das ist eine Nichtraucherzone.»

Beth wirkte einen Moment lang so, als wollte sie aufbegehren, dann sah sie, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, und trat die Zigarette achselzuckend mit der Schuhspitze aus. Sie zog die Jacke enger um sich. Es war eine alte, das wusste Bree, und sie passte nicht mehr ganz.

Der Fahrer wandte sich mit einem verschwörerischen Lächeln wieder Bree zu. «Arbeiten Sie schon lange mit ihr zusammen?»

«Sechs Monate», sagte Bree. «Aber ich kenne sie schon ewig. Sie ist meine Schwester.»

Der Mann blickte verblüfft von Bree zu Beth und wieder zurück, genau wie sie erwartet hatte. «Sie beide?»

Bree neigte leicht den Kopf und strich mit einer Hand durch ihren dunklen Pferdeschwanz.

«Sogar Zwillinge. Eineiig», fügte sie hinzu, weil sie seine Reaktion sehen wollte. Er enttäuschte sie nicht. Ihm klappte der Mund auf, und in dem Moment war in der Ferne ein kräftiges Donnern zu hören. Alle schauten nach oben.

«Sorry.» Der Fahrer grinste. «Ich komm mal lieber in die Gänge, damit Sie losmarschieren können und genug Zeit haben, den Lagerplatz zu erreichen, bevor es dunkel wird. Das Einzige, was schlimmer ist als ein nasses Zelt, ist ein hastig aufgeschlagenes nasses Zelt.»

Er zog den letzten Rucksack aus dem Wagen und wandte sich an Jill Bailey, die Probleme hatte, ihre dicken Arme durch die Schultergurte des Rucksacks zu schieben. Bree trat vor, um ihr zu helfen, und hob den Rucksack leicht an, während Jill sich weiter abmühte.

«Wollen Sie schon los?», sagte der Fahrer zu Jill. «Ich kann Sie Ladys schon mal auf den Weg schicken. Oder wollen Sie lieber warten, bis alle da sind?»

Mit einem letzten Kraftakt bekam Jill den Arm durch den Gurt und atmete laut aus, das Gesicht rot vor Anstrengung. Sie blickte die Zufahrtsstraße hinunter, die leer war. Sie runzelte die Stirn.

«Mit seinem Wagen hätte Daniel vor uns hier sein müssen», sagte einer der Männer, was mit höflichem Lachen quittiert wurde.

Jill setzte ihr dünnes Firmenlächeln auf, sagte aber nichts. Daniel Bailey war zwar ihr Bruder, aber er war immer noch der Geschäftsführer. Bree nahm an, dass er das Recht hatte, zu spät zu kommen.

Bree hatte gesehen, wie Jill zehn Minuten vor der vereinbarten Abfahrt des Vans vor dem Hauptsitz von BaileyTennants den Anruf entgegengenommen hatte. Jill hatte sich außer Hörweite entfernt, war dann mit der Hand auf der Hüfte stehen geblieben und hatte aufmerksam zugehört.

Wie immer hatte Bree versucht, die Mimik der Vorstandschefin zu entschlüsseln. Ärger? Vielleicht. Vielleicht auch etwas anderes. Es fiel ihr oft schwer, aus Jill schlau zu werden. So oder so, als Jill den Anruf schließlich beendete, war der Gesichtsausdruck verschwunden.

Daniel war aufgehalten worden, hatte Jill nur gesagt. Geschäftlich, wie immer. Sie würden ohne ihn losfahren. Er würde mit dem Auto nachkommen.

Während sie jetzt auf dem Parkplatz der Lodge herumstanden, sah Bree einen verkniffenen Zug um die Mundwinkel der Frau.

«Es ist wirklich Blödsinn, wenn wir alle hier warten.» Jill wandte sich den vier Männern zu, die mit ihren Rucksäcken neben dem Van standen. «Daniel müsste jeden Moment hier sein.»

