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Die ganze Geschichte (Hochzeitstag und Hochzeitstag II - Zerbrochene Träume) - erstmals komplett!
Teil 1:
"Deine Fantasien werden heute Realität. Komm ins Schlafzimmer und mache den ganzen Tag mit mir, was immer du auch willst. Ich werde alles zulassen und dir alles geben, was du verlangst oder dir wünschst. Lass uns spielen! Keine Grenzen, keine Regeln!" Ein "pikantes" Geschenk wird zu einem nicht enden wollenden Albtraum. Was wäre, wenn alles, was Sie über Ihren Partner zu wissen geglaubt haben, nur eine Fassade war?
Teil 2:
"Wir kennen die Wahrheit über Ihr Buch Hochzeitstag! Alles was man tut, kommt früher oder später auf einen zurück. Sie hören bald wieder von uns!" Zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres Romans "Hochzeitstag", holt die Vergangenheit Daniela gnadenlos ein und setzt Ereignisse in Gang, die nicht nur ihre Karriere, sondern ihr ganzes Leben zu zerstören drohen. Niemand kannte die Wahrheit über ihr Buch. Niemand wusste, dass ihre Geschichte auf wahren Begebenheiten beruhte. Bis heute. Zwei Psychothriller über Vertrauen und Hingabe, Verrat und Verzweiflung. Zwei Bücher, die uns einen Blick in den Spiegel einer dekadenten Gesellschaft gewähren und uns mit deren Bösartigkeit und Perversion konfrontieren.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Hochzeitstag Sonderedition
Michael Barth
Hochzeitstag
Ihr unbeschwertes Lächeln erstarb mit einem eisigen Blick, dessen Aussage niemand zu deuten imstande gewesen wäre. Aller Glanz schien aus dem einst strahlenden Blau ihrer Iris gewichen zu sein, um sich vor Entsetzen und Scham hinter einem grauen Schleier der Verneinung zu verbergen. Der geplante Hausputz endete gleich im ersten Raum, den Daniela sich ausgesucht hatte. Die sanften Strahlen der Frühlingssonne offenbarten zarte Staubpartikel, die durch das kleine, gemütliche Zimmer mit dem alten Mahagoni-Schreibtisch schwirrten.
Der für den Raum fast schon zu wuchtige Tisch war, ebenso wie das Haus selbst, ein Erbstück ihres Großvaters gewesen. Mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren ein eigenes Haus zu besitzen, war schon etwas Besonderes für Daniela und Marcel. Seit gut einem Jahr bewohnten sie nun die einhundertvierzig Quadratmeter am Rande von Köln-Frechen. Im Grunde waren die zwei geräumigen Etagen zum Zeitpunkt der Erbschaft in einem durchaus ansehnlichen Zustand. Jedoch war Marcel der Typ Mann, der eigentlich nie zufrieden war. Es ging immer noch etwas besser. So ließ er es sich nicht nehmen, die erforderlichen Renovierungen zum Großteil selbst in die Hand zu nehmen. Doch ein Ende seiner Arbeiten an dem Eigenheim schien nie in greifbare Nähe zu rücken. Man bekam mitunter den Eindruck, dass dies von Marcel auch gar nicht beabsichtigt war. Daniela vermutete, dass er das als Ausgleich zu seiner zeitintensiven Arbeit als Mediengestalter brauchte. Sie selbst hatte eher selten das Verlangen nach einer solchen Abwechslung. Als Hotelfachfrau waren ihre Aufgaben so vielseitig, dass sie eben nicht nur im Büro saß. Dementsprechend wusste sie die ruhigen Momente nach der Arbeit mehr zu schätzen als ihr offenbar leicht hyperaktiver Mann.
Das frisch geputzte Fenster des Arbeitszimmers war weit geöffnet und ermöglichte einen traumhaften Blick auf den großen Garten, der hinter dem Haus von einer Terrasse gekrönt wurde, die Marcel erst vor wenigen Wochen neu gepflastert und mit einem monströsen Steingrill ausgestattet hatte. »Es kommt eben doch auf die Größe an«, hatte er sich selbst gelobt, nachdem die Arbeit getan war. Ein riesiger, ovaler Gartentisch direkt neben dem Grill schien förmlich nach Partygästen zu schreien. Doch bisher hatte nichts dergleichen im Garten der beiden stattgefunden. Sie waren neu in der Stadt, und ihr Freundeskreis verteilte sich über das ganze Ruhrgebiet. Zudem mussten sie feststellen, dass der Spruch, »Aus den Augen, aus dem Sinn«, leider zutreffend war, denn die Kontakte wurden immer spärlicher. Hier in Köln kannten sie bisher, abgesehen von ihren Arbeitskollegen, kaum jemanden.
