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Mutig und unbeirrbar – eine Frau und ihr Lebenstraum Am Bodensee, es ist 1913. Anna muss als älteste Tochter die Familie verlassen, da ist sie noch keine vierzehn. Doch sie ist zielstrebig und selbstbewusst genug, um ihr Schicksal in beide Hände zu nehmen. Und als sie August kennenlernt, der sich auf der Stelle in ihren Humor verliebt, scheint ihr Glück perfekt. Bald stürzen die beiden sich in ein großes Abenteuer und kaufen sich einen alten Gasthof am See: ein Abenteuer, von dem sie nicht ahnen, wie groß es werden wird. Denn die Familie wächst – und es kommen Inflation und Krieg. Anna weiß nur eins: August und sie werden den Gasthof um keinen Preis aufgeben ... Eine einzigartige Heldin und der Anfang einer furiosen Bodensee-Saga!
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Cover & Impressum
Widmung
Über Nacht …
Steckborn
Ankunft im Gasthof »Krone«
Erste Eindrücke
Start in ein neues Leben
Die große Welt
Leute mit Einfluss
Begegnung am Ufer
Das Tagebuch
Eine böse Erfahrung
Erste Heimreise
Kraftstein
Erster Weltkrieg
Traurige Nachricht
Die Jahre vergehen
Melodien
Liebesgefühle
9. November 1918
Verlobung
Große Überraschung
März 1922
Das eigene Wirtshaus
Ein guter Nachbar
Anna sucht Lösungen
Weihnachtsgäste
Schwere Zeiten
Hochzeitstag 1923
Der Putsch
Die dritte Tochter
Die Wette
27. April 1927: Die Katastrophe
Die Menschen und die Geschichte hinter dem Buch
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
An sie zu denken tut weh, denn sie sind nicht mehr unter uns.
Und doch leben sie in meinen Gedanken weiter, denn es gibt so viele Erinnerungen an schöne und glückliche Momente, die sie unsterblich werden lassen.
Und so widme ich dieses Buch meinen Freunden, die uns in den letzten Monaten verlassen haben:
Martin Walser – danke für die vielen inspirierenden Abende bei dir und Käthe in Nussdorf
Bruno Epple – voller Kreativität und immer mit einem gewinnenden Lächeln
Peter Sonntag – nach Sepp Blum nun der zweite große »Hinnengassen«-Verlust
Uwe Heisel – 1975 mit seiner Evi beim Skifahren kennengelernt und seither eng befreundet
Sue Kratt – Reiterfreundin mit großem Herz aus unseren Jugendtagen in Trossingen
Jochen Graetsch – nach vielen gemeinsamen Jahren mit Madeleine unfassbar
Andreas Görwitz – eine alljährliche Wiedersehensfreude ist Vergangenheit
Über Nacht hatte es noch einmal geschneit. Der Frühling brauchte hier oben immer länger als anderswo. Der Wind pfiff über die Hochebene und trieb den frisch gefallenen Schnee wie einen feinen weißen Schleier vor sich her.
Anna war aus der Tür getreten und schob sich das schwere Schultertuch schützend über ihre Haare, dann drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die hinter sie getreten war, einen kleinen Koffer in der Hand.
»Gott schütze dich, mein Kind«, sagte sie, Tränen in den Augen. Anna nickte, sprechen war ihr nicht möglich. Es war der Abschied, vielleicht für immer.
Sie bückte sich nach dem Koffer und ging ihrem Bruder entgegen, der den Braunen angeschirrt hatte, um sie mit ihrem kleinen Pferdefuhrwerk nach Tuttlingen zum Bahnhof zu bringen. Der Braune schnaubte, und es bildeten sich Wölkchen in der kalten Luft. Anna spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Ihre Familie, der Hof, das Pferd – alles hatte sie seit ihrer Geburt begleitet. Dreizehn Jahre lang. Und nun sollte sie einfach gehen?
Sie drehte sich ein letztes Mal zu ihrem Elternhaus um. Ihre Mutter stand noch in der Tür, hob die Hand. Sie war erst 53 Jahre alt, doch selbst aus der Entfernung war ihr das harte Leben auf dem einsamen Gehöft anzusehen. Elf Jahre schon Witwe.
Annas Bruder schnalzte. Die Aufforderung galt ihr, nicht dem Braunen. Anna riss sich von dem Bild los. Es würde ihr ewig in Erinnerung bleiben, das wusste sie jetzt schon. Das verschneite Haus, die Mutter, ihre letzte Geste, ihre Einsamkeit.
Sie kletterte zu Johann hoch auf das Sitzbrett, das er mit einer schnellen Handbewegung vom Schnee befreite. Er lächelte ihr zu, ein schiefes Lächeln unter seiner Schiebermütze.
»Dann auf«, sagte er. Der Braune zog an, und Anna musterte ihn von der Seite. Auch er sah älter aus, als er mit seinen 23 Jahren war.
»Was ist?«, fragte er und blinzelte ihr zu.
»Du siehst gut aus«, stellte Anna fest. Das stimmte. Sein Gesicht war kantig, sein Bart, in dem sich nun die Schneeflocken sammelten, männlich dicht, sein Körper kräftig. Ganz der Jungbauer, der alles im Griff hatte.
»Und das Mädchen aus Mühlheim?«, fragte Anna.
Vielleicht war ihr Bruder an einem Tag wie heute ja weniger wortkarg als sonst.
»Barbara?«
Anna nickte. »Wenn ihr heiratet, schreibst du mir dann?«
Johann kniff die Lippen zusammen. »Wohin?«
Sie wusste es selbst noch nicht. Der Pfarrer hatte ihr diese Stelle vermittelt. »Steckborn«, hatte er nach dem Gottesdienst zu ihrer Mutter gesagt. »Das ist eine Gemeinde am Untersee. In der Schweiz. Sie wird es dort gut haben.«
Und Anna wusste, was ihre Mutter in diesem Moment gedacht hatte: ein Esser weniger. »Ich schreib euch. Wenn ich dort bin«, sagte sie schnell.
Dann sahen sie beide wieder nach vorn. Wie der Braune sich mühte, den ausgefahrenen Weg zu finden. Und in Trab fiel, als es endlich bergab nach Mühlheim ging. Der Tag war bleigrau, trotzdem ragte die Kirchturmspitze klar in den Himmel. Anna betrachtete im Vorbeifahren das Kreuz und malte es sich dann unwillkürlich auf die Stirn.
»Es wird schon gut gehen.« Johann sah ebenfalls zum Kirchturm hinüber. »Ende April«, sagte er. »Und wir haben Schnee. Vielleicht kann er ja machen, dass es bald Frühling wird und wir mit der Aussaat beginnen können.«
»Dafür ist er nicht da«, sagte Anna.
Johann zuckte mit den Schultern. »Praktisch wäre es schon.«
Eineinhalb Stunden hätte der Fußmarsch nach Tuttlingen bedeutet, nun waren sie nach kurzer Zeit, so empfand es Anna, bereits kurz vor der Stadt.
»Hast du schon mal so eine Dampflok gesehen?«, wollte Anna wissen und zog sich das wollene Schultertuch über der Brust enger zusammen. Sie fror. Aber mehr innerlich, denn ihr langer Webmantel wärmte sie gut.
»Aber klar doch!«
»Und weißt du, wo wir hinmüssen?«
»Den Bahnhof gibt es schon seit über vierzig Jahren. Werden wir wohl finden.«
»Was du alles weißt«, staunte Anna.
»1869 erbaut«, präzisierte Johann, und auf Annas ungläubigen Blick lachte er. »Ich war schon ein paarmal da. Ware holen. Franz kennt den Bahnhof auch.« Er nickte nach vorn zu dem Braunen hin, der wieder in Schritt gefallen war. »Diese Dinger zischen, pfeifen und qualmen. Eiserne Ungetüme. Aber du kennst ja unseren Franz …«
Ja, sie kannte den Franz seit ihrer Kindheit. Wie oft hatte sie sich im Stall an ihn gekuschelt, in sein dickes Fell hineingeschnüffelt, seine warmen Nüstern gestreichelt. Was hatte sie ihm alles erzählt, ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Nöte. Franz war der unerschütterliche Fels in der Brandung, sein Gemüt war wie sein breiter Rücken und die stämmigen Beine – nichts konnte ihm was anhaben. Er war ihr Freund. Auch dieser Abschied tat weh. Anna zog die Nase hoch. Johann legte in einer brüderlichen Geste den Arm um sie und drückte sie an sich.
»Es war Mutters Entscheidung«, sagte er. »Und du wirst sehen, es ist eine gute Entscheidung.«
Anna nickte.
Glauben konnte sie es nicht.
Und dann waren sie am Bahnhof. Anna fand schon allein das Gebäude beeindruckend, von den vielen Fuhrwerken, Kutschen und Menschen ganz zu schweigen. Unheimlich, ja, sie fand alles unheimlich und hielt sich deshalb dicht an Johann, der Franz mit angezogener Fuhrwerkbremse einfach im dichten Getümmel hatte stehen lassen. Er warf ihr einen aufmunternden Blick zu, während er zielstrebig in das Gebäude und dort zu einem Schalter ging, hinter dem ein grimmig aussehender Mann in Uniform saß. Anna ließ ihn nicht aus den Augen und wartete ab, bis er zu ihr zurückkehrte. »Dein Fahrschein bis nach Schaffhausen«, sagte er und drückte ihr ein kleines Stück bedruckter Pappe in die Hand. »Verlier es nicht. Und in Schaffhausen musst du das Schiff finden. Bis nach Steckborn. Der Pfarrer hat dir ja alles genau erklärt. Und aufgeschrieben.«
Anna nickte und dachte: Wenn ich jetzt schon Angst habe, wie soll es erst werden, wenn ich alleine bin?
