Leben in Venedig - Werner Szczepanski - E-Book

Leben in Venedig E-Book

Werner Szczepanski

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Beschreibung

Dies ist das Buch Venedigs. Es ist seiner Geschichte, der Kunst und jenen gewidmet, die sich jeden Tag für die Erhaltung ihrer wunderbaren Stadt einsetzen, keinen Aufwand und kein Risiko scheuen. Neben den Millionen, die jedes Jahr die Stadt der Städte besuchen, gibt es Einwohner, die, von den Anfängen der einmal drittgrößten Stadt Europas, bis heute zu ihr stehen und nirgendwo anders leben können. Manchmal gerät ein Mensch in ihre Hände, der sich, wie Steffen bei seiner Arbeit am Palazzo Sonnenschein, von dieser Liebe anstecken lässt und der Stadt in gleicher Weise verfällt. Wenn er dazu von der Geologin Catarina zu den Sehenswürdigkeiten geführt wird, Einwohner mit Herz und Verstand kennenlernt, ist es eine wunderbare Möglichkeit die Serenissima aus den unterschiedlichsten Ebenen auf sich wirken zu lassen. Letztlich verwundert es nicht, dass er im Verlauf seines Aufenthalts von zwei Jahren Handwerkstechniken und Künstler kennen- lernt, Malereien in den Museen und Scuole Grande bewundert, Konzerte im Lo Squero di San Trovaso auf San Giorgio, im La Fenice und an Vivaldis Wirkungsstätte erlebt. Selbst wenn die Stadt nur für Tage verlassen wird, sein Herz bleibt zurück.

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Inhalt

WasserkraftPonte della donna onestaLagune und CampanileSteffen und Del PonteSpundwandLepantoVivaldis Violine und Pink FloydPalladio und RedentoreSan Michele und testa d’oroScala d’oro und Großer RatMoeche und Casa di TintorettoArsenalLa FeniceCastradinaEngelsflug und caffè FlorianBlattgoldGhettoMerluzzoSchmetterlingeGuggenheimErdbebengeschichteJulios Bar und Bertelli-TintorettoStanze del vetro und Lo squeroEgidioMariano FortunyPunta della Doganaaqua altaScuola Grande dei CarminiMarciana und ZeccaLazzaretto vecchioNO GRANDI NAVICodussi-Vendramin-CalergiZenobioAbschlussfeierBru ZaneErasmo

Wasserkraft

Nach dem Salz der nahen Adria duftend war der Morgen, auch kühl. Lucio saß vor seiner Bar und starrte in den wolkenlosen Himmel einer bereits erwachenden Stadt. Wieder hatte ein Tag seines zur Ruhe gekommenen Lebens begonnen. Der Innenhof war gepflegt, sein Hotel betrieb er ohne dass es in irgendeiner Weise anstrengte, die Bar bereitete nur Vergnügen. Eine gewisse Zurückhaltung, eine, die er immer verabscheut hatte, war seit langem im Begriff, sich seine verbleibenden Jahre anzueignen. Andere Menschen wären darüber zufrieden, Lucio saß da und versuchte, sich den Kummer nicht ansehen zu lassen.

Sein Angestellter, der ihn schon einige Zeit an den Wochenenden vertrat, antwortete gerade bei der Frage, wie es seinem Chef gehe, dass er im Zimmer liege und seine Krankheit pflege, die er seit dem Fortgang seines Sohnes zu haben glaube. Dann schüttelte er den Kopf und kaum waren seine Worte zu verstehen, als er sagte: „So ein stabiler Mann ist er, und heute wieder diese Schwäche! Lebendig wünsche ich mir seinen Tag, unwirklich nur die Nacht.“

*

Alles andere, das bald sein Leben betreffen sollte, begann mit einer ziemlich überraschenden Feier in einem der italienischen Lokale Berlins. Tage zuvor wollte Steffen im Büro ’Wasserkraft’ allgemeine Langeweile nicht länger verbergen und sah auf. Ihm gegenüber saß sein Chef, so ein Typ war der, dem man nicht ansieht, was er denkt. Steffen war erst kurze Zeit bei ihm angestellt und kannte kaum die Kollegen, noch weniger wusste er über seinen Vorgesetzten. Um mehr zu erfahren musterte er den Chef diskret, manchmal hatte ihm diese Taktik große Vorteile beschert.

Auch Herr Kaufmann beobachtete jemanden, Steffen, ihm schien aus einem Grund, den er noch nicht verstand. Später hat er einmal berichtet, dass er über den Tisch zu ihm gesagt hätte: „Auch wenn hier alles lustig zugehen würde, bemerke ich doch, dass Sie mich pausenlos fixieren. Warum?“

*

Kaufmann saß in seinem Büro und starrte aus dem Fenster, er zermarterte sich den Kopf wie an die noch fehlende, aber überlebenswichtige Zahlung der Konkurrenzfirma Brand endlich heranzukommen wäre. Außer der unsicheren Möglichkeit, mit dem Sachbearbeiter seiner Hausbank darüber zu reden, fiel ihm nichts ein. Er griff nach dem Hörer und wählte auswendig die elfstellige Nummer, verlangte nach Herrn Cramer.

„Lieber Herr Cramer, seit langem kennen Sie mich, das Büro und meine finanziellen Möglichkeiten. Damit wissen Sie, dass ich mir keinen weiteren Fehltritt erlauben kann. Sie wissen auch von der erheblichen Summe, die mir Fa. Brand schuldet. Deshalb brauche ich Ihren Rat, wie weiter mit der Firma umzugehen ist. Soll ich klagen oder verzichten, weil ohnehin nichts zu holen ist? Sie kennen doch auch das Büro, was soll ich tun?“

„Herr Kaufmann, das ist Ihr fünfter Versuch, mir eine Aussage zu entlocken. Ich würde gegen die Prinzipien unserer Bank und meiner Berufsauffassung verstoßen, wenn ich darauf eine Antwort geben würde. Im Allgemeinen gesprochen ist es klüger zu nehmen was möglich ist. Natürlich stellt sich das später nicht immer als der bessere Weg heraus, aber in Ihrem Fall? Sehen Sie mal, ich habe zufällig eine Aufstellung von Zwangsversteigerungen in der Tagespresse bei der Hand. Lesen Sie doch auch mal darin. Oft entdeckt man den Namen eines Schuldners, dann kann man handeln. Nicht, dass Sie zu den Terminen gehen müssten, und nicht immer bringt es den gewünschten Erfolg.“

*

Im Büro war es, wie schon in den vergangenen Monaten, außerordentlich ruhig gewesen und die sonst regelmäßig eingehenden Zahlungen schienen weiter zu stocken. Der Firma ging es nicht gut. Außerdem hatte die Sommerhitze alles und jeden fest im Griff, auch waren angekündigte Aufträge ausgeblieben und so tat man nichts besseres als faul herumzusitzen. „Wenn wir schon nicht arbeiten, könnten wir wenigstens feiern“, sagte einer. Ob es denn einen Grund gäbe, fragte der Nächste.

„Wir finden einen“, sagte ein anderer.

„Welchen?“ fragte der Chef. Und dann sagte er noch, Steffen solle sich etwas einfallen lassen. Als ob man seinem Chef einen Grund nennen sollte, den es nicht gibt.

„Wie lange existieren wir eigentlich?“, meldete sich Paul, der mit schräger Mütze.

„Das könnten fünf Jahre sein“, gab der Chef zurück. „Wäre das ein Grund, um zu feiern?“

„Warum nicht, nächste Woche Dienstag im La Rocca? Kommt jemand mit?“, fragte Paul, „wir könnten über Interessantes reden.“

„Natürlich“, sagte Steffen, „worüber?“

Paul legte einen Finger auf die Lippen und schwieg. Bevor er sich vorsichtig umsah, verwandelte sich sein Gesicht, er lächelte sogar.

„Es wird dir gefallen.“

In den nächsten Tagen machte sich Steffen keine weiteren Gedanken, Paul war weit weg. Der Dienstag kam, niemand arbeitete, gemeinsam gingen die Angestellten am Abend ins La Rocca. Es wurde einer dieser unsympathischen Abende, weil sie ein reines Männerbüro waren und auf Geschichten über Frauen wollte sich niemand einlassen. Auf Dauer langweilen sie. Immer steht der missverstandene Ehemann mal vor der eigenen Frau, mal vor der angeblichen Geliebten. Mehr als Frauengeschichten wusste jedoch nie einer und länger als bis Mitternacht zu bleiben, so hatte Steffen bereits zu Beginn verkündet, stand ihm nicht der Sinn.

Kaum dass die Zwölf herangerückt war, öffneten sich die Türen des Lokals, zwei finster aussehende Burschen stürmten herein. Sie sahen sich suchend um, entdeckten den Chef und selbst, als schon viele Gäste erschrocken aufsprangen gingen sie gelassen auf ihn zu und ließen aus ihren Bewegungen eine faszinierende Bedrohlichkeit aufsteigen. Als er von ihnen hochgerissen wurde, war sein Gesicht schon mächtig bleich und er zappelte ein wenig zu verrückt. Gegen die rohe Kraft zweier gesunder Männer war Herr Kaufmann, obwohl auch nicht gerade ein Schwächling, jedoch machtlos. Die einseitige Schlägerei dauerte keine Minute, da war er umgefallen und beide Herren hatten, wieder ganz in Ruhe, das Lokal verlassen. An der Tür hatte sich ihm einer der Schläger noch einmal zugewandt, mit seinen Händen formte er dabei eine Gestalt, die nicht eingeordnet werden konnte. Etwas wie eine Banane, vielleicht auch ein langgestrecktes Boot, hätte es gewesen sein können. Viele Gedanken machte sich Steffen nicht, war doch Kaufmann der Betroffene. Doch sein Chef schien merkwürdig ruhig geblieben und ob er herausgefunden hatte, was die Handbewegung hätte bedeuten können, wollte Steffen nie erfahren.

