Hör auf zu röcheln - Matthias Krause - E-Book

Hör auf zu röcheln E-Book

Matthias Krause

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Beschreibung

LESEN SIE DIESES BUCH NICHT, WENN SIE NACHTS SÄGEN Während der Corona-Pandemie rettet der Supermarktmitarbeiter Lorenz die schöne Pia vor zwei brutalen Angreifern. Trotz Warnungen von allen Seiten verliebt sich Lorenz in die einflussreiche Influencerin und begibt sich mit ihr in eine leidenschaftliche Beziehung. Erst als Pia ihm wegen seiner Schnarcherei ein Kissen ins Gesicht drückt, fragt er sich, ob sie wirklich die Richtige für ihn ist. Dennoch bleibt er mit ihr zusammen, denn Lorenz hat ein düsteres Geheimnis. Eine schwere Schuld, durch die er seine Heimatstadt Cuxhaven vor Jahren fluchtartig verlassen hat. Ständig sieht er die verstörenden Erinnerungen vor sich. Ein Wohnwagen im Wernerwald. Eine sterbende Frau. Ihre weinende Tochter. Lorenz benutzt Pia, um sich für seine Tat selbst zu bestrafen. Als er sich jedoch neu verliebt, will er die Beziehung zu ihr aufgeben. Doch Pia lässt das nicht zu. Für sie ist Lorenz ein Geschenk. Ein Spielzeug, das die Influencerin nicht kampflos aufgeben will. Schon bald wird Lorenz wieder mit dem Tod konfrontiert. Denn Pia entpuppt sich als äußerst talentierte Kampfsportlerin. Sie geht für ihr neues Spielzeug über Leichen.

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Hör auf zu röcheln

Hör auf zu röchelnKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Leseprobe HÖR AUF ZU FRESSENÜber den AutorImpressum

Hör auf zu röcheln

Kapitel 1

Berlin, März 2021

Ich war gerade dabei ein Marzipanbrot zu absorbieren, als es an meiner Wohnungstür klingelte.

Ich war etwas irritiert, weil ich keinen Besuch erwartete. Dennoch stopfte ich mir eilig den letzten Rest vom Brot samt Schokoladensplitter hinein und öffnete die Tür.

Vor mir stand eine blonde Frau, die ich auf Ende dreißig schätzte.

»Hallo. Entschuldigung. Ich bin Hanna aus dem ersten Stock.«, sagte sie und wollte mir die Hand geben, ballte sie dann aber zu einer Faust und hielt sie mir hin. Ich erwiderte den Gruß.

»Hallo. Ich bin Lorenz«, sagte ich etwas unsicher und fragte mich, ob ich gestern Abend den Fernseher zu laut eingestellt hatte.

Doch sie war aus einem ganz bestimmten Grund bei mir.

»Hättest du vielleicht zufällig Haferflocken?«

Ich hatte die Frau vorher noch nie gesehen oder ich konnte mich zumindest nicht mehr daran erinnern. Das Gebäude war schlichtweg zu groß. Viel zu viele Wohnungen und Mieter, um sich ein Gesicht zu merken.

Sie schien meine Gedanken erraten zu haben.

»Ja, alles sehr anonym hier. Wir hatten wohl noch keine Gelegenheit, uns kennenzulernen.«

»Stimmt. Aber freut mich sehr«, murmelte ich etwas träge. Auch wenn man es mir nicht ansah, war es schon mein zweites Marzipanbrot, welches ich verinnerlicht hatte.

Sie schien das misszuverstehen.

»Ich wollte wirklich nicht stören.«

Ich schüttelte inbrünstig den Kopf. »Tust du nicht. Keine Sorge. Ich hab einfach nur zu viel gegessen«, sagte ich schnell und fuhr mir demonstrativ mit der Hand über den flachen Bauch.

Sie lachte laut. »Oh ... Ach so.«

»Ich schau mal nach den Flocken.«

Ich ging in meine schmale Küche und wühlte in ein paar Schubladen, bis ich fündig wurde.

Dann präsentierte ich Hanna die Packung.

Doch sie sah nicht so begeistert aus.

»Hast du auch die Zarten?«

»Leider nicht«, sagte ich.