Daniela wandte ihren Blick von dem zweiundzwanzig Zoll großen Monitor ihres Mannes ab und starrte auf den Garten hinunter. Sie nahm gar nichts von dessen Schönheit wahr, sondern verharrte vielmehr in einer Art Leere zwischen den Welten. Ihre Gedanken überschlugen sich, waren jedoch nicht greifbar und erst recht nicht zu verstehen. Sie hatte die Arme wie zum Schutz vor der üppigen Brust verschränkt. Unmerklich schüttelte sie verneinend ihren Kopf. Ihr glänzendes, schwarzes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, wippte leicht hin und her, als wollte es ihren Rücken zärtlich liebkosen. Als Daniela ihren leeren Blick zur Zimmerdecke richtete, erreichten ihre langen Haare fast die schmalen Hüften. Trotz des vermeintlichen Schocks konnte sie nicht anders, als sich erneut dem Schreibtisch ihres Mannes und somit ihrer Entdeckung zuzuwenden. Der Monitor zeigte längst wieder den langweiligen Bildschirmschoner, der den Namen Marcel auf eine naiv verspielte Art von einer Ecke zur anderen hüpfen ließ. Daniela setzte sich auf den alten Chefsessel. Das Leder knarzte unter ihr, als wollte es sie warnen. Ihre Hand wanderte zu der Funkmaus und bewegte diese zögerlich hin und her. Der Bildschirmschoner verschwand und gab die Sicht auf das Foto frei, das sie einige Minuten zuvor so aus der Bahn geworfen hatte. Es zeigte eine junge, extrem gut gebaute Frau. Sie trug oberschenkelhohe, schwarzglänzende Stiefel mit einer blutroten Schnürung. Lange, rabenschwarze Handschuhe, die ihr fast bis unter die Achseln reichten, vervollständigten das Bild. Ihren Kopf umschloss eine Maske in derselben Farbe, die, abgesehen von den abgründig tiefdunklen Augen der Frau, nichts offenbaren wollte. Sie lag mit gestreckten Gliedern auf einem metallenen Bett, welches mit einem glänzenden, roten Laken bezogen war. Unzählige weiße Stricke fixierten die Frau an das Gestell. Daniela versuchte, den berühmten Kloß im Hals hinunterzuschlucken, doch der weigerte sich beharrlich, zu verschwinden. Sollte sie die Bildergalerie auf dieser, ihrem Empfinden nach, perversen Internetseite weiter betrachten? Unterhalb des Bildes waren über hundert Nummern zu sehen. Und die für bereits geklickte Links typische Farbmarkierung von mehr als der Hälfte aller Nummern bewies ohne Zweifel, dass Marcel sich über fünfzig dieser Fotos bereits angesehen hatte. Vielleicht war er einfach durch Zufall darauf gestoßen. Vielleicht war es auch einfach nur die Neugier, der Reiz des Verbotenen. Oder – und genau dieser Gedanke bereitete ihr enormes Unbehagen – Marcel hatte all die Zeit etwas vor ihr verborgen. Seine dunkle Seite, die er geschickt in den Tiefen seiner Seele verbarrikadiert hatte. Ein Geheimnis, dessen Schmutz sicher nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollte. Kurzerhand klickte sie eine Seite zurück, zu einem der Bilder, die bereits betrachtet wurden, wie die Markierung verriet. Noch im selben Atemzug wünschte sie sich, es nicht getan zu haben, denn dieses Foto wirkte auf sie noch extremer. Danielas Blick gefror, und Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Das Bild zeigte möglicherweise dieselbe Frau, das war schwer festzustellen, da sie auch hier eine Maske trug. Auf diesem Motiv war sie jedoch, bis auf die Maskierung, komplett nackt. Sie lag bäuchlings auf dem Boden. Ihre Arme waren mit langen schwarzen Stricken auf dem Rücken zusammengeschnürt. Die Füße und Beine waren ebenfalls stramm gefesselt. Um dem grotesken Anblick noch die Krone aufzusetzen, waren die Fußgelenke fast bis an die Hände herangezogen worden und dort mit weiteren Stricken verknotet. Neben diesem schmerzhaft anmutenden Szenario stand ein schwarz gekleideter Mann. Er schlug gerade mit einem dünnen Rohrstock auf das Hinterteil seines Opfers. Und dies scheinbar nicht zum ersten Mal, denn der Hintern der Frau zeigte unzählige blutrote Striemen, deren bloßer Anblick bereits jedem Beobachter Schmerzen verursachte.
Marcel war immer lange unterwegs, wenn es an ihm war, die Einkäufe zu erledigen. Doch an diesem Tage wurde es selbst für seine Verhältnisse ziemlich spät. Daniela hatte sich indes bis zum letzten Raum ihres Putzmarathons vorgearbeitet. Sie hatte sich die Küche bis zum Schluss aufgehoben, um nebenher das Essen vorzubereiten. Die Gedanken an das Arbeitszimmer ihres Mannes, seinen Monitor und die Bilder, die sie darauf entdeckt hatte, lagen tief verborgen hinter einer perfekten Maske aus aufgesetzter Sorglosigkeit.
Sie blickte gerade über die Spüle zum Fenster hinaus, als der graue Ford Focus die kleine Auffahrt hinauf geschlichen kam und vor dem Garagentor anhielt. Die Fahrertür schwang auf. Die kurze, blonde und wie immer perfekt gestylte Stachelfrisur ihres Mannes war das Erste, was sie sah, als er aus dem Wagen stieg. Er trug eine dieser Spiegelsonnenbrillen, die in den Achtzigern mal ziemlich angesagt waren. Bei den meisten Leuten, die derzeit auf der Retrowelle mitsurften, wirkten diese Brillen einfach nur lächerlich, aber bei Marcel war es anders. Alles schien eigens wie für ihn gemacht zu sein, perfekt auf ihn zugeschnitten. Das weiße Muskelshirt und die ebenfalls schneeweißen, halblangen Bermudas mit dem Tribal-Aufdruck hätten nicht jedem gestanden, aber Marcels durchtrainierter Körper glich einem Schaufenster der Eitelkeiten. Was er auch trug, er verkörperte stets die pure, leicht arrogante, aber extrem anziehende Ausstrahlung eines Calvin-Klein-Unterwäsche-Models.
Als er Daniela hinter dem Küchenfenster bemerkte, ließ er einem sanften »Hallo«, dieses liebevolle Grinsen folgen, das es einem nahezu unmöglich machte, sich seinem Charme zu entziehen. Daniela erwiderte das Lächeln und bedeutete ihm mit einer Geste, dass sie rauskommen würde, um ihm mit den Einkäufen zu helfen. Beim Verlassen der Küche fiel ihr Blick auf die Uhr, die ihr zwei Dinge zeigte: zum einen, dass sie noch fünfzehn Minuten Zeit hatte, bevor sie ihren Nudelauflauf aus dem Ofen holen musste, und zum anderen, dass die Einkaufsfahrten ihres Mannes kontinuierlich immer mehr Zeit in Anspruch nahmen.
Und da waren sie schlagartig wieder, die verbannten Gedanken, die sich zu Fragen hinreißen ließen wie: War er bei so einer Domina oder Fetisch-Tante, wo er seine perversen Gelüste ausleben konnte? Und der kleine Teufel auf Danielas Schulter beschloss kurzerhand, Marcels Körper heute Abend unauffällig nach irgendwelchen verräterischen Spuren abzusuchen. Dem Engelchen auf ihrer anderen Schulter, das ihr klar machen wollte, wie sehr Marcel sie liebte und dass er so etwas niemals tun würde, zog sie symbolisch eines mit dem Kochlöffel über, bevor sie diesen über eben jene Schulter zielsicher in die Spüle warf.