Sie versuchte nicht, ihren Bruder zu entschuldigen, und das fand Bree gut. Es war einer der Züge, die ihr an Jill meisten gefielen. Sie erfand keine Ausreden.

Die Männer lächelten und zuckten mit den Schultern. Es war in Ordnung. Natürlich war es das, dachte Bree. Daniel Bailey war der Boss. Was sollten sie sonst sagen?

«Na denn.» Der Fahrer klatschte in die Hände. «Dann wollen wir die Ladys mal losschicken. Hier entlang, bitte.»

Die fünf Frauen wechselten Blicke und folgten ihm dann über den Parkplatz. Seine rote Fleecejacke hob sich deutlich von dem gedämpften Grün und Braun des Waldes ab. Der Kies knirschte unter ihren Wanderschuhen, ehe er sumpfigem Gras wich. Der Fahrer blieb am Anfang des Trails stehen und lehnte sich gegen das alte Holzschild. Unter einem geschnitzten Pfeil standen zwei Wörter: Mirror Falls.

«Haben Sie Karte und Kompass?», fragte der Fahrer.

Bree spürte die Blicke der Gruppe auf sich und griff prüfend in ihre Jackentasche. Die Karte war ordentlich gefaltet, und sie ertastete den ungewohnten Plastikrand des Kompasses. Sie war auf einen Halbtagskurs geschickt worden, um Kartenlesen und Orientierung in der Wildnis zu lernen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, nicht hinlänglich geschult zu sein.

«Keine Sorge», sagte der Fahrer. «Für diese Strecke werden Sie sie kaum brauchen. Bis zum ersten Lagerplatz geht es immer der Nase nach. Ist gar nicht zu verfehlen. Danach kommen ein paar Kurven und Biegungen mehr, aber wenn Sie die Augen offen halten, kommen Sie schon klar. Sonntag erwarte ich Sie dann am Zielpunkt. Hat jemand von Ihnen eine Armbanduhr? Gut. Deadline ist um Punkt 12 Uhr mittags. Pro Viertelstunde, die Sie zu spät kommen, gibt’s Punkteabzug.»

«Und wenn wir früher ankommen? Können wir dann auch früher zurück nach Melbourne fahren?»

Der Fahrer sah Alice an.

«Freut mich, dass Sie so selbstbewusst sind.»

Sie zuckte die Achseln. «Ich muss unbedingt Sonntagabend wieder in Melbourne sein.»

«Okay. Nun ja. Ich denke schon. Falls beide Teams früher am Treffpunkt ankommen –» Der Fahrer schaute zu den Männern hinüber, die in einiger Entfernung am Van lehnten und sich unterhielten, immer noch nicht vollzählig. «Aber ernsthaft, überanstrengen Sie sich nicht. Sonntags ist nie viel Verkehr. Wenn Sie es bis zwölf Uhr zum Treffpunkt schaffen, sind Sie garantiert am späten Nachmittag wieder zu Hause.»

Alice widersprach nicht, presste aber die Lippen fest zusammen. Bree kannte diesen Ausdruck, und sie versuchte tunlichst, ihn nicht hervorzurufen.

«Noch Fragen?» Der Fahrer blickte nacheinander in die fünf Gesichter. «Gut. Und jetzt machen wir noch schnell ein Gruppenfoto für Ihren Newsletter.»

Bree sah, dass Jill zögerte. Der Newsletter von BaileyTennants war wenig beachtenswert, sowohl was die Regelmäßigkeit seines Erscheinens betraf als auch seine Aktualität, und Jill klopfte halbherzig ihre Taschen ab.

«Ich hab mein –» Sie schaute zum Van hinüber, wo ihre Smartphones in einem gut verschlossenen Plastikbeutel neben dem Fahrersitz lagen.

«Kein Problem, ich mach das Foto», sagte der Fahrer und zog sein Handy aus der Fleecejacke. «Rücken Sie zusammen. Noch ein bisschen enger. So ist gut. Legen Sie die Arme umeinander, Ladys. Tun Sie so, als würden Sie einander mögen.»

Bree spürte, wie Jill einen Arm um ihre Taille schob, und sie lächelte.

«Super. Das war’s schon.» Der Fahrer blickte auf das Display. «Also, auf geht’s. Viel Glück. Und versuchen Sie, das Erlebnis zu genießen, ja?»

Er wandte sich mit einem Winken ab, und die fünf Frauen waren allein. Sie blieben noch einen Moment in ihrer Fotopose stehen, bis Jill sich bewegte. Erst dann lösten die anderen ihre Arme voneinander.

Bree sah zu Jill und merkte, dass Jill sie direkt anschaute.

«Wie weit ist es bis zum ersten Camp?»

«Oh. Ich guck mal schnell nach.» Bree faltete die Karte auseinander, was ihr bei dem Wind einige Mühe bereitete. Der Startpunkt der Route war umkringelt und die Strecke rot markiert. Sie hörte, wie Rucksäcke zurechtgerückt wurden, während sie auf der Suche nach dem ersten Lagerplatz mit dem Finger die rote Linie entlangfuhr. Wo war er? Regentropfen tränkten das Papier, und eine Ecke wurde vom Wind umgeknickt, sodass eine Falte entstand. Bree strich sie glatt und atmete insgeheim auf, als sie die Stelle direkt neben ihrem Daumennagel entdeckte.

«Okay, ist nicht weit», sagte Bree, während sie versuchte, den Maßstab in der Legende der Karte umzurechnen. «Dürfte kein Problem sein.»

Jill musterte Brees sportliche Figur und lächelte. «Ich fürchte, Ihre Definition von ‹kein Problem› ist eine andere als meine.»

«Etwa zehn Kilometer?» Bree sprach es unbeabsichtigt wie eine Frage aus. «Höchstens zehn.»

«Also gut.» Jill hievte sich ihren Rucksack ein bisschen höher auf die Schultern. Schon jetzt fühlte sie sich sichtlich unwohl. «Gehen Sie voraus.»

Bree marschierte los. Nach wenigen Schritten wurde es dunkel, weil die Äste der Bäume sich über dem Weg schlossen und den Himmel verdeckten. Sie hörte Wasser von Blättern tropfen und irgendwo gut versteckt den Ruf eines Haubendickkopfs. Sie blickte über die Schulter auf die vier Gesichter hinter ihr, schattenhaft unter den Kapuzen. Alice war ihr am nächsten. Blonde Haarsträhnen wehten im Wind.

«Gut gemacht», formte sie mit den Lippen. Bree befand, dass sie es wahrscheinlich ernst meinte, und lächelte.

Lauren war hinter Alice, die Augen auf den unebenen Boden gerichtet, während Jills runde Wangen schon leicht rot anliefen. Bree sah, dass ihre Schwester das Schlusslicht bildete. Beth, mit einem kleinen Stück Abstand zu den anderen in ihren geliehenen Trekking-Schuhen und der zu engen Jacke. Die Blicke der Schwestern trafen sich. Bree verlangsamte ihr Tempo nicht.

Der Pfad wurde schmaler und machte eine Biegung, und das letzte Licht von der Lodge verschwand hinter den Bäumen.

Kapitel vier

Der Parkplatz der Lodge war voll. Die Pick-ups von Freiwilligen, die sich an der Suche beteiligten, standen dicht an dicht neben Medien-Vans und Polizeifahrzeugen.

Falk parkte in zweiter Reihe vor der Lodge, und Carmen blieb im Wagen sitzen, um ihn notfalls wegsetzen zu können. Er stampfte seine Schuhe auf der Veranda ab, öffnete die Tür, und Wärme schlug ihm entgegen. Eine Gruppe saß über eine Karte gebeugt in einer Ecke des holzgetäfelten Empfangsbereichs. Auf der einen Seite war ein Durchgang zu einer Großküche. Auf der anderen sah Falk eine Lounge mit durchgesessenen Sofas und einem Regal voller abgegriffener Bücher und Brettspiele. Ein antiquierter Computer hockte in der Ecke unter einem handschriftlichen Schild mit der Aufschrift: Nur für Gäste. Falk war unschlüssig, ob das als Angebot oder als Drohung zu verstehen war.

