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Ida hatte eine Gottesbegegnung. Unerwartet. Als Nebenwirkung. Auf dem Höhepunkt einer langen Asthmakarriere, entdeckte sie essbares Cannabis. Das schenkte Linderung ... und ... Einblicke ins Jenseits! ... aber ... ob sie je wieder gesund wird, kann sie nicht sehen. Ida kann nur gute Ereignisse voraus sehen! Was übersieht sie? Sie beschließt solange Tagebuch zu führen, bis sie wieder schmerzfrei atmen kann. Als sie Jahre später das Tagebuch liest, erkennt sie, daß das Tor zum goldenen Zeitalter darin zu finden war. Dies ist der erste Band der Reihe: Selbstheilung mit Entheogenen oder Hustentagebuch zum Vorabend der Weltrettung
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26. November, 2023
27. November, 2023
28. November 2023
Später
Erster Dezember 2023
Drei Tage später
Später
Noch später
2. Dezember 2023
Später
Später
3. Dezember 2023
Erster Advent
4. Dezember 2023
6. Dezember 2023
Später
7. Dezember 2023
Später
Noch später
9. Dezember 2023
Drei Tage später
11. Dezember 2023
14. Dezember 2023
Später am Abend
15. Dezember Drei nach Null
Später
Noch später
19. Dezember 2023
Später
20. Dezember 2023
Später, zehn Uhr morgens
Noch später
Und noch später
21. Dezember 2023:
Vier Uhr nachts
22. Dezember 2023
24. Dezember 2023
Später
Noch später
25. Dezember 2023
26. Dezember 2023
Drei Uhr nachts
6:30 Uhr, wenige Stunden später, immer noch unausgeschlafen
27. Dezember 2023
28. Dezember 2023
1. Januar, Neujahr 2024
2. Januar 2024
3. Januar 2024
Später
4. Januar 2024
Etwas später
5. Januar 2024
6. Januar 2024
7. Januar 2024
Später
10. Januar 2024
Später
Später
Etwas später
11. Januar 2024
Später
12. Januar 2024
Beim Redigieren eingefügt
Später
Später
Noch später
13. Januar 2024
Später
14. Januar 2024
Später
16. Januar 2024
5:30 Uhr
17. Januar 2024
19. Januar 2024
20. Januar 2024
21. Januar 2024
22. Januar 2024
Ein Telefonat mit Brigitte später
23. Januar 2024
Später
24. Januar 2024
Später
Später
25. Januar 2024
Peters 53ster Geburtstag
30. Januar 2024
Fünf Tage später
31. Januar 2024
Später
1. Februar 2024
Von der redigierenden Ida eingefügt
Zurück in der Jetztzeit
Später
Später
2. Februar 2024
Später
3. Februar 2024
5. Februar 2023
Später
Noch später
Noch etwas später
8. Februar 2024
Drei Tage später
13. Februar 2024
Kurz nach Mitternacht
15. Februar 2024
16. Februar 2024
Später
18. Februar 2024
21. Februar 2024
Fünf Uhr
Später
Später
18:00 Uhr
22. Februar 2024
Brigittes 81ster Geburtstag
23. Februar 2024
13 Uhr
Noch später
29. Februar 2024
Zwei Uhr
Noch später
11. März 2024
Viele Tage später
18. März 2024
Sieben Tage später
20. März 04
22. März 2024
25. März 2024
29. März 20024
Später
Zehn Minuten später
Später
Erster April im Jahre Vier nach Null
Ostermontag
2. April 2024
Vierter April 2024
Sechster April 2024
Achter April 20204
Dreizehnter April 2024
Abends
Siebzehnter April 2024
Achtzehner April 2024
22. April 2024
26. April 2024
28. April 2024
Erster Mai 2024
Dritter Mai 2024
Später
Fünfter Mai 2024
Später
Später
Neunter Mai, Vatertag, Vier nach Null
Zehnter Mai 2024
Elfter Mai 2024
Fünfzehnter Mai 2024
Ida beginnt heute. Heute, das ist ein kalter grauer Tag, der bisher den Titel sechsundzwanzigster November hat. Später wird es wahrscheinlich eine neue Art Heute geben, aber wie die dann aussieht, weiß Ida noch nicht. Sie steht erst am Anfang. Was sie zu tun hat, ist ihr vage bewußt, ihr künftiges Leben ist aber noch ein Bild in goldenem Nebel. „Immerhin!“ sagt sie sich.
Ida hat dieses Buch monatelang vor sich her geschoben. Sie will nicht wirklich ein Buch schreiben, sie muß! Ihr fällt einfach keine andere Möglichkeit ein, sich mit ihrer Umwelt zu befrieden. „Ich werde mich dir, liebes Tagebuch, hoffentlich noch besser erklären!“ verspricht sie ernst.
Halbherzig dachte sie immer wieder über eine äußere Form nach. Verschiedenste Handlungsstränge kamen ihr in den Sinn. Nichts davon fühlte sich richtig an. Ida wartete auf die berühmte Muse, die sie nicht küssen wollte.
Was ihr statt dessen unerbittlich ins Gesicht schlägt, sind ihre Anfälle. Sie werden mittlerweile so anstrengend, daß Ida tagelang nur auf dem Sofa sitzt. Festgenagelt von Atemnot und gepeinigt von schlechtem Gewissen, nichts dagegen zu tun. Nichts dagegen zu tun schreibt sie, weil sie eine schräge Gewissheit in sich trägt, noch nicht wirklich das richtige getan zu haben. Trotz aller Therapien, Tabletten, Diäten und Leibesübungen. Wie soll sie aber etwas Effektives tun, wenn ihr nichts mehr einfällt? Ihre innere Stimme nagt trotzdem weiter. Ida nahm bisher ihren Husten nicht wirklich ernst, weil sie ahnte, daß er einem übergeordneten Zweck dient. Sonst hätte sie schon längst Lungenentzündung oder Schlimmeres, beruhigt sie sich.
Bis vor einigen Monaten waren ihr noch größere Schmerzpausen vergönnt. Aber seitdem sie wieder an ihrem Spray hängt, werden diese Pausen kürzer und kürzer. Es gab Zeiten, da hatte sie noch Hoffnung auf Heilung. Manchmal hatte sie nur ein bis zwei kurze Anfälle am Tag! Daß ihre Krankheit nun schon zwanzig Jahre alt ist, realisiert sie in der Regel nicht. Aber irgendwann kommt auch dieser Moment.
Diese Nacht ist es dann soweit. Ihre Lunge brennt seit Tagen ununterbrochen, sodaß sie aus Alternativlosigkeit ihre Tastatur aufbaut. Weil ihr aber immer noch nichts Zündendes einfällt, reiht sie Wort an Wort. Ohne darüber nachzudenken. Das hilft. Der Druck läßt ein wenig nach.
Nach den ersten Seiten kommt ihr das Geschriebene ziemlich einfältig vor. Aber sie beruhigt sich damit, keinen Nobelpreis bekommen zu müssen. „Ich muß nur meine eigene Haut retten!“ lacht sie über sich selbst. Was sie dazu einsetzen kann, ist blühende Phantasie, um Grau in Gold zu verwandeln. Wenn ihr nichts besseres als ein Tagebuch einfällt, bleibt sie dabei. Ida schreibt solange, bis sie nicht mehr hustet. Das ist der Plan.
Es gibt aber noch etwas, das sie endlich anfangen lässt. So unerbittlich wie sie den wirklichen Stand ihrer Gesundheit realisiert, so erbarmungslos wird ihr klar, daß Peter schon länger nicht mehr neben ihr läuft. Er ist noch da. Mit seinem besonderen Wesen. Aber er denkt nicht mehr in der Wirform. Etwas bremst ihn hart. Ida glaubt, ihr fiel seine Veränderung das erste Mal auf, als eine erfundene Seuche der Grund schien, warum er ihre Hochzeit verschob. Seither fällt ihm das Leben im Paradiesgärtlein so schwer, daß er Mühe hat, den Status Quo zu halten. Er schleppt sich Tag für Tag zur Arbeit. Wenn er könnte, würde er um die Welt fahren. Er sehnt sich danach, einfach abzuhauen, keine Verantwortung mehr zu haben. Nicht immer wieder das Gleiche tun zu müssen. Er wurde vor kurzem Fünfzig. Er steckt in einer Krise, die kein Platz für ein Wir bietet. Ida versteht das. Aber es tut weh. Jetzt, wo sie gerade dabei ist, leben zu lernen, jetzt geht er.
Wenn Ida ihn fragt, ob er sie noch liebt, nickt er. Wenn sie ihn aber fragt, warum er dann weg muß, weint er. Er will nicht gehen, er muß. Peter ist kein guter Redner. Über Gefühle kann er so wenig reden, wie jeder Mann seiner Generation. Aber seine Tränen kann Ida verstehen.
Da stirbt auch noch sein Vater. Vor zwei Tagen. Die beiden hatten kein gutes Verhältnis, eher wartet Peter auf das Gefühl der Erleichterung. Weil sich dieses aber nicht einstellen will, überkommt ihn doch Trauer. Trauer über einen emotionalen Krüppel, der noch in der Palliativstation Schmerzen mit Terror vertuscht. Deshalb weint Peter über einen Vater, den er nie richtig kennenlernen konnte.
Aber er weint auch über Ida, in die er so viel Hoffnung gesetzt hat und der er doch so weh tun muß.
„Die Nacht war erstaunlich ruhig.“ Ida hatte mehr Stress erwartet. Alte, wohlbekannte Gefühle standen noch am Abend in ihrer düsteren Pracht zwischen Peter und ihr. Schrecken, die Ida seit Urzeiten überkommen und gar nichts mit Peter zu tun haben. Wer weiß, wie weh ein eingebildeter Dolchstoß tue, teile Idas Leid, bittet sie ihr Tagebuch zu vermitteln. Dieser eingebildete Schmerz sei wahrscheinlich die wahre Ursache ihrer Krankheit, vermutet sie, aber das schreibt sie nur nebenbei.
Als Ida am Tag zuvor dem Gefühl des Verlassenwerdens nicht mehr ausweichen konnte, war sie emotional gelähmt, wie zu schlimmster Kinderzeit. Eine ähnliche Situation hatte bisher bedeutet, daß ihr dieser Lähmungszustand für die nächsten Monate sicher blieb. Manche ihrer Grauphasen dauerten Jahre.
Krampfartig überwältigten sie schon dunkel getönte Szenarien. Zum Beispiel die unausweichliche Situation, Mutter Brigitte Idas erneutes Beziehungsversagen gestehen zu müssen; oder die erschreckende Aussicht, jede Nacht alleine schlafen zu müssen; dicht gefolgt von der Vorstellung, nun auch das Gedeih alleine bestellen zu müssen!
Das Gedeih ist ihre junge Streuobstwiese, wegen der sie: „Von Anfang an Bauchschmerzen hatte! Ich muß das später noch besser erklären“, verspricht sie laut. Ihr Unterbewußtsein gaukelt über dieses Grauen schon lange; ihre alte Operationsnarbe im Unterleib tut ihr wieder weh.
Aber etwas ist doch anders. Ida hat offenbar Glück. Die Nacht verläuft hustenfrei und warm in Peters Armen. Sein zärtlicher Versuch, ihr den Abschied so leicht wie möglich zu machen, ist rührend. Ida kann ihn dankbar annehmen. Ob nun seine Sorge, oder die lila Luft um Ida beitragen, daß sie nicht in den Keller ihrer Depression fällt, weiß sie nicht, vermutet aber beides.
Auch gestern war ihr gemeinsamer Dämon wieder dabei, als Peter das Gespräch beginnt: „Ich kann Dir mein Auto verkaufen, weil ich jetzt das von meinem Vater haben kann; aber kannst Du mir bitte auch etwas für den Anhänger geben?“ fragt er sie, stehend an den Ofen gelehnt, Füße Richtung Ausgang. Stehend, in der Wohnung, hatten sie schon lange kein Gespräch mehr geführt.
„Aber Piotrus, Du weißt doch, daß ich kein Geld habe. Wenn Du den Anhänger nicht brauchen kannst, mußt Du ihn verkaufen. Ich wollte ihn nie! Außerdem kann ich ihn noch nicht mal alleine ankuppeln!“ Ida merkt, wie Wut in ihr aufsteigt. Diesen ‚blöden, aber praktischen’ Anhänger wertet sie als untrügliches Zeichen, daß Peter innerlich schon Kisten packt. Dort, wo in ihr Trauer sein sollte, herrscht nichts als helle Panik, die in Wut umschlagen will! Ida fühlt sich verlassen und ungerecht behandelt!
Zu allem Überfluß läßt Peter nicht locker. „Kannst Du nicht Deine Mutter um Geld bitten, sie würde uns bestimmt gerne helfen?“ Er klingt hart. Ida versteht das. Wenn auch mit Mühe. Er hat einen schwierigen Umzug vor sich. Ihm bleibt kein Geld für ein Wir.
Ida hätte sich verzeihen müssen, wenn sie wieder rückfällig geworden wäre. Unter diesen Umständen um so mehr. Der Schmerz will sich schon in ihre Seele krallen und den letzten Rückzugsort verteidigen, als sie schafft, ihre Pfeile zurück zu stecken und ruhig anfängt zu weinen.
Sofort lässt bei beiden die Spannung nach und Peter wird wieder weich. Ihr holpriges Gespräch darf weiter gehen und Ida kann einige Fragen stellen, die ein sanfter Peter ehrlich beantwortet. Das hilft. Sowohl ihr gemeinsamer, als auch Idas persönlicher Dämon ziehen sich zurück.
Ida begreift das erst am nächsten Morgen. Ihr Aufruhr über die Gesamtsituation war viel zu groß, um gleich zu verstehen, daß sie gerade eine Hürde genommen hatte. „Keine kleine Hürde!“ wie sie findet. Normalerweise hätte sie Peter mit ihren vergifteten Verbalspitzen gefragt, warum er immer noch nicht wisse, daß sie kein Geld von Brigitte nehmen könne, weil deren emotionaler Zins zu hoch sei? Aber so schaute Ida ihn nur traurig an. Sofort berichtigte er sich und sagte:
„Ich weiß, daß das nicht geht, aber, ich würde mich einfach besser fühlen, wenn du gut versorgt wärst!“
Erleichterung macht sich zwischen ihnen breit! Diese Interpretation bietet keinerlei Angriffsfläche. Alle Dämonen kapitulieren und Ida wundert sich, wie sie Peter je missverstehen konnte!
Diese schöne Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ihr fehlt ein kleines Detail. Idas passive Heldentat geschah nicht etwa bewußt und überlegt, als hätte sie umsichtig die wilden Pferde ihres Charakters gezügelt. Ida handelte aus dem Affekt. Einem neuartigen, ihr noch unbekannten Affekt. „Habe ich tatsächlich mein Unterbewußtsein verändert?“ fragt sie sich vorsichtig.
Diese Pointe hat sogar noch eine eigene Pointe: Peter hat den Satz mit dem Wunsch, sie versorgt zu wissen, nicht wirklich laut ausgesprochen! Sein Mund blieb stumm. Er sprach mit seinem Herzen, doch Ida hat ihn verstanden!
Das ist der Grund warum sie am Morgen danach fast glücklich feststellt, daß sie gestern schon wieder eine Art Superkraft eingesetzt hat, die sie noch nicht lange besitzt. Ihre Wandlung schreitet voran, so offensichtlich, daß sie sie immer weniger wegdiskutieren kann.
Ida fing Experimente mit Entheogenen an, als sie aufhörte zu Ärzten zu gehen. „Entheogene sind Pflanzen, die Gotteserfahrungen herbei führen!“ möchte Ida am liebsten der unwissenden Welt erklären, die aber unwissend bleiben möchte. Das war kurz bevor sie Peter kennenlernte. Der letzte Lungenarzt war privat an ihr interessiert und schickte sie von einer teuren Untersuchung zur nächsten. Ida nutzte die Situation mit einigermaßen schlechtem Gewissen aus, weil sie schriftlich wollte, daß ihre Krankheit nicht Ursache, sondern Wirkung sei. Und tatsächlich, alle Spezialisten zeigten ratlose Gesichter, während Ida vor ihnen saß und hustete. Keiner sagte es ihr ins Gesicht, aber sie glaubten Ida simuliere.
„Vielleicht haben sie recht und ich huste mir selbst etwas?“ fragt sich Ida in der Retrospektive.
Aber sie hätten Ida trotz defekter Psyche nicht nach Hause schicken dürfen, ist ihre heutige Meinung. Als sogenannt Austherapierte scheiterte Ida sogar am kassenärztlichen Antrag auf die übliche Luftkur.
Ida glaubt aber, daß nicht nur die Bürokratie, sondern vielmehr ihre alte Angst vor Kuren die Finger mit im Spiel hatte. Als Kleinkind wurde sie ständig in Kur geschickt! „Das war damals genauso schädlich, wie das Nichtschicken heute ist!“ Wenn Ida länger nachdenkt, versteht sie, daß die damals verordneten Kuren überhaupt erst die heute verweigerte Kur nötig machten.
Sie erhoffte sich demnach keine Ergebnisse von den Untersuchungen, brauchte aber die Gewissheit, daß die Ärzte nur noch Notlösungen anzubieten hatten. Das machte ihr die Entscheidung leichter, nicht mehr auf sie zu hören. Am Ende deren Weisheit hatte sie einen Aktenordner voll Kauderwelsch, den sie übersetzte mit: „Ich habe kein Asthma, ich habe Angst!“
Die aus dieser namenlosen Angst resultierenden Depressionen entluden sich regelmäßig in verletzenden Aggressionen, die der eigentliche Grund sind, warum Peter sich von Ida trennt. Dieses Tagebuch ist ihr Versuch, ihm die Ursache ihrer Wutanfälle zu erklären. Sobald sie selbst die Ursache erkannt hat, ist Peter zurück und ihr Asthma gegangen hofft sie. „Das ist der Plan!“ sagt Ida ihr Tagebuch um emotionale Unterstützung bittend.
Wenn ihr nichts mehr hilft, bleibt ihr Geist, weiß Ida. So wie er Clemens Kuby blieb, der vom Dach fiel, querschnittgelähmt war, aufgegeben wurde und heute wieder joggen kann.
Mit diesem Selbstheilungsprozess ist Ida also schon seit den Anfangsjahren ihrer Beziehung beschäftigt. Sie machte erste Fortschritte, aber Peter bekam doch sehr viel ab. Damals steckte er jeden Schlag noch klaglos weg. In seinem Weltbild war immer wieder Platz, für eine Frau, die sich ehrlich entschuldigt. Die Beiden überstanden wochenlange Krisen, in denen er von ihrer Wut gekränkt, kein Wort mit ihr redete und die Liebe dennoch zwischen ihnen blieb.
Aber irgendwann begriff er, daß er sich tatsächlich entscheiden musste. Für ein Leben mit Ida und beider Dämonen, oder alleine mit nur seinem eigenen grauen Geist. Solange es nur um Idas Ausfälle gegangen war, konnte er seine eigenen Geister vor ihr verbergen, aber je durchsichtiger Ida wurde, desto offener sah er sich selbst dahinter stehen.