Sie zog eine gequälte Grimasse. »Oh, schade. Mit denen kann ich leider nichts anfangen. Die lösen sich nämlich nicht so gut im Brei auf. Brauch ich für meine Kleine. Ich selber esse jetzt nicht so gerne Haferflocken.«

»Tja. Heute ist Sonntag. Da wirst du wohl keine mehr finden.«

Hanna zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich noch woanders Sturm klingeln müssen. Gibt ja genug Wohnungen hier. Vielleicht sehen wir uns noch mal?«

Ich nickte und lächelte sie an. »Das könnte sein.«

In diesem Moment hörte ich hinter ihr einen piepsigen Schrei.

Hanna fuhr herum.

»Du solltest doch unten warten!«, fuhr sie das kleine, weinende Mädchen an, welches unten am Treppenabsatz stand und mit Sicherheit Hannas Tochter war.

Gleichzeitig bohrte sich ein kalter Dolch in meine Brust.

Das weinende, blonde Mädchen.

Ich sah wieder eine alte Erinnerung vor mir, die ich jahrelang verdrängt hatte.

Mehr oder weniger erfolgreich.

Denn sie kehrte fast jede Nacht als Traum zurück.

Ich durchlebte meine Tat wieder und wieder, nur dass ich in meinem Traum immer statt eines Wohnwagens Nadelbäume sah.

Eigentlich wollte ich alles hinter mir lassen.

Weswegen ich von Cuxhaven nach Berlin gezogen war, um möglichst weit entfernt von meiner Tat zu sein.

Weit weg von dem Wohnwagen im Wernerwald.

Durch meine Nachbarin und ihr Kind sah ich alles wieder stark präsent vor mir.

Das weinende, blonde Mädchen.

Ihre röchelnde Mutter.

Die weit aufgerissenen Augen, die mich ansahen.

Ihr Kind, das um Hilfe schrie.

Nur müsste das Kind jetzt erwachsen sein.

Und ihre Mutter vor meiner Wohnungstür war ja noch am Leben.

Kapitel 2

Obwohl der Frühling im Anmarsch war, waren in Rons Arbeitszimmer die Heizungen bis zur Obergrenze aufgedreht. Ron spürte ein leichtes Kratzen im Hals. Er nahm sich vor, gleich das kleine Fenster aufzureißen. Warm wäre ihm auch ohne die Heizluft geworden. Denn er betrachtete gerade auf seinem Laptop ein neues Bild der Influencerin Pia Schaumbach. Dort präsentierte sie mit einem breiten Lächeln eine neue Hautcreme, die sie großzügig in ihrem ebenmäßigen Gesicht verteilt hatte.

Auch auf diesem Bild spitzte sie keck ihre vollen Lippen.

Sie war so schön. Ihre nussbraunen Augen. Das wehende blonde Haar. Ihre elfenhaften Gesichtszüge. Ihr Körper mit den weiblichen Rundungen, der zugleich sehr gestrafft und sportlich war. Kein Wunder, dass sie so viele Follower hatte.

Aber es lag ja nicht nur an ihrem gutgeformten, athletischen Körper. Anders als viele der anderen blassen und oberflächlichen Influencerinnen hatte Pia auch eine Seele, fand Ron. Sie war nicht nur eine von diesen schmackhaften Hüllen, die sich besonders untervögelte Männer spät abends reinzogen, um Hand bei sich anzulegen.

Sie war eine Frau mit Haltung und Esprit.

Sie war die personifizierte Unschuld.

Ihr Lächeln mit den zauberhaften Grübchen.

Ihr verspielter Wimpernschlag.

Ron schmolz dahin. Mal wieder.

Eine wohlige Wärme durchströmte seinen Körper von oben bis unten, während sein gut gefüllter Kaffeebecher immer kälter wurde.

Er hörte Daniel unten nach ihm rufen. Sein Sohn schien bei irgendetwas seine Hilfe zu benötigen. Das musste warten. Es war 15 Uhr und sein Vater hatte Auszeit. Daniel kannte eigentlich die Regeln. Ron hatte sie oft genug mit ihm besprochen.

»Mittagspause!«, brüllte er nach unten.

Es wurde ruhig.

Ron atmete geräuschvoll aus.

Jetzt habe ich Zeit für dich.

Nur für dich.

Jetzt können wir ungestört sein.

Ron betrachtete wehmütig die zarte Pia.

Alle Bilder auf ihrem Account waren ihr gut gelungen.

Fingen sie auf in ihrer vollsten Pracht.

In jedem einzelnen Bild blühte sie erneut auf und entfaltete ihre grazile Schönheit.

Ein Video zeigte sie beim Bouldern in der sächsischen Schweiz.

An einer steilen Felswand hangelte sie sich wagemutig nach oben.