»Vergiss nicht«, erinnerte Johann eindringlich. »Du bist 13 Jahre alt. Du bist schon groß!«
Anna nickte.
»Und es sind deine Glückszahlen. Heute ist der 13. April. Dazu 1913! Und du bist 13! Das sind deine Zahlen! Besser geht es nicht!«
Anna nickte noch einmal und widerstand dem starken Drang, einfach umzukehren und sich mit Franz auf den Heimweg zu machen.
Zwanzig Minuten später saß sie kerzengerade auf einer Holzbank und blickte im Zugabteil angestrengt aus dem Fenster, hinaus auf die schnell vorbeiziehende Landschaft. Es war laut, es rumpelte, und der dunkle Rauch der Lok verschleierte immer mal wieder ihre Sicht. Ihr gegenüber saß ein Mann, der Zeitung las und zwischendurch einen Blick auf sie warf. Anna spürte es, wagte aber nicht, den Blick zu erwidern. In den sich leicht spiegelnden Scheiben musterte sie seinen dunklen Anzug. Alles war Furcht einflößend. Von dem Zylinder, den er neben sich gelegt hatte, über den Stehkragen mit der Krawatte bis zu den polierten schwarzen Schuhen wirkte er wie aus einer anderen Welt. Dazu sein Gehstock mit einem silbernen Knauf. Einem Löwenkopf. So etwas hatte Anna noch nie gesehen. Immerhin lenkte es sie von ihrer ungewissen Zukunft ab, vor allem, als er plötzlich die Zeitung anhob und mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf eine Stelle tippte.
»Genau, was ich immer sage!«
Anna war sich nicht sicher, ob er sie angesprochen hatte oder eine der Frauen, die ihm schräg gegenübersaßen, deshalb reagierte sie nicht.
»Hier steht es auch«, er hob das Blatt etwas an. »Zur Ausfahrt aus Elternhaus und Schule ins Leben.« Er schwieg bedeutungsvoll. »So ist die Überschrift. Und hier …«, nun war klar, dass er Anna meinte, »für die Jugend, die nun der Schule entwachsen ist. Hier steht: ›Es hilft, wenn die Jugend daran gewöhnt wird, zu erfassen, dass es für die Tüchtigkeit eines Menschen weniger darauf ankommt, welchem Beruf er sich zuwendet, sondern darauf, dass ihm überhaupt rege Betätigung des Geistes, der Sinne und des Körpers recht eigentlich zur zweiten Natur, zum unabweisbaren Bedürfnis wird.‹« Er wartete kurz ab, Anna wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte, eine der Frauen neben ihr bestätigte das Gehörte. »Ja, das ist wohl wahr!«
»Es geht noch weiter. Achtung«, sagte er und schob sich gewichtig seine Brille hoch. »›Wir sollen früh von der Überzeugung durchtränkt werden, dass unsere Zeit eine Zeit der Arbeit ist, die Zierbengel und Zierpuppen als faule Früchte auf dem Acker des Lebens unbarmherzig in den Winkel stellt. Arbeitslust ist der beste Führer durchs Leben. Junge Leute, die gehätschelt wurden, haben es schwer, voranzukommen!‹«
Gehätschelt. Anna sah den Hof vor sich. Das Wasser hatte sie Tropfen für Tropfen bis vor wenigen Jahren noch von einer tiefer gelegenen Quelle holen müssen. Der Weg war weit, steil und gefährlich, besonders bei Regen oder im Winter. Der alte Schafstall musste ständig geflickt werden, die kargen Felder bestellt, die Pacht an die Stadt Mühlheim ließ ihre Mutter oft ächzen. Einmal war Anna nachts hinuntergegangen, um etwas Wasser zu trinken, da hatte ihre Mutter unter dem fahlen Gaslicht auf der Küchenbank gesessen, den Kopf zwischen ihren Armen auf dem Tisch und so gotterbärmlich geweint, dass nicht nur ihre Schultern gezuckt, sondern der ganze Körper gebebt hatte. Anna würde nie vergessen, wie sie leise zu ihrem Strohsack zurückgeschlichen war und die ganze Nacht wach gelegen hatte.
Gehätschelt! Sie sah auf, und ihr Blick traf genau auf den ihres Gegenübers.
»Verzeihen Sie«, sagte sie und spürte, wie ihre Stimme bebte. »Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man gehätschelt wird.«
Er antwortete zunächst nicht, und Anna überlegte, ob sie wohl vorlaut gewesen war? Das war Erwachsenen gegenüber eine Untugend, zumindest hatte ihnen das ihr Lehrer eingetrichtert. Wenn nötig mit dem Rohrstock.
»Das Fräulein kommt vom Land?« Er beugte sich etwas zu ihr vor. War ihr das so direkt anzusehen? Sie schaute zu den beiden Frauen hinüber. Beide hatten dicke Wintermäntel an, die nur die geknöpften, feinen Stiefeletten sehen ließen. Die eine trug einen schräg aufgesetzten, hellbraunen Hut mit einer Stoffrose über dem Ohr, die andere einen dunkelgrünen Wollhut, der wie ein Topf aussah. Beide schienen am Fortgang der Geschichte interessiert zu sein, sie hatten sich dem Zeitung lesenden Herrn und ihr zugewandt. Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Man erkennt es an den Schuhen.« Er deutete auf ihre schweren, genagelten Stiefel. Ihr ganzer Stolz.
»Die sind beste Qualität«, sagte sie deshalb. »Vom Schuhmacher. Der, der auch unseren Franz beschlägt. Er kann einfach alles.«
Eine der Frauen kicherte.
Anna warf ihr einen Blick zu. »Mit solchen Schuhen kommen Sie bei uns jedenfalls nicht weit«, sagte sie und deutete auf die feinen Lederstiefeletten. »Da bleiben Sie gleich stecken!«
»Ich habe nicht die Absicht«, gab die Dame spitz zurück, während sich der Mann ihr gegenüber über seinen Schnurrbart strich. Fast schien er amüsiert.
»Nun, dann scheint dieser Artikel nicht für Sie geschrieben zu sein. Sie kennen Ihren Weg. Und der führt … wohin?«
Anna war sich nicht sicher, ob sie das preisgeben sollte. Aber so viel ging dann wohl schon: »Nach Schaffhausen.«
»Eine schöne Stadt.« Er faltete die Zeitung zusammen. »Waren Sie schon mal in einer so großen Stadt wie Schaffhausen?«
Anna schüttelte den Kopf.
»Dann passen Sie auf, dass Sie nicht verloren gehen.«
Das Gefühl hatte sie dann aber doch, als sie mit ihrem Koffer in Schaffhausen ausgestiegen und im Stationsgebäude ratlos stehen geblieben war. Es war dort so warm, dass sie ihr Schultertuch abnahm und den Mantel aufknöpfte. Vom Schnee am Kraftstein keine Spur mehr. Anna kam ins Schwitzen, aber auch deshalb, weil sie nicht weiterwusste. In welche Richtung sollte sie gehen, wohin sollte sie sich wenden? Sie konnte kein Hinweisschild entdecken. Wo war denn der Rhein, wo waren die Schiffe? Von hier aus waren nur Hausdächer zu sehen. Sie nahm den Brief heraus, den ihr der Pfarrer mitgegeben hatte. Dort stand sorgsam aufgeschrieben:
In Schaffhausen angekommen, folgst du diesem Weg:
Über die Poststraße durch die Schwertstraße, am Mohrenbrunnen vorbei, diesen genau betrachten: der Mohr repräsentiert Kaspar, einen der drei Heiligen Könige, anschließend den Fronwagplatz überqueren, dann in die Vordergasse einbiegen. In der geschäftigen Gasse keine Begehrlichkeiten wecken lassen, am Rathaus vorbei, erkennbar an der Statue eines Schafbocks, der aus einem Turm springt, dann weiter, die Gasse hinunter über den Fischmarkt an der St. Johannkirche vorbei. Du hast rund zwei Stunden Zeit, also bete dort ein Weilchen für die Seele deines verstorbenen Vaters. Über den Gerberbach gelangst Du in die Unterstadt, dann, nach wenigen Minuten, bist du an der Schiffslände. Dort fährt um 4 Uhr die Arenaberg ab. Das Schiff heißt wirklich so, ist benannt nach einem Schloss am Bodensee. Die Fahrt zahlst du von dem Geld im Umschlag. In Steckborn erwartet dich dann Pfarrer Zeller und bringt dich zu deinem neuen Arbeitsplatz. Vergiss nicht, dich artig bei ihm zu bedanken. Er hat alles arrangiert.
Poststraße, dachte Anna. Wo finde ich die jetzt?
Nachdem die Lok keuchend und dampfend weitergefahren war und Anna freie Sicht hatte, schaute sie sich erschrocken um. Der Verkehr in Tuttlingen war ihr schon als sehr extrem erschienen, doch das hier war einfach unvorstellbar. Wie gern hätte sie nun Johann an ihrer Seite gehabt. Nicht nur um sich von ihrem großen Bruder an die Hand nehmen zu lassen, sondern auch um das alles mit ihm zu erleben.
Vor ihr war kaum ein Durchkommen, so dicht fuhren die Kutschen und Fuhrwerke … und Automobile. Eines hupte, und sie sprang erschrocken zur Seite, dabei war nicht sie im Weg, sondern eine alte Frau, die eben die breite Straße überqueren wollte. Sie blieb einfach stehen. Zu ihren Füßen glitzerte etwas, und Anna erkannte Schienen. Schienen mitten zwischen den gepflasterten Steinen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Von Straßenbahnen hatte sie zwar schon gehört, aber die wurden von Pferden gezogen.
Eine Frau neben ihr, mit weißer Rüschenschürze und zwei voll beladenen Körben in den Händen, erschien ihr so vertrauenerweckend, dass Anna sie ansprach. Aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte sie Mühe, Anna zu verstehen. Und als sie antwortete, ging es Anna ebenso. Was hatte sie gesagt? Sprach sie eine andere Sprache? Anna versuchte es mit Händen und Füßen, was die andere mit einem Lächeln quittierte, dann zeigte sie ihr mit ausgestrecktem Arm die Richtung. »Schiffländi!«, sagte sie dazu.
Das verstand Anna, und sie nickte heftig. Das Problem war, dass sie dazu diese Straße überqueren musste, aber sie tat es einfach direkt hinter der Unbekannten und kam unbeschadet auf die andere Seite.
Zehn Minuten Fußweg, hatte ihr der Pfarrer gesagt. Vom Stationsgebäude bis zur Schiffsanlegestelle.
Schon vor dem ersten großen Schaufenster blieb sie stehen. Dieses Kleid, das an einer großen Holzpuppe präsentiert wurde, war einfach unfassbar schön. Der lange blaue Rock mit der hohen Taille, dazu der passende große Hut und sogar die knöchelhohen Stiefeletten, die sie so ähnlich bereits an den beiden Damen im Zug gesehen hatte. Ebenso wie von einem anderen Stern erschienen ihr die Kinderkleider daneben. Ein Mädchen, ein Junge, auch in feinstem Tuch, das Mädchen in einem hellen, gebauschten Kleid mit rosaroten Schleifen, der Junge in knielangen Hosen und einer feinen blauen Weste. Anna dachte an ihre eigenen Kleider, weitervererbt von ihren größeren Schwestern. Und ihre Brüder tagein, tagaus in praktischen Lederhosen, eine nach der anderen an den jüngeren weitergegeben.
Sie riss sich los. Doch sie kam nicht viel weiter. Diesmal war es eine Apotheke, die sie stehen bleiben ließ. Was es hier alles gab! Kleine Glasgefäße und Keramiktöpfe mit Salben und Cremes, alles sorgfältig beschriftet. Daneben Seifen und hübsche Flakons mit Parfum, Tinkturen und Elixieren, als Heilmittel für eine ganze Reihe von Beschwerden, auf einer kleinen Tafel genau beschrieben – und wunderliche Apparate, Instrumente, von denen Anna nicht wusste, wozu sie gut sein könnten. Besonders interessant aber fand sie die vielen Bündel getrockneter Pflanzen und Kräuter, die sie alle kannte und die ihre Mutter auch immer sammelte. Damit ließ sich also Geld verdienen. Das sollte sie ihrer Mutter schleunigst schreiben.
Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Sie war erst einige Häuser weit gekommen, die Zeit lief ihr davon. Aber wann würde sie jemals wieder Gelegenheit haben, so etwas zu sehen? Sie nahm ihren Rock etwas hoch, denn auch hier lagen Pferdeäpfel im Weg, und um sie herum waren die Menschen hektisch zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs. Alle hasteten einem unbekannten Ziel entgegen. Die Einzige, die Zeit zu haben schien, war sie, die junge Anna. Und schon wieder kam sie nicht weiter. Diesmal war es offensichtlich ein Geschäft für Haushaltswaren. Aber was für welche!
Es hätte nicht viel gefehlt und Anna hätte sich die Nase am Schaufenster platt gedrückt, denn hier gab es Geschirr, von dem sie auf dem Kraftstein nur träumen konnten. Das heißt, bisher hatte sie so schön gearbeitete, mit feinen Blumen verzierte Porzellanteller und Tassen, Schüsseln und Platten noch nie gesehen. Dazu Silberbesteck, Tischdecken, ein silberner Kerzenleuchter … das Schaufenster sah aus, als sei ein Tisch für eine Märchenprinzessin gedeckt worden. Sie konnte sich einfach nicht sattsehen. Und im Schaufenster gleich daneben handgefertigte Holzutensilien und emaillierte Töpfe und Pfannen. Alles auf einem Herd drapiert. Alleine dieser Herd … er war aus weiß emailliertem Metall und besaß vorn eine Klappe. War das der Backofen? Wie wurde er beheizt?
Am liebsten wäre sie in das Geschäft hineingegangen und hätte gefragt. Sie musste sich das unbedingt merken und später in einem Brief beschreiben und am besten auch zeichnen. Überhaupt musste sie sich das alles einprägen. Und von ihrem ersten Geld würde sie ihrer Mutter etwas Schönes schenken. Etwas, das es in ihrer Heimat noch nicht gab. Vielleicht einen der zierlichen Flakons mit einem feinen Duft. Was das wohl kosten würde? Sie wusste ja nicht einmal, wie viel sie verdienen sollte. Würde das Geld für so etwas reichen?
Ein Junge rempelte sie an, einen schweren Sack auf dem Rücken. Er fluchte kurz in einer Sprache, die sie nicht verstand, gab dem gefüllten Jutesack einen Stoß mit dem Rücken, sodass er seine Position etwas veränderte, warf ihr noch einen kurzen Blick zu und ging weiter. Er war etwa in Annas Alter gewesen. Aber seine Kleidung war genauso, wie sie es von daheim kannte. Alt und aufgebraucht. Es gab hier also nicht nur Reichtum, wie man angesichts der vielen adrett gekleideten Menschen meinen sollte.
Doch dann! Eine von oben bis unten bemalte Hausfassade! Anna blieb mitten auf der Straße stehen. Eine solche Bilderfülle kannte sie nur aus der Kirche. Aber hier, schon ziemlich abgeblättert und trotzdem noch gut zu erkennen, Figuren über Figuren. Ritter, so wie es aussah – und ganz oben, sie war instinktiv versucht, das Kreuz zu schlagen, eine nackte Frau. Splitternackt! Übergroß auf einer Hauswand, sodass sie jeder sehen konnte.
Was der Pfarrer wohl dazu sagen würde? Sich selbst nackt anzuschauen sei unkeusch, hatte er stets gepredigt. Sich nackt selbst anzufassen, undenkbar. Von der Sünde, jemand anderen anzufassen, ganz zu schweigen. Anna stockte der Atem. Das konnte sie niemandem erzählen, keiner würde es ihr glauben!
Sie sah sich um, aber niemand schien sich für diese Unmoral zu interessieren. Die Menschen eilten weiterhin an ihr vorbei, manche, und das fiel ihr jetzt erst auf, in einer Art Tracht. Die einen waren einfach nur schlicht angezogen, meist junge Frauen in dunklen Kleidern aus grobem Tuch, knöchellang und mit langen Ärmeln. Dazu trugen sie kleine weiße Hauben und weiße Schürzen. Andere trugen eine Art Uniform, Kleider, an denen die weißen Spitzen bereits eingearbeitet waren. Vielleicht waren das Dienstmädchen? Anna fragte sich, wie sie selbst wohl an ihrem neuen Arbeitsplatz gekleidet sein würde? Und würde sie auch Besorgungen erledigen, wie es diese Frauen mit ihren Körben und Krügen taten, oder würde sie ausschließlich im Haus beschäftigt sein?
Sie wollte nicht so genau darüber nachdenken, denn es machte ihr Angst. Fremde Menschen, ein fremdes Haus, würde sie bestehen können?
Sie schaute sich weiter um, bis ihr Blick auf eine Festung fiel. Sie betrachtete die schweren Steine der Burg mit leichtem Schaudern. Nur gut, dass es keine wilden Horden mehr gab, die Städte und Höfe überfielen und Menschen in feuchte Verliese warfen.
Anna zog ein weiteres Mal die Wegbeschreibung hervor, um sich im Gewirr der abzweigenden Straßen und Gassen zu orientieren. Ah, die Kirche. Sie hatte ihren Vater zwar kaum gekannt, er war gestorben, als sie zwei war, doch der Pfarrer hatte sicherlich recht. Beten sollte sie dort für ihn. Was nur, wenn sie durch ihre Bummelei das Schiff verpassen würde? Sicher gab es in Steckborn auch eine schöne Kirche, da wäre ein Gebet für das Seelenheil ihres Vaters genauso viel wert.
Einzig an einem Geschäft für Schreibwaren blieb sie noch kurz stehen. Wunderschöne handgebundene Tagebücher waren in der Auslage zu sehen, daneben verschiedene Federhalter und kleine Tintenfässchen. Anna schrieb und zeichnete gern. Und mehr noch als ein neues Kleid wünschte sie sich so ein Tagebuch. Ein Buch nur für sie alleine, in das sie alles, was sie bewegte, hineinschreiben könnte. Und dann verschließen. Sie hatte ja Franz nicht mehr. Wem sollte sie nun all die Dinge, die ihr so durch den Kopf gingen, anvertrauen?