Wenig später traf der Krankenwagen ein. Schlecht sah Herr Kaufmann aus, als er an den Kollegen vorbei getragen wurde. Man sah, dass er große Schmerzen hatte. Trotzdem blickte er zu allen auf und versuchte etwas zu sagen. Es kam so kläglich heraus, dass Steffen ihn nicht verstand und im Gegenzug glaubte, Tröstliches von sich geben zu müssen.

„Vielleicht wäre es besser gewesen, Ihnen zu helfen?“, sagte er etwas verschämt. Dann wiederholte er vor den Kollegen sein Angebot, aber ein ernst gemeintes Wort war nicht dabei. Als die Sanitäter ihn auf einer Trage balancierend den Ausgang passierten, hielt sich Herr Kaufmann an der Tür fest und ließ nach Steffen rufen. Ein wenig erstaunt ging der zu ihm und konnte schwach hören: „Sorgen Sie sich nicht wegen meines Äußeren. Die unbedeutenden Blessuren sind nur Folgen der Anzeige gegen Herrn Brand. Bisher weigerte er sich, meine Rechnungen anzuerkennen, da sah ich keine bessere Möglichkeit, an mein Geld zu kommen. Ich beginne auch mal Neues, ohne zu wissen wie es endet. Der Kollege wird sich noch wundern, und Sie werden mir dabei helfen. Ich weiß nicht wie, aber wir brauchen das Geld. Hier, und genau in einer Woche sehen wir uns wieder. Vergessen Sie das nicht.“ Dass ein Mensch in seinem Zustand eine Woche nach vorn sehen konnte, schien Steffen unerklärlich. Immerhin, Herr Kaufmann war der Chef.

*

Steffen wollte freundlich sein und ging zum verabredeten Zeitpunkt ins La Rocca. Am Nachmittag aus dem Krankenhaus entlassen, wartete Kaufmann schon, und kaum saß Steffen, versuchte der Chef auf seinen Angestellten einzureden. Nur unterbrochen durch einen Ruf an den Ober: „Zwei Wein, bitte.“ Und zu Steffen gewandt: „Das ist Ihnen doch recht?“

„Immer!“ gab der zurück.

*

„Am Abend vor einer Woche hatte ich überlegt“, begann Herr Kaufmann ohne jede Umschweife, „ob Sie der Richtige für eine besondere Aufgabe wären.“ Das klang so frisch, als hätte er nicht sieben Tage im Krankenhaus verbracht. „Ich weiß“, fuhr er ungerührt fort, „Sie sind noch neu bei uns, aber gerade das macht es mir leicht, über ein kleines Geschäft zu reden. Wissen Sie, eines Tages bin ich nicht ganz zufällig zu einer Versteigerung gegangen. Über einem Geschäftspartner, dem Herrn Brand, war die Welt zusammengebrochen und auch mir schuldete er eine Menge Geld. Ich dachte, vielleicht lässt sich auf dem Umweg einer Versteigerung seiner Besitzungen noch etwas für mich herausschlagen und saß unaufgeregt und ohne große Hoffnung in der ersten Reihe. Im Vorbeigehen erkannte mich Herr Brand, er würdigte mich aber keines Blickes und schien sich bereits in einer Ebene zu befinden, die nichts mehr mit meiner gemein hatte.

Mit den üblichen langweiligen Hinweisen auf den weiteren Verlauf, eröffnete der Richter die Versteigerung. Ich erinnere mich noch an die gespannte Stille, als langsam die wertvolleren Dinge eines abgewirtschafteten Unternehmens aufgerufen wurden, aber so, als würde jeder nur auf Bestimmtes warten, bot niemand aus der langen Liste des Inventars auch nur die kleinste Summe. Irritiert sah sich der Richter im gut besuchten Saal um, niemand reagierte. Nur meinem ehemaligen Geschäftsfreund traten allmählich Schweißperlen auf die Stirn. Ich saß ruhig auf meinem Stuhl, hatte ich doch keine Ahnung, was an weiteren Wertgegenständen aufgerufen werden könnte. Als der Richter erwähnte, dass er jetzt die letzte Position aufrufen würde, war ich enttäuscht. An den Unersättlichen rechts und links von mir war keine Veränderung abzulesen. Trotzdem schien mir, eine kaum weiter auf die Spitze zu treibenden Spannung würde in der Luft liegen.

Jetzt räusperte sich der Richter kurz und ohne seine Stimme zu heben, erwähnte er, dass sich die folgende Ankündigung auf ein Gebäude im Ausland beziehen würde. Die Ersten sprangen auf und riefen sich verschiedene Informationen zu. Keine verstand ich, aber die anderen Besucher schienen darauf gewartet zu haben, nervös nestelten einige an ihren Jacken herum. Daraus vermutete ich, dass sie im Auftrag von Herrn Brand anwesend wären, um den durch den Richter vorzustellenden Anfangspreis in die Höhe zu treiben, oder einfach nur bessere Informationen als ich hatten.

Doch auch ich reagierte wie elektrisiert, als ein Palazzo im Stadtgebiet Venedigs aufgerufen wurde. Zuvor hatte der Richter betont: ‚... ‚dass aufgrund eines Wunsches des derzeitigen Eigentümers, der außergewöhnlichen Lage im Ausland und der besonderen Besonderheit des Objekts wegen, zuvor kein näherer Hinweis erfolgen durfte und auch keine Einzelheiten zum Zustand des Gebäudes erteilt werden könnten. Lediglich die Lastenfreiheit von Grundstück und Haus würden bestätigt werden. Zusätzlich könnte nach erfolgreicher Versteigerung die Adresse bekanntgegeben werden‘, dabei lachte er ein wenig.“

Herr Kaufmann machte eine kleine Pause, dann rief er nach der Bedienung: „Herr Ober, zwei Wein, bitte!“, und wandte sich gleich wieder an Steffen.

„Nun hob der Richter seine Stimme und bat um das erste Gebot. Es folgte nicht die kleinste Bewegung, nicht das leiseste Geräusch. Apathisch lag der mittelalterliche Saal im schwachen Licht des frühen Vormittags. Geduldig wartete der Richter eine ganze Minute, nichts tat sich. ‚Er wisse gar nicht, warum so viele Leute hier wären. Weder er noch die anderen würden sich mit Häusern oder Immobilienregeln in Italien auskennen. Geschäftsleute sind wir‘, flüsterte ein Besucher in der Stille einem Nachbarn zu, der sich in der Reihe vor mir aufhielt. ‚Trotzdem, ich sage mal eine Summe von der ich weiß, sie bei einem Zuschlag möglicherweise auch verschmerzen zu können.‘ Und er nannte eine lächerliche Summe, von der ich annahm, der Saal würde in Gelächter ausbrechen. Niemand lachte, nur ich!

‚Wollen Sie ein bisschen höher bieten?‘, fragte mich sofort der Richter und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in meine Richtung. ‚Wieso nicht?‘ entgegnete ich überrascht und ziemlich aufgeräumt.

‚Nun gut‘, so weiter der Richter, ‘wenn die Versteigerung nicht anlaufen will, und jetzt setze ich Ihr Einverständnis voraus, Herr Brand, wage ich noch einmal den Hinweis, dass sich Ihr Gebäude fast im Zentrum Venedigs, neben einem kleinen Canal befindet.‘

Herr Steffen, nicht oft in meinem Leben bin ich innerlich errötet, an dem Tag schon. Was willst du mit einem Palazzo, der wahrscheinlich nur noch aus morschen Balken besteht?, beschimpfte ich mich augenblicklich – und bot Zehntausend mehr. Also zwanzigtausend für einen ruinierten Palazzo in Venedig!

‚So wenig?‘, fragte der Richter. ‚Will denn niemand mehr als diese lächerliche Summe bieten?‘

Ich war mir sicher, dass jetzt das allgemeine Feilschen beginnen würde und sah zuversichtlich nach vorn. Immer in der Hoffnung auf das höhere Angebot eines anderen Bieters, welches mich sogleich von der neuen Last befreien würde. Im Saal blieb zunächst alles ruhig. Dann lachten einige und flüsterten, dass da ganz bestimmt jemand hereingefallen sei. Niemals hätte einer von ihnen einen einzigen Penny für die vermutliche Ruine geboten. Vielmehr hätte sie die Freude an Niederlagen anderer hierher getrieben. Jeden Tag kann man das bei Versteigerungen erleben. Die anderen glauben, dass ihnen wenigstens einmal im Leben geschenktes Glück in den Schoß fallen würde, aber bestimmt nicht bei mir. Ich wusste jedoch von einem Vorteil, den die anderen nicht einmal ahnen konnten. Natürlich hatte ich bei der Erwähnung Venedigs durch den Richter den Palazzo mit viel Wasser und Canälen in Verbindung gebracht und deswegen ist es nicht schwer gewesen, die fachlichen Kenntnisse meines Büros auf diesem Gebiet als positiven Aspekt in mein Lotteriespiel einzubringen. Unterlegen fühlte ich mich deshalb nicht gerade. Außerdem, nichts anderes würde ich für die von mir in Herrn Brands Unternehmen gesteckte Summe erhalten können. Einen Palazzo in Venedig besitzen? Das hört sich gar nicht so schlecht an.

