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Zu Beginn ist Schuld, begangen am eigenen Kind. Durch ihre Schwere verliert Fionn sein tägliches Leben aus den Augen und beschließt die Schuld im Kinderhospiz 'Ich hab mich gern' abzuarbeiten. Doch die Kinder sind stärker als gedacht. Durch sie erkennt er eigene Schwächen, die ihm letztlich den Mut nehmen, dort weiter tätig zu sein. Den Gedanken, sich zu befreien, will er trotzdem nicht aufgeben. Deshalb versucht er anschließend im Hospiz 'Flut und Ebbe' Männern durch Gespräche zu helfen. Der Weg ist schwer. Auch weil ihm Ben, ein Junge aus dem Kinderhospiz, oft in das Hospiz der Männer folgt. Fionn erlebt Phasen mit Niederlagen, manchmal auch mit Erfolgen bei Mehmet, einem ehemals berühmten Boxer, Arnim, einem Wissenschaftler und Albert, dem erfolgreichen Bankier. Auch wenn es oft zur Qual wird, ihre Geschichten zu hören, will Fionn nicht vor dem Abarbeiten seiner selbst auferlegten Schuld kapitulieren. Im Hospiz zu liegen, bedeutet den drei Männern jedoch nicht, schon tot zu sein. In diesen letzten Momenten ihres Lebens ist es ihnen möglich, noch einmal Kräfte zu sammeln und über die Langeweile des Liegens hinaus, Wege eines zufriedenen Lebens zu finden. Daraus entsteht ein Zusammenhalt, der zum wichtigsten Bestandteil ihres Tages wird. Diese Beziehung kann manchmal eine Stärke erreichen, durch die Menschen bereit sind, die Erhaltung der neu gewonnenen Freundschaft über die Bedeutung des eigenen Lebens zu stellen.
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Seitenzahl: 653
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Hospizgänger: Geschrieben im Staub Kappadokiens, in Ripaltas Einsamkeit, der Wärme Forios, Karlsbads Fülle, der Trauer Den Haags, der Freundschaft Kusadasis, unter Atacamas Sternen, in Berliner Luft, im blauen Licht Hiddensees, vor allem jedoch durch Mariannas Geduld.
August ‘97
Juni ‘95
July ‘97
Ewigkeit
Mehmet
Flut und Ebbe
‘Ich hab mich gern‘
Starker Mehmet, schwacher Fionn
Giùsys Tod
Albert
Ijob
Dresden
Nounou
Otto
Juno
EinSteins Krankheit
EinSteins Bedrohung
Alberts Traum
Alberts Abend
Endes Anfang
August ‘97 in Argentinien
Thanatos‘ Geständnis
Hiddensee im August ‘97
Ich rätsle, ob Fionns Geschichte zu einer anderen Zeit möglich gewesen wäre, als zu der, die ich gerade vor Augen habe. Wie wahr, sinnlos ist darüber nachzudenken. Möglich dagegen ist zu prüfen, ob etwas aus eigener Vorstellung von gut oder nicht gut, von Leben oder Tod der Wahrheit entspricht.
Für mich beginnt Fionns Wirklichkeit an einem Tag, der vom Gewinn der Existenz wichtiger Gefühle und Denkweisen zeugt, von der Kraft, die Menschen aufbringen könnten, ginge es ihnen so wie dem, der Entzug verwandelte in Nächstenliebe.
*
Als im Hospiz ‘Flut und Ebbe‘ , eingetragen mit der Adresse Gärtnergasse 15b, die Meldeleuchte von Z45 aufblinkte, war die Welt für Mehmet schon nicht mehr, für Giùsy, deren Hüfte mit zwei Händen zu umfassen ist, dagegen bereits eine lange Woche in Ordnung. Seit dieser Zeit schien alles erträglich. Auf dem Weg zu Zimmer 45 empfing sie einen verzweifelten Laut, der durch alle Seelen der Station wehte und Schlimmeres ankündigte. Sie empfand ihn als Erinnerung an ihren Freund Robert, der sie belastet hatte wie keiner zuvor. Ausgestiegen wären andere, Mutigere hätten ihn zum Teufel geschickt. Giùsy ging mit dieser Schwierigkeit um, als hätte sie in ihrem Leben nichts anderes getan als zu dulden. Die eigentümliche Verbindung war immer wieder bestaunt worden, und oft wurde sie in den Jahren ihrer Stärke wegen von anderen zu Problemen befragt, die ihren eigenen ähnlich waren. Wodurch diese Kraft von ihr ausging, konnte sie nicht erklären. Letztlich war es nebensächlich, hatte doch ihre Beziehung die Zeit nicht überstanden, und nun suchte Giùsy nach neuen Gefahren.
Obwohl erst ein paar Tage im Hospiz, hatte sich Mehmet schon einige Zeit gelangweilt und mit dem plötzlichen Bedürfnis nach einem Gespräch die Notleuchte betätigt. Er wusste, dass heute die sympathische Giuseppa, von allen nur Giùsy genannt, ihren Dienst versehen würde. Nach ihrer Gesellschaft sehnte er sich geradezu. Deshalb war es kein Wunder, dass seine Augen leuchteten, als sie sein Zimmer betrat. Obwohl er auf ihre Gesellschaft gehofft hatte, war er unvorbereitet, und so fiel ihm kein Thema ein, das sie fesseln könnte. Mehmet plauderte unkonzentriert drauflos, und in ihre sorglose Unterhaltung fuhr ein Stich durch seinen Kopf. Ihn zu überdecken, schnappte er mit einem tiefen Zug nach Luft und seufzte: „Josy, wollen Sie meine Geschichte hören? Schwester, gestern träumte ich, die Zeit zu verdrehen. Was mir gelang, Schwester, leider landete ich in einem falschen Traum, der dreihundert Jahre zurück lag. Männer wie Frauen maßten sich an, durch ihn zu gehen. Ich fühlte mich so allein auf der Welt, nichts regte sich. Unglücklich war ich dazu, denn meine Liebe war verloren. Boxen konnte ich auch nicht, denn dazu gehört glücklich sein, und ich war es nicht, denn meine Liebe“, er wiederholte sich, „schien verloren. Ich musste immer an sie denken. Lockerte ich den Gedanken an Liebe, war er fort. Doch nein, es war noch kein Gedanke, ein feines Gespinst nur, das mich immer wieder einfing, nicht mehr. Schwester, was bedeutet das alles?“
„Giùsy heiße ich, nicht Josy. Versuchen Sie das zu behalten. Was das bedeuten soll? Ist es weg, ist es weg! Doch will ich ehrlich sein, Herr Mehmet, wie ich es immer war und Ihnen sagen, dass dieser Zustand wie ein Bild zu Ihrer Krankheit gehört. Diese Träume bedeuten nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte, und stehen damit auf einer Stufe mit der Medizin. Sie sollten sich lieber an jemanden halten, den nichts mit diesem Haus verbindet, der von ganz außen kommt, und Ihnen Dimensionen eröffnet, die noch unbekannt sind. Sie müssen heraus aus dem Kreis Ihrer eigenen Gedanken, öffnen Sie sich wieder einer Welt, in der wir alle nur für kurze Zeit Gast sind. Kann ich daneben etwas für Sie tun, möchten Sie gewaschen werden?“
„Ihre Beschreibungen machen mir keine Angst, aber was ist denn mit Ihnen? Kennen Sie ein Gefühl, das tiefer geht als Liebe? Ach, Sie kennen keines, doch? Höre ich: es ist die Angst vor dem Tod? Ich sag‘ Ihnen ein besseres. Es heißt: die Angst aus Liebe für jemanden zu sterben.“
„Wie heißt die Dame, an die Sie denken?“
„Selene war ihr Name.“
‚Mehmet ist zu überheblich‘, dachte Giùsy, ‚er glaubt, nur weil er uns vielleicht schon morgen verlassen wird, der einzige zu sein, der Besitzer dieses Gefühls war oder ist. Doch was soll ich ihn mit anderem Kummer davon abbringen? Meine Geschichte muss er nicht auch noch ertragen.‘
„Madame Giùsy?“ wieder durchfuhr ihn der Schmerz und leicht wirr redete er, „Schwester, im Gespinst war ich weiter von allen Orten entfernt, als es die Entfernung vermuten ließ. Schwester? Sie glauben mir doch, obwohl Sie zehn Jahre älter wirken, als ich je sein werde. Schwester, das Alter hat keine Zukunft, man käme gut ohne dessen Zwang aus. Ich selbst musste mich mit aller Macht beugen, das zu akzeptieren, denn ich hatte nie weit nach vorn gesehen.“
„Sprüche wie Ihren höre ich seit Jahren, viele Besucher unserer Betten verstecken sich hinter dieser Koketterie. Manchmal scheint sie mir wie ein Spiel, das Gäste wie Sie aus tiefer Not auf meine Kosten austragen. Dann beneide ich mich selbst um meinen angeborenen Langmut. Ist er doch fast das Einzige, was mich hier arbeiten lässt.“
„Giùsy, das war nicht alles. Während des Traumes sah ich im Spiegel wie ich mich nachahmte, bis sich schließlich meine Kopie verselbstständigte und die wahnsinnigsten Gesten machte. Sie erinnerten mich an Verrenkungen, die manche auf weißem Laken bei Ihnen vollbringen.“
„Übrigens, Laken! Liegen Sie jetzt bitte zwei Minuten ruhig. Wie kann ich Wunden verbinden, wenn sich Ihre Arme wie Aale winden?“
Wieder kam der Stich, und mit Mehmets Beherrschung wäre es vorbei gewesen, hätten sich nicht dazu vor seinen Augen große rote Flecken gezeigt. Sie waren ihm nach einiger Überlegung Blutflecken ähnlich, die sich früher auf den Böden der Boxringe zeigten.