Ein Ranger hinter der Theke blickte kaum auf, als Falk näher trat.

«Tut mir leid, Kumpel, wir sind komplett ausgebucht», sagte er. «Ist gerade ein schlechter Zeitpunkt.»

«Ist Sergeant King in der Nähe?», fragte Falk. «Er erwartet uns.»

Diesmal schaute der Ranger auf. «Oh. Sorry. Ich hab Sie ankommen sehen und gedacht, Sie wären –» Er beendete den Satz nicht. Noch so ein Volltrottel aus der Stadt. «Der ist draußen im Hauptquartier. Wissen Sie, wo das ist?»

«Nein.»

Der Ranger breitete eine Karte des Nationalparks auf der Theke aus. Auf dem Papier war eine grün wuchernde Wildnis zu sehen, durchwirkt von einem Spinnennetz aus Linien, die Pisten oder Straßen darstellten. Der Ranger nahm einen Stift und erklärte, was er markierte. Die Fahrtroute folgte einer kleinen Landstraße, die in westlicher Richtung die grüne Masse durchschnitt, bis sie auf eine Kreuzung traf und scharf nach Norden bog. Der Ranger beendete seine Wegbeschreibung, indem er einen Kringel malte. Das Ziel schien irgendwo mitten im Nirgendwo zu sein.

«Ungefähr zwanzig Minuten Fahrzeit von hier aus. Keine Bange.» Der Mann reichte Falk die Karte. «Sie werden merken, wenn Sie angekommen sind.»

«Danke.»

Wieder im Freien, war die Kälte wie ein Schlag ins Gesicht. Er öffnete die Autotür und setzte sich hinters Steuer, rieb die Hände aneinander. Carmen hatte sich vorgebeugt und spähte durch die Windschutzscheibe. Als er anfing zu reden, hob sie den Finger an die Lippen und zeigte dann geradeaus. Falk folgte ihrem Blick. Auf dem Parkplatz griff ein Mann von Ende vierzig, bekleidet mit Jeans und Skijacke, in den Kofferraum eines schwarzen BMW.

«Das ist doch Daniel Bailey, oder?», sagte Carmen.

Wenn der Geschäftsführer von BaileyTennants keinen Businessanzug trug, wirkte er ganz anders, dachte Falk. Er hatte Bailey bisher nur von Fotos gekannt, und jetzt sah er zum ersten Mal, wie sportlich der Mann sich bewegte. Er war etwas kleiner, als Falk erwartet hatte, aber mit breitem Kreuz. Sein volles Haar war sattbraun, ohne eine Spur von Grau. Wenn es keine Naturfarbe war, dann war es jedenfalls eine teure und überzeugende Imitation. Bailey kannte weder Carmen noch ihn – zumindest sollte er sie nicht kennen –, aber dennoch rutschte Falk unwillkürlich etwas tiefer in seinen Sitz.

«Ich frage mich, ob er tatsächlich bei der Suche mitmacht», sagte Carmen.

«Auf jeden Fall hat er nicht tatenlos rumgesessen.» Baileys Schuhe waren schlammverkrustet.

Sie sahen zu, wie der Mann im Kofferraum des BMW herumkramte. Zwischen den betagten Pick-ups und Vans duckte sich der Wagen wie ein geschmeidiges exotisches Raubtier. Endlich richtete Bailey sich auf und steckte irgendetwas Dunkles in seine Jackentasche.

«Was war das?», fragte Carmen.

«Sah aus wie ein Paar Handschuhe.»

Bailey tippte auf den Kofferraumdeckel, der sich mit luxuriöser Langsamkeit schloss. Er blieb noch einen Moment stehen, starrte hinaus in den Wald, dann ging er, den Kopf gegen den Wind gebeugt, zu den Ferienunterkünften.