Herr Ober, zwei Wein, bitte!“, die Stimme Kaufmanns klang mutiger geworden - und sehr trocken.

‚Zum Ersten, zum Zweiten‘, jetzt schnaufte der Richter aufreizend und zögerte endlos, ‚zum Dritten!‘ Peng, der Hammer war niedergesaust. Ich schien Besitzer eines nebulösen Hauses in Venedig geworden zu sein und trotz meines vermeintlichen Vorteils hatte ich mich vor mir selbst erschrocken. Betrübt sah auch der Richter auf. ‚Mann, das muss nicht unbedingt Glück bedeuten, dass Sie so billig zu Ihrem Haus gekommen sind. Ich drücke Ihnen trotzdem die Daumen. Oder wie man in Italien sagen würde: ‘Im Maul des Wolfes!‘ Er stand auf, warf seinen Talar in der nachgezeichneten Form des Canal Grande auf den Richtertisch und mühte sich in seinen Konferenzraum. Er lachte und lachte, schadenfroh, wie ich zu hören glaubte! Niemand achtete auf Herrn Brand, der ohnmächtig auf seiner Bank lag. Auch ich nicht und, zu meiner Schande muss Ihnen der Herr Kaufmann heute gestehen, hatte er ihm einen unruhigen Schlaf gewünscht.“

Ebenso unverständlich wie der erwähnte Richter Steffens Chef betrachtetet haben wird, sah der jetzt Steffen an, denn er schien mit seiner Geschichte irgendwie ins Stolpern geraten zu sein. Steffen, der ihm untergebene Herr Petersen, war leider schon nicht mehr ganz beim Thema. Zu dieser ungewöhnlichen Geschichte kann man sagen, dass in den Wochen zuvor viel an neuen Dingen auf Steffen eingestürmt war. Er dachte an den Ärger in seinem alten Büro, die umständliche Suche nach einem neuen, der eingeschränkte Wohnungsmarkt, der Umzug, die Einarbeitung in neue Aufgaben. Das alles hatte eine übermäßige Sättigung seiner Wünsche nach neuen Erlebnissen eintreten lassen, und nun war er im Begriff, dem Ganzen die Krone aufzusetzen. Denn man konnte schon erkennen, dass sein Chef mit seiner Erzählung etwas ganz Bestimmtes erreichen wollte. Gleichzeitig ahnte Steffen, dessen Absicht nicht widerstehen zu können.

*

„Nach meiner Urteilsverkündigung saß ich, betäubt und angefroren wie ein sterbender Eskimo, auf der Anklagebank“, stöhnte weiter Herr Kaufmann, „doch berührte mich merkwürdigerweise mein neues Schicksal nicht noch ärger, oder ich begriff es nicht. Ich saß da, musste viele Hände schütteln, die von vorgespieltem Neid umhüllt waren, mich leider auch bei freundlicheren gegen einen gewissen Spott wehren. Dann trat Herr Brand vorsichtig auf mich zu und gleich wurde mir unwohl. Nicht, dass mir schien, er wolle mich in ein Gespräch verwickeln, nur musste offensichtlich unbedingt heraus, was ihn sonst zu sehr bedrückt hätte. ‚Ich wünsche Ihnen nicht‘, brachte er mühsam hervor‚ einmal in meine Lage zu geraten und das sich die ganze Welt gegen Sie wendet. Natürlich trage ich an vielen Schwierigkeiten schuld, aber so viele Fehler wie ich begangen habe, kann im Normalfall kein Einzelner begehen. Das absolut nichts mehr im Reinen ist, mir ist es gelungen. Zum traurigen Schlusspunkt wurde heute die Übergabe Ihrer lächerlichen zwanzigtausend für meinen verwehten Traum. Ich wünsche es Ihnen wirklich, dass er für Sie zu einem besseren wird. Sie sollen jedoch nicht ewig glücklich mit ihm sein.“

Jeder, der es wollte, hatte die Bitterkeit aus seinen Sätze herausgehört, trotz der vermeintlich noblen Geste. Doch ist Trost zu spenden in Gerichtssälen nicht üblich und vielleicht auch in Anbetracht begangener Taten nicht vorstellbar. Den eben Verurteilten hätte es jedoch gefreut und ihm neuen Mut gegeben.

Herr Brand aber stand nun betreten wie ein kleines Kind vor dem riesigen Pult des Richters, möglicherweise hoffte er auf ein Wunder. Mir erging es nicht anders. Weder bekam ich einen Ton heraus, noch zeigte ich ein Gefühl wegen der Übernahme des Palazzo und dem wahrscheinlichen Verlust meines dringend benötigten Geldes.

‚Der Kaufmann ist den Palazzo nicht wert, er ist ihn nicht wert‘, flüsterte Brand mir immer wieder zu. Als seine Drohungen intensiver zu werden drohten, schüttelte er sie jedoch von sich. Nur ’er ist es nicht wert’ blieb übrig und muss sich bei ihm zu den skurrilsten Gedanken ausgeweitet haben. Als wäre er nie in diesem Saal gewe

sen, verschwand der Unglückliche plötzlich ohne ein weiteres Wort und wurde auch woanders nicht mehr gesehen.

‚Du bist Besitzer eines venetischen Palazzo‘, schoss es mir nach einer halben Stunde der Ruhe erneut durch den Kopf, ‚das ist eigentlich ein Grund, sich zu freuen.‘ Lediglich der Gedanke nichts Genaueres zu wissen, stimmte mich unsicher und so beschloss ich, mich dieser unheimlichen Atmosphäre wegen so schnell wie möglich um einen Flug zu bemühen. Sicher werden mir besser Infor mierte sagen wollen: hat man sich aus bestimmten Gründen vor Gericht vertan, wirtschaftlichen zum Beispiel, ist es möglich, von der nachfolgenden, schriftlichen Übertragung zurücktreten. Das hätte jedoch bedeutet, anderen einen positiveren Blick auf meinen finanziellen Status vortäuschen zu müssen. Weder wollte ich das, noch passte es irgendwie zu meinem ehrlichen Charakter.“

„Herr Ober, zwei Wein, bitte!“

„Nein, Chef, bitte nichts mehr. Mir dreht sich schon alles“, brachte Steffen gerade noch einwandfrei heraus und fürchtete bei weiterem Zuhören größere Probleme. Herrn Kaufmann interessierte das nicht.

„Herr Ober, zwei Wein, bitte!“

Dann drehte er sich wieder seinem Angestellten zu und fuhr fort: „War schon der Flug zum Airport Marco Polo kein Vergnügen, so kann ich die wilde Fahrt des Wassertaxis durch die überquellenden Wogen in die Innenstadt nur als Katastrophe bezeichnen. Dazu bleischwerer Himmel mit feinem Nieselregen, der an einen Vorhang erinnerte. Lust, noch am gleichen Abend nach meiner Neuerwerbung zu sehen, hatte ich nicht mehr. Mein Hotel Rialto war ein erster Lichtblick, aber das frühe Aufstehen am Morgen und die Beschwernisse der Anreise hatten mich gleich nach der Ankunft müde ins Bett fallen lassen.

Nach einer kurzen Nacht liebe ich einen lebhaften Morgen, doch an diesem Tag weckte mich unbekannte Stille. Nicht, wie ich es gewohnt war, drang der Lärm unzähliger Autos, der Hufschlag gerittener Pferde des nicht weit entfernten Gestüts, gar die Rufe unerzogener Schulkinder an mein Ohr. Nur diese unangenehme Stille war zu hören. Sofort betete ich, mich schnell daran zu gewöhnen, wollte aber nichts überstürzen.

Deshalb beabsichtigte ich, in aller Ruhe zu frühstückten. Übrigens, diese berühmten, leicht warm gebutterten croissants, gefüllt mit roter Marmelade und ein großer cappuccino sind genau das, was ich erwartet hatte. Ich wünschte, hier etwas gleichwertiges zu finden. Das Wetter war gut und nur eine überschaubare Gruppe von Touristen, jedenfalls am frühen Morgen war es so, ging an den Fenstern des Speiseraums vorbei.

Nach einem vorsichtigen Blick auf Rialto und seine weltberühmte Brücke war ich jedoch weit von jeder bildhaften Vorstellung entfernt, was aus meinem Tag werden könnte. Zugleich schloss ich meine überraschten Augen, die Stadt hatte schönstes Lippenrot für mich aufgelegt, im Canal floss Wasser von einer Transparenz, wie ich sie nicht erwartet hatte. Am Himmel stand zu dieser Uhrzeit bereits eine mild lächelnde Sonne. Nichts erinnerte an den gestrigen Tag. Auch bohrte die Erinnerung nicht mehr, dass ich mir gern die Reise erspart hätte.

Nach ein paar Minuten der Besinnung suchte ich nach meiner Brille und zuckte, nach einer genauen Betrachtung meiner direkten Umwelt, schon vor der Masse der nun vorbeiströmenden Menschen zurück. ‚Schon um diese Zeit?' fragte ich mich.

Gleich ihnen packte mich eine rastlose Abenteuerlust. Die angebotene Erweiterung des Frühstücks lehnte ich ab, das helle Brot reizte mich nicht, doch gegen einen weiteren guten caffè hatte ich nichts einzuwenden. Gemeinsam mit meiner besten Laune kämpfte ich mich anschließend durch neue Menschenmengen, die sich auf den nun zu schmalen Wegen breit gemacht hatten. Wahrscheinlich allein um mich zu sehen.

Nur mit einem einfachen Stadtplan ausgestattet, den ich an der Rezeption hatte mitgehen lassen, gelang es mir in kurzer Zeit, die Adresse meiner Neuerwerbung auszumachen und eingeklemmt zwischen Rio de l'Alboro und dem Campiello Traghetto fand sich das Haus im Sestiere San Marco. Gut, dachte ich während des Weges dorthin, das scheint hier nicht das vornehmste Quartier zu sein. Vielleicht entschädigt dich dein Palazzo und lächelte hoffnungsvoll in mich hinein. Dann stand ich vor ihm, sah ihn eingepfercht zwischen zwei dreistöckigen Palazzi. Klein und schwach war er, und ich begriff nicht gleich, wie die vielen dunklen Flecken auf meine Brille gekommen sein könnten, schlug nach dem Verstehen augenblicklich die Hände über dem Kopf zusammen. Nie hatte ich ein Haus mit ähnlich gravierenden Schäden schon an seinen Außenflächen gesehen. Eine kleine Ahnung, warum mich bei der Versteigerung niemand hatte überbieten wollen, kroch in mir hoch. Vielleicht war ein Detektiv beauftragt gewesen, den Richter wegen der Adresse zu bestechen, anschließend reiste er hierher, das Objekt zu fotografieren, um daraus eine Vorhersage für notwendige Sanierungsmaßnahmen abzuleiten? Vielleicht hatte der Scout auch nur gesagt, dass man, gleichgültig wie der Kaufpreis wäre, besser die Finger vom Erwerb lassen sollte. Leicht können Renovierungskosten und rechtliche Vorgaben einen neuen Eigentümer überfordern.

Die auf der Rückseite des Hauses in einem Canal befindliche Außenwand anzusehen, traute ich mich nicht sofort. Viel Mut wäre dafür erforderlich gewesen. Wichtig empfand ich es trotzdem, war sie doch meiner Meinung nach die kritischste Stelle des Hauses. Vielleicht, fürchtete ich sogar, erträgt sie meinen kritischen Blick nicht und stürzt ein oder versinkt zumindest im bodenlosen Schlamm.

Der Gedanke an einen sofortigen Rückzug kam auf, als sich die Eingangstür mit meinem Schlüsselbund nicht öffnen ließ. So ganz unverrichteter Dinge wollte ich trotzdem nicht aufgeben. Deshalb versuchte ich anschließend jemanden im Nachbarhaus zu erreichen, was nicht einfach war. Dazu musste ich an einer altmodischen Klingelschnur ziehen und anschließend einen mürrischen Herrn fragen, ob er mir helfen könne. Nach vielen Handbewegungen und der Prüfung meines unschuldigen Gesichtsausdrucks ließ er sich dazu herab nach alten Schlüssels zu suchen. Es interessierte mich jedoch schon nicht mehr, denn von einer Sekunde zur anderen beschloss ich auf die Wasserseite meines Hauses zu gehen. Sofort begann mein Herz wild zu klopfen.

Was ich jenseits einer kleinen Brücke vorfand, entsprach exakt meinen Befürchtungen. Auch wenn man mich nicht als Fachmann auch nur auf einem einzigen Gebiet bezeichnen sollte, selbst für meine Augen waren ohne Mühe größte Schäden an der unter Wasser befindlichen Wand zu erkennen.

Schwer vom Unglück getroffen musste ich mich auf die kleine Brücke setzen, die gleich rechts neben dem Haus den Rio de l'Alboro überquert und war schon sicher, mit dem ersteigerten Objekt, noch bezeichne ich den Palazzo so, in ein nicht endendes Desaster geraten zu sein. Was ist schon Venedig?, versuchte ich mich aufzumuntern. Nicht wichtiger oder schöner als andere Städte, wollte ich mich weiter beruhigen. Doch hatten mich böse Gedanken hochgerissen und erneut auf die Außenseite des Canals sehen lassen. Ich fühlte mich in einem Film, der zuvor von niemandem gesehen worden war. Fehlende Ziegelsteine bemerkte ich von einem neuen Standort in der bemoosten Schicht über und unter der Wasserlinie des Hauses, die meisten anderen mehr zerlöchert als porös.

Da nur eine schmale Schicht des wassersperrenden Istrischen Kalksteins vorhanden war, schien mein Haus von nicht sehr betuchten Erbauern errichtet worden zu sein. Der berühmte Charme der Stadt war auch an den nebenanliegenden Gebäuden verflogen und die Mörtelfugen zwischen den Steinen hatten sich weit zurückgezogen. Teilweise fehlten sie ganz, so ähnlich wie sich die erfolgreiche Zeit der Adriaperle einmal aufgelöst hatte. Ich rang nach Luft und musste mich wieder setzen. Jahre, dachte ich, hast du vor deiner Zeit als Bürochef den Immobilienmakler gegeben, andere Leute betrogen. Gut, zum Ausgleich ein bisschen Geld verdient, aber es könnte dir von heut auf morgen auch abhandenkommen. Mit dem Ankauf des Ingenieurbüros für Wassertechnik hast du bisher auch kein Glück gehabt. Hast immer Leute benutzt, die sich vor dich stellen mussten und dabei gestürzt sind. Nun bist du selbst auf die Nase gefallen. Mein Gott!

Noch die nächste halbe Stunde durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits hatte mich eine noch unangebrachte, aber auch merkwürdig positive Stimmung erreicht, schließlich war ich Besitzer eines Hauses in der attraktivsten Stadt der Welt. Wie schön! Andererseits sah ich für die Renovierung mein Bankkonto in bedrohliche Regionen zu geraten und bin danach vielleicht nicht einmal mehr in der Lage, einen Flug nach Venedig zu bezahlen.

Am späten Nachmittag saß ich in einer kleinen Bar, die sich weniger als einen Steinwurf von meinem Palazzo befand. Das neueste Nationalgetränk, orangefarbener Aperol Spritz und ein paar Kräcker mit Schinken und Oliven warteten vor mir. Übrigens, Palazzo hört sich so wichtig an, Haus bedeutet das Wort nur, nichts anderes! Ich habe also keinen echten, andere schon.

Als mich der Wirt fragte, warum ich hier wäre, und von mir hörte, dass ich der neue Besitzer des Palazzo nebenan wäre, umarmte er mich und drückte mein empfindliches deutsches Gesicht an seinen Stoppelbart. ‚Der wäre in Italien üblich, und das mit dem Drücken macht man so, wenn einem der andere etwas bedeutet‘, sagte er. ‚Große Freunde könnten wir werden, und meinen caffè bräuchte ich nie zu bezahlen, wenn ich nur den alten Kasten renovieren wür de. Sein Äußeres würde sich jeden Tag nachteiliger auf seine Bar auswirken.‘ Soviel Herzlichkeit wollte ich nicht enttäuschen, flog zwei Tage später nach oberflächlicher Inspizierung des heruntergekommenen Hausinneren nach Tegel zurück, um mich mit einer möglichen Sanierung zu beschäftigen. Obwohl ich lange bei der finstersten Seite meines Vorhabens stecken geblieben war, keimte eine bestimmte Art von Hoffnung in mir auf, und ich zermarterte mir mit den unterschiedlichsten Varianten bis Donnerstag letzter Woche den Kopf, wie aus meiner Niederlage noch etwas Brauchbares werden könnte. Dabei fiel mir der noch formbare Neue ein, Sie! Und ich beschloss, mich während unseres nächsten Zusammenseins mit Ihnen über eine großartige Idee zu unterhalten. So ganz zufällig sitzen wir deshalb nicht zusammen und ich sage Ihnen, Sie müssen etwas ganz Bestimmtes für mich tun. Da gibt es zwar meinen Palazzo in Venedig, doch nach dem Vorfall im Restaurant bringt mich im Moment niemand mehr dorthin. Vielleicht später, wenn es nicht anders gehen sollte.“

„Was haben Sie sich gedacht?“, tönte Steffen unwirsch zurück, war er doch ein klein wenig missgünstig geworden.

„Wie schon gesagt, Sie sind neu in meinem Büro und damit noch sehr von meiner Beurteilung ihrer Arbeitsergebnisse abhängig. Im Büro will ich keinen Konkurrenzkampf aufkommen lassen, aber Ihre Leistung bei den Sanierungen an meinem Palazzo könnte ich frei und gut beurteilen.“

Wie das aufzufassen wäre und warum er die Arbeiten nicht selbst betreuen wolle, fragte Steffen vorsichtig.

„Sie wissen, was man über mich sagt? Sie trauen sich nicht, das offen zu formulieren? Dann will ich es tun. Fachkenntnisse wären bei mir so gut wie keine vorhanden, motivieren könnte ich schon gar nicht. Ihr Chef fühle sich eher als eigenbrötlerischer Wirtschafter. Deshalb würde ich Ihnen, solange niemand in meinem Palazzo schlafen kann, nur die Flüge nach Venedig zahlen, das Hotel und Ihr Gehalt sowieso. Essen müssen Sie wie zu Haus, da zahle ich nichts. Auch wenn es nicht wünschenswert ist, freie Zeit wird sich mein Herr Steffen leider nehmen, damit könnte er sich die Stadt ansehen und ihre Charakteristik einatmen. Doch nichts wäre wichtiger, als die fachgerechte Sanierung der im Wasser stehenden Außenwand, damit sie vor meinen Augen nicht in sich zusammenfallen muss. Sie scheint bei meinem gewagten Vorhaben als wichtigster und damit teuerster Punkt. Konzentrieren Sie sich bitte zunächst nur auf ihn.“

Mensch, dachte Steffen, das war eine lange Geschichte und mit mehr Inhalt, als mancher in einer Stunde vertragen kann.