Deshalb rief Mehmet wieder nach Giùsy, doch sie war bereits mit einem Arzt zusammengeprallt, der ihr einen drohenden Finger gezeigt und sie aus dem Zimmer befohlen hatte. Ein schlechter Ersatz war der Herr Doktor, denn als Mehmet an seine Geschichte anknüpfen wollte, hörte er nur: „Warten Sie bis sich die Schwester wieder um Sie kümmert.“ Und es täte ihm wirklich leid, sagte er, sich nicht auch noch um das Seelische seiner Gäste kümmern zu können. Sie müssten irgendwie einsehen, dass er sich als der geeignetere Mann nur für die körperlichen Schäden empfinde.
Mehmet hörte nicht lang hin, denn während er versuchen wollte den Arzt anzugreifen, schlief er ein. Jedenfalls tat er so, und als ihn der Störenfried endlich verlassen hatte, tastete sich der alte Boxer zu seinem Schrank und suchte darin nach Hilfe.
*
„Wenn wir nicht bald einen Helfer für unsere Männerabteilung finden, sehe ich schwarz für das Hospiz. Was wird dann aus uns und natürlich aus den Kranken? Das könnte nun der zehnte gewesen sein, der sich auf die ausgeschriebene Stelle beworben hat. Wieder ist nichts dabei herausgekommen“, stöhnte Fräulein Morgen, alleinstehende, sechzigjährige Leiterin des Hauses ‘Flut und Ebbe‘. Ihre Kollegin wiegte den Kopf und jammerte bitter: „Ich glaube, wir können unseren Laden wirklich bald schließen, noch mehr Belastung ist den Schwestern ohne Verstärkung nicht zuzumuten. Schade wäre es, denn schon für die Errichtung mussten wir lange kämpfen. Kein Verantwortlicher sah damals die Notwendigkeit. Will denn niemand mehr Sterbenden als Hilfe zur Verfügung stehen? Alles würde ich für ihn auf mich nehmen, sogar möglichen Ärger mit der Stiftung. Es ist zum Verzweifeln.“
Das sei eben so, begann wieder das liebebedürftige Fräulein Morgen. Die Leute sitzen lieber vor den Fernsehern, lassen sich berieseln und sind hinterher leerer als zuvor. Dabei hinterlasse nur Sinnvolles Spuren. Wollen denn wirklich alle nur noch den dumpfen Feierabend und danach ihre Ruhe?
„Das ist es nicht nur. Wir liegen für sie irgendwo zwischen ‘nicht wissen und nicht wissen wollen ‘. Wer will sich das schon freiwillig antun, Verzweiflung und Tod aus nächster Nähe zu erleben? Die Distanz zum eigenen Lebensende ist heute so groß wie nie, sollte man da an das Ende der Anderen denken?“
Ein schüchternes, ungehörtes Klopfen ertönte, dann unterbrach ein vorsichtiges Räuspern das Gespräch der Frauen.
Er müsse verzeihen, entschuldigte sich die Morgen sofort und sah auf den Eindringling, sie wären gerade im Gespräch, darum sei er nicht zu hören gewesen. „Sind Sie angemeldet, können wir etwas für Sie tun?“ wollte sie wissen.
„Ich würde gerne in diesem Haus …“
„Sie wollen bei uns wohnen, weil eine gefährliche Krankheit an Ihnen nagt, Hilfe von nirgendwo zu erwarten ist?“ unterbrach die Leiterin ungeduldig. „Ja“, fuhr sie fort, „in ein paar Tagen sind sicher ein, zwei Zimmer frei. Wenn Sie ein bisschen Zeit mitgebracht haben, kann ich gleich nach jemandem rufen, der Ihnen bei einem Rundgang behilflich ist.“
Er sei wohl falsch verstanden worden, bemerkte der Fremde, mit einem Einzug könne er sich Zeit lassen. Lieber würde er die Position eines Betreuers einnehmen, weil in seinem familiären Kreis etwas kaum Gutzumachendes angerichtet worden sei, das nun jemand wie er, auszugleichen versuche. Vielleicht wären, und dazu möchte er bereit sein, Gespräche mit den Insassen zu führen, etwas, das beiden Seiten helfen könnte.
„Ihr vielleicht hilfreiches Ohr muss irgendwo an einer Tür gelauscht haben, Zufall kann Ihr Erscheinen nicht sein. Und nun reden Sie mit verführerischen Worten zu uns. Ein Unglück wies Ihren Weg, sagen Sie? Nein, das wäre ja unvorstellbar! Ich denke, Sie tragen da Ihnen etwas ganz Unbekanntes vor und sind bestimmt hier, weil heute jeder eine ordentliche Beschäftigung sucht, dringend Geld braucht. Oder sind Sie wirklich nicht darauf hingewiesen worden, dass wir ernsthaft nach jemandem Ausschau halten? Wenn nein, wäre Ihre ganze Vorrede demnach nur eine Brücke. Ich will Ihnen dazu etwas sagen: wir führen hier ein ganz hervorragendes Haus! Nur erwarten Sie von der Bezahlung, sollte sich hier jemand wirklich für Sie interessieren, keine große Überraschung. Wir zahlen sogar ganz verteufelt schlecht.“
„Warum arbeiten Sie dann hier?“
„Es reicht so zum Leben.“
„Ist das alles?“
„Natürlich nicht! Wir arbeiten hier, weil Geld für das Notwendigste für jeden erforderlich ist. Der wichtigere Grund ist, dass uns und erst recht die Ehrenamtlichen Nächstenliebe her treibt. Sie müssen das erst einmal nur von mir hören, ob Sie danach leben können, wird sich herausstellen. Wenn ich allerdings ein gutes Wort bei der Verwaltung einlege, dürften Sie möglicherweise hier wohnen, vielleicht sogar, dass keine Miete zu zahlen ist. Könnte mein Vorschlag etwas sein, was Ihren Schritt erleichtert?“
„Ich will kein Geld, keine Wohnung. Im Gegenteil, wie ich schon sagte, möchte ich nur etwas leisten, etwas abarbeiten.“
Interessiert sah Fräulein Morgen auf. „Das ist keine Show? Sie wollen kein Geld, auch kein Zimmer, nichts?“ wiederholte sie ungläubig. „Was kann denn so schlimm gewesen sein, dass Sie daran denken, auf alles zu verzichten?“
Fionn war nicht bereit hier und jetzt auf den Wunsch nach einer Erklärung einzugehen. Vielleicht wollte er nie und mit niemandem darüber reden. Fräulein Morgen wiederholte sich jetzt, unbeantwortete Fragen konnte sie nicht ausstehen.
„Hören Sie“, begann sie danach, als wieder keine Antwort kam, „dieser Ort ist anders als andere. Hier wird aus Vorteil nur Nachteil. Auch sind wir kein Spielkasino in das man nach Belieben hineingeht und es in später Nacht ohne Verantwortung wieder verlässt. Bei uns werden Ihnen Menschen in einer Dimension außerhalb des öffentlichen Lebens anvertraut. Es dürfte das Schlimmste bedeuten, wenn wir ungeeignete Leute an unsere Gäste heranlassen. Nehmen Sie es mir deshalb nicht übel, wenn ich Sie weiter nach Ihren Motiven frage.“
*
„Sie waren entschieden zu grob“, sagte die Kollegin, als sich Fionn ohne weiteres Wort entfernt hatte. In seinen Augen wäre etwas sehr Trauriges gewesen. Es war echt, und man hätte darauf vertrauen können. Auch die Leiterin war verunsichert. Jemand, der seine Aufgabe ernst nehmen würde, noch dazu ein Mann, und bezahlt werden müsse er auch nicht?
„Wir wollen mal sehen“, sagte sie nachdenklich. „Wenn er so wäre, wie wir denken, kann er ja morgen wieder erscheinen. Kommt es dazu, hätte er gewonnen.“ Und dann ist da noch sein Gesicht, auf das sie hinweisen wolle. Es würde an die Geschichte eines bösen Autounfalls erinnern. Ein Kind starb dabei. Selbst die Reporterin hatte im Stil großen Mitgefühls darüber berichtet. Der Vorfall sei vielleicht schon einige Jahre her, und so genau könne sie sich nicht daran erinnern. „Lassen Sie uns jetzt nach Hause gehen“, bat sie, „aber ich bin davon überzeugt, den Herrn werden wir nicht vergessen. Mindestens ich werde mich darüber hinaus ganz sicher noch in der Nacht mit seinem Anliegen beschäftigten. Und“, sie stockte, „bestimmt meine direkte Art bereuen.“
Fionn kam wieder und wurde gar nicht mehr nach seinem Motiv befragt. Er aber wollte reden und erzählte vom Tod seines Sohnes, vom erfolglosen Versuch, im Kinderhospiz ‘Ich hab‘ mich gern‘ Schuld abzuarbeiten und bei einer unvorsichtigen Frage der Leiterin: wieso erfolglos? waren Tränen in seinen Augen. Die Kleinen seien stärker gewesen als er selbst, antwortete er bedrückt. Darauf könne er nicht vorbereitet gewesen sein. Kinder, die mehr vertragen als ein Mann, der noch sein ganzes Leben vor sich hat? Das würde nicht die Gerechtigkeit sein, nach der er verlange.
„Wollen Sie uns nicht ein bisschen von Ihrer Arbeit im ‘Ich hab‘ mich gern‘ berichten?“ fragte Frau Gestrich.