Ron folgte gebannt dem Muskelspiel ihres durchtrainierten Körpers.

Bleib in der Luft.

Stürz nicht ab, mein Engel.

Ihm gefielen fast alle Beiträge von ihr, bis auf die mit ihrem Ex-Freund Zarjo, welche sie merkwürdigerweise immer noch nicht gelöscht hatte.

Ron musste sie unbedingt daran erinnern.

Er hasste diesen Kerl.

Zarjo.

Irgendwann würde er sich um ihn kümmern.

Er war das beste Beispiel für toxische Männlichkeit.

Wie die arme Pia von ihm fertiggemacht worden war.

Weinend hatte sie in einem Live-Video bei ihren Fans Hilfe gesucht.

Dafür krieg ich dich noch, du mieses Schwein, dachte Ron.

Wieder schrie Daniel nach ihm.

»Daniel, bleib bitte ruhig. Wir haben das doch schon oft genug besprochen«, rief Ron etwas milder nach unten und widmete sich erneut seiner Passion Pia.

Oft kommunizierten die beiden miteinander. Ihre Freundschaft verfestigte sich. Er würde sich mittlerweile nicht mehr nur als Fan bezeichnen. Er hatte eine wichtige Rolle in ihrem Leben eingenommen.

Ansonsten wandte sie sich nur allgemein an ihre Fangemeinde.

Jedenfalls hatte Pia ihm das versichert.

Er war nämlich anders als die anderen Männer.

Er war nicht nur an ihrem Körper oder an ihrem Status interessiert.

Ron respektierte Pia und schätzte ihre Persönlichkeit.

Er wollte nur das Beste für sie und sie beschützen.

Pia hatte das sofort verstanden und sie dankte es ihm auf ihre unschuldige Art.

Ron war sich sicher, dass Pia sich nicht für alles und jeden hergab.

Sie war eine Influencerin mit Courage.

Ron ließ seinen Blick von Pias Gesicht auf ihren Körper gleiten.

Auf diesem Bild präsentierte sie sich sehr freizügig.

Aber es war noch okay, fand Ron.

Während seine Augen Pias Körper abtasteten, ließ er synchron seine Hand unter die Hose gleiten.

Er hatte schließlich auch Bedürfnisse.

Daniel schrie wieder. Es klang ernst. Die Stimme von Rons Frau mischte sich unter die Schreie seines achtjährigen Sohnes.

Ron zog seine Hand aus der Hose.

»Ron! Komm sofort runter. Daniel hat sich den Fuß umgeknickt!«, rief Cynthia.

Ron stöhnte.

Kinder, dachte er und machte sich seinen Gürtel zu.

Er blickte noch einmal in Pias unschuldige Augen.

Er erinnerte sich daran, wie sie mit Tränen in den Augen in einer Story die Übergriffe von einem ihrer überschwänglichen Fans geschildert hatte.

Kalte Wut stieg in ihm auf.

Er griff unter den Schreibtisch und zog seinen silbernen Teleskopschlagstock hervor.

Rutschfester Gummigriff, gehärteter Stahl.

Schon bevor Ron ihn bestellt hatte, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Er ließ ihn mit einer gleitenden Bewegung ausfahren.

Wie einen Taktstock schwang er den Stahlstab zu seinen Gedanken, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren.

Keine Sorge, dachte er grimmig.

Das wird nicht noch mal passieren.

Das lasse ich nicht zu.

Ich werde dich beschützen.

Niemand wird dir mehr wehtun.

Ich werde immer für dich da sein.

Koste es, was es wolle.

Ron hörte in seinem Kopf die ersten Knochen knacken, bevor ihn seine Frau wieder rief.

»RON!«, brüllte sie nach oben.

»Ist ja gut«, brummte er und legte den Schlagstock wieder unter seinen Schreibtisch.

Er würde darauf noch zurückkommen.

Das wusste er.

Früher oder später.

Niemand wird dir mehr wehtun, mein Engel.

Ron stieg die Treppe runter.

Kapitel 3

»Du wolltest mir doch noch einen Kaffee spendieren«, flüsterte Sonja mir ins Ohr.

Es war fast 22 Uhr und der Supermarkt sollte demnächst schließen. Ich war gerade damit beschäftigt, im Supermarkt eingelegte Gurken ins Regal zu sortieren. Die Gläser mit dem längsten Haltbarkeitsdatum nach hinten.

»Wollte ich das?«, fragte ich unschuldig.