„Petersen, ist Ihnen schlecht?“ fragte Kaufmann besorgt und sein Ton erinnerte ihn daran, dass er an diesem gemeinsamen Abend einen überaus schicken Kugelschreiber aus der Tasche ziehen und neben ein ganz unbedeutendes Stück Papier zu legen beabsichtigte. Wie man sich vorstellen kann, hatte der Chef dazu einen Wein nach dem anderen für Steffen bestellt, solange bis sich alles vor dessen Augen drehte und langsam vorn überfiel. Als er am späten Morgen in der völlig überheizten Wohnung zu sich kam, steckte ein ergänz - ter Arbeitsvertrag zwischen seinen Händen und er staunte nicht schlecht, als nach mühsamem Lesen endlich sein Inhalt zu begreifen war. Von ihm, leicht zittrig unterzeichnet, war die Erweiterung des Arbeitsvertrages für die Sanierung der flussseitigen Außenwand eines Palazzo im venetischen Stadtteil San Marco, als Zusatz unter seine bereits schon vor Wochen geleistete Unterschrift eines Arbeitsvertrags, formell bestätigt.

Damit war sein Schicksal besiegelt. Der Vorgang erinnerte ihn doch mehr an eine nun bestehende Pflicht, als an ein ’Wollen’. Sogar der Canal, an dem der arbeitsreiche Palazzo liegt, war namentlich erwähnt. Nein, nicht Canal, so nennt man die Wasserstraßen dort selten, normalerweise sagt man Rio oder meint man zwei, dann Rii. Warum die beiden ‘ii‘? Ist eben italienisch!

Nun besaß Steffen viele Möglichkeiten. Statt sich sorgsam mit ihnen auseinanderzusetzen, fragte er sich nach seiner Lust und wusste bald, mit seiner Unterschrift einen richtigen frischen Weg gegangen zu sein. ‚Mein Gott’, dachte er, ‚du bist jung, nirgendwo zu etwas verpflichtet, warum nicht deine Chance ergreifen und die freundlich verpackte Vorgabe des Herrn Kaufmann annehmen?‘

Bis zu diesem Tag hatte er schon oft von Venedig gehört, dagewesen war er noch nicht. ‚Du musst nur ein bisschen arbeiten, um dort viele Tage leben zu können’, überlegte er, ‚das kostet dich keinen zusätzlichen Cent. Was ist denn schon zu verlieren und wer weiß?‘ Vor seinen Augen tat sich der berühmte Silberstreif auf und ver - deutlichte, was aus diesem Schritt noch für eine großartige Zukunft werden könnte.

*

Kaufmann verließ seine Wohnung und suchte ganz bewusst nach einem italienischen caffè. Er setzte sich im amore libera in die Sonne, bestellte das Übliche und begann, den Tag zu genießen. Bis ihn Giuseppe, der Ober und Besitzer, fragte, ob denn rechtschaffene Leute um diese Zeit nicht beschäftigt sein müssten? Sein Gast lächelte zurück und sagte, in der nächsten Zeit wegen einer dringenden Aufgabe sogar oft in Venedig sein zu dürfen. Lieber wäre ihm jedoch, einer seiner Leute würde zu dem Versprechen vom gestrigen Abend stehen und wegen fehlender Sachkenntnisse des Chefs an seiner Stelle nach Venedig fahren. Nicht mehr als ein bisschen Beschäftigung würde dort auf ihn warten. Träumen von der Stadt könnte er schon hier.

Der Ober war sprachlos. „Was für ein Glück, der Herr hat ein Haus in Venedig!“, rief er und vollführte, dem besten Tangotänzer gleich, ein paar Drehungen auf dem Absatz. „Meine Güte“, sagte er, „das Glück haben nicht viele. Lernen Sie es zu schätzen. Aber, und ent schuldigen Sie meine Aufdringlichkeit, niemand darf die Stadt betreten, ohne sich vorbereitet zu haben. Es ist keine Freude, durch die Gassen zu gehen und nichts von der Geschichte zu wissen, nichts von ihrer Kunst und nichts von der Mühe, die in jedem ihrer Häuser steckt. Wenn Sie wollen, erscheinen Sie jeden Tag um diese Zeit, ich setze mich zu Ihnen und erzähle, was ich weiß. Mein Part ner? Wenn er sieht, dass ich glücklich bin, dann ist auch er es.“

„Sie sind Venezianer?“

„Das nicht gerade. Als Kind hörte ich jeden Abend von meiner Großmutter die gleichen Geschichten ihrer Stadt, so oft bis sie in meiner Kindersprache zu wiederholen waren. Sie freute sich dann und versprach mir, dass ich nie etwas davon vergessen würde. Wenn Sie einwilligen, ist jetzt die Zeit gekommen, in der die Geschichten zum Leben erweckt werden könnten und die Worte meiner Nonna ihren Zweck erfüllen. Sagen Sie zu meinem Angebot bitte nicht nein – und Sie gehen gut vorbereitet dort hin. Auch wenn es verfrüht scheint, in Venedig wohnt eine nette Enkelin, sie weiß mehr von den neuen Sachen, ich erzähle Ihnen die alte Geschichte der Stadt. Da kommt mir eine Idee. Es ist noch früh, Catarina wird zu Hause sein. Ich werde sie anrufen, wir sprechen oft mit einander.“

„Das muss nicht sein, wirklich. Kein Mensch weiß, wie es mit mir weitergeht. Vielleicht springe ich noch ab“, stöhnte Herr Kaufmann, doch der Ober gab keine Ruhe.

„Aber nein, Sie sind mein Freund und für Freunde opfert man einen Teil der eigenen Zeit. Sie werden sehen.“ Giuseppe zog ein Telefon aus der Tasche und drückte auf den Verbindungsknopf.

„Hallo, meine Schöne, wie geht es dir?“ säuselte er in den Hörer. „Sind deine Gedanken noch bei Luigi, bei Piero, bei Luca? Nein? Das dachte ich mir, du hältst es bei keinem lange aus. Nein warte, leg nicht auf. Ich sitze gerade mit meinem besten Freund zusammen und wir reden über dein Venedig, wissenschaftlich, nicht dieses andere Zeugs. Welchen Beruf er hat? Er ist Professore, jedenfalls so was ähnliches. Sag mal, wenn er eines Tages in deiner Stadt wäre, hättest du Zeit, dich ein bisschen um ihn zu kümmern? Du weißt, wie ernst ich das meine, streng wissenschaftlich, natürlich. Nun sag schon zu! Wann er kommen will? Ich vermute schon sehr bald, er brennt darauf die Stadt und dich kennenzulernen.“

Nachdem er aufgelegt hatte, wurde Kaufmann ganz unschuldig gefragt, was sein Beruf wäre, obwohl das den Herrn Giuseppe eigentlich nicht interessieren würde. „Tatsächlich, Bürochef und Ingenieur für Wassertechnik! Hab‘ ich mir doch gleich gedacht, ein Akademiker! Mit Ihrem Beruf werden Sie viele Freunde in der Stadt finden. Jedem unserer Einwohner wurde nach der Geburt Lagunenwasser in die Wiege gefüllt, und die einfachsten Lösungen für die Probleme Venedigs schlummerten sofort in ihnen. Schon mal von den Planungen an diesem neuen M.O.S.E. gehört? Das war die geniale Idee eines Venezianers! Luft will er die im Caisson ruhenden Pontons einleiten, die sich anschließend aufrichten und die bocche zwischen Lido, Malamocco, Chioggia bei Hochwasser sperren. Du siehst, wir beherrschen noch heute das Wasser unserer Lagune, wie früher auch die Weltmeere, gigantisch reich sind wir bis zum

15. Jahrhundert geworden. Heute ist das anders, da hängen alle am Tropf des Staates und der Touristen. Dabei kann sie niemand ausstehen, diese großen Kreuzfahrtschiffe, die selbst aus weiter Entfernung Wasser bis in die letzte Küche steigen lassen. Wer mit meiner Stadt verwachsen will, ist willkommen, aber die meisten Fremden wollen nur den schönen Schein und einen schnellen ristretto. Ich kann nur hoffen, dass wir diesen Zustand eines Tages überwinden und wieder zu dem werden, was wir einmal gewesen sind: eine Stadt, die mit sich im Reinen ist, keine Ansprüche an wen auch immer mit Gewalt vorbringt, Stadt der Muße und zugleich der Musen ist. Wichtig wie unser Meer, das nicht gut, nicht bös dahinlebt. Einfach immer da ist für jeden.

Ich beklage und verurteile den Touristenansturm, der das wahre Gesicht unserer Stadt immer weiter in den Hintergrund drängt und dabei die, denen die Stadt am Herzen liegt, für egoistische Ziele ausnutzt. Doch schon haben die meisten vor der Übermacht der hunderttausend, die uns jeden Tag aufsuchen, kapituliert. Noch über das langsame Versanden der Canale und das Vermodern der Paläste hinaus wird die Stadt jedoch nicht von der Welt vergessen werden. Da sind aber auch Menschen, die glauben, dass sich die Stadt nie aus jahrhundertealter Erstarrung lösen und schließlich untergehen wird, allerdings noch vor dem Tod der letzten moeche.