Ohne zu zögern, erzählte Fionn, die Woche dort nur sehr schwer durchgestanden zu haben. Es gab wenig Freude, und immer nur die starken Kleinen sterben zu sehen, hätte er nicht länger ertragen wollen. Deshalb sei seine Schuld längst nicht getilgt. Nun möchte er einen neuen Versuch an anderer Stelle wagen. Dort beginnen, wo man nicht jeden Tag von den schrecklichsten Gefühlen überwältigt würde. Männer seien doch etwas ganz anderes.
„Was denn?“ fragte Frau Gestrich. Nein, die Männer hier würden sich nicht von Kindern unterscheiden. Ziemlich Starke gäbe es, natürlich, und solche, die noch jede Auseinandersetzung überstehen. Schwache, Hilflose und erst recht Liebebedürftige sind auch darunter, ebenfalls natürlich. Ihre Anteile schwanken sehr, mal mehr auf die eine, mal mehr auf die andere Seite. Viele, die gleichzeitig stark und schwach wirken, gäbe es dazu. Hier hat jeder einen Grund zu sein wie er ist.“
„Ich möchte den Leuten zuhören, verstehen wie sie sich fühlen und helfen, wenn sie mich brauchen“, wandte Fionn ein.
„Nun gut“, gab sich Fräulein Morgen geschlagen, „ich traue Ihnen einiges zu. Wagen wir einen Versuch. Ich will heute von einer Zustimmung der Verwaltung ausgehen. Sollten Sie gleich Ihre erste Bekanntschaft überstehen, erwarte ich Ihren Beginn morgen früh. Stellen Sie sich jedoch die Arbeit bei uns nicht leichter vor als in dem Kinderhospiz. Auch bei uns sind wenige, die das Bett verlassen können. Vielleicht sollten Sie sich zuerst um einen dieser Herren kümmern. Kommen Sie!“
*
„Muss ich wieder als Testperson herhalten?“ brummte beleidigt jemand, als Fräulein Morgen und Fionn ein Gästezimmer betraten, das eigentlich gar nicht danach aussah. Sicher, Gasanschlüsse waren vorhanden, Geräte standen herum, doch war es durch die Möbel des Bewohners gemütlich und der Blick auf ein kleines Kiefernwäldchen mit rötlich sonnigen Stämmen und einem Fluss, der sich so dahin schlängelte, war Anlass zu vergessen, wo man sich befand.
„Der sich gerade unter schwerer Bettdecke versteckt, ist unser Herr Mehmet. Ein beliebter Gast in diesem Haus, nur manchmal vergisst er seine Erziehung. Vor allem abends wird er zu eigenwillig und beschäftigt dann uns sehr. Bisweilen revanchieren wir uns mit kleinen Späßchen über seinen Hut. Sehen Sie sich gleich mal die Kappe an. Nicht wahr, Herr Mehmet, Sie haben Ihr Leben lang Betreuung benötigt, Ihre Zeit soll ruhig so ausklingen.“
„Lassen Sie mich in Ruhe! Krank bin ich alt geworden, aber nicht blöd“, brummte die Stimme unter der Bettdecke.
Fionn ging auf das Bett zu, zog die Decke eine Winzigkeit zurück, sah nur das feingesponnene Geflecht eines hellen Hutes und sagte unsicher in die Lücke zwischen Geflecht und Kissen, was ihn gleich vor sich erschreckte: „Ich bin Fionn, der Neue. Schön, dass wir uns kennenlernen.“
Wütend streckte Mehmet den Kopf heraus und sprach sofort vom größten Unsinn, den er bis heute gehört hätte. Der Neue solle sich lieber nicht zu viel einbilden. „Sie wissen nicht, wer ich bin. Aber vielleicht suchten Sie schon lange nach mir, denn ich bin tatsächlich etwas Besonders. Kriege noch jeden klein, verbrenne ihn sogar.“
Er nähme ihm nichts von seinen Problemen ab, das könne er nicht, gab Fionn zurück. Vielleicht gäbe es gemeinsame Interessen, das könnte schon ein guter Schritt sein.
„Der Herr wünscht sich also, mich zu begleiten. Dann müssen Sie zuerst guter Zuhörer sein, denn solange es noch geht, will hier jeder nur eines: seine Not bekämpfen durch reden, reden. Wer noch kann, der redet davon, wer er einmal war, zumindest gerne geworden wäre. Ich selbst, ein Opfer vieler unglücklicher Umstände, wie andere Freunde hier, wurde schon mit vielen Geschichten belästigt, keine glich der anderen. Für jeden von uns hatte das Sein eine andere Tafel bereit, selbst ein anderes Stück Kreide. Das ist nicht für jeden Erbauung. Deshalb will ich fragen, ob Ihr Entschluss auch gut überlegt ist. Was hier zu sehen und zu erdulden ist, wird Sie ein Leben lang nicht verlassen, wird sich Ihnen einprägen als das Wichtigste, das in Ihrer Welt Platz hatte. Ich selbst werde außerordentlich belastend sein, in Ihre Träume eindringen. Letztlich werde ich Sie so verändern, dass möglicherweise niemals mehr jemand den Wunsch verspürt die Art Ihrer Hilfsbereitschaft fortzusetzen. Ich hoffe trotzdem, dass Sie mich vertragen und nicht an mir verzweifeln. Willkommen, der Herr. Mein Name ist Mehmet. Ich stamme aus dem unbedeutendsten Kaff, das Sie sich vorstellen können. Fühlte mich dort nicht wohl in meiner Haut, weil jedes neue Jahr schmerzte. Wusste lange nicht wohin mit mir.
Was ich dort hinterlassen habe, kann ich nicht sagen. Vielleicht schon mich selbst. Immerhin brachte ich etwas Entscheidendes mit aus meinem Land: Willen und Kraft, die Maßstab jeder Jugend sind. Und wer sind Sie?“
„Ich bin Fionn, wie Sie sicher schon wissen. Ich war Vater und will mich in den Dienst dieses Hospizes stellen.“
„Das war eine äußerst korrekte Antwort, so sauber, so kühl wie ich es nicht besser hätte sagen können. Sie sind das also! Der Herr hat die Prüfung des Kinderhospizes nicht überstanden, habe ich gehört. Das verstehe ich, hier ist es leider auch nicht leicht. Um uns noch als Mensch zu akzeptieren, müssen Sie manchmal alles fahren lassen. Hoffnung, Eigenständigkeit zum Beispiel, und das sind noch die unbedeutenden Werte. Ich schlage vor, dass wir nun auf jedes weitere Eingangsgeläut verzichten“, murmelte Mehmet, als sich Fionn gerade aus Nervosität ein drittes Mal vorstellen wollte. Nun saß er Mehmet gegenüber und wartete.
„Wollen Sie das wirklich?“ staunte Mehmet, „und selbst wenn, wenig wird dabei herauskommen, denn Sie werden niemanden erretten. Ich will Ihnen aber das Geheimnis verraten, wie mit uns umzugehen ist: lassen Sie unsere Krankheiten nicht an sich heran! Damit verhindern Sie, dass wir uns um Ihre Person Gedanken machen, Sie uns etwas bedeuten könnten und gemeinsam in einen Kreislauf eintreten, der keinem gerecht wird!“
Als hätte er einen Ruf gehört, verstummte Mehmet unerwartet. Doch auch Fionn hatte einen Aufschrei vernommen. Von weitem war zu hören gewesen, was so widerlich ist: dieses Geheul, wenn Wesen, und sei es nur die eigene Seele, meinen, anderen Gefühl oder Zustimmung signalisieren zu müssen. „Greifen Sie nie auf diese Art in mein Leben ein“, sagte Mehmet nur.
Fionn verspürte mehr als Angst. Sah er doch, wie sich Mehmet jetzt vor seinen Augen von einem Moment zum anderen zu Grunde veränderte, fassungslos an ihm vorbei sah, jeden Halt verlor. Erschrocken trat er zurück und blickte auf Fräulein Morgen, die gelassen wirkte und meinte, an ähnliche Vorgänge müsse er sich gewöhnen. An Herrn Mehmet, wie an vielen anderen die hier liegen, würde sich in den ihnen zur Verfügung stehenden Wochen viel verändern. Heute ist daran nicht zu rütteln, nur beenden könne man den Anfang der Schilderung von Mehmets Untergang. Notgedrungen fügte sich Fionn, nicht ahnend, welche Last noch in ihn eindringen dürfte, letztlich unfähig machen würde, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.
„Reden wir heute nicht weiter“, bat auch Mehmet, als hätte er in Fionn hineingesehen, „kommen Sie einfach wieder, dann werden wir sehen, wer welchen Schritt bereut. Ich habe es nicht eilig, mit Ihnen zu reden, denn in den wenigen Stunden, die ich hier bin, habe ich bereits allein viel abgearbeitet. Der Rest kann noch eine Weile warten, aber zögern Sie nicht zu lang.“
*
Nachdem beide Zimmer Z45 verlassen hatten, meinte Fräulein Morgen, dass ihr erster Eindruck nicht schlecht gewesen wäre und sie gespannt sei, wie seine Aufgabe weiter gehen würde. Sie könne sich jedenfalls schon jetzt über seine Unterstützung freuen. „Bedenken Sie jedoch, niemand darf die Würde unserer Gäste verletzen, nie daran auch nur rühren“, verlangte sie, bevor sie sich verabschiedete.