Kurz entschlossen betrat sie das Geschäft. Eine beleibte Frau mittleren Alters erkundigte sich mit etwas skeptischem Blick nach ihren Wünschen. Doch dann musste sie über die Begeisterung lächeln, mit der Anna die verschiedenen Formate ansah und zärtlich mit den Fingerkuppen über die Einbände strich. »Sie schreiben gern?«, fragte sie so langsam, dass Anna ihren Dialekt verstand. Sie nickte heftig. »Ja«, sagte sie. »Schreiben ist meine Leidenschaft!«
»Da gibt es hier in der Nähe am Untersee noch einen. Der hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Hermann Hesse. Kennen Sie ihn?«
Anna schüttelte den Kopf, nahm sich aber vor, sich diesen Namen zu merken. »Schreiben als Beruf«, sagte sie leise, »das würde ich mir wünschen.«
»Wer weiß, was noch kommt«, sagte die Frau, begleitete sie zur Tür und schenkte ihr einen schönen, angespitzten Bleistift.
»Kommen Sie einfach wieder.«
»Was kostet denn so ein schönes Tagebuch?«
»Zwei Franken.«
Zwei Franken! Anna hatte keine Ahnung, wie viel das in Mark sein könnte, aber es hörte sich teuer an.
»Ja, wenn ich genügend Geld habe.«
»Sie sind noch jung. Es wird schon klappen!«
Anna bedankte sich vielmals, hielt beseelt den schönen Bleistift in der Hand und verließ freudig lächelnd das Geschäft. Ja, sie würde es schaffen. Eines Tages könnte sie sich bestimmt ein solches Tagebuch kaufen.
Sie war schneller am Rhein als gedacht. Ein großer Platz mit einem Brunnen, dahinter ein Ungetüm von einem Schiff. Größer als die Eisenbahn, so kam es ihr jedenfalls vor. Ein halbrunder Kreis prangte wie ein gemaltes Schaufelrad an der Seite, darin stand groß und deutlich: Arenaberg.
Das war sie also, die Arenaberg. Am Bug saßen schon recht viele Leute an Deck, hinter dem hohen Schornstein war ein großes Tuch gespannt worden, darunter schienen noch Plätze frei zu sein. Eine Frau mit einem Kinderwagen stand am Kai und unterhielt sich mit einem Mann in Uniform. War dies der Schaffner wie im Zug? Oder ein Polizist? Anna kannte sich nicht aus. Hier war alles anders. Die Sprache, die Währung – und wahrscheinlich sahen auch die Polizisten anders aus.
Anna kramte nach dem Briefumschlag und hielt die Luft an, als sie ihn nicht gleich fand, endlich zog sie ihn aus ihrer Umhängetasche und atmete durch. Mit ihrem Koffer fest in der Hand ging sie auf die Arenaberg zu. Das war nun die letzte Etappe! Dann war sie am Ziel!
Ein breiter Steg führte an Deck des Schiffes, aber er schwankte leicht, und Anna klammerte sich erschrocken an das Geländer.
»Keine Angst, Fräulein«, ein stattlicher Mann mit Kaiser-Wilhelm-Bart streckte ihr seine Hand entgegen, »gleich haben Sie es geschafft!«
Er nahm den abgezählten Fahrpreis entgegen und riet ihr dann, sich, wegen des Qualms aus dem Schornstein, nach vorn zu setzen. »Vor allem die Damen, wegen des schönen Teints«, sagte er und zupfte vergnügt an einem Schnurbartende.
Anna war sich nicht sicher, ob das anzüglich war, so bedankte sie sich schnell und suchte sich auf dem vollen Vorderdeck einen Platz. Und hatte Glück, denn eine füllige Dame stand eben auf, strich sich ihren Rock glatt und sagte laut zu ihrem Begleiter: »Hier zieht es. Ich setze mich nach hinten.« Was ihn dazu veranlasste, ebenfalls aufzustehen. Anna bedankte sich freundlich, grüßte nach rechts und links und ließ sich zwischen zwei Frauen auf der harten Holzbank nieder, den Koffer vor ihren Knien abgestellt.
»Na, hoffen wir mal, dass es diesmal keine Rettungsaktion geben muss!«, stöhnte die Frau neben ihr.
Die junge Frau auf ihrer anderen Seite warf ihr einen raschen Blick zu.
»Es ist ja nichts passiert. Nur ein Abenteuer …«
Ein Mann, der ihr schräg gegenübersaß, zuckte mit den Achseln.
»Nichts passiert?«, empörte sich die Frau, »wenn das Schiff hängen bleibt und man über Leitern auf die Brücke hinaufklettern muss, dann sagen Sie, es sei nichts passiert?«
»Nun«, er lächelte nachsichtig. »Die Arenaberg ist ja wieder flottgemacht worden, die Brücke in Diessenhofen wurde nicht beschädigt, und auch sonst kam keine Person zu Schaden.«
»Aber der Schreck!«, legte die Frau nach.
»Ja, ein Schreck war es schon«, bekräftigte die junge Frau neben Anna.
Anna überlegte, was sie sagen könnte. »Passiert so etwas häufig?«, wollte sie dann wissen, denn sie dachte mit Sorge an den Pfarrer und was er denken würde, wenn sie nicht ankam. Wie wäre er zu benachrichtigen? Und was wäre mit ihrem Koffer, ihrem gesamten Hab und Gut? »Kann sie sinken, die Arenaberg?«
»Jedes Schiff kann sinken«, schnaubte die Frau und meinte mit einem schnellen Blick zu ihrem Gegenüber: »Aber das wäre ja dann vielleicht auch nur ein Abenteuer?«
Er lächelte vielsagend. Und Anna betrachtete ihn verstohlen. Es war ein junger Mann, vielleicht so alt wie ihr Bruder, Anfang zwanzig. Selbstbewusst, das war Johann auch, aber Johanns Körper zeugte von harter Arbeit. Der hier hatte keine breiten Schultern, war schmal gebaut, sein Anzug saß, als ob er für ihn geschneidert worden sei, ein gefaltetes Taschentuch in der Brusttasche, ein blütenweißes Hemd mit penibel heruntergeklappten Ecken des steifen Stehkragens, dazu edel aussehende Manschettenknöpfe, die breite Krawatte und die Weste, an der eine goldene Kette baumelte, alles schien sein Selbstbewusstsein zu stärken. Selbst sein kurz geschnittenes, mit Pomade zurückgekämmtes Haar mit dem akkuraten Scheitel. Annas Blick fiel auf den verwegenen Hut, den er neben sich abgelegt hatte, schwarz, mit breitem Hutband und mit zusammengedrückter Vorderseite. Alles in allem sah er sehr gut aus. Auch sein schmales Gesicht und seine braunen Augen, die sie nun anblickten. Hatte er ihre Neugierde gespürt? Instinktiv wollte sie den Blick senken, so, wie es ihr in der Schule gepredigt worden war: Ein Mädchen senkt züchtig den Blick, wenn es einem Mann gegenübersteht. Aber irgendwie schaffte sie es nicht. Und eigentlich wollte sie es auch nicht. Also erwiderte sie seinen Blick.
Er lächelte. Nein, eigentlich lächelten seine Augen, und das setzte sich bis zu seinen Mundwinkeln fort.
»Wollen Sie auch ein bisschen Abenteuer?«, fragte er sie, und Anna verschluckte sich. Sie musste husten, und in diesem Moment gab es ein lautes Zischen und Kreischen um sie herum, ein durchdringend schrilles Signal ertönte, dann ging ein Beben und Rütteln durch das Schiff, und kurz darauf hatten sie schon abgelegt. Anna drehte sich auf ihrer Bank so um, dass sie das Ufer besser sehen konnte. Ja, sie fuhren. Sie entfernten sich von der Anlegestelle, und nun konnte sie auch die ganze Festung sehen – und nicht nur einen Turm. Die ganze Stadt war einfach gewaltig. Und gewaltig schön. Sie seufzte kurz und drehte sich wieder um.
Ihr Gegenüber hatte sie offensichtlich nicht aus den Augen gelassen.
»So schwer?«, fragte er.
»Mit Gottes Hilfe ist alles zu schaffen«, antwortete sie mechanisch.
Die Frau neben ihr hüstelte und legte sich schnell die behandschuhte Hand auf die Lippen. »Mit Gottes Hilfe kommen wir heute hoffentlich unbeschadet an unser Ziel«, sagte sie gedämpft.
»Welches Ziel das auch immer sein mag«, erwiderte der Mann und zwinkerte Anna zu. »Es gibt erreichbare Ziele und unerreichbare. Wer entscheidet das? Der liebe Gott?«
»Nun lass sie in Ruhe!«, fuhr die junge Frau neben Anna ihn an. »Du machst sie verlegen! Sie ist doch noch ein Kind!«
Bin ich nicht, dachte Anna trotzig, entschied aber, keine Diskussion auszulösen, sondern sich lieber auf ihre erste Fahrt mit einem Dampfschiff zu konzentrieren.