Als sie die Küche verließ, war ihre Maske der Ignoranz bereits wieder perfekt in Form gebracht. Daniela war fest entschlossen, sich nicht das Geringste anmerken zu lassen. Nicht jetzt. Nicht heute. Mit einem Lächeln, das sich übertrieben unwissend anfühlte, öffnete sie die Tür, trat hinaus und half, nach einem kurzen, aber zärtlichen Kuss, die vielen Taschen ins Haus zu tragen. Kurz darauf verschwand Marcel eilig nach oben, um noch vor dem Essen eine erfrischende Dusche zu nehmen. Danielas Gedanken liefen erneut Amok und bombardierten sie regelrecht mit Mutmaßungen. Muss er sich den Geruch der Anderen abwaschen? Niemand geht so lange einkaufen. Nicht einmal ich. Wo zur Hölle war er so lange? Und warum dauern seine Einkäufe jedes Mal länger? Doch wieder verdrängte sie die Stimmen in das dunkelste Loch ihres Verstandes und machte sich daran, den Tisch zu decken. In dem riesigen, hellen Wohnzimmer, das direkt an die Küche grenzte, hatten die beiden sich eine kleine, gemütliche Essecke eingerichtet.
Der Duft des noch dampfenden Auflaufs breitete sich schnell in der ganzen Wohnung aus und schien Marcel geradezu hypnotisch anzuziehen.
»Das riecht absolut fantastisch, mein Schatz«, meinte er fast verletzend beiläufig und setzte sich mit noch tropfnassen Haaren an den Tisch.
»Lass es dir schmecken«, erwiderte Daniela, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
Marcel schlang gierig die ersten Bissen hinunter und verbrannte sich in seinem Eifer direkt die Zunge.
»Das kommt davon, wenn man zu gierig ist«, flachste Daniela mit einem gekünstelten Lächeln und wurde sich, erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, bewusst, dass sie damit im Grunde gar nicht sein Essverhalten meinte.
Marcel lachte sorglos und nichtsahnend über ihre Bemerkung. Hätte er auch nur die geringste Vermutung gehabt, was für ein Krieg in Danielas Kopf tobte, wäre ihm sein Lachen sicher mitsamt den viel zu heißen Nudeln im Hals steckengeblieben.
»Du, ich muss gleich noch ein bisschen arbeiten. Ich weiß schon, es ist dein erster Urlaubstag und so. Aber ich will das mit der Selbstständigkeit so schnell wie möglich geregelt bekommen. Du wirst ja auch davon profitieren.«
»Ist schon in Ordnung. Ich habe den ganzen Tag das Haus auf Vordermann gebracht und bin nicht böse drum, wenn ich jetzt mal ein bisschen die Seele baumeln lassen kann. Ich werde mir den Laptop schnappen und es mir auf der Couch gemütlich machen.«
»Keine Einwände? Du nimmst es doch sonst nicht so einfach hin, wenn ich am Wochenende noch arbeiten muss?«
»Ach, wie du schon sagtest: Es ist mein erster Urlaubstag. Wir haben noch genügend Zeit für uns. Mach ruhig, was immer du zu tun hast.« Wieder ertappte sie sich dabei, dass das, was sie aussprach, nicht unbedingt auf Marcels eigentliche Aussage bezogen war. Unweigerlich drängten sich die Fotos wieder in ihr Bewusstsein und bildeten eine Symphonie der Perversitäten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Mann mit runtergelassenen Hosen, masturbierend und notgeil nach den unerreichbaren Frauen auf dem Bildschirm lechzen. Der Kloß in ihrem Hals arbeitete synchron dazu an einem Brechreiz, den sie wieder und wieder unterdrückte, um nicht daran ersticken zu müssen. Jedoch drangen ihre inneren Kämpfe, zumindest für Marcel, nicht nach außen. Dementsprechend unbekümmert räumte er nach dem Essen das Geschirr in die Küche und trottete anschließend gemütlich und gelassen hinauf in sein Arbeitszimmer.
Daniela hatte in der Regel großes Verständnis für seine Pläne. Marcel mochte nicht länger in der Werbeagentur arbeiten. Er wollte sein eigener Chef sein und hatte in den letzten Monaten viel dafür getan, die Weichen in diese Richtung zu stellen. Bereits jetzt konnte er auf einen beträchtlichen Kundenstamm zugreifen, dem er wesentlich günstigere Dienste anbieten konnte, als es einer Werbeagentur je möglich gewesen wäre. Böse Stimmen hatten behauptet, dass er überhaupt nur noch in der Agentur arbeitete, um Kunden abzuwerben. Doch die Kündigung war bereits geschrieben, und in acht bis zehn Wochen wollte er es endlich im Alleingang versuchen. Zwar sollte ein großer Vorteil dieser Pläne der sein, zu Hause arbeiten zu können, doch gerade jetzt, während der Vorbereitungen, war er dermaßen eingespannt, dass sie eher noch weniger Zeit füreinander hatten als zuvor. Aber in ein paar Tagen würde auch Marcel seinen Resturlaub antreten. Sicher würde sich dann einiges ändern. Das hoffte Daniela zumindest. Zumal sie nun nicht mehr sicher sein konnte, ob er sich da oben wirklich nur auf seine Selbstständigkeit vorbereitete oder sich seinen bizarren Fantasien hingab.