„Einen Moment“, bat Fionn, „noch eine Frage, bitte: kann man mit jedem Gast, frei wie Sie, über seine Zukunft reden?“
„Natürlich nicht, denn dazu gehört eine gute Portion gegenseitigen Vertrauens. Versuchen Sie das nur nicht gleich mit jedem. Warten Sie ab, irgendwann spürt man, ob es geht oder nicht. In jedem Fall muss der Gast den Anfang machen. Das kann seine Zeit dauern. Viel miteinander schweigen können, ist anfangs die beste Grundlage. Zuhören ist gut und wichtig. Ihm zu erzählen, hilft auch, ist meiner Meinung nach aber nicht von zu großer Bedeutung. Herr Mehmet ist so einer, der es Ihnen leicht machen könnte. Er ist ein großer Mann. Ich meine groß im Sinne von großartig, nicht von seiner Länge her.“
„Wer hat sich von Ihren Angestellten bisher am meisten mit dem Herrn beschäftigt?“
„Warum fragen Sie?“
„Er könnte mir meinen Anfang erleichtern und vermeiden, gleich am ersten Tag jemanden zu verletzen.“
„Ich habe mich um ihn gekümmert.“
„Falls mich Mehmet annimmt: werden Sie nicht traurig sein, wenn er sich mit mir, statt mit Ihnen unterhält?“
„Nehmen Sie mir meine Antwort nicht übel, Herrn Fionn, denn ich sage nur wie es ist. Bis gestern war ich sein Ein und Alles. Doch ich hatte auch wenig Zeit. Heute kommt ein anderer daher, Sie, der sagt mehr Zeit für ihn zu haben, und deshalb trete ich ohne Vorwurf zurück. Freunden Sie sich an, ist das gut für ihn. Geht es nicht, ist morgen vielleicht ein anderer sein Mittelpunkt. Diese Menschen haben nicht mehr die freie Wahl und greifen manchmal nach jedem, der versucht sie zu verstehen. Dieses hat seinen Lauf. Wie kann ich da getroffen sein? Im Gegenteil, wird ihm geholfen, bin ich zufrieden wie sie.“
*
„Was hat Ihnen im Leben am meisten gefehlt?“ fragte Fionn und glaubte eine besonders anspruchsvolle Frage gestellt zu haben, die zudem, und nur zur Probe, Mehmets Kopf überlasten sollte. Doch Mehmet war wandlungsunfähiger als Fionn annehmen konnte, die Verärgerung des vergangenen Tages war längst nicht von ihm abgefallen.
„Halten Sie Ihren unerfahrenen Mund!“ sagte er in scharfem Ton und gleich darauf abmildernd: „Ich fürchte, das geht Sie wirklich nichts an“, und nach einer weiteren Pause: „Ist es Ihnen so wichtig, dass Sie mich das fragen? Ich habe Schwierigkeiten, wenn jemand von mir Äußerungen zu bestimmten Vorfällen meines Lebens hören will. Lassen wir meine Geschichte einfach auf uns zukommen. Ich bin sicher, dass Verborgenes dann klarer hervortritt. Und wenn Sie von all dem genug haben, ich bin sicher, werden Sie mich dem Schicksal überlassen. Wie die anderen, die vor Ihnen ihre missionarischen Fähigkeiten an anderen kultivieren wollten. Den verbleibenden Rest meines Lebens muss ich dann wohl allein verbringen. Dazu jeden Tag weiter einsinken in die Unendlichkeit meiner Anonymität. Auch Sie täten gut daran zu denken, dass Verlierer letztlich an Hoffnungslosigkeit sterben.“
Fionn antwortete nicht, stattdessen begann Mehmet nach einer kleinen Pause: „Ob mir etwas gefehlt hat? Ich liebte den Blick über den Strand, auf die Ägäis, unser türkisches Meer.“
„Warum sind Sie nicht zurückgegangen?“
„Sehe ich aus, als liefe mir das Glück hinterher? Trotzdem, ich war ja dort und hatte alles versucht, dann bin ich wieder zurück. Es gab nicht genug Geld, die neu entstandenen Hütten abzureißen, die nichts anderes taten als nur die Sicht zu versperrten. Außerdem hatte sich dort unten viel verändert, dazu das ungewohnte Nebeneinander von offiziellem und inoffiziellem Leben. Schnell begann ich mich unwohl zu fühlen und habe die fremd gewordene Heimat verlassen. Sie hatte sich zu einem unbekannten Bild verändert. All die Jahre meiner späten Jugend hatte mich also Falsches begleitet, damit die Fremde lebbar gemacht. Jetzt war die Erinnerung zerbrochen. Nur die Frösche hörte ich noch, sie waren am Fluss geblieben. Mit ihnen die Stimmen meiner Verwandten. Sie halfen mir, dass ich glaubte, sie mit mir nehmen zu wollen, denn zurückhalten konnten sie mich nicht.“
*
Es hatte ein fauler Samstagvormittag werden sollen. Die Woche war schwer gewesen, zu viele Kunden wollten zu viel Aufmerksamkeit. Fionn wachte auf gegen acht Uhr und freute sich auf Frühstück und Tageszeitung. An Erikas Hand kam Markus herein. Fionn ahnte, gleich würde das alte Spiel gegen ihn beginnen. Sie würden den Vater müde reden wollen, bis nichts anderes übrig bliebe und der Sohn zu seinem Recht käme. Wie der Wunsch aussehen könnte war wie immer einerlei. Erika würde Markus unterstützen und vorbei wäre der eigene Tag. „Ihr müsst nichts sagen, ich brauche nur ein paar Minuten, dann setzen wir uns an den Tisch, essen eine Kleinigkeit und dann? Wohin auch immer!“ Fionns schwache Gegenwehr war nicht, was sich die beiden erhofften, mehr Spaß machte es, ihn in die Enge zu treiben, um dann zu gewinnen. „Wohin?“ fragte Fionn nur.
‚Fratelli d’Italia‘, klang Italiens Hymne aus dem Radio, und sie sangen mit. „Beeile dich, Vater“, unterbrach Markus, „wir kommen sonst zu spät nach Haus. Fahr schneller, sonst sehen wir von dem Spiel gar nichts mehr.“
Erika, die im Fond saß, machte ein besorgtes Gesicht. „Treib‘ Fionn nicht an, er fährt ohnehin zu schnell“, klagte sie. Der Rest ihres Satzes endete in einem schrecklichen Knall. Fionn war unaufmerksam gewesen und einem anderen Auto in die Seite gefahren. Sein Wagen überschlug sich und kam erst nach vielen Metern zum Stehen. Fionn lag besinnungslos über dem Lenkrad, schien weder Beobachter noch Teilnehmer des folgenden Geschehens zu sein. Markus war aus dem Gurt herausgepresst und krümmte sich im Fußraum. Erika, blutüberströmt, doch bei Bewusstsein, rief um Hilfe. Ein paar Fußgänger zogen daraufhin ihren verletzten Körper behutsam aus dem Wagen und legten Markus neben sie. Betreten wurden beide angesehen. Nur an Fionn traute sich niemand heran, er schien zu fest eingekeilt.
Als die Feuerwehr eintraf und ihn befreite, war Markus bereits tot. Erika hatte schon begriffen, sie weinte in sich hinein. Ein Passant rüttelte an Fionn herum, schrie verzweifelt, dass man, selbst auf einer Trage liegend, nicht besinnungslos ist, wenn das eigene Kind stirbt. Und sollte er dann nach den nächsten Tagen seinem Sohn die letzte Erde nachwerfen, werde er sich erschreckend leer und irritiert fühlen, wie nie wieder in seinem Leben. Alles ging an Fionn vorbei. Er bemerkte auch nicht die schreckliche Hoffnungslosigkeit, die sich aufmachte, sein Unglück zu bescheinen.
*
Endlich schwand das Koma, doch die gemeinsame Welt von Mann und Frau hatte sich bereits verändert. Zu der Trauer um Markus war eine schreckliche Stille zwischen ihm und Erika dazugekommen. Sie schmerzte doppelt. Nicht nur, dass er sich die Schuld am Unfall gab, auch belastete Erikas fühlbarer Vorwurf. Danach war keiner bereit mehr zu tragen als die Schuld, die er selbst fühlte, und mit jedem neuen Streit weitete sich die Entfernung zwischen ihnen.
Die Tage vergingen. Ihr Verhältnis wurde von Mal zu Mal karger, bis sich die bis dahin ohnehin wenig gewordenen Gemeinsamkeiten ganz aufhoben. Niemand musste mehr anklagen. Wortlos hatten sie sich auseinandergelebt und das, obwohl ihre Gemeinsamkeit über Jahre in geregelten Bahnen verlaufen war. Das Gift, auf breiter Front vor ihnen auf dem Weg liegend, nahmen am Schluss beide. An nur einem Tag war alles vorbei.
Danach lebte Fionn ein Jahr hilflos in die Zeit hinein. Schlimmer waren die Nächte. Immer wiederholte jemand die Worte des Helfers, Erika hatte von ihnen erzählt. ‘Mann fährt nicht wie ein Wilder. Mann ist nicht besinnungslos. Mann ist bei dem Kind. Mann tut etwas!‘, dröhnte es immer wieder in den Ohren. So ging das Monate, bis sich Fionn vor den Nächten fürchtete, die nichts als einsame Stunden bedeuteten, er, statt zu schlafen, das Lesen begann. Endlich wurden irgendwann die Lider schwerer, die Träume schrecklicher.