Die Fahrt war nervenaufreibend schön gewesen. Frachtschiffe mit Holz, andere mit Kohle, eines kam ihnen gar mit Kühen beladen entgegen, auch ein großes Floß mit Bergen von Steinen kam so dicht, dass Anna kurz die Augen schloss, dazu kreuzten unzählige kleine Fischerboote ihren Weg, und ein anderes Passagierschiff grüßte mit einem hellen, durchdringenden Signal, als es an ihnen vorbeifuhr. Immer wieder hielten sie an Anlegestellen, und immer wieder sprang Anna unsicher auf, bis die Frau neben ihr schließlich nach ihrem Ziel fragte und ihr versprach, ihr rechtzeitig Bescheid zu geben. Nachdem der Platz neben dem jungen Mann ihr gegenüber frei geworden war, setzte sich ihre Nachbarin zu ihm und unterhielt sich leise mit ihm. Ein schönes Paar, dachte Anna und betrachtete über die beiden hinweg das entfernte Ufer.
Und dann winkte die Frau ihr zu. »Gleich sind wir da, Steckborn«, sagte sie und zeigte zum Land.
Augenblicklich schlug Annas Herz mehrere Salti, sie holte tief Luft, griff nach ihrem Koffer und stand auf.
»Es dauert noch«, beruhigte sie die Frau, »es bedarf keiner Eile.«
Anna bedankte sich für die Freundlichkeit, blieb aber trotzdem stehen, denn so sah sie besser über den Bug hinaus nach vorn.
Ohne den Schutz des hochgezogenen Bootsrumpfes war der Fahrtwind kühler als gedacht. Kurz überlegte Anna, ihr warmes Schultertuch aus der Tasche zu ziehen, entschied sich dann aber dagegen. Sie war robust genug und würde nicht gleich krank werden.
Als sie näher kamen, sah sie erst nur eine große Baustelle, dann einige Häuser, und ganz besonders stach ihr ein hübsches, weißes Gebäude ins Auge, das mit seinen vielen Turmspitzen wie ein Schloss aussah. Daneben ein hoher Kirchturm. Ihre neue Heimat. Heimat? Sie horchte in sich hinein. Das Wort löste keine Gefühle in ihr aus, sie spürte eher eine Beklemmung vor dem Unbekannten, das ihr nun bevorstand. Sie drehte sich noch einmal zu ihren Mitreisenden um.
»Zurück in der Heimat oder neu in der Fremde?«, fragte sie der Mann mit einem Lächeln.
»Neu in der Fremde«, sagte Anna, griff nach ihrem Koffer und ging nun in Richtung Ausgang. Nur nicht zu spät kommen und den Ausstieg verpassen. »Viel Glück«, hörte sie die junge Frau noch sagen, dann ging das Schiff auch schon längsseits, und der breite Steg wurde vom Anlegeplatz aufs Schiff geschoben. Dort standen einige Wartende, aber einen Pfarrer konnte sie nicht ausmachen. Was, wenn er gar nicht kam? Es fuhr ihr heiß durch den Körper. Was, wenn die Sache gar nicht so fest ausgemacht war, wie ihr Pfarrer in Mahlstetten behauptet hatte? Aber nein. Er war ein Mann Gottes, er würde sie nicht in ein ungewisses Abenteuer schicken.
Vor ihr standen nun sechs Männer an der Reling, alle mit dunklen Hüten und ernsten Gesichtern. Anna stellte sich hinten an und versuchte ihr klopfendes Herz zu ignorieren. Es wird alles gut gehen, beschwor sie sich und schickte zur Unterstützung noch ein schnelles Gebet in Richtung Himmel. Die Schlange vor ihr setzte sich in Bewegung. Sie griff nach ihrem Koffer, doch ein junger, wohlgekleideter Mann nahm ihr den Koffer ab und geleitete sie über den breiten Steg zum Ufer. Dort bedankte sie sich freundlich und blickte sich suchend um. Frauen mit Hüten, eine mit einem Kinderwagen, Männer, die über den Steg aufs Schiff drängten. Niemand hatte einen Blick für sie, niemand war für sie erschienen.
Sie würde hier einfach stehen bleiben, überlegte sie. Irgendetwas würde schon passieren. Um sie herum passierte jedenfalls sehr viel. Offensichtlich war die Anlegestelle verlängert worden, doch noch schien es ein Provisorium zu sein. Das ganze Ufer wurde aufgeschüttet, überall sah sie Berge von zusammengeschobenem Erdreich, aufgeschichtete Holzpfähle, Kisten voller Eisenteile und jede Menge Arbeiter, die mit allerlei Maschinen und Schaufeln beschäftigt waren.
Und dann sah sie ihn: Eilig kam er auf sie zu, ein großer, ganz in schwarz gekleideter Mann, die Soutane wehte im Takt seiner weit ausholenden Schritte um seine Beine. Das musste er sein. Anna atmete auf. Sie straffte sich und knickste, als er vor ihr stehen blieb.
»Du bist wohl Anna? Anna Leibinger?«
Anna bejahte und reichte ihm die Hand.
»Gut!« Er musterte sie. »Du sollst tüchtig sein und gesund, bist nicht auf den Kopf gefallen, sondern eher, na, sagen wir mal, etwas vorlaut. So wurde mir erzählt.«
Für ein Mädchen, setzte Anna in Gedanken dazu. »Manche Leute empfinden das so«, sagte sie und spürte zu ihrem Ärger, wie sie rot wurde.
»Nun«, die Falte über seiner Nase glättete sich, und die Mundwinkel unter seinem schwarzen Bart schienen lächelnd zu zucken, »dann schauen wir mal.« Er griff nach ihrem Koffer und wandte sich zum Gehen, sie lief neben ihm her. »So wie mein Amtsbruder dich beschrieben hat, habe ich mir natürlich Gedanken gemacht. Wir haben hier einige begüterte Familien, den Apotheker zum Beispiel oder auch einen Politiker, aber ich dachte, du bist eher ein Mädchen, das gern zupackt. Hohe Herrschaften sind manchmal etwas … nun ja, … anstrengend. Auch für ihre Bediensteten.« Er machte eine Pause und sah zu ihr hinunter. »Na ja, dreizehn Jahre alt, ziemlich dünn!«
»Aber ich bin stark!«, protestierte Anna. »Und zäh! Das sagen jedenfalls meine Brüder.«
»Du bist mit Brüdern aufgewachsen?«
»Nicht nur«, sagte Anna schnell. »Ich bin die siebte. Ich habe zwei Brüder, drei Schwestern und einen Halbbruder.«
»Alle älter als du?«
Anna nickte.
»Du bist also das Nesthäkchen!«
Darauf wusste Anna nichts zu sagen. Der Pfarrer war vor einem großen, achteckigen Brunnen stehen geblieben. »Schau dich um, das ist Steckborn. Dort hinten ist die Kirche. Die Straßen sind schlecht, wir haben häufig Überschwemmungen, dann gehen die Menschen hier über Stege. Es gibt keine klassische Landwirtschaft wie bei euch vielleicht, mit Kühen…«
»Wir haben Schafe …«, unterbrach ihn Anna und erntete dafür einen missbilligenden Blick.
»Wie war das mit vorlaut gegenüber Erwachsenen?«
»Entschuldigung.« Anna senkte die Augen, aber nur kurz.
»Also«, fuhr der Pfarrer fort, »hier leben die Menschen vom Fischfang und von den Trauben, sie bauen Wein an. Dort drüben, auf der anderen Seite des Untersees, liegt Deutschland. Die bereiten uns zurzeit Sorgen. Jedenfalls, das Wasser hat eine starke Strömung. Und der See ist hier breit, beinah einen ganzen Kilometer. Beim Baden kann man schnell mitgerissen werden, also nicht einfach hineinspringen!«
Er warf Anna einen forschenden Blick zu, sie nickte.
Er machte eine weite Handbewegung über die Häuser. »Was siehst du?«
Annas Blick folgte seiner Hand. »Alles schöne Häuser. Alle aneinandergebaut.«
Der Pfarrer nickte. »Ja, und in den Häusern findest du viele Wirtshäuser, Bäckereien, Metzgereien, einen Coiffeur und dort drüben einen Kolonialwarenladen. Wegen des wiederkehrenden Hochwassers oft im ersten Stock.«
Ein Coiffeur? Was könnte das sein, fragte Anna sich.
»Und was du hier gerade kommen siehst, ist das Postauto, das zwischen Frauenfeld und Steckborn verkehrt. Es gibt noch viele Fuhrwerke, auch Ochsengespanne und Pferdekutschen. Herr Gegauf war im Jahr 1905 mit seiner Motorchaise Nr. 1 der erste Automobilist in unserer Gegend. Übrigens der erste im gesamten Thurgau! Ihm gehört die Hohlsaummaschinen-Fabrik. Dort werden Nähmaschinen hergestellt, ganz am Ende von Steckborn. Die wirst du sicher noch sehen. Viele von hier sind dort beschäftigt. Außerdem haben wir eine Druckerei und somit eine regelmäßig erscheinende Zeitung, sie heißt Bote vom Untersee.« Er zögerte. »Du kannst doch lesen?«
»Selbstverständlich!« Anna kniff entrüstet die Augen zusammen. »Und rechnen. Ich war überhaupt die Beste in meiner Klasse!«
»Soso!« Wieder dieses Lächeln.
»Gut, dann hast du ja jetzt auch schon das Wichtigste gelernt!« Er fuhr sich kurz mit den Fingerspitzen über seinen gestutzten Bart. »Haben wir noch was vergessen?«
»Ja, vielleicht, wo ich überhaupt arbeiten soll?«
Er warf ihr einen schnellen Blick zu, und Anna biss sich auf die Lippen.
Dann nickte er. »Wir stehen schon direkt davor. Das hier ist das Gasthaus ›Krone‹, das Gebäude streckt sich bis zum Ufer, dort hat es eine große Seeterrasse. Bei der Ankunft hast du sie bestimmt gesehen.«
Anna schüttelte den Kopf. Es gab so viel anderes zu sehen.
»Nun, gehen wir hinein. Die Wirtsfamilie kommt aus Deutschland, falls du mit dem Schweizer Dialekt Probleme hast.«
»Ich kann ihn ja lernen«, antwortete Anna schnell.
»Recht so!« Der Pfarrer legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es sind nette, rechtschaffene Leute. Aber sie verlangen auch was. Was genau, werden wir sehen. Dafür hast du ein Bett, Essen, Trinken und einen Lohn.«
Nun wurde es ernst. Anna spürte ein leichtes Ziehen im Bauch.
»Hast du Angst?« Er warf ihr einen prüfenden Blick zu.
»Nein, ich freu mich«, schwindelte Anna.
»Gut so!«, er schob sie etwas vorwärts, »dann gehen wir es an!«
Der Pfarrer stieß die Tür auf und trat vor Anna ein. Ein großer, dunkler Raum, dunkel möbliert, das war das Erste, das ihr auffiel. Und dann diese Geschäftigkeit. Junge Mädchen in langen dunklen Kleidern mit weißen Schürzen und großen weißen Krägen eilten an ihnen vorbei. Sie trugen steinerne Bierkrüge, Teller mit Speisen und auf dem Rückweg von den Tischen abgeräumtes Geschirr. Anna fühlte sich wie in einem Bienenstock. Sie war bisher nur ein einziges Mal in einem Gasthof gewesen, als ihre ältere Schwester geheiratet hatte, nach der Kirche zur Feier in Mühlheim. Aber dort war es in einem sehr viel kleineren Raum sehr viel gemütlicher zugegangen.
Sie war stocksteif stehen geblieben und bemerkte erst mit einiger Verzögerung, dass der Pfarrer weitergegangen war und ihr nun von einem hohen Tresen aus auffordernd zuwinkte. Ihm gegenüber stand eine groß gewachsene Frau, die ihr abwartend entgegenblickte. Anna atmete tief durch, bevor sie losging. Das war sie nun wohl, die Wirtin.
Sie blieb neben dem Pfarrer stehen und knickste zur Begrüßung.
»Nun also die Anna, die Anna vom Kraftstein!«, sagte die Frau und kam um den Tresen herum. »Pfarrer Zeller vermittelt immer mal wieder junge Mädchen vom Land. Und bisher«, sie nickte ihm wohlwollend zu, »sind wir damit immer sehr zufrieden gewesen.«
Anna fiel auf, dass er sich ihr bisher nicht vorgestellt hatte. Aber es hatte ja im Brief gestanden.
»Hübsch ist sie, die Anna«, sagte sie zum Pfarrer.
Hübsch? Das war Anna neu. Bisher hatte sie sich im Spiegel immer als zu mager empfunden, ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, blauen Augen und ziemlich wilden kastanienbraunen Haaren, die sich nie so recht zu einem Zopf flechten ließen. Was hatte ihre Mutter schon geschimpft, wenn es vor der Schule schnell gehen musste. »Sie sind wie du«, hatte sie manchmal gesagt, »sie lassen sich einfach nicht bändigen.« Anna hatte es als Kompliment aufgefasst, was aber sicherlich nicht so gemeint war.
»Wenn sie auch zupacken kann?«, fragte die Wirtin.
Pfarrer Zeller nickte. »Zumindest ist mein Amtsbruder der Meinung. Und ja, sie sagt selbst, sie sei zwar dünn, aber zäh.«
»So, sagst du das?« Die Wirtin sprach sie zum ersten Mal direkt an.
Anna nickte.
»Gut! Wir werden sehen.«
Nun stellte sie sich als Frau Isolde Faiker vor, ihr Mann heiße Anton Faiker, und alle anderen würde sie noch kennenlernen. Insgesamt seien es zwölf Mitarbeiter, sie sei nun die dreizehnte. Ihre Schlafkammer teile sie unter dem Dach mit drei anderen jungen Frauen.
Anna blieb stumm.
»Wie alt bist du, Anna?«
»Dreizehn.«
»Na, das scheint ja deine Glückszahl zu sein«, stellte Pfarrer Zeller fest.
Anna nickte. Das hatte Johann auch schon gesagt.
»Wir werden mal sehen, wo wir dich einsetzen können. Wahrscheinlich zunächst mal in der Küche.« Sie zeigte auf eines der vorbeieilenden Mädchen. »Im Gastraum tragen die Mädchen Dienstkleidung, mit ordentlich zurückgekämmten Haaren unter einem weißen Spitzenhaarband.« Anna fasste sich unwillkürlich an den Kopf und strich mit der flachen Hand über die vielen abstehenden Haare. »Mit etwas Öl legen sich auch die widerborstigsten Haare.« Frau Faiker zeigte auf ihre eigenen, straff nach hinten gekämmten Haare.
Annas Blick blieb an ihrem schönen weißen Spitzenkragen hängen. »Ist das geklöppelt?«
Isolde Faiker lächelte. »Ja, hier in der Gegend wird noch viel geklöppelt. Du wirst sehen, diese Kunst beherrschen nicht nur Frauen, sondern auch Männer.«
»Wunderschön«, hauchte Anna. »Meine Großmutter konnte das auch. Ich habe nie verstanden, wie man bei den vielen Klöppeln, Fäden und Gewichten den Überblick behalten kann.«
»Du sollst bei uns ja auch nicht klöppeln, sondern beim Abwasch helfen, Kartoffeln schälen, Salate putzen. Zwiebeln schneiden, unserer Köchin zur Hand gehen. Das kannst du doch?«
»Ja, das kann ich«, sagte Anna und fügte mit einem Knicks hinzu: »Und vielen Dank, dass Sie mich aufnehmen. Ich werde alles so machen, dass Sie zufrieden sind.«
Isolde Faiker und Pfarrer Zeller warfen sich einen kurzen Blick zu.
»Gut, dann werden wir Ihr Lämmchen mal herumführen lassen. Johanna wird dir alles zeigen. Sie ist von allen am längsten da.«
Sie nahm eine kleine, goldene Tischglocke vom Tresen, schüttelte sie kurz, sodass ein hoher, heller Ton erklang. Kurz danach trat eine Frau aus der Küchentür, Anna schätzte sie auf Mitte zwanzig.
»Ach, ja«, Isolde Faiker heftete ihren Blick auf Anna, »Unterkunft und Verpflegung frei, sechs Tage, zwei Franken Tageslohn. Wir werden sehen, ob du dich bewährst, dann bekommst du mehr.«
Zwei Franken! In Anna leuchtete ein Blitz. Zwei Franken! Damit könnte sie in Steckborn dieses wunderschöne Tagebuch kaufen. Einen Bleistift hatte sie ja schon! Sie strahlte Isolde Faiker an.
»Ist das zu viel?«, fragte diese.
»Ich werde es mir redlich verdienen!«, gab Anna zur Antwort.
Die Dienstälteste nahm Anna zur Seite und stellte sich ihr erneut als Johanna vor. Wie ihr Bruder Johann, dachte Anna und betrachtete auch das als gutes Omen. »Leg hier in der Ecke einfach erst mal alles ab, deinen Koffer, deinen Mantel, deine Tasche.« Und nachdem Anna der Aufforderung nachgekommen war und in ihrem schlichten Kleid vor ihr stand, machte Johanna eine allumfassende Handbewegung. »Wir gehen einmal durchs ganze Haus, damit du alles kennenlernst. Wir haben keine Kellergewölbe, weil das Haus zu nah am Wasser steht. Das lässt sich nicht abdichten, vor allem nicht, weil wir ja oft Überschwemmungen haben. Also lagern wir alles in Nebengebäuden, Bier, Wein und alles für die Küche. Maria ist unsere Köchin, aber sie heißt nur so, sie kann ein ganz schöner Teufel sein. Da muss alles schnell und exakt gehen, wer das nicht kann, fliegt raus.« Sie warf Anna einen skeptischen Blick zu. »Vor allem muss immer genug Wasser da sein, das holen wir vom Brunnen. Von dem Brunnen vor dem Haus, den hast du sicher schon gesehen.«
Anna nickte. »Den mit dem Löwen.«
Johanna nickte. »Der schaurig-schöne Leu. Manche haben Angst vor ihm.« Wieder dieser prüfende Blick.
»Ich nicht«, sagte Anna schnell. »Ich fürchte mich auch vor keinen Geistern, obwohl wir oben am Kraftstein welche hatten.«
»Wirklich?« Johannas Gesichtsausdruck verriet, dass sie gern mehr hören würde. War sie wirklich schon Mitte zwanzig?, überlegte Anna. Weshalb war sie dann noch nicht verheiratet?