«Dass er und Jill hier oben sind, könnte schwierig für uns werden», sagte Carmen, während sie ihm hinterherschauten.

«Wohl wahr.» Es war eine Untertreibung, und das wussten sie beide. Falk ließ den Motor an und reichte Carmen die Karte. «Wie dem auch sei. Jetzt müssen wir erst mal da hin.»

Sie betrachtete den umkringelten Punkt in dem endlosen Grün.

«Was ist da?»

«Da haben sie die anderen vier gefunden.»

 

Die Federung des Wagens hatte zu kämpfen. Während sie die unbefestigte Straße entlangholperten, die auf beiden Seiten von Eukalyptusbäumen mit abblätternder Rinde bewacht wurde, spürten sie jeden Stoß. Über das Dröhnen des Motors hinweg konnte Falk ein schrilles Pfeifen hören.

«Gott, ist das der Wind?» Carmen schielte durch die Frontscheibe nach oben.

«Ich glaube, ja.» Falk hielt die Augen auf die Straße gerichtet, während der Wald um sie herum immer dichter wurde. Er umklammerte das Lenkrad mit der verbrannten Hand, die ihm jetzt weh tat.

Immerhin hatte der Ranger recht gehabt. Sie hätten es nicht verfehlen können. Falk bog um eine Kurve, und plötzlich herrschte auf der bislang einsamen Straße Hochbetrieb. Am Straßenrand parkten Autos Stoßstange an Stoßstange, eine Reporterin sprach ernst in eine Kamera und deutete auf die Suchteams hinter ihr. Auf einem langen aufgebockten Tisch standen Thermoskannen mit Kaffee und Wasserflaschen. Ein Polizeihubschrauber schwebte so tief über der Szenerie in der Luft, dass Blätter von den Bäumen flatterten.

Falk hielt ganz am Ende der Autoreihe. Es war kurz vor Mittag, doch die Sonne war lediglich ein schwaches Leuchten am Himmel. Carmen fragte einen vorbeikommenden Ranger nach Senior Sergeant King, und sie wurden zu einem großen Mann Mitte fünfzig geschickt. Er war hager, hatte einen wachen Blick, der ständig zwischen einer Landkarte und dem Wald hin und her huschte, und schaute interessiert hoch, als Falk und Carmen auf ihn zugingen.

Sie stellten sich vor, und er gab ihnen die Hand. «Danke, dass Sie gekommen sind.» Dann schielte er nach hinten zu der Fernsehkamera. «Gehen wir ein bisschen weg von dem Chaos.»

Sie trotteten ein Stück die Straße rauf und suchten Deckung hinter einem großen Truck, der ein wenig Schutz vor dem Wind bot.

«Also noch kein Glück?», fragte Falk.

«Leider nein.»

«Wie viele Suchaktionen dieser Art haben Sie schon geleitet?»

«Jede Menge. Ich bin seit fast zwanzig Jahren hier oben. Und es kommt alle naselang vor, dass sich Touristen verlaufen.»

«Wie schnell finden Sie sie normalerweise?»

«Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Hin und wieder haben wir auf Anhieb Glück, aber oft dauert es auch länger.» King blies seine hageren Wangen auf. «Sie ist mindestens seit dreißig Stunden allein da draußen, also sollten wir sie im Idealfall heute noch finden. Anscheinend waren sie so klug, Regenwasser zu sammeln, das ist schon mal gut, aber wahrscheinlich hat sie nichts zu essen. Außerdem besteht das Risiko der Unterkühlung. Vor allem, wenn die Kleidung feucht ist. Aber es hängt viel davon ab, wie sie sich verhält. Vielleicht hat sie Glück. Angeblich war sie in jungen Jahren oft campen. Häufig kommen sie aus eigener Kraft wieder raus.» Er stockte. «Manchmal aber auch nicht.»

«Aber es gelingt Ihnen immer, sie zu finden?», sagte Carmen. «Letzten Endes, meine ich.»