Als er eines Nachts aufschreckte und vor Angst nicht mehr einschlafen konnte, dachte er an die Erkenntnis seines Psychiaters, sich vielleicht nur durch noch stärkere Belastung retten zu können. Dem Gedanken nicht zu entkommen, verließ er das Haus und ging in die einzige ihm bekannte Bar, die zu dieser Zeit geöffnet hatte. Jedes Gespräch mit dem immer mürrischen Barkeeper lehnte er ab und hing dort nur seinen Überlegungen nach, die schwer wie Blei auf dünnem Eis lasteten. Stunden später war eine erste Überzeugung geboren. Es drängte ihn, sich an die Idee des Psychiaters zu halten: nach Ruhe durch Überlastung zu streben, und deshalb dachte er an den Tod. Schon oft waren Berichte über Sterbehäuser für die Jüngsten, nie hatten sie ihn erreicht. Nun schienen sie die einzige Lösung, sich auf unbekannte Weise von Schuld zu befreien. Er ahnte, mehr nicht, es könnte schwer werden. Woher der Gedanke wirklich stammte, sich mit ihnen zu beschäftigen, glaubte Fionn nicht zu wissen. Doch sicher war er nun, nur noch für die Aufgabe da zu sein Kindern in ihren Hospizen zu helfen. Die Erkenntnis ließ sich nicht gleich in sichtbare Schritte umsetzen, nur der Gedanke war geboren und erfüllte ihn zwei Jahre mit neuer Zuversicht.
*
Wieder einmal war Fionn aufgeregt nach Haus gekommen, wo ihm schon nach kurzer Zeit die Decke auf den Kopf fiel. Wütend verließ er die Wohnung. Seine Unruhe zog ihn erneut zur Bar des Mürrischen, in der seit Markus‘ Tod öfter regnerische Nachmittage und Nächte mit vielen Gedanken an seine Schuld verbracht worden waren. Auch dort verging die Zeit unendlich langsam, und er erinnerte sich nicht einmal an Erika, Markus und Hospize.
Als sich irgendwann der Wirt näherte, um zu sagen, seine Bar würde gleich schließen, obwohl doch der Herr Fionn die ganze Zeit nichts bestellt hätte und trotzdem in Ruhe gelassen wurde. Der einsame Gast ahnte, dass sein Vorwurf nicht das Einzige wäre, was vom Abend übrig bleiben würde.
„Ich kenne Ihre Geschichte“, fuhr der Wirt fort, „ich weiß, wie sie weitergehen wird. Doch wünsche ich Ihnen Glück, zu finden wonach Sie suchen und werden vielleicht danach einmal zurückkommen und erzählen, was es war.“
Bei schönem Wetter, wie am nächsten Tag, zog es Fionn in sein Stammcafé an einem kleinen See, der nicht weit entfernt auf ihn wartete. Die Kreuzung vor ihm, ein klein wenig weiter rechts, war der Ort, wo er Markus verloren hatte. Hier gaben an diesen sonnigen Nachmittagen Erinnerungen, alles was Fionn brauchte. Schon oft waren auch tiefe Gedanken, aber erst heute trat Mut hervor, endlich die Inhaltslosigkeit seines bisherigen Lebens zu überwinden und dem Wunsch nach einem Ausgleich für eigene Schuld zu folgen. ‚Hilf anderen Kindern, die krank auf das warten, was Markus hinter sich hat‘, war sein Antrieb und führte sofort zu Freude mit schönster Befriedigung. Leider gab das Telefonbuch nichts her und Fionn fragte in vielen Krankenhäusern nach einem Hospiz, in dem Kindern von Menschen wie ihm geholfen werden könnte. Zunächst wurde er als Störenfried, gar als Zeitungsschreiber eingestuft, der auf forscher Jagd nach einer neuen Geschichte, die Ärmsten zu quälen versucht. Durch seine vielen Nachfragen änderte sich jedoch das Vorurteil, und allmählich kamen brauchbare Vorschläge. Fionn wählte lange und fand das ‘Ich hab‘ mich gern‘. Wenn auch der Name noch unverständlich schien, hatte er doch die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Fionn rief an, fand Zustimmung für seinen Vorschlag und hoffte zum Besichtigungstermin auf den trübsten Tag der nächsten Wochen.
*
Mitunter reden Menschen davon, ihr Inneres würde Anzeichen einer bevorstehenden Prüfung ahnen, ohne dass dies bewusst zu Tage tritt. Ein wenig unwohl fühlte sich Fionn aus diesem Grund, als nach einer Nacht ohne Schlaf, Frau Soller, Leiterin des ‘Ich hab‘ mich gern‘, den ersten Termin mit ihm vereinbarte. Natürlich, er hatte an irgendwelche Formalitäten gedacht die eingehalten werden müssen. Eigentlich war er jedoch nur auf die eine Antwort vorbereitet gewesen: wir haben lange auf einen Helden gewartet, jemanden wie Sie, der sich opfert, um anderen zu helfen. Kommen Sie bitte schon morgen zu uns. Die Kleinen können nicht länger ohne Herrn Fionn sein!
Nun hatte sie also nur ein Treffen vorgeschlagen, und eine gewisse Ernüchterung war durch ihr Unverständnis eingetreten. Der aufkommende Zwiespalt legte sich nach zwei Tagen, doch schon als er eine strenge Frau Soller bemerkte, die tief in ihn hineinzusehen schien, war er wieder da, der Zweifel. Zweifel wovor? Vor seelischer Qual, vor Wochen ohne Schlaf? Nein, glaubte Fionn, schlimmer als die letzten Monate kann es mit lebenden Kindern auch nicht werden, und eines ist sicher: falsch wird dein Entschluss nicht sein. Hilfe kann doch jeder brauchen.
Leider schwand diese Sicherheit, als er von enormen psychischen Belastungen, schrecklichen Anblicken hilfloser Kinder mit fast unbekannten Krankheiten hörte. Frau Soller machte es ihm nicht leicht bei seinem Entschluss zu bleiben, und als er fragte, ob denn nichts als seine Erschütterung ihr Ziel sei, schien sich sein Vorhaben aufzulösen. Wenn er schon bei diesem ersten Gespräch aus der Fassung geraten würde, antwortete sie kühl, sei es besser nicht weiter zu reden und das Ganze zu vergessen. Was er sich anders vorgestellt hätte, wollte sie dennoch wissen. Jemanden, der von einem Kindergarten mit niedlichen kleinen Fratzen erzählt? Der von jungen hübschen Schwestern angeleitet würde, von Kindern, die ihre Krankheiten auf einer Wolke von Liebe auskurieren?
„Hier sterben die Schwächsten unserer Gesellschaft“, fuhr sie auf, „oft ohne Begleitung durch irgendwen, ohne Erbarmen einer übergeordneten Kraft, vielleicht. Hier können sie nur hoffen, von Menschen betreut zu werden, die ihnen ihre letzten Tage einigermäßen erträglich gestalten. Herr Fionn, Sie befinden sich bei uns in einer Welt, die losgelöst ist von allem was bisher positiv sein konnte. Und ich soll nicht darauf hinweisen? Versündigen würde ich mich an den Kindern, dazu einen Neuling, wie Sie, in die Irre leiten. Lieber erschrecke ich jemanden mit der Wahrheit, als mich darauf einzulassen, Enttäuschung bei den Kindern hervorzurufen. Verzeihen Sie mir bitte das Aufbrausen, aber jeden, der meint, er müsste auch mal Soziales in seinem verkorksten Leben tun, muss sich doch schon vor einem ersten Gespräch, welches oft genug nur verschenkte Zeit bedeutet, gründlichst informieren. Oft würden sie dann gar nicht erst hierher kommen. Was in diesen Fällen übrigens das einzig Richtige wäre. Diese nachlässigen Menschen erkenne ich sofort, und es bedeutet das sofortiges Ende unseres Zusammenseins. Wissen Sie, oft ist es nur ein Impuls, vielleicht ein oberflächlicher Eingriff von außen, der Menschen dazu bringt, sich für uns zu interessieren. Das muss ich auch erkennen und damit Irrtümer verhindern. Also, was treibt Sie hierher? Der Tod eines Partners, vielleicht sogar Ihres Kindes? Dazu sollten Sie wissen, dass wir niemanden nehmen, dessen Leid an dieser Stelle weniger als zwei Jahre zurückliegt. Trauerbewältigung in dieser Zeit muss man sich woanders suchen.“
„Jetzt hören Sie mir mal bitte zu! Bisher habe ich nur versteckte und offene Anklagen, auch von vielleicht berechtigter Angst gehört. Ihre Haltung in allen Ehren, in einem ersten Gespräch kann man aber auch übertreiben. Machen Sie das absichtlich?“
„Meinen Sie mich jetzt durchschaut zu haben?“
„Entschuldigung, haben Sie meinen Magen knurren hören? Das ist meine Meinung zu Ihrer Unterstellung! Und außerdem, ja, mein Sohn ist gestorben, ja, ich trage Schuld daran und ja, das liegt länger als zwei Jahre zurück.“
Nun kniff Frau Soller die Lider zusammen und tat entsetzt. „Nein, so einer sind Sie also!“ sagte sie einigermaßen aufgeregt. Anschließend zeigte sie allerdings Haltung und wies darauf hin, wie selten es Bewerber gäbe, die den Spieß drehen und standhaft gegen ihre eventuelle Vorgesetzte richten würden. Ihr gefiele das, zeige es doch eine gewisse Unabhängigkeit und Stärke, was in diesem Haus besonders wichtig wäre.
„Lassen Sie sich am besten noch einmal alles durch den Kopf gehen und überlegen ein paar Tage“, fuhr sie fast versöhnlich fort. „Falls wir uns einmal wiedersehen, und Sie noch immer zu uns kommen wollen, gibt es, so oder so, hinterher kein Zurück. Und vergessen Sie nicht, entscheiden wir uns für Sie, bedeutet das zusätzlich mindestens ein Jahr Ausbildung als Familienbegleiter.“
Nicht unzufrieden mit ihrem Gegenüber nickten sich beide einmal kurz zu, dann verließ Fionn die Zentrale in der Innenstadt. Draußen tobte ein anderes Chaos. Noch nie hatte Fionn diese Welt ähnlich empfunden. Wodurch war er so offen geworden?