Lieber Freund, jetzt sind Sie mit netten Worten in das eingeweiht, was ich von der Stadt weiß. Nun direkt zu Ihnen, Akademiker sind Sie also. Na, das macht nichts, auch meine Geschichten sind nicht langweilig. Lieber Freund, lange habe ich auf einen wie Sie gewartet, manchmal fürchtete ich sogar an den alten Geschichten zu ersticken. So geht es jedem Italiener, spricht er nicht ab und zu von seiner Serenissima. Wie alt sind Sie? Fünfundvierzig schätze ich. Das ist noch sehr jung. Mein Venedig, rechnet man ehrlich die Gründungsjahre hinzu, ist 1500 Jahre alt. Da häufen sich einige Abenteuer an. So, ich hoffe ein wenig Neugier gestreut zu haben. Wenn Sie der sind, für den ich Sie halte, sehen wir uns morgen um zehn. Gehen Sie nun! Vorher bringe ich Ihnen aber noch einen caffè doppio, dazu eines dieser vorzüglichen Cornetti. Papa hatte sie heute früh gebacken. Erst seit wenigen Wochen weigert er sich, nicht mehr nach Mamas Rezept vorzugehen. Seitdem stehen die Leute in einer langen Schlange nach ihnen.

Dass der Herr Kaufmann schon leicht venetische Gewohnheiten in sich trägt, bemerkte ich daran, wie verständnisvoll Sie bei dem ein bisschen angebrannten cornetto reagiert hatten. Kein klagendes Wörtchen kam über Ihre Lippen. Das wird unserem Papa gefallen und er wird heute Abend erleichtert in sein Bett steigen. Giovanni hat noch Zeit sich zu bessern, er kocht erst zehn Jahre für uns.“

Der nächste Tag kam und wieder ging Kaufmann in das amore libera. „Ich habe gewusst, dass Sie kommen“, strahlte der Wirt, „die Enkelin rief noch gestern Abend an und teilte mit, dass sie im nächsten Monat beruflich nach Berlin käme und mich natürlich besuchen wird. Herr Kaufmann, Sie müssen Catarina unbedingt kennenlernen. Kommen Sie ab und zu vorbei und erfahren von mir, wann genau die Kleine erscheinen wird.“

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Nachdem Steffen fast den ganzen Tag im Büro verschlafen hatte, trat wenig vor Feierabend Kaufmann an seinen Schreibtisch. Behutsam beugte er sich herab, um mit kaum hörbarer Stimme zu sagen: „Ich berichtete Ihnen schon einmal vom Wirt meines caffès. Von ihm erfuhr ich, dass seine Enkelin jetzt einen Flug nach Berlin ge bucht hat. Catarina, mein lieber Herr Steffen, könnte auch Ihre Zukunft sein. Nun weiß ich, dass sie am Wochenende erwartet wird. Da ich die Verantwortung für den Palazzo in Ihre Hände gelegt habe, müssen Sie von nun an derjenige sein, der sich um die Verwandte kümmert“, äußerte er weiter und sah Steffen berechnend an. „Dann bis morgen“, fügte er noch listig an.

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Kaufmann war gegangen. Lang noch saß Steffen an seinem Platz und wusste nicht recht, ob er sich mit der von Kaufmann beschrie benen Verwandten wirklich treffen sollte. Den Giuseppe empfand er jedenfalls ziemlich aufdringlich, doch zurück in der Wohnung kippten seine Vorbehalte gegen die noch Unbekannte. Sollte Kaufmann jedoch gedacht haben, er würde am nächsten Tag unvorbereitet bei ihm erscheinen, wäre er einem Irrtum erlegen. Natürlich ging Steffen noch am Nachmittag in die Bibliothek seiner alten Uni und suchte nach Informationen über Venedig, kapitulierte aber schon nach wenigen Minuten vor den vollgestopft endlosen Bücherregalen. Überfrachten wollte er sich ja nicht! Wichtig wäre an diesem Tag auch nicht neues Wissen gewesen, niemand hätte danach gefragt.

Abends rief Steffen im Büro an, ungeduldig fragte er nach dem Chef und erklärte ihm seine Bereitschaft zu einem Treffen mit Giuseppes Verwandter.

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Der Kuhberg ist eine Straße, die heißt, was sie verspricht. Ländlich und mit unordentlichen Menschen, zur Mitte hin ansteigend und am Ende oft von einer Herde Menschen überlaufen. So sieht Steffen heute auf die Straße zurück, aber sie ist nicht mehr als eine Erinnerung in der Zeit. Vor ihm geht eine junge Frau mit stöckligen Schuhen und hält, um einzukaufen, Ausschau nach einer neuen Boutique. Sie sieht auf all die bunten Auslagen und sucht nach erstrebenswerten Objekten. Sie sieht alles, nur nicht den Mann, der nach langer Wanderung gedankenverloren vor sich hin trottet. Sein linker Fuß hebt sich in der Sandale, eine Lücke zwischen Sohle und Ferse entsteht. Und schon fährt, als hätte es die junge Frau sich zum Ziel gemacht, die Spitze ihres Fußes in diese gleich darauf schmerzhaft spürbare Lücke.

Er aber konnte seinen Blick nicht von dieser Joanna wenden und geriet nach kürzester Zeit in ein unbekanntes Gefühlsunwetter. Nie hatte er gedacht, dazu in der Lage zu sein. Sie lief auf den höchsten, schmalsten roten Absätzen, die man je gesehen hatte. Wie darauf zu gehen ist, war ein Rätsel, aber gerade das zog ihn an. Wären Hausschuhe an ihren Füßen, Joanna wäre ihm langweilig, gar unwichtig gewesen. Würde sie bei ihm wohnen, nur auf diesen Absätzen dürfte sie gehen: im Park, auf der Straße, zu Haus, bei der Liebe. Plötzlich war sein Leben ein anderes geworden.

So begann eine Geschichte über Mann und Frau, wie sie in keinem Leben fehlen darf. Für sie hatte er sich augenblicklich in die Hand eines noch unergründlichen Schicksals begeben. Erst in den Tagen vor dieser schicksalhaften Begegnung war er mit gebrochenen Flügeln aus den vierundzwanzig Monaten vermeintlicher Liebesbekanntschaft zurückgekehrt und was ihm einmal vertraut war, schien in den paar Stunden ohne die Verflossene schnell fremd geworden und er durchschritt alle Phasen des Alleinsein bis hin zur Einsamkeit. Ein Gefühl, fern einer Möglichkeit es zu beschreiben, begleitete ihn, es bohrte und verletzte. Das hatte aber auch sein Gutes, er wusste, was für immer verloren war und in einer neuen Zukunft zu tun oder zu lassen wäre. Wie wird es werden ohne die Vergangene, waren jedoch seine Fragen: würde er aufgeben, verschwinden auf ewig im Schlund einer Hölle, oder frei sein von allen Zwängen, würde es ihn glücklich machen? Zerstören, oder zermalmen zwischen gewaltigen Felsbrocken? Wenn er nur wüsste.

Gestern hatten ihn seine Stunden sehr still werden lassen, aber sie brachten ihn auch fort von seinen Problemen. Nicht lang dauerte es und er fühlte alte Stärke zurückkehren. Von nun an schwankte er zwischen seinem alten Leben mit den sich entfernenden roten Stiefeletten und den Unsicherheiten einer nahen Zukunft.

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Berlin lag im schönsten Licht des Tages. Bis zum Gelbrötlich war der Himmel in den Geist erfrischender Farben getaucht. Steffen wusste, an welchem Platz man den besten Blick auf dieses Schauspiel hat, erzählen wollte er niemandem davon. Eine ähnliche Seele aber findet den Ort ohne jede Hilfe. Catarina, auch ohne hohe Absätze unter roten Schuhen, verfügte über das gewisse Einfühlungsvermögen.

„Ich erkenne Gleichgesinnte, ohne dass wir uns zuvor je begegnet sind. Hier an diesem seltsamen Platz finde ich also wieder einen. Guten Abend. Mein Onkel sagte schon, dass Sie anders sind als andere.“

„Mag sein, dass er Recht hat. Sie müssen Catarina sein. Was will mir seine Enkelin mit ihrer Schmeichelei sagen? Aber es ist wahr, oft sitze ich an diesem Ufer und verschenke meine Zeit an nutzlose Stunden. Ganz sicher beginne ich mich irgendwann unglücklich zu fühlen und suche nach einem irrlichtigen Ausweg, der nicht kommt. Dieser Zustand dauert lang und allein finde ich oft nicht zurück. Ein äußerer Anlass ist notwendig, gerade das macht mich noch unglücklicher. Irgendwie gelingt mir dann doch der nächste Schritt und ich bin zurück in ungerechter Normalität.“

„Wenn das so bedrückt, warum folgen Sie nicht der Bitte Ihres Chefs und übernehmen seinen Auftrag ein bisschen erfreuter? Kommen sogar schon bald mit mir? Ich fliege in der nächsten Woche zurück. Begleiten Sie mich, in Venedig hat niemand eine ähnli che Traurigkeit, wie Sie die ihre. Die unendliche Schönheit meiner Stadt lässt diese Gedanken nicht zu. Leichtigkeit begleitet jeden und sie entlässt niemanden aus ihren Armen. Schon, wenn ich nur aus der Ferne an sie denke, schmerzt mich meine Abwesenheit.“