Idas Furchtlosigkeit, von einer imaginären Welt Hilfe zu erwarten, irritiert Peter so sehr, daß er sich von ihr entfernen muß, um sich nicht über sie zu ärgern. Er verspürt Unmut über ihre naive Lebenssicht. „Anstatt zu spliffen, sollte sie lieber einen fähigen Arzt finden!“ ist seine Überzeugung. Er glaubt der modernen Medizin immer noch, trotz Allem!
„Seltsam ist“, sinniert Ida, „daß er meine Kräuter nicht ablehnt. Er sieht den eigenen Nutzen aber ausschließlich im Freizeitkonsum. Er billigt ihnen weder medizinische noch spirituelle Wirkung zu. Das ist einigermaßen seltsam“, verrät sie ihrem Tagebuch, „denn er weiß im Grunde über ihre erstaunliche Macht. Doch er allein kennt den tiefen Graben, den er für deren Nutznießen überqueren müsste! Diesen hat er schon öfter überqueren wollen. Nie, ohne dabei enttäuscht wieder umzukehren.“ Ida weiß von einem einschneidenden Erlebnis, das der unerfahrene Peter mit einer zu hohen Dosis hatte.
Doch Ida lässt sich von Peter nicht von ihrem Plan abbringen. Spliffen hilft gegen Angst und Angst steckt hinter ihrer Atemnot. Sie kann fast täglich veränderte Verhaltensweisen an sich entdecken. Sie kann den Weg nicht zurück, sie weiß keinen besseren.
Peter allerdings macht ihre Wesensänderung misstrauisch. Er erkennt Ida nicht wieder. Natürlich verändere es den Charakter einer Persönlichkeit, das eigene Leben göttlich zu verstehen, anstatt es der Gesellschaft unterzuordnen, gibt Ida zu. Peter weiß das sogar länger als sie. Er betrachtet seit Jahren die Gesellschaft mit zynischem Abstand. Aber gelöst hat er sich noch immer nicht. Er sieht keinen Ausweg aus seiner Situation. Für ihn steht fest, sie Beide leben in zwei verschiedenen Welten. Ida darf im Paradiesgärtlein leben, er muß arbeiten.
Im Moment stehen die Aussichten also schlecht für Ida. Sie will ihn gerne halten, aber sie begreift auch seine Angst davor, zu bleiben. Er kann erst zurück, wenn er erkennt, daß nicht ein Leben mit Ida hinter seiner Angst steht, sondern ein Leben mit ihm selbst. Also lässt Ida ihn gehen, aber weint oft.
Im schreibenden Augenblick klinge Ida erstaunlich gefasst, findet sie. Sie bedankt sich dafür bei ihren guten Geistern, die sie mit ihrem Frühstück um barmherzige Erleichterung ersuchte. Ein Frühstück aus einem Kaffee, Erbsen vom Vortag und fünf Gramm ΓΗ©-Butter, vermischt mit Cassiazimt. Ida aß es mit höchsten Erwartungen und opferte alle Energie der Antwort.
Die Folge ist ein neues Kapitel! Getippt von Idas eiskalten Fingern, weil der Holzofen um zwei Uhr nachmittags immer noch nicht brennt.
Heute ist Brückentag. Heute muß Ida das Leben ohne gute Geister schaffen. Es gibt Brückentage und Büchertage. ‚Bücher‘ das ist ihr Synonym für Entheogene, die in ihrer immer unmenschlicher werdenden Welt nicht mehr erlaubt sind. Verboten von einer Hierarchie, die nur durch solche Art Verbote überhaupt aufrecht erhalten wird: Du sollst nicht merken! ist deren erstes Gebot. Ida lebe in einer kranken Welt, ist ihre Überzeugung:
„Ich bin krank, aber meine Umwelt ist noch kränker!“
Sie habe aber Kratom, eine importierte Regenwaldpflanze, wenn es ganz schlimm würde. Es habe selten gute Ratschläge, entspanne aber ein wenig. Im Moment ist Ida noch tapfer. Sie sieht das Leben zwar nicht gerade golden, aber auch nicht ganz grau. Ihrem Anfängerglück als Mystikerin erscheint nichts unmöglich. Ida habe ‚Oberwasser‘, wie sie ihre gute Laune nennt, weil sie in drei Nächten nur zweimal Spray brauchte. Die Nächte waren ruhig und sie durfte ausschlafen. Obwohl noch nicht einmal Peter bei ihr war.
Fünf Minuten nachdem Ida das schreibt, fängt es wieder an. Eine hinterlistige Stimme raunt ihr ins Ohr, daß es erst sechs Uhr ist. Man solle doch den Morgen nicht vor dem Abend loben und zuverlässig bekommt Ida Luftnot. Sie nimmt den ersten Sprühstoß ihres vermaledeiten Asthmasprays. Früher als sonst.
Auf dem Weg zurück von der Schublade, sitzt Katze Jane Eyre vor ihr, reckt ihr hübsches Gesichtchen hoch und fordert ‚betreutes‘ Fressen. Geduldig stellt sich Ida über ihren Napf. Weil Hatschepsut die Ältere ist und nicht daran denkt Jane Eyre die gleichen Rechte zu geben, muß Ida, als Chefin des Hauses, das Futter für die Jüngere freigeben, also während des gesamten Fressvorgangs segnen. Ida vermeidet jede falsche Zuckung, die Jane Eyre wegrennen ließe. Sie spricht seit ein paar Monaten kätzisch. Noch nicht perfekt, aber ihre ‚Komplizen‘ haben ihr die Ohren für die eigenwilligen Verhaltensweisen ihrer Mitbewohner geöffnet! Zuvor war sie schier verzweifelt, weil Jane Eyre keine Minute am Futternapf blieb. Sie versuchte dutzende Futtersorten, bis sie die beschriebenen Zusammenhänge endlich erkannte. Ida interpretierte Jane Eyres Verhalten als prätentiös, aber übersah die herrschende Hierarchie.
„Wie oft habe ich mich schon in tierischem Verhalten getäuscht?“ fragt sie sich über ihre eigene Ignoranz entsetzt.
Derweil liegt Hatschi faul auf dem Sofa und starrt auf Idas und Peters Bücherwand. Dahinter versteckt sich nämlich ein armes Mäuschen, das eine von Beiden angeschleppt hatte. Ida versucht es mit Käse über Wasser zu halten, obwohl sie weiß, daß das absurd ist. Sein Stresslevel ist sowieso zu hoch zum Fressen. Außerdem schubsen ihre beiden Killerinnen den Käse immer wieder weg von der Wand. Damit das verängstigte Mäuschen ins offene Feld muß. Ida darf nicht darüber nachdenken.
Am Abend zuvor rief Piotrus an. Er erzählte, daß seine jüngste Schwester zur Beerdigung aus dem Land des Hegemons angereist ist und die beiden den ganzen Tag geschwatzt hätten. So saßen sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr am elterlichen Familientisch. Jedes der fünf Geschwister war früh vor dem Vater geflohen. Nur die Mutter hatte bis zum Schluß ausgehalten.
Wieder mußte Ida seine Familie bewundern. Die jüngste Schwester Suzanne ist heute erfolgreiche Anwältin mit dreifacher Zulassung! Sie hat sich vor einiger Zeit entschieden, das große Monopoly nicht nur mitzuspielen, sondern auch zu gewinnen! Dafür heiratet sie einen hohen Militär, zieht über den großen Ozean, widmet ihr Leben der Arbeit und zeigt sich auf den wichtigen Partys. Während der Seuchenangst war sie eine der Ersten, die sich den oktroyierten Impfungen unterwarf. Peter war gegen sämtliche Maßnahmen. Über den Atlantik schickten sie sich Argumente und jeder war überzeugt, der andere sei von dunklen Mächten besessen. Peters Urteil über seine Schwester fiel nicht immer schmeichelhaft aus.
Und dennoch sitzen sie gestern in Liebe vereint am Tisch. Das schafft Idas Familie nicht halb so gut. Die einzige, die die Kunst des ungefährlichen Plauderns beherrscht, ist Idas Mutter Brigitte. Seltsamerweise haben das weder ihr Bruder, noch Ida selbst von ihr gelernt. Ida empfindet Smalltalk heute noch als feige. Da ähneln die Geschwister ihrem verstorbenen Vater. Mit ihm arteten Diskussionen regelmäßig aus. Auch Idas Diskussionen mit Peter tun das.
„Nein, schon länger nicht mehr!“ ruft Ida ihrem Tagebuch zu. Peter habe es noch nicht realisiert, aber ruhige Wendungen, wie bei ihrem vorgestrigen Gespräch über Anhänger und Geld, gäbe es immer mehr. Doch traue er dem Frieden nicht. Zwar sagten seine Lippen, er glaube an Wunder, aber Ida wird wohl warten müssen, bis es auch sein Herz tut. Dabei täte es ihrem verzagten Herzchen ganz gut, wenn es bei der Aufgabe an Wunder zu glauben Unterstützung bekäme, denkt Ida. Peters Glaube an seine Selbstheilungskräfte würde Idas morphogenetisches Feld für positive Wendungen vergrößern!
„Jaja, ich weiß, ich gebe mit Fremdwörtern an, entschuldige liebes Tagebuch, bitte recherchiere Rupert Sheldrake, nein, noch besser du suchst gleich nach Doktor Joseph Murphy!“, Ida hat eine missionarische Ader.
„Wenn ich nur wüßte, wie ich dir helfen könnte,“ sagte Peter traurig am Telefon.
„Ich weiß, wie du mir helfen kannst,“ antwortet Ida „du mußt nur fest daran glauben, daß ich es schaffe. Auch ohne Ärzte!“
“Aber das glaube ich!“ antwortet Peter mit Ausrufezeichen.