Vielleicht war es wirklich die angesprochene Stärke, vielleicht aber auch nur gekränkte Eitelkeit. Fionn beschäftigte sich nicht zu lange mit der Bitte der Leiterin. Schon am darauf folgenden Tag rief er wieder an, um seine weitere Bereitschaft zu bezeugen. Frau Soller sagte nur wenig dazu und bat ihn stattdessen zu einem zweiten Treffen, diesmal jedoch gleich im ‘Ich hab‘ mich gern‘.
Ein von außen unscheinbares Haus wartete, innen schien die Sonne in jeder Ecke aufzugehen. Überall strahlend gelbliches Licht. Wände, von Kindern bunt bemalt, Sprüche waren darunter, mal krakelig, manchmal erstaunlich elegant mit weißer Farbe aufgetragen. Im ganzen Haus schien Kindergeburtstag gefeiert zu werden.
Fionn wurde bereits erwartet. „Kommen Sie“, bat Frau Soller, „wir beginnen mit einem Rundgang. Ich zeige Ihnen einige Gäste, denen nicht gleich alle Probleme auf einmal anzusehen sind.“
Nach vielen anderen wurde ihm von Ben erzählt. Ein Kind schwieriger Eltern, die der Not ihres Kindes glaubten nicht gewachsen zu sein. Lieblos ließen sie es zu, ihn im Hospiz versteckt zu lassen und besuchten es in den Tagen, die er bereits hier war, nicht einmal. Ben litt unter dieser Einsamkeit, bedrängte sie ihn doch mehr als sein körperlicher Zustand. Die meisten Angestellten fühlten mit ihm und waren deshalb bereit, alles für ihn zu tun. Ihre Arbeit aber ist sehr belastend, und viele Kinder brauchen Aufmerksamkeit. So waren sie erfreut, von Fionns Absicht zu hören, und beteten um einen gegenseitig guten Eindruck. Heimlich ahnten sie jedoch gleich, dass er hier beginnen würde. Die ganz Klugen sahen bereits aus der Vorfreude Bens und dem Wenigen, was von dem Neuen bekannt war, wie sich eine menschliche Nähe zwischen ihnen ergeben könnte. Vielleicht würde Fionn sogar jemand sein, der Ben von seiner belastenden Spinnerei ablenkt, liebevolle Eltern gehabt zu haben.
„Da läuft er ja“, sagte Frau Soller, „oh, er kommt direkt auf uns zu, der wird doch nicht …?“ Schon hing Ben an Fionn und wäre durch niemandem von ihm zu lösen.
„Du bist Ben?“ fragte Fionn. „Die Schwestern erzählten viel von dir.“ Man sah, wie aufgeregt der Junge war. Er ließ sich auf die Füße fallen, sprang zurück und rief: Ben, wer ist das schon? Ich bin nicht einfach nur Ben, denn ich kam aus den Sternen. Ich bin Ben, Kapitän der Piraten! Mein Schiff heißt ‘Der vor den vier Krankheiten flieht‘.“
„Ist der Name nicht zu lang für ein Schiff?“
„Ist doch egal, das Schiff gibt es sowieso nicht.“
Frau Soller stubste Fionn leicht mit dem Ellenbogen und bat ihn ein Stückchen an die Seite zu gehen. Bereitwillig versuchte Fionn einen Schritt, den er nicht richtig ausführte, weil er sich vor der herannahenden Bahre erschrak. Auf ihr lag ein Kind, dessen Gesicht fahl aussah, die Decke war unbemerkt zur Seite gefallen. „Das ist nicht gerade ein einladender Moment und aufbauend für Ihre Aufgabe, Herr Fionn“, meinte Frau Soller und legte das Tuch wieder über das Gesicht, „aber seine letzte Fahrt durch das Haus ist eine notwendige Maßnahme. Der Kleine wird in den Aussegnungsraum gefahren und dort aufgebahrt, bis die Angehörigen von ihm Abschied genommen haben. Wir alle wissen, warum die Kleinen hier sind, wird jedoch eines Tages der Abschied vollzogen, trauern wir dennoch mit ihnen. Und nicht nur bei denen, die uns ein wenig ans Herz gewachsen sind. Wir betrauern jeden. Anschließend symbolisieren wir seinen Tod durch das Abbrennen einer Kerze. Ist der letzte Tropfen Wachs verbrannt und ist kreisförmiger Ruß an der Wand zu sehen, übernehmen wir auch die weiteren Schritte. Sehr selten macht das die Familie.“
„Bald sind wir alle tot“, sagte Ben, „und werden wie der durch die Gegend gefahren, der gerade an uns vorbeihuschte. Vorher will ich aber noch vor den Winden der ‘Vier Krankheiten‘ fliegen. Ich kann das, denn sie haben meine Zuversicht.“
„Ben, du bist mein Bester“, tröstete Frau Soller. „Trauen Sie sich den Jungen zu?“ wollte sie von Fionn wissen.
„Versuchen kann ich das“, versprach er, „solange mir Ben zur Seite steht. Ihnen eine weitergehende Antwort zu geben ist es jedoch zu früh.“
Die Leiterin besah Fionns Gesicht. Sie hätte sehr auf ihn geachtet, als die Bahre an ihnen vorbeirollte, sagte sie, und gemeint, seine Gedanken lesen zu können. Er dürfe ruhig zugeben, dabei an seinen eigenen Körper gedacht zu haben, der eines Tages tot über einen Flur gerollt wird. Innerlich würde er sich dabei selbst weit abseits vom Geschehen aufhalten wollen und ohne jedes Gefühl auf die Bahre mit dem Körper starren. Keine angenehme Vorstellung sei das, meinte sie, nicht wahr? So geht es jedem, dem sich zum ersten Mal der Anblick eines Kindes auf der Bahre zeigte. Und nie würde er ihn vergessen.
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Ben schien ein schlaues Bürschchen zu sein, denn während des Treffens sah er Fionn direkt in die Augen und bemerkte gleich mit feiner Stimme, dass er nicht dessen verstorbenen Sohn ersetzen könne, nicht wolle. Überhaupt und nirgendwo eine Ähnlichkeit vorhanden sei. Dass er immer ernst genommen werden möchte, bitte. Kein offenes oder verstecktes Mitleid. Lieber alles deutlich ansprechen und ruhig Gefahr laufen, einmal dabei zu verletzen. Er selbst würde das schon verstehen. „Wir sind hier nicht in einem Zoo“, betonte Ben. „Kommen, staunen und dann gehen, zählt nicht. Nur gegenseitige Achtung.“
Genau diese Art war, was ihn jedoch mit Markus so vergleichbar machte. Auch er hätte in dieser Art auf einen Fremden zugehen können. Doch gab es da einen Unterschied: Markus war geliebt worden und Fionn hoffte, dass ihm die Liebe gutgetan hatte. Vielleicht wäre Ben doch gern ein zweiter Markus gewesen, denn er hängte sich diesmal an Fionns Hand und gab sie nicht wieder frei, bis Frau Soller ihren neuen Helfer am Tor verabschiedete.
„Sie scheinen sich bereits mit Ben angefreundet zu haben. Das macht mir meine Entscheidung leichter. Kommen Sie zu uns. Leider weiß ich nicht, wie diese Ausnahme vor meinen Vorgesetzten zu rechtfertigen ist. Kommen Sie morgen, wenn Sie mir versprechen gleichzeitig die Ausbildung zu beginnen, vielleicht sogar als Einzelfallhelfer. Möglicherweise ist das ein besserer Weg. Ich wünsche Ihnen ein gutes Gelingen“, sagte sie ernst.
An der Hand von Frau Soller war Bens Weg zurück ins Hospiz nicht weit, und viel konnte zwischen ihnen auch nicht geredet werden, denn ein arbeitsreicher Tag wartete auf die Leiterin. „Was meinen Sie?“ fragte Ben nur, „wird er anfangen, wird er sich in uns hineinleben können?“
Frau Soller blieb stehen und sah auf Ben. „Du musst nur an dich denken, mein Junge. Wenn du dich mit ihm anfreunden möchtest, dann gehe die notwendigen Schritte.“
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„Ich sehe Sie seit einiger Zeit in diesem Hospiz. Wir reden zusammen, kann auch sein, dass wir uns ein bisschen kennengelernt haben. Nur waren wir noch nicht so weit, über Ihren Grund zu sprechen, hier helfen zu wollen. Sagen Sie mir: was treibt einen Gesunden hierher?“ Es war nicht das erste Mal, das Ben diese Frage stellte, nur er wusste warum. Fionn dachte nicht nach, weshalb er heute darauf eingehen wollte. Instinktiv, weil es ein Thema war bei dem man Nähe brauchte, legte er den Arm um Ben. Zu seinem Erstaunen sah er ohne Scheu auf den, der Markus so ähnlich war.