Jetzt bemerkt Steffen kein Kind vor sich zu haben, staunte über die Erscheinung der jungen Frau und freute sich auf weitere Stunden. „Was erwartet mich dort?“, wollte er wissen, „Touristen kenne ich aus Berlin. Sie sind schrecklich öde und stehen überall herum.“

‚Das sei nicht nur in seiner Stadt so‘, verstärkte sie die Zweifel an einer angenehmen Reise und sagte im wichtigen Ton: „Venedig ist mehr als nur die alltägliche Geschichte, Kunst und Musik. Man muss nur danach suchen. Doch hinter jeder Ecke versteckt sich auch die Unzulänglichkeit des Sumpfes auf dem sie erbaut wurde, die Mühe mit der unsere Vorfahren ihr unter Lebensgefahr ein bisschen Heimat abgerungen haben. Fliegen Sie mit mir und werden wie die anderen staunen, was sich selbst hinter ihren maroden Fassaden an Schönheit und Unvergesslichkeit verbirgt.“

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Tags darauf traf Steffen im caffè, welches sich gegenüber Catarinas Berliner Büro befand, zufällig auf Kaufmann und erzählte ihm von dem Treffen mit der Verwandten Giuseppes. Seinem anschließend mit viel Druck vorgetragenen Vorschlag, wegen der umfangreichen Vorarbeiten für Venedig diese Woche erst gegen Mittag im Büro zu erscheinen, stimmte Kaufmann ohne Einwand zu. „Es ist ohnehin nichts zu tun“, brummte er, „da kann Ihr gemeinsamer Flug für die nötige Beschleunigung an meinem Vorhaben sorgen. Treiben Sie Ihre Vorbereitungen gern voran und vergessen bitte nicht, so viele Fotos wie möglich zu machen. Sehen Sie sich das Haus genau an und suchen schon nach Firmen für eventuelle Innen- und Außenarbeiten. Vor allem, prüfen Sie so gut es geht außerdem die Statik der tragenden Teile. Und, das wäre mein besonderer Wunsch, schauen Sie nach Zeugen der Vergangenheit: Fresken, Statuen, Mosaiken. Alles was nach ein bisschen Wert aussieht. Guter Freund, wenn Sie in Venedig aus dem Flugzeug steigen, ist es vorbei mit allem was Ihnen bisher bekannt war. Als erstes wartet ein vaporetto auf Sie, das ist eine Art Bus auf dem Wasser. Steigen Sie ein, denn es ist nicht viel langsamer als ein Wassertaxi, kostet aber weniger als die Hälfte. Ich brauche mein Geld für den Palazzo, nicht damit ihre Fahrt ein paar Minuten weniger in Anspruch nimmt. Zudem gibt es, so glaube ich, nur eine Straße. Auch von der Sie sonst umgebenden Ruhe müssen Sie sich mindestens auf den Wegen verabschieden, und die Preise für ein gutes Essen sind schlecht zu verdauen.“

Steffen wusste nicht, wofür ihn der Chef hielt. Für einen Abenteurer, einen Archäologen der nach antiken Schätzen gräbt? Statiker wäre er schon gar nicht. Nur die im Wasser des Canals stehende vordere Außenmauer zu sanieren, würde ihn reizen.

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Steffen bereitete sich weiter gewissenhaft vor, er kaufte bei Alitalia ein Ticket für die gleiche Maschine, mit der auch Catarina fliegen wollte und füllte seinen Koffer. Der Flug war ereignislos, denn seine neue Bekannte kauerte mit blassem Gesicht auf dem Sitz neben ihm und war zu keinem Gespräch bereit. Das änderte sich auch nicht, als sie wegen des tatsächlich günstigen Preises am Flughafen das vaporetto in Richtung Innenstadt bestiegen. Der Erholung wegen wollte sich Catarina nach der Ankunft dort noch ein bisschen Zeit nehmen. Eine Freude dagegen war sein rosafarbenes Hotel, es befand sich am Fuß der Rialtobrücke und hieß auch so: Rialto.

Den Morgen später frühstückte er auf der Terrasse mit Blick über einen winzigen Markt für Obst und Gemüse, dann weiter über den Canal Grande und die noch leere Rialto-Brücke. Nach einem zweiten cappuccino begann Steffens erster Erkundungsgang, zu Kaufmanns Palazzo wollte er nicht gleich. In die neue Atmosphäre einzutauchen, einer von vielen zu sein, schien ihm wichtiger. Auf sich selbst und seine Aufgabe würde er noch früh genug zugehen können. Auch dachte er nicht an Catarina, sie war gestern gleich an der Anlegestelle des Bootes von Unbekannten mit viel Geschrei in Empfang genommen worden und erst am frühen Morgen wieder kurz zu einem unverbindlichen Gespräch erschienen. Den ganzen Tag trieb sich Steffen ziellos, aber glücklich in der Stadt herum, und als er am frühen Abend sein Hotel betrat, wartete eine Information Catarinas auf ihn: Heute Abend, La Traviata, neunzehn Uhr dreißig, Palazzo Barbarigo Minotto las er und wollte vor Glück fast platzen. Die Wirklichkeit sollte jedoch jede Erwartung übertreffen. Violetta war die Lieblingsfigur seiner jungen Jahre gewesen, so dicht vor seinen Augen würde sie sterben. Den Atem der Sänger vor sich zu spüren, ihn zu sehen, den Händen der Musiker in einem der wahrscheinlich ältesten Paläste Venedigs zu folgen? Unglaublich. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er nach langer Suche vor dem Palazzo auf Catarina traf. Sie sah in ihrem Kleid sehr jung und unglaublich lebendig aus. Schöner war sie, als jede, die er vor ihr gekannt hatte. Und ein kleines bisschen erlaubte er sich, eine gewisse Verliebtheit aufkommen zu lassen. Catarina schaute nur böse auf ihn, um ihm gleich darauf das Zifferblatt ihrer Uhr entgegenzuhalten. „Ich habe neunzehn Uhr dreißig gesagt“, brummelte sie und reichte ihm ihren Arm, „gehen wir noch ein paar Schritte.“ An der kleinen Hand nahm er sie und gemeinsam schlenderten beide in den schönsten Abend, den man sich vorstellen kann.

„Catarina, bevor wir hineingehen“, begann Steffen seine Frage, „im Hotel erwiderte man mir, dass der Name Barbarigo vom Wort 'Bart' stammt. Stimmt das, daher also Barba?“

„Das ist richtig. Im 9. Jahrhundert wurden Sarazenen durch die Vorläufer der Familie Barbarigo besiegt und Soldat Arigo kehrte mit sechs Bärten heim, die sich gleich in einem Wappen wiederfanden. Heute ist Barbarigo Minotto ein vom 15. bis 17. Jahrhundert ergänzter friedlicher Palast, in dem Konzerte stattfinden. Von Waffenlärm ist nichts zu hören. Es gibt sogar ein Gemälde des großen Tiepolo, von Mazzetti sind viele Stuckarbeiten.“

Während der Vorstellung sah sie wiederholt ärgerlich auf Steffen, als er, nur einen Meter vor den Sängern sitzend, ziemlich leise, doch hörbar, die schönsten Arien mitsang. Nicht nur er. Das halbe Publikum war nach seinem ungewöhnlichen Schritt eingestimmt.

Den in einer Pause angebotenen Sekt verweigerte er im Bewusstsein, keine weitere Betäubung zu benötigen, die unglaublich berührende Aufführung hätte für ihn darunter gelitten. Und wenn Catarina nach Verlassen der Oper nicht fest seine Hand gehalten hätte, keiner könnte in diesem Moment ahnen, wo er nach Ende der Vorstellung an diesem Abend angekommen wäre. Sicher nicht in seinem Hotel. So standen beide ruhig atmend auf der Ponte Maria Callas, die, am La Fenice gelegen, den Canal delle Galeazze überspannende, menschenleere Brücke. Jeder träumte gegen die blitzenden Wellen seinen Traum von Zukunft und Zufriedenheit. Zu Steffens Empfindung gehörte noch Violettas Stimme, wie sie verzweifelt den leeren Raum zwischen Sonne und Erde füllte, sich harmonisch um den Erdball legte und jeden einschloss, der ein Herz hat, Leid zu verstehen. Ohne erkennbaren Grund zog plötzlich Catarina ihre Hand zurück und ging ohne Gruß davon.

Steffen hatte keine Ahnung, was er falsch gemacht haben könnte und stand unschlüssig herum, um gleich darauf in geringer Entfernung einer ersten Gruppe zu folgen, die sich zufällig in Richtung seines Hotels bewegte. Hineinzugehen war ihm noch zu früh, so ging er den nachtschwarzen Weg zurück zum einsamen Markusplatz. Er kreuzte die davor befindliche Calle larga de Ascension, und ging weiter durch die Galerie bis vor das Museo Correr, um das beeindruckende Panorama der gegenüber befindlichen, hell beleuchteten Arkaden der alten Procuratien, dem Torre dell' orologio, dem Markusdom und des Florian abwartend in sich aufzunehmen. Nicht lang danach, vielleicht ein paar Minuten nur, löste sich aus der Dunkelheit eine vermummte Gestalt und schritt auf ihn zu.

Nach Ende der Vorstellung sieht es meist so aus, als würden die Sänger Violetta und Alfredo beim Verlassen des Theaters ihr während der Oper aufgeladenes Gefühl an der Garderobe zurücklassen. Als wären Krankheit und Tod für sie nur ein Spiel. Mitnichten, jeder nimmt etwas mit, das in seine größte Lücke passt und dort verschlossen wird. Schon ein paar Schritte später kann es wieder verloren sein, doch Violettas Lücke ist heute noch gewachsen. Das darf nicht nur schlecht sein. Lücke an Lücke reiht sich das Leben.