«Fast immer. Selbst in den Kovac-Jahren haben sie die Gesuchten schließlich gefunden. Bis auf das eine Mädchen. Seitdem gab’s nur ein oder zwei, die nie wieder aufgetaucht sind. Vor ungefähr fünfzehn Jahren hatten wir einen älteren Typen. Er war nicht gesund, hatte Herzprobleme. Hätte gar nicht allein losziehen sollen. Wahrscheinlich hat er sich irgendwo an einem stillen Plätzchen hingesetzt, um sich auszuruhen, und hatte einen Herzinfarkt. Und vor rund zehn Jahren hatten wir ein Pärchen aus Neuseeland. Eigenartige Sache, damals. Die beiden waren Anfang dreißig, fit, ziemlich erfahren. Erst sehr viel später kam raus, dass sie hoch verschuldet waren.»

«Was wollen Sie damit sagen? Dass sie absichtlich verschwunden sind?», sagte Falk.

«Kann ich nicht beurteilen, Mann. Aber es wäre bestimmt nicht das Schlechteste für die beiden gewesen, einfach von der Bildfläche zu verschwinden.»

Falk und Carmen wechselten Blicke.

«Und was ist diesmal passiert?», fragte Carmen.

«Alice Russell gehörte zu einer Gruppe von Frauen, die am Donnerstagnachmittag auf dem Mirror-Falls-Trail gestartet ist – die Stelle kann Ihnen später jemand zeigen, wenn Sie wollen. Die Gruppe hatte einfache Trekking-Ausrüstung dabei. Eine Karte, Zelte, Kompass, etwas Verpflegung. Sie sollten ziemlich genau in westlicher Richtung gehen, tagsüber ein paar von diesen dämlichen Teambuilding-Übungen absolvieren und dreimal übernachten.»

«Ist das ein Angebot der Parkverwaltung?», erkundigte sich Carmen.

«Nein. Das wird von einer Privatfirma organisiert, aber die machen das hier schon seit Jahren. Executive Adventures. Die machen ihre Sache gut. Es gab auch noch eine fünfköpfige Männergruppe von BaileyTennants. Hatten eine andere Route, aber beide Gruppen sollten sich gestern Mittag hier treffen.»

«Aber die Frauen kamen nicht an.»

«Nein. Das heißt, irgendwann sind dann vier von ihnen aufgetaucht. Aber sechs Stunden später und in einem ziemlich schlechten Zustand. Es gab einige Verletzungen. Alle hatten sie Schürfwunden und Prellungen. Eine hatte eine Platzwunde am Kopf. Und eine ist von einer Schlange gebissen worden.»

«Großer Gott, welche?», fragte Falk. «Ist sie wohlauf?»

«Ja. Halbwegs. Breanna McKenzie. Ich glaube, im Grunde ist sie eine bessere Sekretärin, soweit ich das verstanden habe. Heutzutage gibt’s ja so bescheuert hochtrabende Jobtitel. Jedenfalls, es war wahrscheinlich bloß eine Rautenpython. Die Frau hat gedacht, es wäre eine Tigerotter, und sie würde jeden Moment tot umfallen. Es war definitiv keine Giftschlange, aber der Biss hat sich entzündet, weshalb sie ins Krankenhaus musste.»

«In Melbourne?», fragte Carmen, und King schüttelte den Kopf.

«Das örtliche Krankenhaus unten in der Stadt», sagte er. «Da ist sie am besten aufgehoben. Eine Überdosis Crystal Meth sollte von Ärzten in einem Großstadtkrankenhaus versorgt werden. Ein Schlangenbiss sollte von Ärzten versorgt werden, die sich mit unserer Tierwelt auskennen, glauben Sie mir. Ihre Schwester ist bei ihr im Krankenhaus.» Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf. «Bethany McKenzie. Sie war auch in der Gruppe, ist aber mit einigermaßen heiler Haut davongekommen.»