»Wie wäre es mit morgen? Da haben wir beide frei.«

Sonja war sehr schlank, hatte ein schönes Gesicht, welches sie gerne mit Piercings schmückte.

Fast jeden Tag färbte sie ihre Haare neu.

Heute waren sie grün.

»Morgen soll es regnen. Können wir das nicht verschieben?«

Die Bäckereien und Kaffeestuben boten durch den neuen Corona-bedingten Lockdown nur Heißgetränke zum Mitnehmen an.

Der aufkeimende Frühling bot gerade nur Nieselregen und kalte Luft. Mir wurde bei dem Gedanken schon kalt, mich mit Sonja und zwei lauwarmen Kaffeebechern an die frische Luft zu setzen.

»Wir können doch auch zu dir gehen«, sagte sie.

Ich nickte etwas unmotiviert, wusste selber allerdings nicht, warum.

Ich mochte Sonja, sie war gewitzt, meistens äußerst gut gelaunt und sie war eine liebenswerte und hübsche Kollegin.

Außerdem hingen wir beide sowieso ständig bei der Arbeit miteinander ab, wenn einer von uns Corona hätte, würden wir es beide schon längst haben. Trotzdem schien mir der Gedanke an ein Kaffeekränzchen mit ihr gerade zu anstrengend zu sein.

Warum auch immer.

Ich nickte mechanisch. Sonja seufzte neben mir.

»Dann eben nicht.«

Nun musste ich den Schaden begrenzen.

»Nein, nein. Sorry. Bin nur genervt von den Gurken. Können wir gerne machen.«

Doch Sonja sah mich nur skeptisch an.

Ich riss vor gespielter Begeisterung meine Augen auf, bis ich befürchtete, sie würden herausfallen.

»Das ist echt eine coole Idee! Hätten wir doch schon längst mal machen sollen«, sagte ich und schenkte ihr mein berühmtes verschmitztes Lächeln.

Das reichte wohl. Sie lächelte auch und gab sich damit zufrieden.

»Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich mag Gurken.«

»Ja, ich weiß«, murmelte ich abwesend. Ich dachte an die Maisdosen und die Gläser mit den eingelegten Würstchen, die noch folgen würden, bis meine Mission für heute erfüllt war.

Bei dem Gedanken brach mir der Schweiß aus.

Ich war immer sehr sportlich gewesen, aber in letzter Zeit ging mir sogar beim Einräumen schon die Puste aus.

Auch geistig verlangte mir das Einsortieren in letzter Zeit jegliche Konzentration ab.

»Ich nehme dich beim Wort. Passt dir 15 Uhr?«, riss mich Sonja aus meinen düsteren Gedanken.

Ich nickte.

Sie knuffte mich liebevoll in die Seite.

»Unser Date steht.«

»Ja. Machen wir ein Kaffeekränzchen.«

»Wir könnten doch auch anschließend auf den Teufelfsberg steigen.«

Ich war nicht so von ihrer neuen Idee begeistert. Meine Ausdauer war in letzter Zeit grenzwertig, da musste ich nicht unbedingt den Trümmerberg in Grunewald besteigen.

»Ich liebe Berge«, schwärmte sie. »Selbst wenn ich mal nicht Bouldern kann. Ich kletter gerne die ganz steilen Felswände hinauf. Aber ich will nicht in irgendeinem Verein Mitglied sein. Ich hasse das. Am liebsten boulder ich alleine und ich mag lieber die richtig hohen Berge. Hier haben wir leider kein richtiges Gebirge. Sobald ich genug Kohle zusammengekratzt habe, will ich wieder verreisen und bouldern. Kletterst du auch gerne?«

Ich verneinte entsetzt.

Doch meine athletische Kollegin ließ sich von meiner Sportmüdigkeit nicht bremsen.

»Solltest du aber. Es ist absolut geil! Für den Einstieg können wir ja auch hier einfach nur erst mal wandern gehen. Allein das ist schon ein schönes Gefühl. Es ist ...«

Sie stockte, als sie mir meine Skepsis ansah.

Ich bekam schon beim Gedanken ans Bouldern regelrechte Atemnot und das lag nicht nur an meiner mangelnden Ausdauer.

Ein Freund von mir war dadurch vor einigen Jahren ums Leben gekommen.

»Du magst es lieber flach, was?«

»Ja. Wo kommst du eigentlich her?«, frage ich sie.

Sonja sah mich etwas irritiert an.