»Also.« Johanna räusperte sich, und ihre braunen Augen zogen sich unter ihren dichten Augenbrauen etwas zusammen. Eigentlich sieht sie mit ihren feinen Gesichtszügen sehr hübsch aus, dachte Anna, musisch, hätte ihre Lehrerin in Mahlstetten gesagt. »Was unsere Zimmer angeht, jede sorgt selbst für ihr Bett und ihre Wäsche. Oben, im Dachgeschoss, sind zwei Zimmer für uns, wir sind – mit dir – acht. Dann gibt es noch zwei Zimmer für die Männer, die hier arbeiten, die sind aber nicht bei uns, sondern im Anbau. Wir arbeiten von morgens sechs Uhr bis nachts. Je nachdem wie lange wir gebraucht werden. Am Sonntag gehen wir abwechselnd in die Kirche, denn danach sind die Männer bei uns im Wirtshaus, also muss jemand von uns da sein. Wer wann freihat, wird von Frau Faiker bestimmt.« Anna hing an Johannas Lippen, und weil deren Stimme oben blieb, hatte sie das Gefühl, dass sie noch etwas anfügen wollte, es aber doch unterließ. Es entstand eine kurze Pause. Das ermutigte Anna zu einer Frage: »Bin ich die Jüngste?«
Johanna maß sie kurz mit einem abschätzenden Blick. »Wie alt?«
»Dreizehn!«
»Zumindest die Jüngste, die der Pfarrer je gebracht hat.«
Anna wusste mit der Antwort nichts anzufangen, ließ es aber dabei bewenden.
»Also«, Johanna zeigte auf die Tür, durch die die Mädchen mit ihren Tabletts hinein- und hinausliefen, »bist du bereit?«
Anna nickte, und Johanna ging ihr voraus durch die Tür in die Küche hinein. Als Erstes sah sie einen quer gestellten Tisch, auf dem fertige Speisen zum Abholen bereitstanden, dahinter öffnete sich ein großer, rußgeschwärzter Raum. Ein enormer, gusseiserner Herd beherrschte die eine Wand, daneben stand ein Tisch voller Töpfe und Pfannen, und mittendrin hantierte eine beleibte Frau, groß, mächtig, die Haare unter einem schwarzen Kopftuch verborgen. Es klapperte und zischte, und dabei fluchte sie, wie es Anna bisher nur von den Bauern aus Mahlstetten gehört hatte.
»Vermaledeit … wo bleibt denn…«, rief sie gerade, richtete sich auf und bemerkte Anna. »Und du? Was willst du denn hier?« Sie stemmte die Linke in ihre Hüfte, mit der rechten Hand zeigte sie mit einem riesigen Kochlöffel auf sie.
»Ich bin Anna«, antwortete Anna eingeschüchtert.
»Dann geh mir aus dem Weg! Dieser Nichtsnutz soll mir das Fleisch bringen. Wo ist er jetzt wieder?« Sie funkelte Johanna an. Die hob beide Hände. »Welches Fleisch?«
»Welches Fleisch, welches Fleisch«, rief Maria. »Das, was wir heute Morgen beim Metzger gekauft haben. Bestes Schweinefleisch. Und das soll jetzt auf den Tisch! Wenn schon mal jemand Fleisch bestellt, dann schnell, schnell!«
In dem Moment kam aus einer gegenüberliegenden Tür ein Junge mit einer großen Schüssel herein, über der ein Leinentuch lag.
»Wo bleibst du denn, Kreuzdonnerwetter?«
»Ich weiß nicht«, rechtfertigte sich der Junge, stellte die Schüssel auf den Tisch und zog das Tuch weg. »Heute Morgen waren es noch vier große Stücke, jetzt sind es nur noch drei!«
Alle im Raum starrten gebannt auf die drei Fleischbrocken, die blutig in der Schüssel lagen. »Wo ist das vierte Stück?« Die Köchin richtete sich drohend auf. Alle um sie herum zogen die Köpfe ein, Anna instinktiv auch. »Nachlegen!«, fauchte sie. »Der Herd! Kohle rein, und dann suche jemand den Missetäter. Ich brate dem Gast jetzt sein Fleisch. Und Erna«, sie zeigte mit dem Kochlöffel auf eine junge Frau, die regungslos hinter dem Tisch stand, »du kümmerst dich um die Kartoffeln!«
Anna hatte den Atem angehalten. Doch unsichtbar war sie deswegen nicht geworden. »Und du?«, fuhr Maria sie an, »was willst du noch immer hier?«
»Sie ist eure neue Hilfe. Und sie heißt Anna!«, entgegnete Johanna ruhig.
Maria maß Anna mit einem Blick. »So eine halbe Portion? Die muss man ja erst mal aufpäppeln, sonst klappt sie uns am ersten Tag zusammen!«
»Muss man nicht!«, erklärte Anna laut.
»Wie bitte?«
»Ich bin zäh. Und ich bin an Küchenarbeit gewöhnt.«
»Na«, Maria winkte ab, »das wollen wir mal sehen. Und vorlaute Gören kommen mir gerade recht!«
Johanna zog Anna leicht am Ärmel. »Wir gehen besser mal weiter …«
So leicht war das allerdings nicht, denn der Raum war durch einen langen, breiten Arbeitstisch zweigeteilt. Auf der linken Seite stand Maria am Herd, und auf der anderen Seite des Tisches waren große Becken aus Steingut angebracht worden. Dort stapelte sich benutztes Geschirr, und zwei junge Frauen schienen mit dem Abwasch kaum nachzukommen.
Johanna wählte den Geschirrspülbereich, und Anna betrachtete im Vorbeigehen die vielen Geräte auf dem Arbeitstisch, die sie nicht kannte. Erna stand vor einem dieser Teile aus Metall, drehte mit voller Kraft an einer Handkurbel, und Anna sah, wie viele feine Kartoffelstreifen in eine Schale fielen.
Spannend, fand sie und eilte Johanna hinterher, die im hinteren Bereich eine Tür öffnete.
»Unsere Lebensmittel halten wir in Eiskammern kühl«, erklärte sie, »weil wir keine Kellerräume haben.« Sie ging auf ein kleines Nebengebäude zu und wartete, bis Anna neben ihr stand. Dann zündete sie eine Gaslampe an, die griffbereit an einem Haken hing, nahm sie herunter, befahl: »Schnell!«, öffnete die Tür einen Spalt und huschte hinein. Anna folgte ihr und hielt erschrocken den Atem an. Hier drin war es wirklich eiskalt. Wie bei ihnen oben im Kraftstein im Schuppen. Allerdings nur im tiefsten Winter. »Das also ist unsere Eiskammer. Im Winter werden Eisstangen im See geschnitten und in Felsenkellern gelagert. Die sind nah dem Seeufer in einem Waldstück zwischen Steckborn und Berlingen. Die Brauerei liefert sie mit dem Bier aus, und wir bewahren sie in isolierten Kisten auf. Und die Wände hier sind auch isoliert!« Johanna ließ den Schein der Lampe wandern. »Und deshalb ohne Tageslicht!« Von der Decke hingen an dicken Haken große Stücke Fleisch, und auf den Regalen standen Kisten mit Obst und Gemüse, es roch nach Kartoffeln und Most.
»Brrr!«, machte Anna und schüttelte sich. »Und im Sommer funktioniert das auch, wenn es draußen richtig heiß ist?«
»Gerade für den Sommer ist es gedacht!« Johanna nickte ihr zu. »Also ist schon klar, dass hier immer alles schnell gehen muss – vor allem darf die Tür nicht offen stehen!«
Nach der Eiskammer zeigte sie ihr eine weitere Speisekammer, die Räucherkammer, die Wäscherei, und schließlich ging sie auf eine schmale Stiege zu, die steil nach oben führte.
»Da oben sind unsere Zimmer. Es gibt einen Abort und daneben einen Waschraum mit einem Becken und einer Kanne Wasser.«
»Einen Abort bei den Zimmern? Oben?« Anna war perplex – so etwas kannte sie von zu Hause nicht. Da gab es noch ein einfaches Plumpsklo in einem kleinen Häuschen über dem Hof. Und für die Nacht den Topf unter dem Bett.
»Ja«, Johanna nickte. »Und natürlich für den Gastraum auch. Wir spülen oben mit einem Krug voll Wasser nach. Der muss natürlich immer gefüllt werden.«
»Und wohin fließt es?«
»Durch ein dickes Außenrohr in die Grube.«
Das muss eine große Grube sein, überlegte Anna, aber da waren sie schon im obersten Stockwerk angelangt. Genau besehen war es ein hoher Dachstuhl, in den vier Zimmer gemauert worden waren. Obwohl es draußen taghell war, kam hier wenig Licht herein, und der Speicher verlor sich in der Dunkelheit. Johanna machte eine entsprechende Handbewegung. »Dort hinten lagert alles Mögliche für den Gasthof. Vor allem auch Tische, Stühle, Bänke für die Terrasse.« Sie legte ihre Hand auf eine der Türklinken. »Und nun, Anna, dein neues Reich, das du mit Erna, Waltraut und Helene teilen wirst. Das sind die Mädchen aus der Küche.«
Anna hielt kurz den Atem an, dann hatte Johanna die Tür aufgedrückt und ließ Anna an sich vorbei eintreten. Zwei Betten standen längs an jeder Wand, durch vier Schränke voneinander getrennt. Jedes Bett hatte ein hohes Nachtkästchen mit Schubladen, auf dem je eine Gaslampe stand. An der Stirnseite ein Fenster, das offen stand und nun, durch die geöffnete Tür, für Durchzug sorgte.