King schaute über die Schulter zu den Suchtrupps. Eine Gruppe machte sich gerade bereit zum Aufbruch, ihre orangen Overalls hell vor der Wand aus Bäumen. Falk sah eine Lücke in der Waldgrenze, wo ein Pfad hineinführte. Er wurde von einer einzelnen Holzbake markiert.

«Wir wissen, dass sie irgendwann am zweiten Tag vom Weg abgekommen sind, weil sie den für die Übernachtung vorgesehenen Lagerplatz nicht erreicht haben», erklärte King weiter. «Es gibt da einen ziemlich breiten Känguru-Wildwechsel, der vom Hauptpfad abgeht. Wir vermuten, dass sie den versehentlich genommen haben. Nach ein paar Stunden haben sie’s dann gemerkt, aber das reicht, um richtig in Schwierigkeiten zu geraten.»

Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.

«Ab da werden ihre Angaben ungenauer. Meine Officer haben sie gestern Abend und heute Morgen befragt, so weit es ging. Einiges ist aber nach wie vor unklar. Als die fünf gemerkt haben, dass sie sich verlaufen hatten, haben sie anscheinend versucht, irgendwie wieder auf den richtigen Weg zurückzukommen. Damit macht man oft alles nur noch schlimmer. Am zweiten Lagerplatz hätten Verpflegung und Wasser auf sie gewartet, und als sie den nicht fanden, sind sie allmählich in Panik geraten.»

Falk musste daran denken, was der Tankwart gesagt hatte. Das Schlimmste ist die Panik. Du traust deinen eigenen Augen nicht mehr.

«Eigentlich sollten sie alle ihre Smartphones abgeben, aber Alice hatte ihres mitgenommen, wie Sie ja wissen.» King nickte Falk zu. «Der Empfang hier draußen ist allerdings beschissen. Man kann Glück haben, aber das ist die Ausnahme. Wie auch immer, sie sind herumgeirrt, bis sie am Samstag zufällig auf eine verlassene Hütte stießen.»

Er stockte, schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann anders.

«Im Augenblick wissen wir nicht, wo genau sich diese Hütte befindet. Aber sie haben die Nacht dort verbracht. Als sie gestern Morgen aufwachten, war die Vermisste verschwunden. Das behaupten jedenfalls die anderen vier.»

Falk runzelte die Stirn. «Was dachten sie denn, was mit ihr passiert war?»

«Dass sie die Nerven verloren hatte. Allein losgezogen war. Sie hatten sich nicht einigen können, was sie machen sollten. Diese Alice wollte anscheinend, dass sie sich nach Norden durchschlagen, bis sie auf eine Straße stießen. Die anderen waren dagegen, und sie hatte sich darüber geärgert.»

«Und was meinen Sie?»

«Könnte stimmen. Ihr Rucksack und ihr Handy sind auch verschwunden. Außerdem hatte sie die einzige noch funktionierende Taschenlampe der Gruppe mitgenommen.» Kings Mund wurde zu einer dünnen Linie. «Und unter uns gesagt: Den Verletzungen und dem enormen Stress nach zu urteilen, unter dem sie gestanden haben müssen, gehe ich davon aus, dass irgendwann die Aggressionen hochgekocht sind.»

«Sie glauben, die Frauen haben sich geprügelt?», sagte Carmen. «Weswegen?»

«Wie gesagt, es sind noch immer viele Fragen offen. Wir arbeiten so schnell, wie das unter den gegebenen Umständen möglich ist. Da draußen kommt es auf jede Minute an. Die Suche hat oberste Priorität.»

Falk nickte. «Wie haben die anderen vier denn zurückgefunden?»

«Sie sind immer geradeaus nach Norden gegangen, bis sie schließlich auf eine Straße stießen, und der sind sie dann gefolgt. Ist eine ziemlich anstrengende Methode, die auch nicht immer klappt, aber wahrscheinlich blieb ihnen kaum eine andere Wahl. Schon wegen des Schlangenbisses und so. Sie haben Stunden gebraucht, aber schließlich hat es sich ausgezahlt.» Er seufzte. «Derzeit konzentrieren wir uns darauf, die Hütte zu finden. Im besten Fall ist sie dahin zurückgekehrt und hat Unterschlupf gesucht.»