„Nicht lange ist es her, wieder saß ich nachts allein in einer düsteren Bar. Ich fühlte wie ein schrecklicher Knall die Stille durchbrach, mein Sohn noch einmal für mich starb. Ich meinte ihn in den Arm nehmen zu müssen, so wie jetzt dich. Dann, als ich glaubte, ihn zu halten, kam ein anderes Gefühl, denn er war ja bereits Meilen entfernt. Was es war, möchte ich hier, vielleicht mit deiner Hilfe, herausfinden. In meinem Traum jedenfalls verstand ich nichts. Atmete er nun, geliebt von mir, gerade noch, oder war es wahr, dass er diese lange Zeit schon nicht mehr lebte? In der nächsten Sekunde gab es ihn plötzlich gar nicht mehr. Alles war durcheinander und ich ohne Hoffnung. Nie ahnte ich so deutlich, einen Verlust erlitten zu haben der nicht vergessen sein würde.“
„Nun haben Sie mich, den kranken Ben. Das ist nicht unbedingt ein Lichtblick. Allerdings kann ich sagen, dass für mich unsere neue Bekanntschaft besser verläuft als ich zu Beginn annahm. Aus ihr kann uns eine Zeit entstehen, die auch Markus gefallen könnte. Sie helfen mir und ich Ihnen.“
„Natürlich ist es richtig zu gehen, meint man, es wäre soweit. Doch ich weiß, er musste sich noch zu jung für diesen Schritt fühlen, weil selbst Zeus mit Hore Dike an Gerechtigkeit scheiterte, sie aber zurückholen konnte. Mir steht das auch zu, aber es geht nicht. Deshalb ist Markus‘ Weg ungerecht, er hätte nicht durch mich sterben dürfen.“
„Warum ist sterben ungerecht?“
„Nicht allgemein, nur wenn es zu früh oder durch einen anderen gegen den eigenen Willen geschieht. Nicht so wie bei den Sternen, die ewig scheinen und doch sterben.“
„Wollen Sie alles glauben, was man erzählt?“
„Solange, bis das Gegenteil bewiesen ist. Außerdem ist es jetzt gleichgültig, denn ich bin ärmer ohne ihn.“
„So wie ich mich innen fühle, sterben wir nur am Abend. Ich hörte das auch von anderen. Es muss sein, weil die folgende Nacht den Zurückgebliebenen helfen soll. Sie schlafen ein nach der Botschaft, und wenn sie aufwachen zum ersten Mal nach einsamer Nacht, war Zeit sich an den Verlust zu gewöhnen.“
„Auch Gesunde sind oft krank, unsichtbar, meint man. Ich weiß, ihr anderen erkennt das. Deshalb danke ich dir für den Versuch, mich aufrichten zu wollen. Und du, was fehlt dir abgesehen von erlösender Gesundheit?“
Fionn konnte nicht ahnen, wie sehr die Frage den Jungen treffen würde. In den letzten Tagen seines Aufenthaltes in diesem Haus war für Ben Zeit genug gewesen, über Fragen wie diese nachzudenken. Dabei entstand ein Ergebnis nach dem anderen. Das Wichtigste, zu dem sich Ben danach entschieden hatte, war das Gefühl, nicht geliebt worden zu sein. Auch wenn er nicht genau wusste, was das eigentlich bedeutete. Einmal im Arm von Mutter oder Vater zu sein, gedrückt zu werden, Ohren zu finden, die zuhören. Mehr hatte er nie erwartet, nichts von dem hatte er erlebt. Dann kam der schwarze Tag. Er war noch jung, wollte nicht weg von Zuhaus, auch wenn es noch so einsam schien, und hatte doch keine Chance. Die Schwestern hier? Sie gaben sich große Mühe, das wollte er anerkennen. Doch ein einziger Besuch seiner Eltern wäre das Zehnfache gewesen. Die Trauer über diesen Verlust ging aber nicht so weit, die Eltern schon jetzt vor einem Fremden bloßzustellen und daher antwortete er: „Einen Bruder hätte ich gern gehabt. Obwohl, da ist ja noch Freund Georg. Ist ein Freund mehr als ein Bruder?“
„Freunde können Brüder sein und Brüder Freunde.“
„Sind Sie ein Bruder oder mein Freund? Und wie wollen Sie heißen?“
„Nenne mich Schlaf, denn ich bin ein Bruder aus deinem nächsten Leben.“
„Das ist ein schöner Name, Schlaf. Trotzdem werde ich Sie nicht so nennen. Kommen Sie näher, so stirbt es sich leichter. Und von den vielen Möglichkeiten, mich zu trösten, ist dies die beste.“
Bis der Abend alles in gnädiges Licht tauchte, tat Fionn wie er gebeten worden war, dann senkte sich die Nacht über beide. Einer wachte auf nach Stunden, die Wangen waren feucht. Etwas hatte den Schlaf durchdrungen und tiefe Spuren hinterlassen.
Am Morgen zog jemand an seiner Jacke, Fionn erwachte. Ben stand neben ihm und weinte still. Er erholte sich nur langsam. „Ich war in Georgs Zimmer, der ist so kalt“, stöhnte er, „aber es hätte schlimmer kommen können“, sagte er weiter, „Gott sei Dank, nur einer von euch ist tot.“ Fionn spürte einen bekannten Druck auf seine Kehle. Hand in Hand gingen sie hinüber und er sah auf Bens Freund, der sich nicht regte. Zu blass war er auch.
„Komm“, sagte Fionn, „gehen wir in deine Kajüte, stören wir nicht seine Ruhe.“
„Hätte er sich im Leben nicht ein bisschen sichtbarer machen können?“ wollte Ben wissen, „er hätte es verdient.“ Ben war noch klein, sonst hätte er verstanden, dass er nicht so weit war zu verstehen die Größe des Toten, und Fionn wünschte, dass die frei gewordene Stärke Georgs einen neuen Platz gefunden hatte. Ben würde sie brauchen, doch wild schrie der seinen Gesang: Tod, Tod, er wurd‘ nicht alt. Tod, Tod, Tod, er macht dich kalt!“
„Anscheinend hast du das Ende deines besten Freundes noch nicht richtig registriert, das wundert mich. Kommt da noch Weiteres von dir?“ Plötzlich schämte sich Fionn für die Frage, aber zurück konnte er sie nicht nehmen. Nun war es an Ben, etwas zu tun.
„Ihr hörbaren Sterne der Gerechtigkeit da oben, angehaucht aus einem trockenem Mund, dahingelegt auf den Spiegel der Eitelkeiten, ich sage euch, Freund Georg erinnerte mich an die süßen Träume des Vergessens.“
Fionn sah erschrocken auf. „Das war nicht zu verstehen. Woher hast du die Gedanken?“ wollte er wissen. Ben verspürte keine Lust auf diese ihm unverständliche Frage einzugehen. „Sie sind mir vielleicht einer! Wieso ich auf seinen Tod nicht weiter eingehe, wollen Sie doch eigentlich von mir hören! Stellen Sie in Zukunft Ihre Fragen bitte so, dass ich nichts richtig stellen muss. Sein Abgang, der geht heute an mir vorbei, sage ich, kann mich nicht mit ihm aufhalten. Und mein Tod, das wollten Sie sicher noch dringender fragen, bedeutet mir nichts weiter als den nächsten Teil meines Lebens. Ich schlafe ein, wache auf, vermisse nichts. Frage mich nur, was das für ein Moment sein wird, einzuschlafen, woanders aufzuwachen und zu wissen, einen Morgen mit Ihnen gibt es nicht mehr.“
Wirklich, Ben hatte sich schnell erholt, Fionn nicht. Ben hatte also recht gehabt, sie, die Kleinen, waren stärker als er, weil sie weniger zu verlieren haben, glaubte er, um eine Sicherheit wussten. ‚Was das hier wohl noch werden wird?‘ fragte sich Fionn. Ich wage einen Vorstoß den ich früher nie riskiert hätte, und dann diese Antwort!
Bens Äußerung war an ihm selbst nicht spurlos vorbei gegangen, und sein Gebrauch des Wortes ’Leben‘ brachte ihn in die Zeit seiner ersten Erinnerung.
„Schon auf meinem ersten Foto war mir der Mund mit einem Pflaster verklebt“, begann er laut. „Die Ärzte sagten, meine Eltern hätten alles falsch gemacht, und vom ersten Tag an blieb ich ihnen fremd. Ich glaube, es war weniger meine Krankheit, sie wollten mich einfach nicht. Ich störte. Dazu müssen Sie wissen, dass ein starkes sexuelles Verhältnis zwischen ihnen besteht. Nur um ihn zu halten, erfüllte Mutter Vater jeden Wunsch, während er jede seiner Minuten für ungehörige Spiele nutzte.
Ich sah ihn selten. Hörte ich ihn, erinnerte mich sein Schnaufen an Brunstschreie der Igel. Um mich kümmerte sich keiner. Glauben Sie auch, dass mir in dieser Situation nichts anderes übrig blieb, als mich in eine Krankheit zu flüchten? Ich schließlich so krank geworden bin, dass ich nicht lange weiterleben werde?“
„Die Nachlässigkeit deiner Eltern halte ich für eine üble Geschichte, aber ich hoffe, du wirst noch lang genug leben. Hier zu wohnen, ändert nichts an meiner Zuversicht. Stark genug deine Krankheit zu ertragen halte ich dich auch.“
Ben kannte diese Art des Selbstbetruges. Wusste man um die Wahrheit, war sie sogar erlaubt. Denn er hatte gehört wie schwer es ist, die richtigen Worte für trübe Anlässe zu finden. Deshalb war für heute Mitleid mit Fionn, der seit seinem Erscheinen in diesem ‘Haus der Vorbereitung‘ großer Spannung ausgesetzt sein musste.
„Und wie war Ihr Vater?“ fragte er.
„Wer?“
„Hören Sie schlecht? Ihr Vater! War er gut, dann reden Sie von ihm, ich vertrage das. War er schlecht, will ich nur das Notwendigste hören.“
Jahre hatte Fionn nicht an seinen alten Herrn gedacht und nun fragte ein Kind nach ihm! Vater war irgendwann umgezogen, hatte weit entfernt gewohnt, und die Aufgabe, selbst einen Sohn zu haben, hatte Fionn vollständig ausgefüllt. Vielleicht war es auch die Gewissheit, dass zwischen ihnen immer große Nähe gewesen war und sich deshalb keiner um den anderen sorgen musste. Eines Tages starb Vater. Fionn hatte das als ganz normalen Ablauf empfunden, und natürlich trauerte er um ihn. Doch Markus, der das Ende nicht annehmen und auch nicht begreifen wollte, hatte er den Verlust oft erklären müssen. Das war anstrengend, aber Fionn hatte sich dadurch mit dem Fehlen des eigenen Vaters so gut abgefunden, dass er fast dankbar für die vielen Fragen seines Sohnes gewesen war. Vielleicht lag in der Weigerung des Kleinen, den Tod des Großvaters zu akzeptieren, schon so etwas wie die Hoffnung, er selbst möge eines Tages nicht vergessen werden. Vielleicht war das alles auch ein bisschen viel von Fionn konstruiert, Ruhe und Einsamkeit lassen die seltsamsten Gedanken entstehen.