»Wie kommst du jetzt darauf?«

»Du hast so einen norddeutschen Dialekt. Ähnlich wie meiner.«

»Ich komme zwar nicht aus Cuxhaven so wie du!«, lachte sie. »Aber ich war schon oft dort Wattwandern.«

»Aber du bist doch auch aus der Ecke?«

»Eher Richtung Hamburg.«

»Wo kommst du denn jetzt her?«

»Das musst du erraten.«

»Horneburg? Otterndorf? Buxtehude?«

Ich zuckte durch meine eigenen Worte zusammen.

Entsetzt stellte ich fest, dass ich soeben den Ort genannt hatte, aus dem die sterbende Mutter stammte.

Sonja sah mich eindringlich an.

»Lorenz? Alles Okay?«

Plötzlich hörte ich, wie jemand neben mir hustete und geräuschvoll Rotze hochzog.

Einen Moment dachte ich schon, ich hätte einen Spucketropfen abbekommen.

Ich drehte mich um und sah zwei durchtrainierte Männer Anfang zwanzig, die Sporttaschen trugen.

»Ich mache heute Bizeps!«, sagte der eine junge Mann. Er schien seinen bräunlichen Hautton ausschließlich dem Sonnenstudio zu verdanken, und hatte kurz geschorene, blonde Haare.

»Ne, ich mach Trizeps. Bizeps hatte ich gestern schon«, erwiderte der andere.

Er hatte ein sehr symmetrisches Milchgesicht mit hohen Wangenknochen und braune Haare, die nur etwas heller waren als meine eigenen. Ein Schönling, der sich mit einer auffälligen Scheitelfrisur verunstaltete.

Nicht nur die Sporttaschen und den Drang, sich zu bewegen, hatten die beiden gemeinsam.

Beide trugen keine Masken. Zumindest nicht in ihrem Gesicht.

Stattdessen baumelten sie an ihren Hälsen.

Ich fragte mich, wo die Jungs denn trainieren wollten. Die Fitnessketten hatten doch alle zu.

Die Antwort kam prompt.

»Dennis hat sich noch mehr Gewichte liefern lassen. Ich schwöre, ich trainier heute, bis es brennt!«, sagte der Blonde.

»Ich glaube, ich mache heute nur Sixpack«, sagte der andere Mann mit dem Scheitel Kaugummi schmatzend.

Ich fragte mich auch, warum die beiden durchtrainierten Jungs so eine konsequente Selbstdisziplin an den Tag legten, es wohl aber zu hart für sie war, für zehn Minuten Masken zu tragen.

»Schultern! Ganz viel Schultern!«, rief der Blonde wieder, bevor sich beide an die Kasse stellten.

»Ne, mach mal Brust, Alter!«

Der Blonde stöhnte plötzlich lustlos.

»Hab schon genug Titten. Ich muss mehr definieren.«

»Ihr blöden Wichser!«, schrie plötzlich eine schrille Frauenstimme.

Die beiden Männer fuhren synchron mit ihren Köpfen zur parallelen Kasse herum, wo zwei junge Frauen anstanden.

»Entschuldigen Sie, was haben Sie gesagt?«, fragte der Typ mit dem dunklen Scheitel die beiden Damen süßlich, die höchstwahrscheinlich im Alter der beiden Jungs waren. Auch von den Haarfarben und vom Fitness Level her würden die beiden Mädchen gut zu ihnen passen.

Die Brünette wiederholte wütend ihre Beleidigung.

»Tragt eure Masken, ihr blöden Wichser!«

Ich fand, dass sie recht hatte, allerdings macht der Ton die Musik und ich würde mich mit diesen beiden Hobbysportlern nur ungern anlegen wollen.

»Hören Sie bitte auf, uns zu beleidigen«, sagte nun auch der Blonde formell und lächelte schief dabei.

»Dann tragt doch einfach eure Masken. Wir müssen da doch auch alle durch!«, sagte die Blonde mit einer auffallend hohen Stimme.

Der Dunkelhaarige lächelte sie süffisant an und zog die Maske bis unter die Nase hoch.

Der Blonde ließ sie weiterhin unten und warf der brünetten Dame vernichtende Blicke zu.

»Hast wohl schlechten Sex gehabt, was? Ich hab es gar nicht nötig ein Wichser zu sein, du dumme Bitch!«, zischte er.

»Lass meine Freundin in Ruhe, du sexuell frustriertes Arschloch!«, rief nun die blonde Kundin.

Der Dunkelhaarige lachte laut auf, während sein blonder Kumpel durch die Beleidigung zusammenzuckte.