Daniela ließ das Geschirr in der Spülmaschine verschwinden, schnappte sich eine Flasche ihres Lieblingsweines und ging zurück ins Wohnzimmer. Die große weiße Eckcouch vor der Terrassentür kam ihr wie ein lebendiges Wesen vor, das nur darauf gewartet hatte, sie willkommen zu heißen. Daniela schenkte sich ein Glas des süßen Rotweins ein und öffnete das Notebook, das auf dem gläsernen Couchtisch lag. Ihre Gedanken ließen sich nicht länger in der Verbannung festhalten. In dem Gefängnis der Erinnerungen wuchs eine neue Pflanze wie ein Parasit heran, der gefüttert werden wollte. Die Neugier. Sie musste einfach mehr erfahren. Sie musste sich in diese dunkle und ihr nahezu unbekannte Welt begeben, die ihren Ehemann so offensichtlich faszinierte. Mit einem Mausklick war der Internetbrowser geöffnet und wartete nur darauf, ihr die Informationen zukommen zu lassen, nach denen ihr Misstrauen verlangte. Doch da war noch etwas. Ein Gefühl, das niemand gerne in seinem Leben hat, ein Gefühl, das mit der Neugier auf diese neue, bizarre Welt einherging. Das Gefühl der Angst. Angst, die richtigen Fragen zu stellen, und eine weitaus größere vor den entsprechenden Antworten. Dennoch konnte sie dem Drang nicht widerstehen. Sie gab den Begriff Fesseln in die Suchmaschine ein. Einen Wimpernschlag später erhielt sie fast zwei Millionen Treffer zu diesem Wort. »Na toll. Wo soll ich denn nun anfangen?«, murmelte sie im Monolog vor sich hin. Sie entschied sich für ein anderes Wort, das sie in den Suchergebnissen fand, und gab Bondage ein. Diesmal erhielt sie sogar fast siebzig Millionen Treffer und fragte sich schlagartig, in was für einer Welt sie lebte. Wahllos folgte sie einem anderen Link und wurde zu einem Internetshop weitergeleitet. Was sie dort fand, trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Und doch zog die Neugier sie unaufhaltsam in einen Strudel unbekannter Emotionen, die sich subtil in ihrem Inneren ausbreiteten, ohne dass sie eine Chance hatte, sich dessen bewusst zu werden. Sie klickte sich durch unzählige Artikel dieser bizarren Welt, und des Öfteren lief ihr ein seltsamer Schauer über den Rücken. Sie betrachtete Dutzende von Seiten, die ein unerschöpfliches Angebot an Fesseln, Peitschen, Masken und Kleidung aus Leder, Lack oder Latex zeigten. Auf einer Seite konnte man sogar Käfige und mittelalterliche Foltergeräte, wie eine Streckbank oder verschiedene Pranger, bestellen. Sie verließ den Shop und klickte auf einen weiteren Link aus der Suchmaschine. Dieser führte sie zu einer Internetseite, auf der man sich unzählige kurze Filme anschauen konnte. Immer wieder tauchte der Begriff BDSM
Marcel hatte bis spät in die Nacht gearbeitet, und Daniela wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand, nachdem sie auf Dutzenden von Webseiten einen ersten Blick auf eine Welt erhaschen konnte, die ihr Mann bisher konsequent vor ihr verborgen hatte. Sicherlich hatte auch die leere Flasche Wein ihren Teil dazu beigetragen, dass Daniela relativ zeitig am Abend völlig erschöpft ins Bett fiel. Sie quälte sich durch einen nervösen, unruhigen Schlaf.
In ihren Träumen verfolgten sie düstere, Peitschen schwingende Dominas und mittelalterliche Folterszenen, in denen sie zum Opfer der Inquisition wurde und vor einer geifernden, nach Bestrafung lechzenden Masse an den Pranger gestellt wurde. Wiederholt hörte sie aus der Menschenmenge heraus ihren Namen.
»Nein. Ich bin unschuldig«, schrie sie wieder und wieder.
»Dani?«
»Nein. Nein!«
»Dani. Schatz!«
»Aaah, nein!«
Aus der Menge des rachsüchtigen Pöbels kam ein Mann in schwarzen, ledernen Gewändern hervor. Sein Gesicht war ihr mehr als vertraut, und doch wirkte es mit seinem finsteren, geradezu bösartigen Blick so fremdartig, dass ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Er schien die Menschen mit seiner Gänsehaut verursachenden Präsenz enorm einzuschüchtern. Augenblicklich bildete sich in der dichten Masse aus Leibern eine Schneise, welche ihm den Weg zu ihr bahnte. Die Schritte seiner schweren Stiefel hallten über den Marktplatz, in dessen Zentrum die Erhebung mit dem Pranger errichtet worden war. Die Angst und die Verzweiflung, die sich in Daniela auftürmten, schienen viel zu real, viel zu greifbar für einen Traum zu sein. Sie versuchte, ihre Handgelenke aus der schweren Eichenkonstruktion zu zerren. Doch vergebens. Der Holzpranger schloss sich so eng um ihre Hände und um ihren Hals, dass an Flucht nicht zu denken war. Der dunkle Mann fixierte sie mit seinen Blicken aus eisiger Glut, während sein markanter Mund sich zu einem leicht angedeuteten Lächeln verzog, welches sein unrasiertes Gesicht auf eine seltsame Art noch bedrohlicher wirken ließ. Er hatte sie fast erreicht, als er unter seinen Mantel griff und eine Ehrfurcht gebietende, zusammengerollte Lederpeitsche hervorzog. Das Knirschen des Materials ließ erahnen, wie fest seine Faust den Griff umklammerte. Mit einer geübten und erstaunlich geschmeidigen Bewegung ließ er das Folterwerkzeug auf den Boden knallen. Eine kleine Staubwolke explodierte unter dem Aufschlag des Riemens.
»Nein!«, schrie sie gellend. Aus der Menschenmenge flogen alte, faulige Tomaten und Eier in ihre Richtung, aber sie trafen nur das Holzgerüst, an dem Daniela so wehrlos ausgeliefert in einer schmerzhaft gebeugten Haltung ausharrte.
Plötzlich stand der seltsam vertraute Feind hinter ihr und rief dröhnend in die Menge: »Wie lautet das Urteil?«
»Schuldig!«, donnerte es aus einem wahnsinnig gewordenen Chor zurück. Die Masse wollte Blut sehen. Sie hatten sich nicht hier versammelt, um Gnade walten zu lassen. Der Pöbel wollte etwas geboten bekommen.
»Sie ist eine Hexe«, zischte eine alte Frau an ihrem offenbar letzten, schwarzen Zahn vorbei.
Und die Menge grölte erneut: »Schuldig, schuldig!«
Die finstere Gestalt riss Daniela das, was von ihrem zerlumpten Kleid noch übrig war, brutal vom Leib und warf es in die jubelnde, geifernde Menschentraube. Dann hob er die Peitsche, bedrohlich und entschlossen.
»Schuldig, schuldig!« Und im Takt dieser Worte ließ er sein Werkzeug der Schuld und Buße auf Danielas Rücken knallen. Ihre Schreie wurden immer lauter, doch niemand zeigte auch nur das geringste Mitleid. Im Gegenteil. Je mehr Schmerzen sie verspürte, je mehr verzweifelte Angst sich in ihrem Gesicht widerspiegelte, desto lauter jubelten und lachten die Menschen. Beim vierten Schlag des schwarzen Folterknechtes platzte die Haut ihres Rückens auf. Der Schmerz war unerträglich und raste unaufhaltsam durch ihren ganzen Körper. Sie verkrampfte sich in Erwartung auf den nächsten Schlag, doch der blieb aus. Stattdessen ertönte die so vertraut klingende Stimme des Peinigers erneut.
»Soll ich es ihr besorgen?«, schrie er so laut und reißerisch, dass die Antwort aus dem Volke nicht verwunderlich war.
»Ja, fick sie! Fick die Hexe zu Tode!«
Er positionierte sich hinter seinem Opfer und ließ seine Hose zu Boden gleiten. Daniela spürte seine Erregung bereits deutlich auf ihrer nackten Haut.
»Nein! Ich habe nichts getan. Ich bin unschuldig.«
»Dani!«
»Nein!«
»Dani, ich bin es, Marcel. Wach auf!«
Daniela riss die Augen auf. Kalter Schweiß lief ihr an den Schläfen hinab und tropfte auf das Kissen. Marcel hatte sich dicht über sie gebeugt und ihre Schultern gepackt, um sie wachzurütteln.
»Schatz, es ist alles in bester Ordnung, du hattest nur einen Albtraum«, versuchte er sie zu beruhigen.
Doch Daniela starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, so als hätte sie das dunkle Ebenbild ihres Mannes, eben jenes Peinigers aus dem Traum vor sich.
»Was ist passiert?«, stammelte sie noch völlig benommen.
»Du hast geträumt. Ich weiß ja nicht, was in deinem hübschen Köpfchen vor sich geht, aber vielleicht solltest du vor dem Schlafen keine Horrorfilme mehr anschauen«, scherzte Marcel völlig unangebracht und wenig feinfühlig.
»Ich habe keinen Horrorfilm gesehen. Lass mich in Ruhe.«
Passender als an diesem Tag, konnte ein Treffen mit der besten Freundin kaum sein. Schon vor einer Woche hatte Daniela mit Katrin abgemacht, dass sie sich an diesem Sonntag ein paar gemütliche Stunden in der Kölner City gönnen wollten. Frauentag war eindeutig das Motto dieses Treffens. Daniela steckte die letzte Nacht, speziell aber der merkwürdige Traum, noch schwer in den Knochen. Nach einem Frühstück war ihr nicht zumute. Lediglich auf ihren Kaffee wollte sie unter keinen Umständen verzichten. Als sie mit der noch dampfend heißen Tasse in der Hand auf die Terrasse ging, passierte Katrin gerade die Stadtgrenze von Köln.
Die Entfernung hatte der Freundschaft zwar nicht geschadet, doch so oft wie früher trafen sie sich bei weitem nicht mehr. Und wenn sie sich gegenseitig besuchten, wurden daraus nicht selten gleich zwei Tage. Heute würde Katrin allerdings gleich am Abend wieder heimfahren, da sie am nächsten Tag schon früh einen Termin hatte. Katrin war selbstständige Fotografin ohne eigenes Studio. Sie besuchte ihre Kunden zu Hause oder traf sie an vereinbarten Treffpunkten, die als Hintergrundmotive herhalten sollten. Der Termin am Montagmorgen würde sie ein Stück hinter die niederländische Grenze führen, weshalb sie dieses Mal nicht allzu lange bleiben konnte.
Daniela lief mit der längst geleerten Tasse umher wie ein Tiger im Käfig. Zum einen, weil sie auf die Ankunft ihrer Freundin wartete, die sich wie üblich verspätete, zum anderen, weil ihre Gedanken sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließen. War dieser Traum nur ein Spiegel, eine Reflektierung der Ereignisse, die sie so durcheinandergebracht hatten? Oder steckte vielleicht mehr dahinter? Sie musste unbedingt mit jemandem darüber reden. Nur ganz sicher nicht mit Marcel, der sich schon wieder in seinem Arbeitszimmer verschanzt hatte, wie einer dieser verrückten Wissenschaftler, die man aus Filmen kannte. Allerdings war hier die Möglichkeit verschwindend gering, dass gleich Frankensteins Monster oder etwas ähnlich Absurdes die Treppen hinunter gepoltert kam. Zumindest ging Daniela davon aus. Eher würde eine Porno-Tussi in Gummiklamotten ihren Mann an einer Leine hinunterführen. Sie verdrängte das groteske Bild aus ihren Gedanken und ging in die Küche.
Ein Blick aus dem Fenster. Noch immer keine Spur von Katrin. Das dümmliche Grinsen des Smileys auf ihrer Tasse schien ihr zu sagen: »Entspann dich. Trink in Ruhe noch einen Kaffee.« Und er sollte recht behalten. Denn gerade, als sie den ersten Schluck des frisch aufgebrühten Getränkes zu sich nehmen wollte, ertönte eine billig klingende Hupe von der Auffahrt, und Katrins knallbunter VW Polo kam heraufgeschossen, als hätte seine Fahrerin das Bremsen noch nicht für sich entdeckt. Erst eine Handbreit vor dem weißen Garagentor kam der Wagen zum Stehen, und ein kleiner Kieshagel schepperte mit unzähligen Plings und Plongs gegen das Metall des Tores. Die Fahrertür wurde aufgerissen, und eine aufgedrehte Mittzwanzigerin schwang sich aus dem Wagen. Daniela stürmte freudig zur Tür hinaus und fing Katrin auf, die ihr nicht nur vor Wiedersehensfreude in die Arme stürzte. Mit zehn Zentimeter hohen Absätzen lief es sich eben nicht so gut auf einem Kiesweg.
»Kati. Lass dich anschauen. Hast du eine neue Haarfarbe?«
»Nein, Natur«, entgegnete Katrin und schaute ihre Freundin leicht empört an. Der verwirrte, ungläubige Blick ihrer Freundin ließ sie allerdings nicht lange ernst bleiben. »Scherz. Glaubst du echt, ich könnte mich noch an meine Naturhaarfarbe erinnern?« Sie ließ ihrer Aussage ein schrilles Lachen folgen, das in den Ohren schmerzte.
»Also, ich weiß nicht, irgendwie stand dir rot besser als blond. Ist das der neue Paris-Hilton-Gedenk-Look?«
Katrin verzog zuerst ihren knallrosa geschminkten Schmollmund und begann dann aber gleich wieder lauthals loszulachen.
»Hey, wenn ich Paris Hilton wäre, würde ich jetzt mit einem reichen Sixpack-Sahneschnittchen im Bett liegen und mir nicht deine hochsensible Modeberatung anhören.«
»Komm schon rein, Paris.«
Katrin stolzierte übertrieben arrogant in ihren weißen Prada Pumps ins Haus. Die passende Handtasche am ausgestreckten Arm kreisend und das Kinn erhoben wie eine Diva auf dem Laufsteg. »So lebt also die obere Mittelklasse.« Sprach sie ihrem Schauspiel entsprechend affektiert.
Ihre Absätze klapperten auf dem Kachelboden des Flurs, und Daniela war beeindruckt, wie sicher ihre Freundin in diesen Schuhen laufen konnte, ohne sich die Beine zu brechen.
»Wo ist denn der Herr des Hauses?«, fragte Katrin nach einem ersten Blick ins Wohnzimmer.
»Na, wo wird er wohl sein? Im Arbeitszimmer, wo er immer ist.« Danielas Mimik, die diese Antwort begleitete, verriet sie.
»Süße, ist irgendetwas? Alles in Ordnung bei euch?«
»Ja … nein … ach, ich weiß auch nicht.«
»Hey, was ist denn los?« Katrin nahm ihre Freundin tröstend in die Arme. »Komm, rede schon«, drängte Katrin, aber Daniela winkte ab.
»Ich muss dir wirklich etwas erzählen. Ich brauche gerade sogar dringend jemanden, dem ich etwas anvertrauen kann, aber nicht hier. Gleich in der Stadt, ja?«
»Holla, dann muss ja wirklich etwas im Busch sein, wenn du so auf Geheimagentin machst. Hast du eine Affäre?«
»Kati, hör schon auf. Du weißt genau, dass ich so etwas nicht mache.«
»Na ja, irgendwann ist immer das erste Mal.«
»Nein, es ist schlimmer. Viel schlimmer.« Während sie diese Worte aussprach, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, ein paar kleine Tränen stahlen sich aus ihren Augen und liefen die Wangen hinunter.
Katrin drückte sie wieder fester an sich. »Komm, lass uns fahren. Unterwegs erzählst du mir in aller Ruhe, was los ist.«
»Gute Idee, ich muss hier raus. Warte kurz, bin gleich wieder da. Ich sag nur eben Marcel Bescheid und zieh mir etwas anderes an. Zehn Minuten, maximal.« Daniela eilte nach oben. Zuerst wusch sie sich im Bad das Gesicht und schlüpfte anschließend in eine legere, ausgeblichene Jeans und in ein schlichtes weißes Shirt. Die Haare wurden oberflächlich mit einem Pferdeschwanz gebändigt. Dann klopfte sie an die Tür des Arbeitszimmers und riss diese zeitgleich auf.
»Schatz? Katrin ist da, wir fahren in die City. Wird sicher eine Weile dauern. Du weißt ja, Frauentag.«
Marcel nahm kaum Kenntnis von seiner Frau. Er wandte seinen Blick nicht einmal vom Monitor ab, sondern murmelte nur desinteressiert: »Ja, klar. Bis nachher, Schatz. Viel Spaß.«
Sofort startete Danielas Kopfkirmes erneut. Sie konnte von der Tür aus nicht erkennen, was er an seinem Computer gerade machte. Arbeitet er wirklich an seiner Selbstständigkeit oder arbeitet er an sich selbst, während er seine perversen Bilder anstarrt? Sie konnte nur mutmaßen, und in diesem Fall plädierte sie auf: schuldig im Sinne der Anklage. Die Art, wie er sie abgefertigt hatte, war ihr im Grunde schon Beweis genug. Sie schloss die Tür hinter sich und eilte so zügig die Treppen hinunter, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Doch sie konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen und erreichte unversehrt ihre Freundin im Erdgeschoss. Sie packte Katrin wortlos am Oberarm und zerrte sie energisch nach draußen.
»Hey, was machst du denn da? Blaue Flecken sind unsexy«, zickte sie Daniela an.
»Lass uns einfach fahren, sonst bringe ich ihn um.«
Danielas Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel aufkommen, dass der Zeitpunkt für eine Diskussion mehr als schlecht war.
Die beiden Frauen stiegen schweigend in den Wagen und fuhren direkt los. Lediglich fünf Minuten dauerte die unbehagliche Stille an. Dann brach es wie ein Orkan aus Daniela heraus. Sie überschlug sich förmlich bei den Ausführungen zu ihrer Entdeckung. In allen Einzelheiten berichtete sie Katrin von der dunklen, verborgenen Seite ihres Mannes. Schweigend lauschte Katrin dem Ausbruch ihrer Freundin. Vereinzelt ließ sie ein »Aha« oder ein »Okay« verlauten. Nachdem Daniela ihren Bericht beendet hatte, lenkte Katrin den Wagen auf einen kleinen Parkplatz und stellte den Motor ab. Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die in der Seitenablage der Tür klemmte, zündete sie an und kurbelte das Fenster hinunter.
»Süße, das muss ja ein Schock für dich gewesen sein. Redet ihr denn nicht über eure sexuellen Wünsche und Fantasien?«
Danielas Augen weiteten sich und ihre Körperhaltung signalisierte: Angriff.
»Doch, natürlich!« Sie machte eine kurze Pause, dann senkte sie entmutigt den Blick. »Naja, zumindest dachte ich das immer.« Kleine Tränenbäche rannen ihr die Wangen hinunter.
Katrin stieg aus dem Wagen und ging hinüber zur Beifahrerseite. Sie öffnete die Tür, zog Daniela aus dem Auto und nahm ihre Freundin liebevoll in den Arm. Danielas Emotionen kochten jetzt erst recht weiter hoch.