„Ich weiß, daß du glaubst, daß ich es schaffen kann. Aber würdest du auch an Selbstheilung glauben, wenn du an meiner Stelle wärest?“
„Nein, ich denke, ich würde noch weiter auf Arztsuche gehen,“ gibt er zu. Im Gegensatz zu Ida, ist Peter nicht der Meinung, daß sie die Möglichkeiten der Medizin schon ausgeschöpft hat. Aber er urteilt wie ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert. Ida lebt oft schon im Jahr drei nach Null.
Sie entgegnet ihm lachend: „Das ist auch kein Wunder. Du bist der gesündeste Mensch, den ich kenne. Deine wenigen Erfahrungen mit diesem Pharmazirkus haben dich noch lange nicht an den Rand der Verzweiflung gebracht!“
Zum Abschied sagt Peter noch: „Ich habe euch vermisst. Jeany, Hatschi und dich!“
„In dieser Reihenfolge?“ fragt Ida und sie lachen beide, weil er tatsächlich Hatschi mehr vermisst als sie. Ida weiß aber, daß es ihre Seele in Gestalt dieser zarten Katze ist, nach der er sich sehnt. Hatschi ist ihr Seelentier. Peter sagt, Hatschi wäre Ida in homöopathischer Dosis.
Als sie auflegt, fällt ihr erst die Tragik seiner Worte auf; „Ich habe euch vermisst!“
Wie sehr er doch innerlich zerrissen ist. Ida muß weinen.
Heute hat Ida sich die Aufgabe gestellt, hinter dem Bücherregal zu putzen. Das ist nicht die schlimmste Stelle, aber die Aktuellste, durch ihr Mäuschen. Gestern schien ihr das eine leichte Aufgabe und sie freute sich fast darauf. Aber jetzt ist es wieder eine riesige Hürde.
Sobald sie einmal den Lappen in der Hand hat, wird Aufgabenbewältigung schon leichter. Nur, wie kommt sie zum Lappen? Ida fürchtet solche Zustände!
„Auf, auf, putz’ nur die eine Stelle!“ sagt sie sich und verharrt doch bewegungsunfähig auf der Couch. Ida muß sich flach legen. Das Kratom verursacht ihr Übelkeit. „Kein Wunder, daß es legal ist!“ kommt ihr in den Sinn. Der heutige war kein besonders guter Tag.
Die letzten beiden Tage hat Ida in zweien ihrer alten Tagebücher gelesen. Sie haben vierzig Jahre lang jeden Umzug überlebt. Ungeöffnet seit damals! Die wenigen Versuche sie in der Vergangenheit noch einmal zu lesen, gab Ida schnell auf. Sie ertrug den Schmerz nicht, den ihr junges Ich herausschrie. Seite um Seite, über Jahre!
Auch heute ist es noch schwer für Ida dieses Mädchen anzuschauen, das ihr dort entgegensieht. Es ist hilflos seinen Dämonen ausgesetzt. Ida muß ihre Gefühle regelrecht abstellen, wenn sie weiterlesen will.
Es scheint ihr, als hätte sie damals mit den Tagebüchern eine Zeitkapsel gebaut, im Wissen darum, aus der Zukunft Antwort und Erlösung zu erfahren. Ida ahnte, daß die Ältere der Jüngeren helfen könnte. Aber sicher dachte diese dabei nicht an vierzig Wartejahre. Damals konnte Ida sich noch nicht einmal vorstellen, selbst irgendwann vierzig zu sein.
Aber sie behielt recht. Ida weiß heute tatsächlich, wie sie sich retten könnte; ihre gepeinigte Seele aller Schuldgefühle zu befreien, ist das Einzige, was sie dazu nötig hat. Damals so sehr, wie heute. Idas Frage heute aber ist die selbe:
„Bin ich dafür schon alt genug? Kann ich mir schon selbst verzeihen?“
Solche Überlegungen befördern Ida in den gedanklichen Zustand eines Wurmloches!
„Wer bin ich? Junges Mädchen oder grau werdende Frau?“
Stülpt Ida sich gerade von innen nach außen? Hat nur sie den Eindruck, sie lebe eine Romanfigur? Stimmt ihre Theorie tatsächlich, daß sie – und nur sie – sich selbst erschafft? sind Fragen, die sie ihrem treuen Tagebuch anvertraut.
Die Tagebücher von damals hat Ida auf völlig andere Weise geschrieben, als ihr heutiges. Dieses wird auf einer Tastatur getippt, von Tag Zwei an geändert, geschliffen und poliert. Immer wieder liest sie ihre Worte und verbessert.
„Liegt dieser Perfektionismus an dem neuen Kommunikationsmedium, oder folge ich einem Auftrag, den ich noch nicht erkennen kann?“ fragt sie sich nicht zum ersten Mal.
„Für wen schreibe ich? Gegen wen schreibe ich? Was kann ich erreichen? Was will ich erreichen? Warum kann mir Schreiben helfen, oder doch nicht?“, sind Fragen, die sie sich immer wieder stellt, oft während ihrer Hustenanfälle.
Jene Tagebücher schrieb Ida wie in Trance. Mit Füller. Oft in roter Tinte. Ohne Stocken, ohne Korrekturen, in winziger Schönschrift, das gesamte Blatt ausnutzend. Kein Satz blieb stecken. Keine unlogische Stelle blieb offen. Seite um Seite schreit dort eine Seele grammatikalisch perfekt nach Befreiung aus ihrem Gefängnis. Nicht nur einmal liest sie: „Hilfe! Ich brauche Hilfe! Hilft mir denn niemand?“ Ida fühlt wieder, was sie damals fühlte. Es schnürt ihr nach wie vor die Kehle zu.
Viele ihrer Erzählungen hat sie vergessen. Nur ein paar blieben bis heute. Doch damals waren die beschriebenen Menschen so wichtig, daß sie ihnen tausende Worte widmete.
„Wo sind sie hin? Leben sie noch? War ich ihnen auch wichtig? Haben sie mich auch vergessen?“, fragt sie sich vierzig ereignisreiche Jahre später.
Sie wundert sich, wie viele Details sie vergessen hat. Sie sind verschwunden im Nebel des Schmerzes. Wenn sie über die Jahre ab und zu alte Schulfreundinnen traf, fiel immer auf, daß Ida kaum noch Namen von Mitschülern wußte. Ihr Belastungskontingent war nicht groß genug, für alle emotionalen Niederlagen, die sie verarbeiten mußte. Ihren Tag in Worte gefasst zu haben, erwirkte gnädige Amnesie, indem sie sich die Schuldgefühle von der Seele schrieb! Schuldgefühle, die angesichts ihrer Ursache viel zu heftig waren. Einige konnte sie auf diese Weise verarbeiten, aber das Meiste tut beim Lesen noch genauso weh, wie beim Schreiben.
„Immer verliebten sich Muttersöhnchen in mich, die ich mit herzloser Verachtung behandelte, was mir wiederum ein furchtbar schlechtes Gewissen machte!“ Das war einer der vielen Gründe, warum sie so lange ungeküsst blieb!
Dabei war Ida kein hässliches Mädchen, sie hatte gewisse Erfolge. Jedoch überwand sie nicht bei einem einzigen Flirt, die ihr eigene Hürde. Immer wiederholte sich das Muster, daß ein Junge mit ihr liebäugelte, um sich ein paar Wochen später verwirrt zurückzuziehen.
„Wenn endlich einmal ein kleiner Draufgänger auf mich aufmerksam wurde, machte er alsbald einen Rückzieher!“ Das passierte meist dann, wenn er spürte, daß Ida seine Gefühle übernahm. Sie fand schön, was er schön fand. Am liebsten wäre sie in seine Haut geschlüpft. Zunächst förderte das aufregende Tage, aber bald machte es ihr Zusammenkommen schwer, denn die verliebte Ida verzichtete konsequent auf ihr eigenes Wesen. Es schien ihr keines Bedauerns wert, weil sie ihren Instinkten schon lange nicht mehr trauen konnte. Liebe suchte sie nicht in ihrem Herzen, sondern im Herzen des Anderen!
Idas Projektion forderte vom Angebeteten allerdings ewigen Zuspruch! Sie witterte unfehlbar jede aufkommende Entzweiung und machte laut darauf aufmerksam:
„… aber du hast doch gesagt, daß du mich zu deinem Fußballspiel mitnehmen wolltest!“
„Ja, schon, aber das ist heute etwas Besonderes. Ein Männerding, da können wir keine Frauen brauchen!“
Ida verrät ihrem Tagebuch:
„Wenn der Junge mich nicht überall integrieren wollte, empfand ich das als Ablehnung meines Gesamtwesens, bei der nichts mehr von mir übrig blieb! Weil das äußerst schmerzhaft war, versuchte ich mich das nächste Mal durch geschicktes Verhalten anzupassen und stoppte die Beschwerden. Das machte mich zwar handhabbarer, aber stillte keine meiner Bedürfnisse. Ich war stumm beleidigt und saß regelmäßig weinend im Zimmer. Wenn ich den Jungen dann wiedersah, war ich wütend und schüttete das Kind mit dem Bade aus! In Unkenntnis der wahren Zusammenhänge forderte ich von ihm die gleiche Bereitschaft zur Verschmelzung, wie ich sie gezeigt hatte! Eine Symbiose schien mir das einzig stabile Fundament einer Beziehung zu sein. Mein Kopf war zu jedem Entgegenkommen bereit, nur selbst stehen konnte ich nicht!“
Daraus entwickelte Ida das Verhalten, das Peter heute noch ‚streiten‘ nennt. Sehr lange begriff sie nicht, daß jede Entzweiung von ihr aus ging! Sie forderte Erlösung vom falschen Adressaten.