»Pass auf, was du sagst«, knurrte er, bevor er sich einen Proteinriegel aufs Band legte.

Neben mir stand auf einmal Per, der Security-Wachmann vom Supermarkt und beobachtete die beiden argwöhnisch, doch er mischte sich nicht ein.

Ich sah ihn auffordernd an. Doch er schüttelte den Kopf.

»Ich kenne die beiden Typen. Die machen schon nichts.«

Ich fragte mich, woher er sie kannte.

Er schien mir meine Frage anzusehen.

»Max wohnt direkt über mir. Hasso besucht ihn ständig. Manchmal schmeißen sie auch Corona-Partys. Die beiden nehmen das alles nicht so ernst«, sagte er ruhig.

Auch sein Dialekt war norddeutsch.

Er kam ursprünglich aus Bremerhaven.

Für eine große Stadt wie Berlin war es schon ein spannender Zufall, dass wir beide und Sonja wohl ganz in der Nähe aufgewachsen waren.

Die beiden Frauen bezahlten und verließen kopfschüttelnd den Laden.

Eilig bezahlten auch die beiden jungen Männer und folgten den Damen.

Per stand immer noch ruhig neben mir. Obwohl er sehr schmal war, füllte er dank seiner beachtlichen Körpergröße fast den ganzen Raum aus.

»Lass gut sein, Lorenz. Ärger dich nicht über diese Kerle. Lass uns lieber über den Eisbecher sprechen, den du mir morgen spendieren wirst«, sagte Sonja und lächelte mich keck an.

»Oh je. Vorhin war es noch Kaffee.«

Ich sah sie mit gespielter Verzweiflung an.

»Wenn schon, denn schon.«

Ich seufzte laut. »Da geht ja mein ganzes Gehalt von heute drauf.«

»Ich werde mich zeitnah revanchieren. Du weißt bestimmt nicht mehr, was meine Lieblingseissorte war, oder?«, fragte Sonja und zog erwartungsvoll ihre hübsch geschwungenen Augenbrauen hoch.

Ich grübelte. Das war nicht mal gespielt. Ich wusste es wirklich nicht mehr.

Unser letztes Date, falls ich es überhaupt so nennen konnte, war schon über ein halbes Jahr her.

»Erdbeere war das doch, oder?«

Sie sah mich entsetzt an.

»Willst du mich verarschen?«

Jetzt tauchte eine Farbe im Dunst meiner trüben Erinnerungen auf.

Eine grünliche Masse aus Eiscreme.

»Pistazie?«, schätzte ich vorsichtig und befürchtete schon, dass Sonja mir den Kopf abriss.

Sie nickte. »Geht doch.«

»Keine Sorge. Ich werde dir einen großen Popel-Creme-Becher bestellen.«

Sonja schmiegte sich mit einem breiten Lächeln an mich.

»Oh, wie romantisch von dir.«

»Kennst mich ja.«

Unser vorerst letzter intimer Moment wurde zerstört, als ein schriller Schrei von draußen die Luft im Supermarkt zerriss.

Kapitel 4

Draußen auf dem stockdunklen Parkplatz vom Supermarkt peitschte Pia und Nadja der Wind gnadenlos ins Gesicht.

Beide Frauen beschleunigten fröstelnd ihren Schritt.

»Was machst du heute noch?«, fragte Nadja ihre blonde Freundin.

»Ich habe noch eine Menge zu tun. Die Lieferung ist heute Morgen angekommen.«

»Die Bräunungscreme?«

Pia schüttelte den Kopf. »Ne, die Hautcreme.«

»Die Hautneutrale?«

»Ja, die ist für besonders empfindliche Haut. Weiß nicht, ob die was für dich ist.«

Beide liefen an einem Obdachlosen vorbei, der zitternd einen abgegriffenen Kaffeebecher hochhielt.

»Gib mir mal eine zum Ausprobieren.«

»Ich hab zwar nur ein begrenztes Sortiment. Aber gerne.«

»Cool. Danke.«, sagte Nadja.

»Ich weiß aber noch nicht, wie gut die ist. Kann dir nichts versprechen. Ist so ein Billigprodukt, weißt du?«

»Mäh!«, erklang es hinter Pia und Nadja. Beide drehten sich fast gleichzeitig um und erblickten die beiden Typen, mit denen sie im Supermarkt aneinandergeraten waren.

»Na, ihr Nazischafe, was geht jetzt?«, fragte der junge Mann mit dem dunklen Scheitel.