„Ben, ich weiß, dass es dir ein wenig wehtun wird, denn Ehrlichkeit besitzt auch Schattenseiten. Ich hatte eine schöne Kindheit bei meinem Vater, und über meinen Auszug aus dem Elternhaus hinaus verband uns eine tiefe Freundschaft. Mutter …“
„Von ihr will ich nichts hören!“ warf sich Ben dazwischen. „Meine hat mich verraten und Ihre wird nicht besser gewesen sein. Man sagt, alle Mütter sind gleich.“
„Nein, das ist anders. Nur weil du eine schmerzhafte Erfahrung gemacht hast, sind nicht alle schlecht.“
Mit großen Augen sah Ben auf Fionn. „Sie wollen doch mein Freund sein, ergreifen Sie darum nie Partei gegen mich!“
Fionn überlegte einen Augenblick, denn er war sicher, Bens Forderung nicht einhalten zu können. ‚Besser jetzt etwas dagegen zu sagen, als später in noch größere Not zu geraten‘, dachte er. „Ben, du musst die Einstellung anderer nicht teilen, ihnen aber zubilligen. Seine eigene Wahrheit verbergen zu müssen, ist keine sichere Grundlage für Freundschaft.“
„Ich bleibe bei der Meinung über meine Mutter!“ Entschlossen stampfte Ben mit einem Fuß auf.
„Ich ändere meine Meinung auch nicht“, sagte Fionn, der sicher war, Bens weitere Gedanken lesen zu können. „Wir werden sehen, wie es weitergeht. Nur, vorsichtig! Uns liegt ein spitzer Stein im Weg.“
*
„Liebe Schwestern, ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ich meinen kleinen Freund als Belohnung in das Café nebenan einladen möchte. Gestern gab es eine kleine Meinungsdifferenz zwischen uns, aber dann waren wir sehr vernünftig und konnten friedlich auseinander gehen“, hatte Fionn in das Dienstzimmer gerufen.
„Möchtest du Eis, Kakao, Kuchen?“ wandte er sich an Ben.
Dass er wieder einmal in ein Fettnäpfchen getreten war, bemerkte Fionn, als er sich mit Ben in Richtung des Ausganges entfernen wollte. Für einen kleinen Streit hatte er nämlich mit seiner Ankündigung zwischen den Damen gesorgt. „Um Gottes Willen“, stöhnte ihm jemand hinterher, „der Junge ist schwerkrank. Wie können Sie auf die Idee kommen, ihn aus der Sicherheit unseres Hauses zu entführen?“
„Warum denn nicht!“, ging eine zweite dazwischen, die Fionn noch unbekannt war. „Alles was den Jungen glücklich macht, sollten wir ihm erlauben. Was im Café passieren könnte, ist auch hier möglich. ,Er ist bei uns, um zu sterben. Gehen Sie ruhig“, sagte sie zu Fionn, „und achten sehr auf ihn. Ben hat unser Haus noch nie verlassen. Enttäuschen Sie uns nicht.“
„Wer sind Sie?“ fragte Fionn erstaunt.
„Ich bin Hera. Weil mich mein Name verpflichtet, bin ich bei den Kindern. Jemand muss ihnen Mutter und Vater ersetzen. Sind die Kinder erst einmal hier, werden sie oft im Stich gelassen und sind daran so unschuldig. Auch Ihr Ben leidet unter dem Verlust. Nun gehen Sie schon, wir wollen unsere Zeit nicht verschwenden.“
Beide saßen im Eiscafé, der Lärm einer großen Anzahl von Kindern zog herüber und störte ihre Unterhaltung. „Was meinten Sie vorhin mit ‚Meinungsverschiedenheit und Belohnung?“ wollte Ben wissen. Zuvor hatte er ausweichend auf Fionns Frage geantwortet, ob sie besser woanders hingehen sollten? Schließlich sei Lärm, wie auch die extreme Ruhe im Hospiz, nicht für jeden zu ertragen.
„Lassen Sie, der Trubel ist wie das Leben, zu laut ist er mir auch nicht. Wir werden ja kaum den ganzen Tag hier bleiben“, hatte Ben entgegnet. „Wollen wir endlich bestellen, anstatt uns mit den Kleinen zu beschäftigen?“ fragte er darauf.
Fionn lachte. „Du bist hungrig, nicht wahr? Ich bin ein schöner Ersatzvater. Ich schlage dir Eis oder Kuchen vor, und du hast vielleicht noch gar nichts gegessen. Was möchtest du? Ein richtiges Frühstück oder doch Kuchen, Eis,?“
„Von jedem.“
„Kann ich den Ober rufen?“
„Gern, aber ich will erst in die Karte sehen.“ Ben blätterte durch die vielen Seiten und fand schnell etwas Passendes. Fionn suchte darauf mit den Augen nach dem Herrn in Schwarzweiß und bat ihn heran.
„Herr Ober, bitte ein Mozart– und ein Bach Frühstück für den Herrn“, drängte sich Ben vor.
„Gern, der junge Herr. Sonst noch einen Wunsch, der Herr?“
„Danke. Ich kann Ihnen nicht von allen Träumen erzählen.“
„Viel Dank, der Herr. Einen Moment nur, der Herr!“
Als ihre Bedienung gegangen war, sagte Fionn zu Ben, dass er bitte dem Herrn nicht so hinterher starren möchte. Der sei halt anders als sie. Ben konnte trotzdem nicht aufhören, dem merkwürdigen Wesen nachzusehen. „Aber wenn er doch so ganz anders aussieht? Bleich wie mein Bettlaken, mit Halskettchen, Ringen an Ohr und Fingern, dazu geschminkte Lippen. Wie merkwürdig er spricht und geht! Da muss man doch hinsehen.“ „Man muss eben nicht“, sagte Fionn.
„Bitte noch zwei Tee! Einen schwarzen für den Herrn und einen für mich in grün“, rief Ben dem Ober nach.
Der kehrte zurück und fragte mit verständnisloser Miene: „Sie wollten einen Hamburger?“
„Tee für zwei hatte ich bestellt“, antwortete Ben.
„Entschuldigen Sie. Ich dachte noch an Ihre Bestellung, denn ich habe es nicht so sehr mit den Noten. Möchten Sie Tomate oder Schinken?“ „Ich will ein Mozart– , ein Bach-Frühstück und zwei Tee!“
„Ich entschuldige mich noch einmal, aber ich sagte Ihnen doch, dass es nicht jeder so mit den Noten hat. Also, wollen Sie nun Tomate oder Schinken?“
„Weder für Bach, noch für Mozart stehen Tomate oder Schinken auf der Karte!“
„Ich habe es nicht so mit den Noten!!“ kreischte der Ober.
Ben war irritiert und bemerkte nicht, wie sich der Ober aufgeregt entfernte. „War das inszeniert?“ fragte er nur.
„Lass uns das Thema wechseln, Menschen sind so oder anders.“
„Dann beantworten Sie doch meine Frage nach Meinungsverschiedenheit und Belohnung!“
Fionn war beruhigt, den Spagat geschafft zu haben. „Der gestrige Tag war sehr interessant. Unser Gespräch hatte mich dazu verleitet, im Haus noch einmal über meine Bemerkung nachzudenken. Jeder hätte die Meinung des anderen zu Mutter, Vater und Freundschaft übel nehmen können, nicht wahr? Dafür, dass es nicht so gekommen ist, wollte ich uns belohnen“, sagte er. „Vielleicht waren es im Ganzen ein, zwei Stunden, die ich darüber nachdachte. Dabei bin ich wieder in meine eigene Situation hineingestolpert und begann zu ahnen, durch deine Hilfe eine Erklärung für sie gefunden zu haben. Ich verstand, wegen meiner Schuld an Markus‘ Tod zu einem zweiten Zedekia geworden zu sein. Du weißt, wer das war? Zedekia war König eines alten Volkes und wollte sich von seinen Gegnern befreien. Dazu riskierte er eine Menge, er verstieß gegen alle Verträge – und verlor. Zur Strafe tötete man seine Söhne. Er selbst wurde geblendet und anschließend verjagt. Auch ich verspürte eine Situation, aus der ich mich befreien musste. Was dazu führte, Markus zu verlieren und wie Zedekia große Schuld auf mich zu nehmen. Nun fühle ich mich geblendet, weil das wahre Leben nicht mehr zu erkennen ist. Ständig denke ich an meinen Sohn und an böses Versagen. Mein inneres Auge sieht nur noch eine einzige Welt. Sie, die mächtig wie eine riesige Maschine über alles hinweg rollt, nur eines kennt: vorwärts! Ich fühlte mich diesem Druck nicht mehr gewachsen. Als ich meinte, die Bedeutung der Worte Zedekias: ‘Gott ist meine Gerechtigkeit‘ zu verstehen, war der letzte Zweifel beseitigt. Ja, ich bin ein zweiter Zedekia geworden! Wie er befinde ich mich eingemauert in einer selbstverschuldeten Situation.“
„Was bedeutet das für Sie?“