Falk fragte nicht, was denn der denkbar schlimmste Fall wäre. Ihm fielen auf Anhieb eine ganze Reihe von Gefahren ein, die jemandem allein und verirrt in der Wildnis drohten.

«So, das wär’s von unserer Seite», sagte King. «Sie sind dran.»

Falk holte sein Handy hervor. Er hatte die Mailbox-Nachricht von Alice Russell gespeichert und war jetzt froh darüber. Sein Display zeigte null Empfang an. Er gab King das Telefon, der es sich ans Ohr drückte.

«Dieser verdammte Wind.» King hielt sich das andere Ohr zu und schloss die Augen, lauschte konzentriert. Er hörte sich die Aufnahme noch zweimal an, ehe er das Handy zurückgab, mit ernster Miene.

«Können Sie mir sagen, worüber Sie mit der Frau geredet haben?», fragte er.

Der Hubschrauber flog wieder tiefer, und die Baumkronen schwankten wie verrückt. Falk sah Carmen an, und die nickte ihm knapp zu.

«Auf dem Parkplatz der Lodge haben wir Daniel Bailey gesehen», sagte Falk. «Der Geschäftsführer der Firma, für die sie alle arbeiten. Sein Name stand auf der Teilnehmerliste, die Sie uns gemailt haben.»

«Der Boss? Ja, den kenne ich. Der war im Männerteam.»

«Hatte die Männergruppe Kontakt zu den Frauen, während sie da draußen waren?»

«Offiziell nein. Inoffiziell ja», sagte King. «Ich hab gehört, dass sie sich getroffen haben. Warum?»

«Darüber haben wir mit Alice Russell geredet», sagte Falk. «Über Daniel Bailey.»

Tag 1

Donnerstagnachmittag

Jill Bailey sah, dass sich Alice’ Hinterkopf mit jedem Schritt weiter entfernte.

Sie waren gerade mal zwanzig Minuten unterwegs, und schon spürte Jill ein unheilvolles Scheuern an der linken Ferse, und das trotz des dreistelligen Aufpreises, den sie für etwas namens «Hyper Comfort Technology» in ihren Trekking-Schuhen hingeblättert hatte. Obwohl es kalt war, klebte ihr das T-Shirt unter den Armen, und Schweißperlen sammelten sich in ihrem BH. Ihre Stirn fühlte sich feucht an und glänzte, und sie wischte sie sich unauffällig mit dem Ärmel ab.

Die einzige andere, der es womöglich noch schlechter ging, war Beth. Jill konnte den rasselnden Atem der Raucherin hinter sich hören. Sie wusste, dass sie sich umdrehen und Beth ein wenig aufmuntern sollte, aber in dem Moment fiel ihr absolut nichts ein, was sie sagen könnte. Jedenfalls nichts Überzeugendes.

Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, einen gleichmäßigen Rhythmus beizubehalten und sich ihr Unwohlsein möglichst nicht anmerken zu lassen. Das sanfte Tröpfeln von den Ästen erinnerte sie an die Meditationsmusik, die pausenlos in Wellnesshotels gespielt wurde. Das wäre eher ihre Vorstellung von einem erholsamen Wochenendausflug. Diese Outdoor-Aktivitäten waren schon immer eher Daniels Sache gewesen. Verdammter Daniel. Sie fragte sich, ob er inzwischen an der Lodge angekommen war.

Sie spürte eine Veränderung im Rhythmus der anderen vor ihr, und als sie den Blick hob, sah sie, dass sie langsamer wurden. Der Pfad war breiter geworden, je dünner der Baumbestand ringsherum wurde, und jetzt wurde Jill klar, dass das, was sie für Wind gehalten hatte, in Wahrheit das Rauschen von Wasser war. Sie schloss zu den anderen auf und blinzelte, als der Wald sich plötzlich öffnete und eine tosende weiße Fläche freigab.