»Verpisst euch, ihr Lutscher!«, fauchte Nadja.

»Aber warum denn?«, fragte der Blonde lachend. »Wohin sollen wir denn verschwinden? Zurück in unsere Wohnungen und uns einen wichsen, hä?«

Pia sah sich um, bis auf den Obdachlosen der bereits dabei war das Weite zu suchen, war niemand da. Sie seufzte. »Wir haben alle eine große Verantwortung. Ihr sollt einfach nur eure Masken tragen. Darum ging es uns. Die Beleidigung tut uns leid.«

»Mir nicht«, sagte Nadja leise.

Der dunkelhaarige junge Mann deutete auf Pia.«Dich kenn ich doch. Du bist doch die cremige Pia. Diese Influencer-Tante, die die ganzen Hautcremes im Internet vertickt. Meine Ex war ganz begeistert von dir.«

»Wie schön«, sagte Pia gedehnt. »Das freut mich sehr. Dann richte ihr bei Gelegenheit schöne Grüße aus.«

»Wie denn? Die Schlampe hat mich verlassen. Ich hab deine Cremes in den Müll gestopft, wo sie hingehören!«, erwiderte der Mann und sah Pia anklagend an. »Und jetzt sehe ich, wie du diese Diktatur förderst. Uns denunzierst und beleidigst vor allen Leuten. Immer schön mitlaufen, was?«

Nadja platzte. »Was redest du denn da? Ihr müsst einfach nur zehn Minuten so ein Ding im Gesicht tragen. Was ist denn daran so schwer? Seid ihr Luschen, oder was?«

Der Blonde zog eine gekränkte Schnute. »Oh! Was haben wir euch denn getan? Ständig diese Beleidigungen. Vielleicht sollten wir euch einfach anzeigen?«

Pia wollte weiter und legte Nadja beruhigend eine Hand auf die Schulter.

Doch ihre Freundin kam immer mehr in Fahrt. »Wohl eher sollten wir euch anzeigen. Ihr seid ja schließlich gegen diese sogenannte Diktatur, in der wir ja angeblich leben, oder etwa nicht?«

Der Dunkelhaarige baute sich bedrohlich vor den beiden Mädchen auf.

»Ihr dreckigen Nazischafe! Das würde euch so passen, hä?«

Nun verlor auch Pia die Beherrschung.

»Pass auf, was du sagst, du armseliges Würstchen!«

Der junge Mann lachte. »Hört euch diese keifende Stimme an. Da krachen alle Scheiben ein. Das ist ja schon Körperverletzung!«

Pia lächelte. »Sag mal, findet ihr überhaupt eure kleinen Ringelschwänzchen, wenn ihr euch gleich einsam und alleine einen herunterholen müsst in eurem dreckigen Loch?«

Pia bekam einige Spucketropfen ab, als der junge Mann mit dem Scheitel sie anbrüllte.

»Du bist ein dreckiges Loch!«

»Spuck mich nicht an!«, schrie Pia schrill und trat unbewusst näher an den Mann heran.

Der verpasste ihr einen Stoß vor die Brust. Pia konnte sich nur knapp auf den Beinen halten.

»Abstand halten, du blöde Kuh!«, knurrte der junge Mann und spuckte ihr sein Kaugummi vor die Füße.

Kurz darauf biss er sich auf die Zunge, als Pia ihr Bein hochriss und ihn am Kinn traf. Er taumelte benommen nach hinten.

Der Blonde riss staunend seine Augen auf, bevor er sich von seinem Schock erholte und dazwischengehen wollte.

Nadja stellte ihm ein Bein. Er schlug der Länge nach hin.

Der Dunkelhaarige schlug nach Pia. Sie duckte sich schnell und trat nach ihm. Er packte ihr Bein, sodass Pia ihr Gleichgewicht verlor.

Zugleich wollte der Blonde aufstehen, doch Nadja schlug ihm ihre Einkaufstüte gegen das Ohr.

Der andere saß auf Pia und würgte sie mit beiden Händen, ächzend rammte sie ihm ihr Knie in seine Weichteile und er purzelte seufzend von ihr herunter.

Der Blonde packte die tobende Nadja am Handgelenk. »Bleib ruhig.« Kreischend fuhr sie ihm mit ihren langen Fingernägeln durchs Gesicht.

Währenddessen jagte der Mann mit dem Scheitel brüllend der davoneilenden Pia hinterher.