Sie schluchzte und stotterte: »Dieses Schwein. Dieser elende Lügner.«
Katrin versuchte, sie zu beruhigen. »Mensch, Dani, du tust ja gerade so, als würde er dich betrügen. Er hat eben Fantasien, die nicht der Norm entsprechen. Was ist schon dabei?«
»Was? Du verteidigst diesen Heuchler auch noch? Was bist du denn für eine Freundin?!«
Entrüstet befreite sie sich aus der Umarmung, als hätte ihre engste Vertraute gerade einen Hochverrat an ihr begangen. Und für Daniela kam dieser Vergleich den Tatsachen recht nahe. Sie verschränkte schützend die Arme vor der Brust und wandte sich von Katrin ab. Diese legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Dani, ich nehme Marcel nicht in Schutz. Ich bin nur der Meinung, dass du etwas, na, sagen wir mal, überreagierst. Was ist denn schon dabei? Er hat Fantasien.«
»Ach ja, natürlich. Was ist denn schon dabei, wenn er seine perversen Fantasien mit irgendeiner fremden Schlampe auslebt?«
»Das weißt du doch gar nicht. Es sind nur Vermutungen.« »Berechtigte Vermutungen«, entgegnete Daniela wütend.
»Du willst also, dass er diese Fantasien mit dir auslebt?«
»Nein. Doch. Nein … ach, verdammt, ich weiß es nicht! Das ist alles so neu und schockierend für mich.«
»Ist es das? Mal ehrlich, Süße, in welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?«
»Was?« Danielas Gesichtsausdruck verriet, dass Katrin gerade einen wunden Punkt getroffen hatte. »Dani, ich will dir nicht zu nahe treten, aber du scheinst die letzten Jahre unter einer Käseglocke gelebt zu haben. Ich hatte ja keine Ahnung, wie prüde und verkrampft du bist.«
Jetzt war Daniela endgültig sauer. »So ein Blödsinn«, fauchte sie zwischen ihre zusammengebissenen Zähne hindurch.
»Mensch, Daniela, jetzt komm mal wieder runter. Ich will dich nicht angreifen. Ich will dir helfen.« »Selbstverständlich. Ich bin ja so dankbar für deine Hilfe. Vielleicht willst du noch mit einem Messer auf mich einstechen, ich wette, das würde mir auch wahnsinnig helfen.«
»Jetzt beruhige dich doch mal. Niemand will dir was.«
Als Antwort entglitt Daniela lediglich ein abfälliges »Pffft«. Inzwischen knirschte sie bereits mit den Zähnen.
»Weißt du, du solltest das wirklich lassen. Ich habe keine Lust, gleich mit dir zum Notdienst zu fahren, weil du dir wegen deiner Bockigkeit einen Zahn ausgebissen hast.« Ein leichtes Lächeln umspielte Katrins Lippen, in der Hoffnung, die Situation durch etwas Humor wieder auflockern zu können. Und es funktionierte.
»Meine Zähne gehen dich gar nichts an«, erwiderte Daniela noch immer sauer, aber mit dem Ansatz eines Lächelns, das sie krampfhaft zu unterdrücken versuchte. So schnell wollte sie nicht nachgeben. Ihre Freundin hatte sie durch die Fürsprache für Marcel quasi verraten. Sie fühlte sich im Stich gelassen. Die tröstenden Worte, die Daniela erwartet hatte, blieben ihr verwehrt. Das sollte ein länger andauerndes Schmollen schon rechtfertigen.
Katrin schloss sie erneut in ihre Arme. »Hey, jetzt hör mir mal zu. Wir leben in einer Zeit, in der Bücher mit den Themen BDSM oder SM zu Bestsellern werden. In einer Zeit, in der all diese Dinge mehr oder minder gesellschaftsfähig geworden sind. Es hat längst nicht mehr diesen Schmuddelcharakter, längst nicht mehr etwas so Verbotenes, wie es früher einmal war. Hast du noch nie mit dem Gedanken gespielt, dich beim Sex fesseln zu lassen? Oder mal einen Klaps auf den Po zu bekommen? Hast du dir noch nie vorgestellt, wie du in Lack oder Leder aussehen würdest? Oder hast du noch nie andere Frauen insgeheim darum beneidet, dass sie ihren Fetisch oder ihre Fantasien ausleben?«
»Ähm, nein.« Daniela riss die Augen auf und starrte ihre Freundin entgeistert an. »Aber ich bin gerade zutiefst schockiert, wie gut du dich in diesem Metier auskennst.«
Katrin holte tief Luft, fasste ihre Freundin mit beiden Händen bei den Schultern und offenbarte endlich eine Wahrheit, die auch sie ihr bisher verschwiegen hatte.
»Okay, das ist wohl der richtige Moment, dir etwas zu erzählen. Am besten rede ich gar nicht um den heißen Brei herum. Kurz und gut: Ich bin eine Switcherin.«
»Was? Du bist bi?«
»Aber nein, du Dummerchen. Ich bin eine Switcherin. Das bedeutet, dass ich devot und dominant bin, und auch beide Seiten auslebe.«
Danielas Blick gefror zu einem undefinierbaren, leeren Starren. Sie war offensichtlich nicht in der Lage, zu erfassen, was sich ihr hier gerade offenbarte.
»Du … du …«, stammelte sie schließlich und fasste sich an den Kopf. »Du bist eine dieser …«
»Ich bin ein Mensch, der sich nicht darum schert, was andere denken. Ich bin ein Mensch, der seine Leidenschaften hemmungslos auslebt. Und nein, ich bin keine dieser Schlampen. Das wolltest du doch gerade sagen?«
»Und ich dachte, nach all den Jahren würde ich dich kennen.«
»Dani. Schau dir deine Reaktion doch an. Dann weißt du, warum ich dir das bisher nie auf die Nase gebunden habe. Ich habe gelogen, als ich sagte, ich hätte keine Ahnung, wie prüde du eigentlich bist.«
»Ach, jetzt bin ich auch noch selber schuld, dass man mich von allen Seiten belügt? Das wird ja immer besser, du perverse Ziege.«
»Was ist pervers? Mal ehrlich. Du hängst an Moralvorstellungen, die von einer Gesellschaft aufgestellt wurden, die selbst an Perversion kaum zu überbieten ist. Was kann böse oder pervers an Dingen sein, die zwei Menschen Spaß machen und sie in nie gekannte Dimensionen der Lust führen können? Hattest du jemals sechs Orgasmen? Oder sieben? Acht? Und ich meine nicht in einer Woche, sondern hintereinander. Weißt du eigentlich, was echte Ekstase mit dir anstellt? Du hast ja keine Ahnung, wie erregend es ist, einem Mann wehrlos ausgeliefert zu sein. Dieses Spiel mit der Macht. Sich ganz und gar fallen zu lassen, bis hin zur völligen Abschaltung des Verstandes. Wenn ein Moment zur gefühlten Ewigkeit wird, an dessen Ende nur pure Leidenschaft und Erfüllung auf dich warten.«
Daniela war völlig perplex angesichts Katrins so lodernder Leidenschaft für dieses Thema. Sie selbst stand regelrecht unter Schock. Erst Marcel und jetzt auch noch ihre beste Freundin. Ihr kam der Gedanke, dass es sich hierbei um einen dämonischen Virus handeln musste, der alle infiziert hatte, von denen sie glaubte, sie gut zu kennen. Nur sie selbst schien das Anti-Gen in sich zu tragen. Sie wusste nichts Sinnvolles zu entgegnen, ihre Gedanken drehten sich so heftig im Kreis, dass ihr schwindelig wurde.
Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie stotterte: »Ich hatte sehr wohl schon mehrere Orgasmen.«
»Na, aber sicher doch. Missionar Marcel reitet dich bis zur Ekstase. Wenn ich dir sonst alles glaube, aber das nicht. Du bist viel zu verklemmt, um dich gehenzulassen. Probiere doch einfach mal etwas Neues. Lass dich von deinem Mann in diese Welt entführen. Du wirst es nicht bereuen. Lass dich fesseln, dann hast du keine andere Wahl, als dich mal richtig fallen zu lassen. Schalte deine Sinne aus und werde eins mit der Lust. Werde selbst zur Lust. Was hast du denn zu verlieren? Es bleibt doch unter euch. Oder hast du schon einmal Latexkleidung angefasst? Den sinnlichen Geruch wahrgenommen? Das anfangs kühle und dennoch so weiche Gefühl verspürt, wenn es zu deiner zweiten Haut wird? Erfahren, wie es jede Berührung intensiviert? Es ist fast so, als würdest du die Finger auf dir zweimal spüren. Und diese Enge, wie es sich an dich schmiegt, wie eine innige Umarmung.«
»Du bist doch verrückt.« Es war mehr ein unsicheres Flüstern, als ein ernstzunehmendes Statement, das Daniela von sich gab, während sie trotzdem wie unter Hypnose den Worten ihrer Freundin lauschte.
»Oder besorg dir gleich eine Maske. Es gibt mittlerweile so vieles in dieser Richtung. Der Markt boomt wie nie zuvor. Unter einer geschlossenen Latexmaske verlieren sich Zeit, Raum und deine Identität. Du fängst an, den Moment zu leben, ihn in einer Art und Weise zu genießen, wie du es nie für möglich gehalten hättest.«
Nachdem sich der erste Schock über das Besprochene langsam gelegt hatte, waren die Freundinnen mittlerweile in der Kölner City angelangt und hatten es sich in einem kleinen Café am Rheinufer bequem gemacht. Sie beobachteten die auslaufenden Schiffe, welche die geneigten Touristen zu einer Rundfahrt auf dem Rhein einluden. Die Sonne schien und sorgte für angenehme Temperaturen. Es war nicht zu heiß, aber warm genug, um draußen zu sitzen und den Tag bei einem Latte Macchiato zu genießen. Genießen, genau das, war letztendlich das große Thema. Auch wenn Daniela dies noch nicht nachvollziehen und wenig Verständnis für die ausufernden Geschichten ihrer Freundin aufbringen konnte, die in ihren Ausführungen gar nicht mehr zu bremsen war.
»Hast du eigentlich eine Ahnung, in welche Richtung Marcel tendiert?«, wollte Katrin wissen.
»Richtung?«
»Na, ob er dominante, devote oder vielleicht sogar masochistische Neigungen hat?«
»Woher soll ich das wissen? Die Bilder, die ich gesehen habe, zeigten jedenfalls fast ausnahmslos gefesselte Frauen in Lack- oder Latexkleidung. Ich weiß nicht einmal, woran man den Unterschied erkennt.«
»Ah, okay. Also eher ein dominanter Typ, dein werter Herr Gatte. Das macht es einfacher.«
»Einfacher? Du …«
Daniela begann gerade wieder, sich aufzuplustern, als einer dieser Straßenzauberer, denen man an der Rheinpromenade öfter begegnet, neben den beiden auftauchte. Katrin wollte ihn zum Teufel jagen, doch Daniela winkte ab. Für sie schien der Mann in dem schwarzen Smoking wie auf Bestellung zu ihnen gekommen zu sein, um Daniela für wenige Augenblicke die Abgründe ihrer Gedanken vergessen zu lassen. Ungefragt begann er, seine kleinen Kunststückchen vorzuführen und bezog die beiden Frauen immer wieder direkt in seine Tricks mit ein. Katrin war genervt von dem Mann mit dem Schweizer Dialekt und wünschte sich innerlich, dass er bald wieder von dannen ziehen würde. Doch Daniela genoss seine kleinen, mit viel Humor dargebrachten Tricks und klatschte sogar Beifall. Als er seinen ausgefransten Zylinder schließlich aufhielt, legte sie ihm fünf Euro hinein. Er bedankte sich mit einem Diener der alten Schule und trottete fröhlich seines Weges.
»Parasiten«, zischte Katrin verärgert.
»Aber der war doch ganz nett, und vor allem sehr lustig.«
»Nur eine andere Form des Bettelns, des Schnorrens«, entgegnete Katrin.
»Nein, das sehe ich anders. Er lebt seinen Traum und hat offensichtlich seinen Spaß dabei.«
»Ach? In diesem Fall ist es in Ordnung, seine Träume zu leben? Was ist mit Marcels Träumen? Die sind komischerweise pervers.«
»Das kannst du doch nicht ansatzweise vergleichen.«
»Ach, nein? Mit einem ausgefransten, abgenutzten Smoking und einem zerbeulten Zylinder durch Köln zu wandern und den Leuten dümmliche Zaubertricks aufzudrängen, ist in Ordnung, aber sich mit seinem Partner grenzenloser Lust hinzugeben, Fantasie in die Sexualität einzubringen – noch dazu in den eigenen vier Wänden – nennst du pervers?«