Ida blieb nicht allein, aber einsam.
Was bei dieser Bedürftigkeit an Missbrauch möglich wurde, kann sich derjenige ausmalen, der sich Ida trotz ausgezeichneter Schulbildung, als völlig naiv vorstellt. Bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr war Idas Vorstellung von Sexualität und Liebe, aus Brigittes Bücherwand angelesen. Ida verbrachte ihre Jugend sehnsüchtig träumend und jungfräulich.
Dann sollte geschehen, daß sie sich an ihrem siebzehnten Geburtstag im Himmel wähnte; sie war zum ersten Mal in einem Strandurlaub unter mediterraner Sonne. Dort passierte, was ihr im prüden Heimatland nie passiert war; jeder Mann drehte sich nach ihr um. Wie sehr sie das genoss! Endlich weckte Ida Begehren! Sie sehnte sich schon sehr lange nach Liebkosung! Seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr berührt worden. Das war als zeitgenössische Normalität niemandem aufgefallen. Kinder durften liebkost werden, Jugendliche mussten darauf verzichten. Ida war bedürftig nach Zärtlichkeit, wie ein verlassenes Kätzchen. Mit diesen sehnsüchtig ausgerichteten Antennen, ahnte sie gleich am ersten Abend, daß ihr Hunger gestillt werden könnte. Es herrschte eine geheimnisvoll schwüle Atmosphäre, in diesem Land mit dem neuartigen Licht. Voller Erwartung zog es sie zum Ort des Tanzes. Dort angekommen machte ihr der erste Junge an der Tür radebrechend Komplimente, die Ida mehr als gerne glaubte. Ab diesem Moment geschah alles auf einmal. Noch bevor sie eintreten konnte, in diese lockende Welt der Erotik, küsste sie der Junge, dessen Sprache sie nicht verstand. Das war Idas erster richtiger Kuss. Sie war überglücklich. Ihr Körper explodierte zu einem nie gekannten Wohlgefühl. Ida versank in seinen Lippen. Er nahm sie um die Taille und gestikulierte, er wolle mit ihr spazieren gehen. Sie spazierten zu seiner Arbeiterbaracke.
Noch in der selben Nacht, in der Nacht ihres Geburtstages, zerriss dieser Junge in Ida das, was sie durch ihn kurz zuvor erst entdeckt hatte. Sie war nur eine Kerbe mehr in seinem armseligen Saisonarbeiterbett.
Danach ließ sie sich nie wieder fallen. Sie hatte noch viele Begegnungen mit jungen Männern, aber das, was ihre Umgebung „einen Freund finden“ nannte, war ihr nicht vergönnt. Sie konnte keinem Kompliment mehr trauen.
Das einsame Leben ohne festen Partner dauerte an und wurde für Ida erst erträglich, als sie sich aus purer Verzweiflung in eine Frau verliebte. Sie kann sich erinnern, daß sie den Satz prägte:
„Wenn es nicht mit Männern klappt, muß ich eben eine Frau finden!“
Damals war sie schon dreißig und hatte viele heterosexuelle Versuche hinter sich.
Am meisten erstaunte Ida nicht die neuartige Welt der Homoerotik, sondern die gleiche Bereitschaft zur Kernschmelze. Aus ihrer ersten Begegnung mit einer jungen hübschen Tribadin wurde eine langjährige Beziehung. Nicht, weil Ida etwa heimlich lesbisch gewesen wäre und sich nicht ‚aus dem Schrank heraus‘ getraut hätte, sondern weil sie mit Frauen nicht gegen Dämonen kämpfen mußte. Besonders nicht beim Liebesspiel!
„Außerdem liebt man sowieso immer einen Menschen, nicht ein Geschlecht,“ sagte Ida damals trotzig ihrer verzweifelten Mutter!
Mit der wunderschönen Erzählung, wie Ida sich in Tamara verliebte, endet dann auch das letzte Tagebuch. Ida war fürs Erste erlöst. Endlich konnte sie sich einem Leben widmen, das nicht nur aus Sehnsucht bestand. In der Rückschau ist es ihrer lang vergangenen Liebe zu Tamara zu verdanken, daß sie wenigstens in ihrem zweiten Beruf einigermaßen erfolgreich wurde. Beflügelt von der Leichtigkeit eine Frau zu lieben, hatte sie Kraft, sich als Sängerin zu formen. Ida mußte zwar das hehre Ziel, Opernsängerin zu werden ihrem Kleinmut opfern, aber schaffte es dann doch auf die große Bühne. Als Opernkabarettistin. Ein Genre, das sie sich zu diesem Zweck erst ausdenken musste. Damit verdiente sie ein wenig Geld und sogar ein paar Lorbeeren. Bis dann auch das schief ging und ihr Husten wieder ihr Leben übernahm.
Tagebuch schrieb sie über all die Jahre nicht mehr.
Bevor Ida aber weiter in ihrer Vergangenheit gräbt, will sie noch nachtragen, was am Abend vor zwei Tagen in der Gegenwart geschah.
Peter kommt, traurig und gestresst im Paradiesgärtlein an.
„Wie soll’s mir schon gehen? Mein Vater ist gestorben. Das steckt keiner einfach weg. Auch wenn der Vater ein Tyrann war,“ antwortet er auf Idas höfliche Frage.
Damit hat Ida gerechnet und plant deshalb schon Tage vorher, etwas besonders Gutes zu kochen. Das muntert ihn meist auf. Kümmel, Kreuzkümmel und Fenchel sind ihre Liebesboten zu Hackfleisch und Kartoffeln. Es funktioniert. Peter ist begeistert.
Nach dem Essen kann sie sich kaum zurückhalten. „Darf ich Dir vorlesen was ich geschrieben habe?“ bettelt sie.
„Selbstverständlich darfst Du. Ich liebe es dir zuzuhören. Klavierspielen, Singen oder Vorlesen, immer berührt es mich!“ Er lächelt. Da ist es wieder, dieses besondere Wesen!
„Solche Worte meint er ernst!“, versichert Ida ihrem Tagebuch. Sie freut sich und ist kaum zu bremsen:
„Ja? Jetzt gleich?“, ihre Stimme wackelt, wie damals vorm Weihnachtsbaum.
„Willst du mir nicht fünf Minuten auf der Couch gönnen? Ich bin platt. Ich habe viel zu viel gegessen!“ stöhnt Peter, der nach seinen Komplimenten gerne seine Ruhe hat.
„Natürlich will ich! Aber du weißt ja nicht, daß ich schon seit Stunden auf diesen Augenblick warte, herum zapple und mir ausmale, wie deine Reaktion sein wird! Es dauert nur zehn Minuten! Du mußt wissen, daß ich einen Plan verfolge. Ich will, daß es dir nach dem Zuhören besser geht. Ich beanspruche die Macht, dir das Herz zu erleichtern!“ Ida schmollt theatralisch, bis er lacht und sich ergibt.
Was erhofft sie sich, ihm die Gedanken ihres unruhigen Geistes mitzuteilen? Was gibt ihr die Sicherheit, nach dem Vorlesen herrsche eine freundlichere Atmosphäre?
Schreiben ist Idas einfachste Möglichkeit sich auszudrücken. So kann sie Peter ihre Welt schildern, ohne auf subkutane Angriffe ihrer Zensoren reagieren zu müssen. Ida hofft, wenn er versteht, wie hart sie kämpft, wird er begreifen, daß die hässlichen Streits der Vergangenheit gar nicht zwischen ihnen stattfanden. Es kämpften stets nur ihre Avatars vor einer düsteren Szenerie.
Sie liest mit höchsten Erwartungen und Peter hört zu. Zuerst spielt er noch mit Hatschi, aber bald blickt er an die Decke und schluckt. Nur einmal entweicht ihm ein schnelles: „Das stimmt nicht!“, als Ida sich des Beziehungsversagens beschuldigt. Den Rest bleibt er stumm.
Er bleibt auch stumm, als sie fertig ist. Sonst kommt an ähnlicher Stelle ein: „Sehr schön!“, oder: „Ich liebe Deinen Stil!“, wenn Ida Künstlerin gespielt hat. Ida spürt, daß sie ihn dieses Mal tiefer berührt.
„Kann ich es so lassen, bist du einverstanden?“ frage sie nach ein paar stillen Sekunden.
„Ja, du kannst es lassen. Hie und da sehe ich mich anders, aber du hast mich gut geschildert. Ich stecke in einer Krise. Sie hat nur indirekt mit dir zu tun. Ich habe darüber gar nicht so konkret nachgedacht, aber ich kann mich in deinen Worten erkennen.“
„Oh, das macht mich so stolz!“ jubelt sie und hakt gleich noch einmal nach: „Wie ist es mit meinen Fortschritten? Kannst du die auch erkennen? Siehst du auch, daß ich mich ändere? Siehst du auch, daß ich mich innen ändere?“ Ida lechzt nach Belohnung, immer noch!
„Ja, das sehe ich. Es ist ein wenig unwirklich, die Ereignisse durch deine Wahrnehmung zu sehen, aber alles, was du schreibst erscheint mir schlüssig, ohne, daß es mir davor bewußt gewesen wäre. Deine Worte erschaffen eine Dichte, wo davor nur Nebel war.“
„ … uuuund, habe ich recht behalten, daß es dir jetzt besser geht?“
Peter bejaht bereitwillig ihre etwas großspurige Frage. Es geht ihm tatsächlich besser.
Ida hüpft auf dem Sofa, als hätte sie ein besonders schönes Geschenk unter dem Weihnachtsbaum gefunden.