Auf dem Bett links lag ein ausgebreitetes Kleid, genauso eines, wie es all die Mädchen und jungen Frauen hier trugen. Dunkler, grober Stoff mit einem weißen Kragen, daneben lag eine weiße Schürze und ein weißes Häubchen für den Kopf.
»Für die Küche bekommst du natürlich noch einen entsprechenden Arbeitsschurz!«
Anna nickte.
»Ich hoffe, es passt«, sagte Johanna. »Deine Sachen sind ja noch unten, am besten holst du jetzt alles, richtest dich erst mal ein, ziehst dich um und kommst dann zu Frau Faiker in die Gaststube.« Sie wandte sich zum Gehen. »Falls du dich noch waschen willst, gegenüber sind Abort und Waschraum.«
Das Kleid war zu groß. Und insgesamt fühlte sie sich darin nicht wohl. Wie sie wohl darin aussah? Der Spiegel im Waschraum nützte nicht viel, sie sprang mehrfach in die Luft, aber ganz sehen konnte sie sich deshalb trotzdem nicht. Sie schnürte die Schürze etwas enger um ihre Taille, das ging dann schon, aber diese Haube … wie hatten die anderen Mädchen sie getragen? Bei ihr wollte sie nicht sitzen. Und ihr dicker Zopf sprengte alle Bemühungen, sodass ihr die Haube immer wieder in die Stirn rutschte. Sie sollte Johanna fragen. Die half ihr bestimmt, bevor sie Frau Faiker unter die Augen treten musste – und die waren sicherlich unerbittlich.
Anna hatte ihre wenigen Habseligkeiten im Schrank verstaut, hatte die Bibel, die ihr die Mutter mitgegeben hatte, in die oberste Schublade des Nachtkästchens gelegt und sich dann mit einem kleinen Gebet an den Herrgott gewandt, dass er ihr bei diesem ersten Tag doch bitte helfen möge. Danach könne sie sicherlich alles alleine. Aber so ganz sicher war sie sich nicht.
Schließlich machte sie sich auf den Weg, um Johanna zu suchen. Aber sie lief unten im Flur geradewegs einem wuchtigen Mann in die Arme, der sie stirnrunzelnd ansah. »Na, wen haben wir denn da?«
»Ich bin Anna«, antwortete Anna vorsichtig, denn dieser Mann war groß wie ein Bär. Selbst Johann wäre neben ihm fast klein erschienen.
»Anna, aha.« Er kratzte sich kurz an seinem grau melierten Bart. »DIE Anna?«, fragte er dann, »vom Pfarrer?«
»Pfarrer Zeller hat mich hergebracht, ja«, antwortete Anna.
»Na denn«, er stippte mit dem Zeigefinger leicht gegen ihre Haube, »lass dir mal erklären, wie man so ein Ding aufsetzt.«
Anna knickste.
»Ich bin Anton Faiker«, klärte er sie auf. »Von mir hast du nichts zu befürchten …«, er runzelte die Stirn, »wenn …«, er ließ den Satz kurz in der Luft hängen, »… wenn du alles richtig machst!«
»Ich werde mich bemühen!« Anna senkte kurz den Blick, sah dann aber geradewegs hoch und in seine Augen. »Ich muss halt wissen, wie ich alles richtig mache.« Sie deutete auf ihre Haube. »So etwas habe ich in meinem Leben noch nie gesehen!«
Er schnaubte kurz, sodass Anna schon befürchtete, er würde explodieren, doch daraus wurde ein tiefes Lachen.
»Das will ich meinen. Du kommst doch vom Land, nicht wahr? Irgendwo aus dem Schwäbischen? Die besten Arbeitskräfte kommen vom Land. Kräftig und zäh, und«, er stupste ihr erneut an die Haube, »willig!«
Anna erwiderte nichts, sondern stand abwartend vor ihm. »Nun«, Anton Faiker wies zur Tür in die Gasträume, »dann lass dich mal von meiner Frau anschauen!«
Das hatte Anna vermeiden wollen, aber nun war es zu spät, nach Johanna zu suchen. Sie musste direkt in die Höhle der Löwin. Sie ging an Anton Faiker vorbei und meinte noch seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren, als sie die Türklinke zum Gastraum schon drückte.
Isolde Faiker stand hinter dem Tresen und zapfte Bier. »Da bist du ja«, sagte sie bei Annas Anblick und richtete sich etwas auf. »Nun, perfekt ist es nicht. Aber es wird schon gehen. Es ist das Kleid deiner Vorgängerin, sie ist schwanger geworden.« Sie verzog kurz das Gesicht. »Die Mädchen. Immer hinter den Burschen her. Sei gewarnt!«
Anna nickte, obwohl es ihr gar nicht nach Zustimmung war. Sie trug also das Kleid eines Mädchens, das fortgejagt wurde? Das war kein gutes Omen, fand sie.
»Luisa!« Isolde winkte einem Mädchen, das gerade einen der großen Holztische sauber wischte. »Zeig unserer Kleinen hier mal, wie man die Haube richtig steckt. Anschließend bringst du sie in die Küche zu Maria. Gib ihr aber zuvor einen Arbeitsschurz!«
Luisa hatte Ähnlichkeit mit einer ihrer Schulkameradinnen. Ein breites Gesicht mit roten Wangen, kräftigen roten Lippen und blonden Haaren, die sich unter dem Spitzenhaarband hervorkräuselten. Zudem war sie gut das Doppelte von Anna, was die Figur anging.
Sie ging auf Anna zu und sah sie kurz an. »Irgendwie müssen die Haare halt unter die Haube. Der Gast mag kein Haar in seiner Suppe«, erklärte sie Anna. »Selbst wenn es ein schönes Haar ist.« Sie zwinkerte ihr zu.
»Keine Sprüche«, fuhr die Wirtin dazwischen, »mach!«
Luisa nahm Anna bei der Hand. »Keine Sorge. Ich zaubere aus dir jetzt eine richtig tolle Küchengehilfin, sodass selbst Maria staunt!«
Anna ließ sich von ihr in einen Nebenraum führen, dort stopfte Luisa Annas Haar mit einigen schnellen und festen Handgriffen unter die weiße Haube. »Ist mir sowieso lieber, wenn du in der Küche bleibst«, sagte sie dazu. »Für den Gastraum bist du zu hübsch. Da geht mir dann das Trinkgeld flöten!« Sie reichte ihr einen dunkelblauen Küchenschurz, der Annas weißen Kragen verdeckte und bis zu den Knöcheln reichte. Nun fühlte sie sich wie eine ausgestopfte Puppe. »So viel Stoff«, sagte sie, »da kann man sich ja kaum noch bewegen!«
»Für den Abwasch und fürs Gemüse klein hacken reicht’s!« Luisa musterte sie kritisch. »Und glaub mir, hier sind nicht alle so nett, wie sie vor den Faikers tun!«
Anna zog den Kopf etwas ein. Sie wollte keine Auseinandersetzungen, sie wollte einfach in Frieden arbeiten.
»Dann komm!« Luisa stupste sie an. »Wird schon gut gehen. Maria ist ein Drachen, aber einer mit einem guten Herz!«
Anna lief ihr mit zwiespältigen Gefühlen hinterher. Sie war sich selbst nicht so sicher. Hatte sie Angst? Eigentlich nicht. Freute sie sich auf ihre neue Arbeit? Eigentlich nicht. Sie konnte sich selbst nicht ergründen. Luisa stieß vor ihr die Tür zur Küche auf.
»So, da ist sie!«, trompetete sie laut in den Raum, »Anna aus Schwaben!«
Anna ging an ihr vorbei in die Küche und wäre gern wie eine Maus in irgendeinem Loch verschwunden, denn alle Augen richteten sich auf sie. Maria hatte eben noch in einem großen Topf gerührt, nun drehte sie sich zu ihr um. »Also, Anna aus Schwaben. Das hier sind Erna, Waltraut und Helene!« Sie zeigte mit dem großen Kochlöffel, von dem etwas Flüssiges tropfte, einzeln auf die Mädchen. »Und weißt du, was das ist?« Sie deutete auf eine der Maschinen auf dem großen Tisch. Anna sah hin, dann schüttelte sie den Kopf.
»Was hast du gesagt?«, grollte Maria mit gerunzelter Stirn.
»Ich weiß es nicht!«
»Aha! Du kannst also sprechen, das ist schon mal gut!«
Die Mädchen kicherten, Maria verzog das Gesicht. »Ruhe!«
Sie machte einen Schritt auf die Maschine zu und deutete auf die Kurbel. »Oben Gemüse rein, hier drehen, dann kommt es unten geschnitten heraus. Es ist ein Gemüseschneider!« Sie warf Anna einen Blick zu.
»Ein Gemüseschneider«, wiederholte Anna.
»Und dies hier«, sie zeigte auf ein anderes Gerät, »ist ein Fleischwolf! Er funktioniert nach dem gleichen Prinzip – und je nachdem, wie das Fleisch herauskommen soll, haben wir verschiedene Messer, die wir einsetzen können. Für das Gemüse und die Kartoffeln auch!«