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"Homer und die klassische Philologie" ist ein Vortrag des Philosophen Friedrich Nietzsche, gehalten an der Universität Basel im Jahr 1869 unter dem Titel "Über die Persönlichkeit Homers", wo Nietzsche eine außerordentliche Professur für Philologie innehatte. Ursprünglich waren dreizehn Kopien für Freunde und Familie gedruckt worden. Der Band enthält eine überarbeitete Abschrift des Vortrags.
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Seitenzahl: 30
Homer und die klassische Philologie
Ein Vortrag
© 1869 Friedrich Wilhelm Nietzsche
Überarbeitete Neuauflage
© Lunata Berlin 2020
Homer und die klassische Philologie
Über den Autor
In Basel steh ich unverzagt
Doch einsam da – Gott sei's geklagt.
Und schrei ich laut: Homer! Homer!
So macht das jedermann Beschwer.
Zur Kirche geht man und nach Haus
Und lacht den lauten Schreier aus.
Jetzt kümmr' ich mich nicht mehr darum:
Das allerschönste Publikum
Hört mein homerisches Geschrei
Und ist geduldig still dabei.
Zum Lohn für diesen Überschwank
Von Güte hier gedruckten Dank.
Über die klassische Philologie gibt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustand verschiedenartiger wissenschaftlicher Tätigkeiten, die nur durch den Namen »Philologie« zusammengebunden sind. Man muß nämlich ehrlich bekennen, daß die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermaßen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammengebraut ist, ja daß sie außerdem noch einkünstlerisches und auf ästhetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebaren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebensowohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Ästhetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will; Naturwissenschaft, soweit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt, zu ergründen trachtet; Ästhetik endlich, weil sie aus der Reihe von Altertümern heraus das sogenannte »klassische« Altertum aufstellt, mit dem Anspruch und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt herauszugraben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewiggültigen entgegenzuhalten. Daß diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und ästhetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengetan haben, wird vor allem durch die Tatsache erklärt, daß die Philologie ihrem Ursprung nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswertesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.
Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als die Zentralrichtungen der Philologie zu begreifen, so daß die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten!
In der Gegenwart nun, das heißt in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urteils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Teilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel größerem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine große Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen »Maulwürfen« einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo