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Michael Tillmann ist auf makabre Art davon fasziniert, dass es in dieser aussichtslos erscheinenden Weird-Fiction-Welt immer wieder Situationen gibt, in denen sich Menschen dazu entscheiden, Hoffnung zu haben und zu neuen Gestaden aufbrechen. Die Besiedlung Amerikas durch die Europäer war so ein Kapitel trügerischer Hoffnung. Es gibt viel zu erzählen. Beispielsweise wenn Rache nur noch einen einzigen Tag unter der Sonnenglut warten muss, um perfekt zu werden. Oder wenn ein Cowboy so lakonisch ist, dass er damit selbst uralte Dämonen aus dem Spessart in den Wahnsinn treibt. Und was ist eigentlich mit den unglücklichen Auswanderern, die Amerika nie lebend erreichten? Und mehr Geschichten, in denen die europäische Finsternis über die Neue Welt fällt.
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Seitenzahl: 173
HORROR-WESTERN
BUCH 10
In dieser Reihe bisher erschienen
Lass die Geier noch einen Tag warten
Silberne Belohnung in silberner Nacht
Schneebedeckte Gleise
Der Lakonische Cowboy kommt in die Geisterstadt
Der Lakonische Cowboy schultert den Aufhocker
Der Lakonische Cowboy trifft Metal Magnus
Lebendig verdaut
Man kann nicht immer der Erste sein
Die Heiligen der Regression
Wie oft hast du vom Wind über den Feldern geträumt?,
Veröffentlichungsverzeichnis der Geschichten
Anmerkungen
Kurzbiografie
Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen
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Copyright © 2023 BLITZ-Verlag
Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Alfred Wallon
Titelbild: Mario Heyer
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Satz: Torsten Kohlwey
Alle Rechte vorbehalten.
www.Blitz-Verlag.de
ISBN: 978-3-7579-5555-7
3810v1
„(Go west) Life is peaceful there“
Village People
„Nichts garantiert mehr Sicherheit,
als das eigene Ziel nicht zu kennen.“
„Leben zu verkaufen“
Yukio Mishima
Mein herzlicher Dank gilt
meiner Monika, Monika Arlik, Dirk Pressert,
„Zwielicht Michael“, Jasper Newton „Jack“ Daniel
und den American Recordings.
„Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.“
Psalm 23:2
„Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier.“
Matthäus 24:28
In den Tagen des Wilden Westens reiste niemand gerne alleine. Ludwig und Dominique hatten sich zufällig beim Provianteinkauf in einem überteuerten Store in einer kleinen Stadt am Fuße eines berüchtigten Bergpasses kennengelernt. Beide wollten noch früh vor den ersten Herbststürmen den Weg über das Felsenmassiv nehmen, um auf der anderen Seite ihren verschiedenen Geschäften nachzugehen.
Beim Bier im Saloon hatte Ludwig dann schließlich gefragt, ob sie nicht zusammen reisen wollten. Dominique hatte sich etwas reserviert gegeben. Es schien nicht nur die Unsicherheit zu sein, mit einem Fremden durch die Einsamkeit des Massivs zu reisen. Es hatte den Anschein gehabt, als ob es da noch mehr zu bedenken gab. Dominique hatte mehrmals in einen Bauernkalender geschaut, der allerhand zusätzliche Informationen enthielt, zum Beispiel einen Pflanzplan nach Mondphasen und ähnliche Vorgaben. Final hatte er aber eingewilligt.
Ludwig hatte Dominiques Verhalten nicht sonderlich irritiert. Es gab viele Menschen, die ihre Leben nach Zyklen der Natur oder anderen Systematiken ausrichteten. Manche lagen damit vielleicht richtig, manche lagen falsch. Wer konnte das wissen? Die exakten Wissenschaften, die sich alt gaben, waren letztlich noch jung im Vergleich zu dem Zeitraum beziehungsweise zu dem Berg an Wissen, der noch errichtet werden musste, bis der Mensch den Apfel vom Baum der Erkenntnis abschließend verzehrt hatte.
* * *
Eine Woche später. Alle philosophischen Überlegungen lagen nun lange zurück und zählten nicht mehr, denn auch gemeinsam hatten Ludwig und Dominiques einen hinterhältigen Angriff von vier Wegelagerern auf der Rückseite des Berges nicht abwehren können. Man hatte ihnen alles genommen, sie abschließend einfach, um Munition zu sparen, über eine Klippe gestoßen und schwer verletzt zum Sterben zurückgelassen.
Die Geologen nennen so etwas ein Blockmeer. Die beiden Männer nannten es einfach eine Steinwüste, ein Feld des Todes. Leicht abschüssig lag sie da in der Sonne des Spätsommers, welche die Steine glühen ließ. Bald würde der Zeitpunkt kommen, da wäre die Qual des Durstes schlimmer als der Schmerz der gebrochenen Knochen und der verletzten Organe.
Doch alleine blieben sie in dieser Wüste nicht. In den Lüften über ihnen hatten sie schon für rege Aufmerksamkeit gesorgt. Kurz, die ersten zwei Geier kreisten bereits über den zerschundenen Menschen.
Kommunikation ist ein Grundbedürfnis, selbst wenn man kaum noch Kraft zum Leben hat. Vielleicht dann ganz besonders. Die beiden Sterbenden sprachen noch, verfluchten ihre Dummheit. Doch dieses Thema brachte nichts. Wobei letztlich nichts mehr etwas brachte. Aber das Gerede über den leicht zu erahnenden Hinterhalt verhinderte erst einmal, dass einer nicht mehr an sich halten konnte und final das Unaussprechbare aussprach.
Ludwig sollte es schließlich sein. „Mir ist, als liege ich auf meinem eigenen Grabstein. Wir werden sterben.“
„Das ist unverkennbar!“, spottete Dominique.
Ludwig, der Deutschstämmige, versuchte es mit Galgenhumor: „Und das ausgerechnet an der Seite eines Franzmannes. Was für ein Schicksal für einen Deutschen!“
Dominique konterte: „Na, wird für mich auch nicht schön werden, wenn dir die Hitze deinen Sauerkrautgeruch aus den groben Poren presst.“
Beide versuchten zu lachen, doch die Bewegungen der Brustkörbe brachten höllische Stiche, sodass ihnen kostbare Flüssigkeit aus den Augen rollte.
Dominique führte das Gespräch schließlich weiter: „So wie ich dich als Deutschen einschätze, wird es aber deine Qual mindern, wenn ich dir sage, die Vergeltung wird unser sein!“
Ludwig wurde recht emotional, als er fragte: „Die Vergeltung? Hat es dir schon das Gehirn zerkocht? Kerl, wir liegen hier mit gebrochen Knochen. Wir können uns nicht einen halben Meter über die Steine bewegen, so verdammt am Arsch sind wir. Und jede falsche Bewegung kann uns gesplitterte Rippen in die Lungen treiben. Ich spucke sogar schon Blut. Was redest du da von Vergeltung?“
„Fürwahr, Ludwig. Alles, was du sagst. Aber du kennst nicht alle Details der Situation. Wir kennen uns noch nicht lange. Scheiße, eigentlich schade. Du weißt jedenfalls nicht, wer ich wirklich bin.“
Ludwig lachte fast erneut: „Deine Sprache verrät mir, du bist mehr als ein französischer Bauernlümmel, der von Zuhause wegwollte. Wahrscheinlich bist du so etwas wie ein untergetauchter Adeliger. Normalerweise würde so einer wie du nicht nach Amerika auswandern, sondern in der Alten Welt bleiben und sein Leben genießen wie Gott in Frankreich. Aber es gibt irgendein finsteres Geheimnis, warum du hier bist. Vielleicht hast du im Duell um eine Frau einen zu einflussreichen Mann getötet, warst in einer politischen Affäre verwickelt oder hast eine ähnliche Dummheit begangen.“
Dominique war sprachlos.
Ludwig fragte: „Ich habe also recht?“
Dominique fluchte: „Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen? Oder bist du überdurchschnittlich clever? Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls liegst du zu neunzig Prozent richtig. Ich bin nicht wegen eines Duells oder Verbrechens geflüchtet. Es gab auch keine politischen Umsturzpläne. Aber der Rest stimmt. Ich bin ein französischer Marquis, der versucht, sich inkognito eine neue Existenz im Westen Nordamerikas aufzubauen.“
Ludwig fragte verwundert: „Kein Duell? Keinen politischen Skandal? Hast du ein richtiges Verbrechen begangen? In der Stunde des Todes solltest du ruhig alles erzählen! Was ist dein Geheimnis?“
Dominique begann nach einem Moment des Zögerns. „Die Stunde des Todes muss um jeden Preis noch warten. Das erkläre ich dir aber alles gleich. Zuerst einmal folgende Feststellung: Französische Adelige haben in ihrer oft zitierten Dekadenz nicht nur einen Hang zum Perversen, sondern noch viel mehr zum Okkulten. Sie forschen in Bereichen, die man besser verschlossen lässt. Manche Antworten findet man nur auf Friedhöfen. Sie steigen in stinkende Krypten, die wohlweislich vor Generationen zugemauert worden waren. Fangen sich dort Krankheiten ein. Obwohl dieser Ausdruck zu nüchtern ist. Richtiger würde man es wohl als einen Fluch bezeichnen. Ein Fluch, der ausgestoßen wurde, als sich der Mensch in grauer Vorzeit erstmalig über das wilde Tier erhoben hatte. Eine Verwünschung, welche die Rache der Tiere an den neuen Herrschern der Welt darstellt. Die Befallenen vererben diesen Fluch von Generation zu Generation auf die unschuldigen Söhne. Nicht nur die Hoffnungen zogen mit den Menschen nach Westen, auch die Ängste und uralte Schrecken. Alle alten Nachtmahre begleiten uns. Nicht einen einzigen Albtraum haben wir in der Alten Welt zurückgelassen. Und die Dämonen der Neuen Welt sind ihre Brüder. Denke nur an den Wendigo. Im Grunde unterscheiden sie sich nicht. Auf allen Kontinenten trifft man die gleichen Archetypen der Angst. Die zerklüftete Landschaft der menschlichen Seele bleibt gleich, egal, ob man sich in der Alten oder der Neuen Welt befindet. Jede Flucht ist letztlich sinnlos. Egal, wo man ist, die Welt bleibt trotz Detailunterschieden letztlich überall gleich.“
Ludwig wurde ungeduldig und meinte: „Dominique, wir haben nicht mehr viel Zeit. Bring es auf den Punkt!“
Dominique holte tief Luft und brachte es heraus. „Dann soll es so sein. Ludwig, ich leide an Lykanthropie.“
Ludwig ächzte. „Du glaubst wohl, ich kenne solche vornehmen Wörter nicht? Aber ich komme aus dem hintersten Teil des Schwarzwaldes, und glaube mir, da gibt es auch einige Werwölfe.“
Gleichzeitig ging Ludwig ein Gedanke durch den Kopf, der angesichts der prekären Lage eigentlich ziemlich lächerlich erschien. Die Geschichte scheint wirklich keinen politischen Hintergrund zu haben, schade, bei Alexandre Dumas war der Werwolf wenigstens noch ein politisches Symbol gewesen.
Dominique lachte fast. „Du glaubst als Schwarzwälder also, einiges über Werwölfe zu wissen? Dann kannst du dir ja denken, wie die Geschichte weitergeht und wie die Lage für eine solche Familie nach mehreren Generationen ist. Irgendwann werden die Gerüchte für die Bewohner der Gegend quasi zur Gewissheit. Zu viele Grausamkeiten sind über die Jahrhunderte passiert. Irgendwann wird die Rechnung präsentiert. Man ist quasi hochwohlgeboren, doch man ist auch ein Ausgestoßener. Man bekommt keine Braut, denn wer will seine Tochter schon in die Klauen eines Rudels reißender Wölfe geben? Und auch der Reichtum der Sippe zerfällt, denn niemand will mit solchen verdammten Leuten noch Geschäfte machen. Geld stinkt, wenn ein Werwolf es berührt hat, könnte man sagen.
Da bleibt nur die Flucht in die sogenannte Neue Welt. Mich wundert nur, dass du mir so ohne Weiteres glaubst, selbst wenn du aus dem finstersten Teil des Schwarzwaldes kommst.“
Der Deutsche antwortete: „Ich glaube, wer sterbend in einer Steinwüste unter einer brennenden Sonne liegt, der hat keinen Grund mehr zum Lügen. Im Gegenteil, jetzt passt alles zusammen. Deshalb war dir die Planung des zeitlichen Ablaufs unserer Reise so extrem wichtig. Deshalb hattest du einen Mondphasenkalender. Du wolltest nicht, dass die Gefahr besteht, wir würden noch bei Vollmond unterwegs sein. Dominique, du wolltest mein Leben nicht riskieren, stimmt es?“
Der Franzose antwortete: „Genauso ist es, Ludwig.“
„Danke Dominique! Aber eine Sache verstehe ich nicht. Die Überfahrt von Europa dauert lang. Wie konntest du verhindern, unterwegs als Werwolf aufzufallen?“
„Ludwig, aber hier liegst du mit deiner letzten Bemerkung bereits sehr nah an der Wahrheit. Irgendwann hatte ich alle Informationen gesammelt, die es in Frankreich gab. Meine Studien führten mich letztlich in den Schwarzwald, in deine Heimat. Aber nicht auf die dortigen Friedhöfe. Die Grüfte dort beinhalten nichts als alte Knochen und Staub. In Deutschland liegen die Antworten in den Wäldern versteckt. Jeder hat schon davon gehört, wie dunkel und geheimnisvoll der Deutsche Wald ist.
Und es gibt dort Frauen, die altes Wissen bewahren. Du wirst lachen, aber eine Hexe aus den Tiefen des Schwarzwaldes ermöglichte mir die Überfahrt auf diesen Kontinent. Sie verkauft mir nach einigem Zögern ein Pulver, um meine Symptome zu unterdrücken. Nur zwei Portionen konnte ich mir leisten. Der Preis war hoch und schmolz mein Restvermögen weiter deutlich ab. Aber es hat funktioniert, verdammt noch mal. Ich weiß nur, dass eine Zutat das Fell eines Wolfes und eine andere die Haut einer menschlichen Totgeburt war.“
Ludwig platzte hervor: „Eine wahnsinnige Geschichte, aber was hat das jetzt alles mit unserer Rache zu tun?“
Dominique erklärte: „Auch wenn es lange gedauert hat, die Spur des Hexenpulvers zu finden, so haben meine Vorfahren, die früheren Generationen von nach Blut und Wissen dürstenden Werwölfen, doch schon viele andere Sachen herausgefunden. Ich bin, basierend auf der Forschung aus Jahrhunderten, von folgender Konstellation überzeugt. Wenn die Geier mein Fleisch erst fressen, kurz bevor ich zum Werwolf werde, dann wird mit ihnen etwas passieren. Sie werden nachfolgend mehr, viel mehr sein als nur Geier. Es werden schreckliche Furien, und sie werden die blutigen Vollstrecker meiner, nein, unserer Rache, mein lieber Ludwig. Mein Werwolffluch und mein Geist werden dann in diesen Monstern vereint sein.“
Ludwig sprach die Details an: „Aber wann wird dieser Zeitpunkt sein? Ich glaube kaum, dass wir mehr als die anstehende Nacht überstehen. Mir ist jetzt schon zuweilen schwindelig.“
Erneut spuckte er Blut. Blut, welches sehr dickflüssig wirkte.
Dominique betonte: „Mir geht es genauso. Aber der nackte, blanke Hass muss mich am Leben halten. Es fehlt nicht mehr viel. Denn wir hatten unsere Reise ja schon fast beendet. Siehst du die Abendsonne, Ludwig? Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Wenn ich Sterbender noch vierundzwanzig Stunden durchhalte, dann wird der Plan aufgehen. Denn morgen Abend ist Vollmond.“
Ludwig stöhnte. „Gütiger Gott, noch einen weiteren Tag zu leben, erscheint mir wie die Hölle auf Erden. Diese und schlimmere Schmerzen noch einen weiteren Tag auszuhalten, lässt mich zittern. Aber für mich steht es fest: Ich will an deiner Seite den Geiern bis zum Vollmond Widerstand leisten. Die Pein, es so weit hinauszuzögern, mag ich mir kaum ausdenken. Aber ich werde zusammen mit dir standhaft bleiben. Du wirst einen Freund an deiner Seite brauchen. Wir werden die verdammten Qualen teilen. Ich schwöre es, bei der öligen Scheiße aller Hexen dieser Welt!“
Dominique flüsterte: „Danke, dass du mich einen Freund nennst! Ich hatte nie einen. Der Fluch. Danke, dass du mit mir durch diese Hölle der Wüstung gehen willst! So wird es also wirklich unsere gemeinsame Rache werden.“
Ludwig wurde, obwohl es Kraft kostete, laut. „Ja, unsere gemeinsame Rache. Lassen wir also die Geier noch einen verfluchten Tag warten!“
* * *
Nahezu gleichzeitig wurden die beiden Männer ohnmächtig, während die Abenddämmerung sich weiter ausbreitete. Doch die Geier, inzwischen waren es vier, griffen nicht an. Die Tiere wussten, da pumpte noch zu viel Leben in den Körpern. Und dieses starke Leben wurde gespeist aus unglaublichem Hass. Doch dieses wichtige Detail lag außerhalb des Horizonts der Aasschlinger.
* * *
Da bestand eine Verbindung. Nahezu gleichzeitig erwachten die beiden Männer. Die Sonne stand schon relativ hoch am Himmel. Gut, dass sie so viel ihres letzten Tages verschlafen hatten. Jede Minute, welche die Folter der kommenden Stunden verringerte, schien kostbar.
Sie sprachen kein Wort. Gestern war alles gesagt worden. Jedes weitere Wort verbrauchte nur Energie und stahl Feuchtigkeit von den austrocknenden Schleimhäuten. Worte lebten und starben im Gestern. Heute gab es nur noch den Kampf. Der Kampf gegen die Sonne. Der Kampf gegen die Geier. Und final der Kampf gegen das zu frühe Sterben.
Sie wussten es: Die Intensität der Sonne würde nun bis zum Zenit von Minute zu Minute zunehmen. Wenn man wenigstens noch einen Schluck Wasser zum Frühstück gehabt hätte. Eine letzte Erquickung, bevor der finale Kampf des Herauszögerns begann. Aber die Welt ist nicht fair. Unvermittelt brach die nächste Stufe des Durstes über die zwei Kämpfer herein. Es gab hier keinen Trost. Nichts von Gottes Versprechen der himmlischen Barmherzigkeit weit und breit. Nur die Natur, die Aasgeier, die Sonne und die aufgeheizte Steinwüste, das Blockmeer.
Das Licht war so hell, das Schließen der Lieder brachte kaum Linderung. Grellbunte Kreise vor den Augen. Man hatte ihnen noch nicht einmal ihre Hüte gelassen, um ihre Gesichter zu bedecken.
Es lag alles klar vor ihnen: Irgendwann würde der Durst kein Durst mehr sein, sondern nur noch schneidender Schmerz. Das Austrocknen der Haut hatte eine ganz eigene Qualität. Jeder kennt es, wenn Schlamm auf der Haut trocknet und jede Bewegung sich anfühlt, als würde Mehl in die letzte Pore dringen. Doch hier war es nicht Schlamm. Hier war es der Schweiß, der sich in eine feine Salzkruste verwandelte.
Wie viele Stunden hatten sie schon so regungslos da gelegen? Jedenfalls so lange, dass die Geier zu einer ersten Expedition aufbrachen. Doch da schnellte eine Hand hoch und ein spitzer Stein traf das forscheste Getier. Als wäre es beleidigt darüber, dass es wild mit den Flügeln schlagend fliehen musste, zog es dann am Himmel eine besondere, fast majestätische Bahn. Jedenfalls in dem Maße, in dem ein Geier überhaupt ein König sein konnte. Doch wer andere frisst, fühlt sich immer als Herrscher, selbst wenn er letztlich nur über die gebieten kann, die der Tod schon längst niederstreckte.
Doch noch war es nicht so weit, obwohl die fortschreitende Austrocknung der zwei Menschlein so zunahm, dass das Lösen einer Zunge vom Gaumen als ein brutaler Akt erschien. Und wie das eigene Salz in den Augen brannte, spottete jeder Beschreibung.
* * *
Dominique fand sich in einer weitläufigen Landschaft. Er träumte von einem französischen Landregen, der am Ende eines heißen Sommertags mit dicken Tropfen Abkühlung für das Land brachte und alle Lebewesen erquickte. Ein Ereignis, das man niemals vergaß, wenn man es einmal erlebt hatte. Die Natur in all ihrer Kraft. Das Leben so wild, glücklich und fröhlich. Jeder Tropfen schien wie ein unbekümmertes Lachen.
Dominique war an diesem Traumtag noch fast ein Kind, aber doch bald ein Mann. Wie ein Kind jedenfalls tollte er durch das kühle Nass. Es bildete sich Schlamm durch die Wassermassen. Seine tanzenden Schritte wurden unsicherer. Er erkannte, die Ledersohlen seiner Stiefel machten den Schlamm zu einer Rutschparty. Also setzte er sich auf einen Baumstumpf und schnürte seine Stiefel auf, während hinter seinem Rücken die Sonne über den fast erntereifen Feldern unterging und der Mond am Himmel erschien wie ein polierter Silberdollar.
Als Dominique das Schuhwerk ausgezogen hatte, stellte er fest, dass seine Beine behaart und seine Füße Klauen waren. Nicht nur im Landregen, auch hier zeigte die Natur ihre Macht. Die Seite, welche oft verleugnet wurde. Das Ende der unschuldigen Kindheit. Dominiques erste Verwandlung zum Wolf.
Schwer stand sein massiger Körper im Matsch; tief sank er ein. Doch noch konnte er rennen. Rannte auf allen vieren über die weiten Felder. Kein Ziel. Nur ein weiter Horizont.
Immer schlimmer wurde der kalte Schauer. Immer saugender der Schlamm. Immer weiter sank er ein. Halb schon steckten die Beine im Schlamm. Irgendwann berührte sogar sein Bauchfell die trübe Suppe.
Rechts und links seines Weges sah er nun, wie Bauernhöfe in den Fluten versanken und Fuhrwerke weggespült wurden. Er hörte Hilferufe. Doch der Wolf würde den Menschen nicht helfen. Ehrlicherweise konnte der Wolf sich selbst nicht helfen. Schließlich stand es vor seinen Augen: Der Regen galt ihm. Das ist die Natur, die einen schrecklichen Fehler ausmerzen will. Er sollte ertrinken.
Auf dem weiten Felde gab es nichts, woran er sich hätte klammern können. Er griff gestikulierend nach dem Mond. Doch was nützte das?
Schon schauten nur noch sein Kopf und seine Vorderklauen aus dem Morast. Schon berührte erstes Wasser seine Lefzen.
Ein letztes Geheul. Zorn gegen den Mond und die Natur. Zorn gegen das armselige Sein an sich. Dann war er ganz versunken. Taumelte wild unter der Oberfläche. Streckte sich nach dem Licht. Schaffte es, noch einmal hochzukommen. Mehr aus Zorn, denn aus Überlebenshoffnung, durchstieß er noch einmal den Phasenübergang.
Doch er fand sich dort oberhalb nicht im Wasser und Schlamm wieder, sondern in einem Fluss aus Lava, welcher den Werwolf an Felsen vorbei zum Meer aus Feuer trug. Eine Seebestattung der verqueren Art.
Doch es war kein Begräbnis. Schließlich ergoss sich der Strom aus flüssigem Gestein zischend in ein richtiges Meer aus Wasser. Dominique wurde nach Westen getrieben. So viele wollten nach Westen. Zuerst aus Europa mit dem Schiff, dann in Amerika weiter mit der Eisenbahn und schließlich noch weiter mit dem ruckelnden Planwagen. Dorthin, wo das Land noch so weit und wild schien wie hier die See.
So war die See weit, aber nicht einsam. Am fernen Horizont ein Schiff, das nach Amerika fuhr. Der überfüllte Windjammer Nephilim. Vollgepfercht mit Menschen. Aber nicht nur gefüllt mit Auswanderern, auf deren Schultern unsichtbar die nur scheinbar vergessenen Nachtmahre der Alten Welt hockten: Hexen, Ghoule, Zyklopen, Gespenster, Mischwesen, Pfaffen und Moralisten.
Alle alten Ängste zogen mit ins Land der großen Träume.
Ein kleineres Boot kam längsseits der Nephilim. Ebenfalls für die durch Träume blinden Menschen unsichtbar. Darin zeigten sich teilweise in indianischen Gewändern Dämonen und sonstige Schattenwesen der Neuen Welt, um als Abgesandte der Finsternis ihre Brüder aus dem fernen Europa zu begrüßen.
Zwei Arten des Grauens sahen sich in die Augen. Hier in der Nephilim das östliche Grauen, das aus alten Gemäuern und engen Grüften gekrochen war. Dort im kleinen Boot das westliche Grauen, das in den Weiten der Steppe seine Heimat hatte.
Je wilder das kleine Boot hin und her geworfen wurde von der See, die dieses Treffen scheinbar missbilligte, umso wilder gebärdeten sich auch seine grauenerregenden Insassen. Das mag beeindrucken, aber es relativiert sich letztlich doch wieder etwas, wenn man bedenkt, einer ist immer schon da, egal, wohin Menschen ziehen. Der Herrscher über alle Ängste und Nachtmahre. An jeder Küste steht schon der Tod.
Doch noch ist nicht die Stunde des Todes gekommen. Noch toben die Wellen vor Energie und Leben ...
* * *