Der Blonde und Nadja wälzten sich kämpfend und kratzend über den Parkplatz, bis dieser sie am Boden festnagelte.

Nadja stieß einen lauten Schrei aus.

»Ganz ruhig. Jetzt beruhige dich doch mal! Ich will dir nichts tun!«, rief der Blonde und klang auf einmal unsicher.

Der andere mit den braunen Haaren jagte Pia ums Auto.

»Hasso! Beruhig dich! Hör auf! Lass sie in Ruhe!«, rief der Blonde, der offenbar keinen Ärger mehr wollte.

Doch es war bereits zu spät.

»Hört sofort auf!«. rief eine Stimme hinter ihnen.

Der blonde Mann, der Max hieß, war sich ziemlich sicher, dass die Situation nun eskalieren würde.

Kapitel 5

Ich trat nach draußen an die kalte Luft und ärgerte mich, dass ich mir heute Morgen keinen zweiten Pullover angezogen hatte.

Per bekam plötzlich einen Anruf von seiner Freundin Lene, der wohl wichtiger war als die Situation vor meinen Augen.

Sonja hatte sich aufs Klo verkrochen, versprach mir aber sofort nachzukommen.

Vor mir sah ich ein beunruhigendes Bild.

Der braunhaarige Fitnessathlet jagte brüllend die blonde Kundin um ein parkendes Auto, während diese ihn dabei mit ihrem Handy filmte.

Der blonde Bursche saß rittlings auf der brünetten Frau und hielt ihre Arme fest.

»Hört sofort auf«, sagte ich viel zu leise und bemerkte, dass sogar dabei schon meine Stimme kratzte.

Keiner hörte mich. Alle schrien und tobten weiter durch die Gegend.

Ich zückte mein Handy und wählte den Notruf.

Bevor der Mann am anderen Ende überhaupt was sagen konnte, brabbelte ich schon los und schilderte ihm die Situation.

»Aha. Soso. Wo brennst denn?«, fragte er dann mit seiner tiefen Stimme.

»Hab ich Ihnen doch gerade gesagt!«, sagte ich ungeduldig.

»Wenn es nicht brennt, kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Wie bitte?«

»Sie haben die Feuerwehr angerufen. Bitte wenden Sie sich an den polizeilichen Notruf bei solchen Problemen.«

Fluchend beendete ich die Verbindung.

Tatsächlich stellte ich dann auf dem Display fest, dass ich mich verwählt hatte.

Die Situation verschärfte sich vor mir. Es war keine Zeit für einen weiteren Notruf.

Die Brünette schrie wie am Spieß unter dem Blonden, obwohl der meiner Wahrnehmung nach mittlerweile eher einen passiven und unsicheren Eindruck machte.

Doch es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Mann mit dem Scheitel die blonde Frau eingeholt hatte.

Ich musste wohl oder übel wieder meine Stimme strapazieren.

Meine Wut über die verwählte Nummer sollte mir dabei behilflich sein.

»Hört endlich auf, Mann!«

Der Braunhaarige stockte.

Die blonde Frau filmte nun mich.

Der blonde Mann sah mich wütend an.

»Geh weg! Ich klär das schon.«

»Das sehe ich«, erwiderte ich.

»Halt die Fresse!«, zischte der blonde Mann und stieg von der Brünetten herunter.

»Ich rufe die Polizei«, sagte ich und wunderte mich, dass noch keiner von meinen Supermarktkollegen erschienen war.

Nun hatte ich auch die volle Aufmerksamkeit von dem dunkelhaarigen Typen.

»Ruf doch die scheiß Bullen, du Fotze!«, knurrte er und lief auf mich zu.

Auch der Blonde kam in meine Richtung.

Allerdings mit der Absicht, seinen Kumpel von mir abzuschirmen.

»Hasso. Lass es. Wir hauen ab.«

»Nein, Mann! Willst du dir alles von denen gefallen lassen?«, rief der junge Mann mit dem Scheitel empört und stand mittlerweile direkt vor mir.

Zu meinem Erschrecken stellte ich fest, dass der junge, sportliche Mann zwar nicht besonders hochgewachsen war, aber mich immer noch um ein paar Zentimeter überragte.

Er hatte meiner Einschätzung nach kein Gramm Fett am Körper, war aber dennoch fast doppelt so breit wie ich.

»Bitte geht jetzt weg. Es reicht wirklich. Die Frauen haben Angst«, sagte ich nun wieder mit kläglicher Stimme.

Der Braunhaarige äffte mich nach.