Luna ist gerade gegangen. Ihr liebevolles Wesen liegt noch in der Luft. Sie hat Ida heute gleich zu Beginn gesagt, daß sie sich in wichtigen Situationen immer fragt, was Ida ihr jetzt raten würde. Ida strahlt sie an:
„Weißt du, daß dieser Satz Grund genug für mich ist, auf die Welt zu kommen?“ fragt sie rhetorisch, glücklich im Kompliment badend. „Ich möchte dir auch erklären warum, wenn ich darf!“ bettelt sie mit eifrigen Augen.
„Ich bitte sogar darum!“ antwortet Luna mit ihrer charakteristischen, anachronistischen Wortwahl.
„Wenn ich diesen Satz nur ein einziges Mal im Leben gesagt bekomme, habe ich ein großes Lebensziel erreicht: Ich habe etwas gelernt, das Gelernte angewendet, an dich weitergegeben und du nutzt es nun. Das macht mich glücklich!“, sind denn auch die Worte der Dankbarkeit, die aus Ida raus müssen.
Ida empfindet zu Luna tiefes Vertrauen und Freundschaft. Sie haben offiziell ein Lehrverhältnis. Aber Luna ist schon lange nicht mehr Schülerin, sie ist oft selber Lehrerin, noch öfter Leidensgenossin.
Vor sechs oder sieben Jahren ist sie als Gesangsschülerin in Idas Leben getreten. Da war sie zehn Jahre alt. Schon damals war sie als besonderes Wesen erkennbar, bot zunächst aber noch ein unscharfes Bild von sich. Sie wurde von ihrer Schauspielergroßmutter zu Ida gebracht und sang mit solch einem ehrlichen Talent, daß Ida heimlich kalauerte, dieses Mädchen wäre leicht verdientes Geld! Sie könne schon alles.
„Ich muß nur aufpassen, daß sie keiner vermurkst!“, verspricht sie sich aber sofort danach mit heiligem Ernst.
Seither ist jeder Unterricht mit Gold durchwirkt.
„Ach, ich übertreibe wieder!“ schimpft Ida sich selbst. Eine Weile brauchte sie schon noch, um sich von ihrem Bild als Systemverteidigerin zu lösen und mutete der jungen Luna viel zu früh ihre gesamten fünfzig Jahre zu, gesteht sie ihrem Tagebuch.
„Da war sicher kein Echtgold am Werk!“ schämt sie sich. Luna aber zweifelte nicht an Idas Integrität, obwohl sie zunächst gar nicht wußte, was das Wort bedeutete. Weil sie Ida nie hinterfragte, hat diese am Anfang noch ein paar von Lunas Antennen geknickt. Ida lernt erst mit Lunas Bereitschaft bei ihr zu bleiben, was eine gute Lehrerin ausmacht.
„Ich darf gar nicht an meine vielen Schüler vor ihr denken. Ich müsste mich bei jedem entschuldigen!“, hat Ida seither oft gedacht.
So muß sie sich etwa zum Vorwurf machen, daß sie Luna ihre eigenen Ängste vor dem Klavierspielen ‚vererbt‘ hat. Ida sollte als Gesangslehrerin auch Klavier spielen können, hatte es aber nie richtig gelernt.
„Ich hatte früh eine Abneigung gegen Noten entwickelt, die ich mir selbstverständlich in meinem klassischen Studium nicht erlauben durfte und demzufolge unerkannt hinter mir her schleppte!“
Versagensängste waren die Ursache ihrer Abneigung gegen das Klavier, das gar nichts dafür konnte.
Aber sie und Luna machen doch inzwischen Fortschritte, weiß Ida im Augenblick des Schreibens. Das Klavier ist längst ihr Freund geworden.
Zunächst saugte Luna alles, was Ida sagte ein, wie ein Schwamm. Dabei schien sie fast schüchtern und man hätte ihr Bemühen, alles richtig zu machen, leicht als Angepasstheit missverstehen können. Luna vergaß etwa nie ihre natürliche Höflichkeit der Älteren gegenüber. Aber die redigierende Ida weiß, daß Luna auch ihre rebellischen Seiten hat, die sie lautstark Autoritäten hinterfragen und herausfordern lässt! Ida hat diesen Mut soweit sie konnte gefördert. Aus Dankbarkeit nicht für ihren Überschwang gerügt zu werden, sparte die Jüngere die Ältere bisher von ihrer Empörung aus.
Aber vor zwei bis drei Jahren fing sie doch an, Ida auch als Mensch zu sehen. Sie liebte sie schon als Lehrerin, aber noch mehr liebt sie sie, seit - dem ihr Ida eigene Fehler eingestehen kann. Außerdem fühlt sie, daß auch Ida sie nicht nur als Schülerin liebt.
Mit dieser Reife kommt ihr die Erkenntnis, daß ihre angebetete Lehrerin doch auch Vieles falsch macht. Wenn sie in der Regel Ida alle Fehler verzeiht, so werden sie ihr in dem Zuge aber auch bewusst. Ida hat im Unterricht begonnen, ihre eigenen Traumata zu benennen, wenn sie auftreten. Sie erlaubt ihrem Operndivenselbstbild Risse zu bekommen. Unter der Tünche kommt eine Ida hervor, die kaum mehr Sozialkompetenzen hat, als Luna selbst. Sie leiden unter dem gleichen Mangel an Selbstliebe!
Vielleicht ist das der Grund, warum die Jüngere seit einiger Zeit auch die Ältere für deren Erfolge lobt. Wenn etwa Ida eine besonders schöne Begleitmelodie gelungen ist. Ein Lob, das Ida aus ganzem Herzen annimmt.
Luna findet immer öfter große, wertvolle Worte für Ida. Sie gewöhnt sich an ihr Selbstbild als Frau. Sie ist innen nicht mehr Kind.
Ida glaubt, diese Änderung kam, als sie sich ihrer selbst bewußt wurde. Das muß der traurige Augenblick gewesen sein, als Luna Tragisches geschah: Ein Junge hat ihre blühende Jugend genommen und achtlos weggeworfen. Dieser Schmerz, etwas Wertvolles mit Füssen getreten bekommen zu haben, zerriss den Schleier des Schutzes, den ihre Eltern bis dahin um sie weben konnten. Luna wusste, das kann niemand reparieren. So wurde sie zur Frau ohne gewusst zu haben, was die Konsequenzen ihrer Sehnsucht mit ihrem Leben machten.
Ab dem Augenblick musste das schmale Mädchen Luna zur vollentwickelten Frau werden, um nicht wieder in ihr Herz getroffen werden zu können.
Luna ‚weiß‘ seither, was Ida fühlt, weil sie deren Ängste erspüren kann. Sie erklärt Ida, daß sie diese Hellfühligkeit bei vielen Menschen hat! Aber Luna kann mehr als das. Sie kann Idas Ängste nun auch spiegeln. Ida weiß, daß das keine charakterliche Kleinigkeit ist, gegenüber 40 Jahren Altersunterschied.
Ida fragt sich zum wiederholten Male, warum es immer des Schmerzes bedarf, um zu sich selbst zu finden, wenn es doch der gleiche Schmerz ist, der einen von sich selbst erst entfernt?
Ab diesen Entwicklungen konnte Ida nicht mehr Lehrerin sein. Sie schickte nach und nach alle ihre Schüler weg und nutzte dazu die erfundene Seuche als Vorwand. Zu Luna sagte sie aber: „In meinen Augen bist du ein Genie. Ich kann dich nicht mehr unterrichten! Aber ich wäre sehr gerne bei deiner Entwicklung dabei! Deckst du mich bei deiner Mutter und kommst weiterhin?“
Ida fragte sich, wie ein damals dreizehn jähriges Mädchen die Tragweite solcher Worte erkennen kann? Doch Luna konnte! Sie bestimmte fortan den Lerninhalt, sie bestimmte das Lerntempo und sie gedieh am Glauben an sich selbst.
Dazu fällt Ida eine bezeichnende Begebenheit ein. So kommt Luna etwa in ihrem fünfzehnten Lebensjahr zum Unterricht und sagt mit vorgeschobener Unterlippe, daß ihr das Fach Französisch so schwer fiele. Die französische Aussprache würde ihr nicht ‚stehen‘. Die wahrscheinlichere Ursache stecke woanders, vermutet Ida aus einigen Indizien. Luna hat sich aus erfrischender Neugier längst an einem französischen Chanson versucht, ist aber unsicher geworden, weil sie ganz anders klingt, als ihre Freundinnen.
„Ihre bessere Aussprache kommt durch jahrelange Beschäftigung mit Musik, das trainiert auch ihr Gehör für Wortklang!“ erklärt Ida ihrem Tagebuch, als sie hinter das Geheimnis von Lunas ‚Maulen‘ kommt. Denn ihre unmusikalisch erzogene Umgebung ist nicht gewohnt sich selbst zuzuhören und muss deshalb zwangsläufig an Lunas Bemühen um bestmöglichen Gleichklang Anstoß nehmen:
„Das sieht voll schwul aus!“
Ida versucht eine Lanze für die verschmähte neue Welt zu brechen, indem sie Ida einen Chansontext in ihrem bestem Schulfranzösisch vorliest. Sie selbst ist schon in die Lebensart der Nachbarn verliebt, seit ihrem ersten französischen Liebhaber! Leider findet sie nach wie vor zu wenig Möglichkeit ihre eigene Aussprache zu verbessern, erfindet also so manchen Diphthong, aber Luna überhört wie immer Idas Fehler großzügig. Sie fühlt indes Idas Liebe und findet Bestätigung darin. Nein, sie sieht nicht albern aus, wenn sie ihren Mund zu seltsamen Grimassen verzieht:
„Mademoaassselll’ö“
Weil Ida lustvoll liest, kann Luna ihre zuvor entdeckte Lust am Gleichklang zulassen. Mehr braucht es nicht.
„Ihr Akzent ist lupenrein!“, berichtet Ida ihrem Tagebuch und wiederholt ihre Worte:
„Leicht verdientes Geld!“
Aber es gibt auch Misserfolge, wie Ida zerknirscht zugeben muß. Etwa wenn Luna sich am begleitenden Klavier verspielt, weil sie mit ihrem Gesang unzufrieden ist; ihre Stimme muß unter allen Umständen durchhalten, die Hand darf aufgeben!
Dabei wäre das Klavier die weit einfachere Aufgabe, wenn man die Virtuosität ihrer Stimme in den Vergleich stellt, hält Ida in ihrem Tagebuch fest. Luna hat Idas fatalen Ehrgeiz übernommen sich selbst für Fehler zu demütigen, was die mehr instinktgeleiteten Körperteile, ihre unschuldigen Hände als Erste büßen müssen.
Ida muß beim Niederschreiben dieser Worte schwer schlucken. Sie weiß, sie hat Luna ihrer Leichtigkeit beraubt, als sie noch glaubte, sie auf ihre wertende Umwelt vorbereiten zu müssen, anstatt Raum für Entwicklung zu bieten. Die Jüngere hat ihr schon lange verziehen, aber Ida kann sich selbst nicht verzeihen.
Sie diskutieren viel über ihren gemeinsamen, so zerstörerischen Anspruch und fragen sich, ob er intrinsisch, oder oktroyiert ist. Immer versteht Luna Ida dabei besser, als diese es erwarten würde. Ida betont vor ihrem Tagebuch noch einmal, daß Luna erst siebzehn Jahre alt ist!
Luna empfindet Ida als Glücksfall, der ihr kurzes Leben schon mit großen Erkenntnissen schmückte. Ohne Ida nagten ihre Selbstzweifel ungleich tiefer. Ida wiederum empfindet Luna als Glücksfall, der ihrer Lebensaufgabe Gestalt verleiht: Der Mensch ist Gott, Ida ahnt ihre Göttlichkeit und die unverdorbene Luna verkörpert sie!
Ida sieht ihre augenblickliche Aufgabe, Luna bei ihrer Schulnote in Mathematik zu helfen. Sie selbst hat zu wenig Sachverstand, aber eine Herangehensweise, die Luna womöglich besser helfen kann, als wissenschaftliche Erklärungen. Luna hasst dieses Schulfach, also wird Ida nur wenig Chancen haben, ihr die nötige Liebe zu vermitteln. Luna hat aber dennoch in der letzten Zeit viel bessere Noten geschrieben. Der investierende Vater sieht diesen Verdienst in Gestalt einer Nachhilfestudentin, zu der Luna wöchentlich pilgern muß. Daß diese Wanderungen nicht viel zu Lunas Verbesserungen beitragen, weiß Ida, weil die Jüngere berichtet, daß sie noch nicht einmal die normale Sprechweise der Studentin verstünde, ganz zu schweigen von ihren Versuchen Ida die Sprache der Mathematik beizubringen.
„Um ihre fremdartige Ausdrucksweise zu verstehen, müsste ich in den letzten Jahren im Unterricht aufgepasst haben. Aber wenn ich aufgepasst hätte, bräuchte ich keine Unterstützung!“, seufzt Luna mit bestechender Logik.
Ida weiß, wovon sie spricht. Sie hatte auch einst eine Nachhilfelehrerin. Heute weiß Ida, daß diese versucht hat, Ida eine alternative Sichtweise zu lehren. Sie nannte es ‚um die Ecke denken‘. Aber Ida fühlte sich zu unwohl, um etwas aufnehmen zu können. Sie war zu beschämt über ihre diagnostizierte ‚Dummheit‘. Sie wollte nur die Schmach einer Extrabehandlung getilgt wissen. Nach ein paar demütigenden Wochen beschloss sie deshalb innerlich, nun doch für das verhasste Schulfach zu lernen und schrieb sofort bessere Noten. Sie hatte geglaubt, auch Lernen würde nichts bringen. Wenigstens diesen Effekt hatte die fremdartige Situation: Ida begriff den Wert der Eigeninitiative.
„Du selbst bist verantwortlich, daß du jetzt in Mathe gut bist, nicht deine Nachhilfelehrerin, das weißt du doch, oder?“ hat Ida sie gerade erst gefragt, als Luna ihr gesteht, daß sie früher neidisch auf ihre Brüder war, die so sorglos gute Noten schrieben.
Dabei läuft sie nervös hin und her. Das Leben seit dem Millennium ist nicht sehr großzügig zu jungen Menschen. Sie werden unter hohen gesellschaftlichen Druck gestellt: Schule, Beruf, soziales Umfeld – überall zieht sich der Spielraum zu. Luna muß in der achten Klasse schon mehr Zeit in ihre Ausbildung investieren, als Ida als Diplomandin. Während Ida eine der wenigen ‚Dummen‘ war, die Nachhilfe brauchten, gibt es in Lunas Gegenwart kaum ein Kind, dem diese Behandlung erspart bleibt. Luna will Ida also mehr als gerne glauben, daß sich ihr Blatt gerade wendet, läuft aber weiter hin und her. Die Ältere predigt:
„Nicht Vererbung, harte Arbeit oder Glück braucht’s dazu. Dein Bewußtsein hat ganz alleine erreicht, daß du zum ersten Mal keine Angst vor einer Mathearbeit hattest. Aber wie kam das? Es kam mit einer lächerlichen Kleinigkeit: Ich machte dich darauf aufmerksam, daß es nicht zu dir passt, schlecht in Mathe zu sein! Du bist nämlich viel zu schlau für schlechte Noten. Im selben Augenblick, wenn du dir auch nur vorstellen kannst, etwas in Mathe zu kapieren, kapierst du schon. Es ist die Bereitschaft für eine Sache, die diese möglich macht. Du warst gezwungenermaßen bereit für eine Änderung, weil dir das Wasser – die gefährdete Versetzung – bis zum Halse stand. Unmöglich würdest du diesen Zirkus länger als nötig mitmachen. Ich predige also seit Monaten, daß du gut in Mathe bist, weil ich weiß, daß du es sein wirst, nicht, weil du es schon warst.“
Luna lacht: „Nein, in Mathe war ich noch nie gut!“
Ida lässt sie damit aber noch nicht gehen. „Du hast an dich geglaubt und dafür bist du jetzt gut in Mathe!“
Die Jüngere hört endlich auf, wie ein gefangenes Tier in Idas Wohnzimmer zu patrouillieren. Idas Worte erreichen sie. Diese fügt vorsichtig noch an:
„Verstehst du, daß deine Gedanken deine Welt erschaffen? Das ist der eigentliche Sinn des Wortes Schöpfer. Nenne dich selbst einen Gott, wenn dir der Begriff nicht zu ausgeblutet ist.“
Luna hört leicht überfordert zu, aber sie empfängt Idas Botschaften über mehr als nur eine Antenne:
„Also ist das der eigentliche Sinn der drei Worte, die du an deine Küchenwand geschrieben hast? Denken, Handel, Sein!“, war die unerwartete Zusammenfassung, die ihre Fähigkeit ‚um die Ecke zu denken‘ eindrucksvoll demonstrierte.
„Ja, du schlaues Mädchen! Der immaterielle Gedanke steht am Anfang. Auch am Anfang einer guten Schulnote!“ ruft Ida glücklich aus.
Luna ordnet ihre Gedanken:
„Die Bedeutung des Wortes Gott ist also Erschaffer! Kreator! Ein Gott erschafft etwas aus dem Nichts. Etwas Neues, das es vorher noch nicht gab! Ich schreibe ein Lied, das vor mir noch keiner gesungen hat!“, in Luna entzündet sich in diesem Augenblick ein Funke, der sich im Funkeln ihrer dunkelgrünen Augen zeigt.
Ida klatscht impulsiv in die Hände: „Ja, ja, ja! Du hast gerade Neugier für die Sprache der Mathematik entwickelt. Aus einem Sumpf von schlechten Noten, erschafftest du dir ein Rettungsseil, das in den Himmel reicht! Du bist wahrlich eine Göttin!“ Luna schaut Ida mit großen Augen an, als diese endlich mit den Worten schließt: „Kein Wunder, bei deinem göttlichen Aussehen!“
Jetzt verdreht Luna die Augen, hat aber die Größe, Idas Worte zu erwägen: „Aber heißt das nicht, daß wir alle Götter sind?“
Am gestrigen Tage ist Ida noch mehr passiert. Sie hat schon wieder neue Zusammenhänge erkannt. Schon wieder schreibt sie, weil ihr seit der Hilfe ihrer Entheogene oft Erleuchtungen kommen. Meist sind diese Geistesblitze aber so logisch, daß sich Ida fragt, warum sie sie nicht schon viel eher hatte.
Dieses Mal geschieht ihr Erkenntnis dadurch, daß Luna ihr aufmerksam zuhört. Ida liest aus ihrem Tagebuch, was sie bisher geschrieben hat und Luna erfasst es. Alles, was Luna beim Zuhören widergibt, sei es nonverbal oder verbal, spiegelt Ida und diese kann ihr Geschriebenes wie von einem anderen Standpunkt aus begreifen. Dadurch wird Luna zur aktiven, wertvollen Zuhörerin. Ida erinnert sich immer wieder erstaunt, wie jung sie ist! Keine von Idas weit herbei geholten Schlüssen überfordert sie. Sie hat sogar berechtigte Kritik, als sie Ida rät, die einzelnen Ereignisse ‚mit mehr Fleisch zu füttern‘. Ihr wären die Szenarien zu mager. Ida lacht, weil Luna so recht hat! Sie hat seit dieser Kritik rückwirkend viele beschreibende Details eingefügt. Ihr nachfolgendes Gespräch bringt Ida dann das Folgende:
Hinter Peters ruhiger Fassade sitzt der Familiendämon, den Kinder von ihren Eltern erben. Ob das womöglich gar die universelle Menschenaufgabe sei, mit einem Dämon durch das Leben zu laufen, fragt sich Ida nebenbei?
In Peters Fall ist der Dämon verkörpert durch die Unbeherrschtheit seines Vaters Alfons. Dieser war bis zuletzt ein Trickser, der konsequent vermied, seine offenen Aggressionen zu verarbeiten und allen entstehenden Schwierigkeiten mit raffinierter Unmoral begegnete.
Zum Beispiel bestach er einmal – noch in Schlesien – den Frauenarzt seiner Frau Agathe, damit dieser ihr nicht verriet, daß ihre seltsame Krankheit nur von geschlechtlicher Ansteckung kommen könne. Als treue Ehefrau hätte sie sich den Rest zusammenreimen können. Aber so wurde sie mit einer Ausrede nachhause geschickt, schluckte stumm ihr Penicillin und weigerte sich gleichermaßen tiefer nachzudenken. Sie erzählte ihren Kindern erst Jahre später davon!
Als Ida zunächst Peter diese Stelle vorliest, erzeugt sie eine seiner wenigen impulsiven Reaktionen. Er unterbricht sie mit der Berichtigung „Jahrzehnte später!“ Ida nimmt solche Reaktionen sehr ernst, weil sie weiß, daß Peters ganzes Bestreben ist, sich nicht von Impulsen leiten zu lassen. Das ist seine Waffe gegen väterliche Geister. Es muß ihn also getroffen haben, daß er die Wahrheit erst so spät erfuhr.
Immer wieder schlug Alfons weit über die Stränge. Einmal verschenkte er völlig unerwartet das Familienauto. Er schenkte es einer unbekannten Frau, die er als Cousine seiner Schwester vorstellte. Dir Restfamilie war vor den Kopf geschlagen. Woher kam diese Frau? Man hatte nie von ihr gehört! Zeitgleich fiel Agathe beim Wäschewaschen ein Strafzettel Alfons' in die Hände. Er war im Rotlichtviertel beim Falschparken erwischt worden! Hatte er mit dem verschenkten Auto unlautere Schulden beglichen? Die Familie wand sich vor Unwohlsein, aber niemand sprach ihn darauf an. „Was willste machen?“ sagte man sich gegenseitig beschwichtigend.
Naturgemäß ist solch ein Leben sehr anstrengend. Peter müssen die ambivalenten Gefühle für seinen Vater innerlich zerrissen haben. Aber, nicht nur für die Opfer ist das Leben eine Hölle. Im Laufe der Jahre entwickelte sein Vater eine regelrechte Kunst, mit seinen grauen Geistern leben zu können. Er verschaffte sich jedes Wochenende Luft, indem er die enge Familienküche für sich beanspruchte, Bier und ‚Mariacron‘ soff und dazu laut sentimentale Schlagermusik hörte. Wenn Peter davon berichtet, kann man ihm heute noch den Stress von damals anmerken. Er weiß von klein auf, so will er nie werden!
Peter ist nicht so geworden. Jeder kann ihn gut leiden! Er beherrscht die Kunst der Höflichkeit perfekt. Er erscheint seinen Mitmenschen immer als der ruhige Besonderling, der Neugier weckt. Jeder akzeptiert ihn, weil er sich nie zu einem Streitgespräch einläßt. Er sagt seine Meinung, aber er verteidigt sie nicht. Sieht er sich einem Großspur gegenüber, nickt er ihm wie zur Bestätigung zu, aber hakt ihn innerlich ab. Er hat eine souveräne Art, mit Menschen umzugehen.
Als Ida ihn ihrer Familie vorstellte, äußerte sogar ihre anspruchsvolle Schwägerin höchste Zustimmung. Seine Art zu sprechen und Raum zu nehmen empfindet jeder als angenehm. Ida war stolz und glücklich darüber, solch einen besonderen Menschen für sich gewonnen zu haben. Sie ist es noch!
Und doch gibt es Situationen, in denen Peter unsicher agiert. Etwa, wenn Ida sich immer wieder über seine ungehaltenen Versprechen aufregt. Dann kann er sie nicht immer mit höflicher Distanziertheit zurückweisen. Die unbedingte Wahrung seines Seelenfriedens ist ihm zwar enorm viel wert, aber Ida erschöpft ihn, durch ihre pausenlose Aufgabenverteilung. Zunächst dachte er, mit ihr müsse er niemals den Tribut der Überforderung zahlen, verliebt, wie er am Anfang war. Doch jetzt kostet sie ihn zu viel. Er erträgt ihre offensive Art der Stressbewältigung nicht mehr.
Weil Ida mit ihren lauten Reaktionen das gleiche beabsichtigt, wie Alfons mit seinem Mariacron – eine Art von Druckausgleich – hat sie vor Geschimpf und Gezeter keine Angst. Peter wiederum wird durch ihr Geschrei an dunkle Zeiten erinnert. Er empfindet Ida schon als aggressiv, wenn diese glaubt, nur nachdrücklich zu sein. Ihr Verhalten reizt ihn so sehr, daß seine teure Ruhe ernsthaft in Gefahr gerät. Er kann sie dann nicht mehr mit neutralen Augen anschauen. Er schaut aus den Augen seiner Mutter und sieht, was Agathe in ihrem Mann gesehen hat: einen Aggressor. Darüber kann Peter so unbeherrscht werden, daß er ein Ventil braucht, um niemanden zu verletzen. Er muß einen energetischen Ausgleich schaffen.
Ganz der Sohn seines Vaters bleibt er damit aber geschickt unter dem Radar. Oft erkennt Ida erst im Nachhinein, was ihr Geschimpfe bei ihm bewirkte. So wartet sie zum Beispiel seit einem Jahr, daß er ihre fix und fertig geputzte Entkalkungsanlage wieder anschließt. Oder sie wundert sich, warum der neu gekaufte Solargenerator aussieht, als hätte ihn jemand vor Wut in die Ecke geschleudert!
Der Geist Alfons' ist schon oft zwischen ihnen gestanden.
Ida begegnete Peters Wesen lange schon, bevor sie ihn selbst kennenlernte. Ihr kommt es vor, als wäre der jetzige Peter die Vereinigung all ihrer gescheiterten Lieben. Als wäre er der letzte seiner Gattung, den Ida brauchte, um endlich zu lernen. Als sie ihre frühen Tagebücher las, fiel ihr das so schmerzhaft auf, daß sie nicht anders konnte, als zuzugeben, daß sie selbst schuld daran war, wenn sie sich einmal mehr über Peter ärgerte. Ganz genau so hatte sie sich in der Vergangenheit über X oder Y geärgert. Wenn sie immer wieder dem gleichen Muster begegne, soll das wohl heißen, daß sie noch etwas zu verarbeiten habe, sagt sie sich selbst zerknirscht.
Wie meist in Beziehungen steht es am Ende eines Streites unentschieden und nur Liebe könnte helfen. Aber Liebe liege nicht auf der Straße, bedauert Ida. Sie leben in einer Zeit, die Peter Unzeit nennt. Liebe für sich in Anspruch zu nehmen fordert in ihrer sogenannten Hochkultur mehr Mut, als die eigene Mutter zu verleugnen. Auch ihnen fällt Liebe schwer.
Eine von Idas neuen Erkenntnissen ist demnach, daß sie Peter über lange Monate zu Liebesdiensten nötigte, ohne ihm immer Liebe dafür zu geben. Das kann der Grund sein, warum er seinen inneren Alfons nicht mehr so hart zügelt. Er verzichtet seit einiger Zeit auf Höflichkeiten und attackiert Ida sogar offensiver als nötig. Ihr stetiges Nörgeln zwingt ihn zu einem Verhalten, das er an sich selbst überhaupt nicht mag.
„Ist also das der Grund warum er in letzter Zeit eine viel schlimmere ‚Vorarbeiterschnauze‘ hat, als ich sie je hatte?“ fragt sich Ida, Peters Terminologie benutzend. Bis dahin spielte sie immer die Rolle der Überheblichen, wenn sie etwas zusammen planten. Oft schalt Ida ihn unkonzentriert und verantwortungsscheu. Woraufhin er ihr die erwähnte Vorarbeiterschnauze bescheinigte und erst recht unkonzentriert und verantwortungsscheu wurde.
Zum Beispiel wollten sie im Sommer im Gedeih die Zäune für die Schafe aufstellen. „Oder viel mehr, ich wollte!“ verbessert sich Ida. Dazu brauchte sie Peters Kraft und technischen Verstand, aber er zögerte seine Mitarbeit so lange hinaus, daß sie am Ende zwei Tage in größter Hitze durcharbeiten mussten, weil die Ankunft der Schafe ein Ultimatum stellte.
Peter hatte sich das mit der Streuobstwiese von Idas Mutter romantischer vorgestellt. Und weniger anstrengend. Folgerichtig empfand er nicht sehr viel Lust, dort mit Ida zu arbeiten. Zunächst erträumte er sich die Wiese einfach als Wiese und stellte sich darauf ein paar Obstbäume vor. Nicht viel mehr. Vielleicht noch einen gemütlichen Wohnwagen. Darin saß er dann, in seiner Vorstellung mit einem Bier in der Hand und schaute in die Ferne.