„Ich erinnere mich an einen nicht sehr zurückhaltenden Zuschauer, der geradezu überwältigt von meiner Traviata im Barbarigo Minotto war. Seiner ungestümen Begeisterung bin ich selbst nicht fähig, zu Beifall ja und vielleicht auch Hurra. Zu mehr leider nicht!“ hallte Steffen eine traurige Stimme zu Beginn der Galerie des Museo Correr nach, „also werden Sie verstehen. Ich muss mit jemandem reden, bitte. Alfredo, mein Gesangspartner, wollte immer mehr, als schon in der Oper steckt, daher suchte er nach einer Möglichkeit, ihre Tragik weiter zu steigern. Heute hatte er den Einfall, die unaussprechliche Not Alfredos während meines Sterbens doch furchtbares Stöhnen aus dem Hintergrund noch zu steigern. Was für ein Vorhaben! Als er begann, stockte selbst mir das Blut in den Adern. Wie ist es Ihnen ergangen?“

„Sie sind Violetta?“

„Jetzt nicht mehr.“ Enttäuscht wandte sich Violetta ab und ließ ihn stehen. Nirgendwo eine verständige Seele, bedauerte sie.

„Halt“, rief Steffen, „zurück! Erzählen Sie mir von Violetta.“

„La Traviata ist unbegreiflich, wenig gibt es, was in anderen Opern darüber hinausgeht“, rief sie ihm zu.

„Zum Beispiel?“

„Ich muss acht oder neun gewesen sein. Meine Eltern gingen mit ihrer kleine Tochter zum ersten Mal ins Fenice. Zu Haus hatten sie mich auf die Komposition eines Franzosen vorbereitet. Berlioz hieß er. Das Theater verzauberte mich, deshalb konnte ich mich während der ersten beiden Sätze nicht auf die Sinfonie konzentrieren. Der dritte Satz begann, mir bis heute das Liebste in der Musik. Sofort zerriss er mein Herz und auch heute noch geht er mir tief. Leider hat man jene Art von Gefühlen nur in jungen Jahren. Jetzt, wo ich älter geworden bin, kann ich nicht ähnlich fühlen, zu viel ist auf mich eingestürmt. Adieu, Symphonie fantastique!“

„Ich kann noch fühlen wie früher. Warten Sie, ich muss in die Mitte des Platzes. Auch ein strahlender Vollmond, wie der, in dem ich geboren bin, wird mich nicht an dem hindern, zu tun, was noch diese Nacht geschehen muss. Sie als Zeugin brauche ich, das mitternächtliche Läuten der tiefen Marangona des Campanile ist nicht genug.“

Sein nächstes Schicksal ahnend, wankte Steffen mutig weiter, gefolgt von den zagenden Schritten Violettas, der Verdorbenen, bis er die Erde verließ und sich zu den Größen seiner Musik gesellte. Bereitwillig öffneten sie ihr Tor für ihn, doch zögerte er ein wenig. Das er willkommen war, hatte ihm auch keiner aus seiner alten Welt voraussagen können. Dann stand Steffen mittig auf dem Platz, die Beine fest auf den Boden gespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Seine Linke hielt den Hals einer imaginären Gitarre, die Rechte schlug wilde Kreise und wie zufällig berührten braune Finger straff gespannte Saiten. Hervor trat, anders als Violettas Kunst, Jimis unverbraucht kratziger Verriss einer lang geliebten Hymne, Star-Spangled Banner. Selbst die nun versteinert wirkenden Köpfe der alten Dogen schüttelten sich bei so grausamem Klangrausch. Wer Ohren zu hören hätte, dem liefe ein kalter Schauer über den Rücken. Steffen sah zurück auf die Hunderttausenden, spürte den Schlamm unter ihren Füßen. Innerlich waren sie wie ihr neues Idol in einer abgehobenen Welt. Durch Steffen wird sie sich nicht ändern, aber er hatte ein Erlebnis, das ihm niemand streitig machen kann. Entblößt hatte er sich bis auf die Seele, auf das, was ihn ausmacht. Zu kurz das Leben, um darauf verzichten zu können.

„Wenn ich mich jetzt sehen könnte, würde ich fragen: Bist du das, der hier herumspringt? Was hat dich dazu gebracht? Jetzt fühlst du dich groß. Wie ist das, steht neben dir ein Größerer?“

„Wie konnten Sie nur?“, erreichte ihn die Stimme der Sängerin. „Singen Sie von mir aus: der Hölle Rache ist auf dem Weg zu den Sternen. Aber Sie mit Ihrem Krach und den Verrenkungen! Hinter uns im Palazzo die Traviata, vor uns im Atrium des Doms die Pophyrraute von Barbarossa, dem Deutschen Kaiser, der nichts Wichtigeres zu tun hatte, als sich vor Papst Alexander III. niederzuknien. In der Nähe der Raute darf man nicht mal husten, schon kommt der Domwächter und zieht ein langes Gesicht. Sie aber stören mit dem Geschrei Ihrer Musik ohne Bedenken die Nachtruhe der Heiligen.“

*

Steffen hörte nichts, völlig erschöpft sank er nach dem letzten ver ruchten Ton in sich zusammen und beruhigte sich nicht bis zum Morgen. Violetta, und schon lange Catarina, hatten ihn zu seinem Glück verlassen. Nur die Ratten unter dem Mosaik des Bodens und die Flamingos in den Lagunen weit draußen, sie allein ahnten vom Heil seiner Musik.

Noch auf dem Platz drangen, von sanften Wellen getragene, seltsame Klänge an sein Ohr. Steffen konnte nicht anders, er musste ihnen folgen. Zurückgedrängt wurde er zum Palazzo Barbarigo. Er fand die Türen weit geöffnet und intensiver den Klang hörend, folgte er ihm bis in den kleinen Saal, der eben noch den ersten Akt von La Traviata beherbergte. In der Mitte des Raumes, nur beleuchtet von wenigen Kerzen, stand ein einsamer Hornbläser der verzückt eine zutiefst deutsche Melodie blies. Nie hätte Steffen gedacht, einmal des Freischütz’ Spuren zu folgen, zu wenig waren noch der eigenen Jahre. Doch schien seine Seele den fremden Tönen erlegen und hatte Gefühle in ihn hinein gezaubert, derer er sich bis dahin nicht mächtig glaubte. „Sie sollten sich Ihrer Tränen nicht schämen“, tröstete der Hornist. „Alles Echte hat seinen Platz, und der ist hier.“

Steffen war nicht fähig zu applaudieren, aber der Musiker beruhigte ihn und sagte, Stille sei das wertvollste Kompliment an einen Künstler, aber nun müsse er gehen.

Gespürt hatte Steffen, wie Musik den Menschen ergreifen kann, an diesem Abend war es gleich dreimal geschehen. War das nun gut oder schon zu viel? Steffen wusste keine Antwort und dabei blieb es, bis er wieder den Vollmond über sich und dem Platz bemerkte. Diffuses Licht bemächtigte sich seiner Gefühle und der Wunsch, den Rest der einzigartigen Nacht hier zu bleiben, ließ ihn müde auf die Steinplatten sinken.

Als ihn bei Sonnenaufgang Nona, eine der Glocken des Markusdoms und die Stiefelspitze eines Wächters weckten, die ersten Touristen neugierig auf die makellose Kleidung des Fremden herabsahen, schlugen seine Hände wieder Jimis Takt und Steffens Stimme erhob sich zu den Mauern San Marcos, prallte ab an ihnen und wehte über den großen Canal hinüber zur Giudecca, von dort mühte sie sich, seinem Idol zu folgen, ohne es je erreichen zu wollen.

Wieder klang ihm Catarinas Beschreibung des fast schon antik zu nennenden Palazzo Barbarigo in den Ohren. Er erinnerte sich an das Gründungsjahr, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei der Erbauung, das langsame Wachsen des Baukörpers und die vielen unwichtigen Geschichten, die sich um jeden der städtischen Palazzi ranken. Fast ehrfürchtig vor so viel Historie kann man dabei wer den, dachte er. Erneut müde geworden, beschloss Steffen, in sein Hotel zu gehen, dort ein wenig zu schlafen, um sich anschließend, vielleicht zu einem weiteren Gang durch die Stadt, mit Catarina zu verabreden.

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Ponte della donna onesta

Ihre Zusammenkunft ließ nicht lange auf sich warten. Noch bevor Steffens Erholung eingesetzt hatte machte sich jemand an der Zimmertür zu schaffen. Catarina, wie sich herausstellte, war in Eile ohne Anmeldung am Empfang vorbeigegangen und die Treppen zu ihm hinaufgeeilt.

Steffen, der noch müde öffnete, war natürlich erstaunt, fast ein wenig unwillig. „Du musst einen guten Grund haben, mich so zu überraschen. Habe ich etwas versäumt?“

„Du nicht, aber ich. Auf dem Weg zu Barbarigo Minotto sind wir gestern, ohne dass ich darauf hingewiesen hätte, über die Ponte della Donna onesta gegangen. Das ist eine kleine Brücke aus Gusseisen über den Rio de la Frescada. Niemand weiß so genau, wie sie zu ihrem merkwürdigen Namen gekommen war, Gerüchte gibt es einige. Jedenfalls ist auf der unverputzten Ziegelwand eines neben ihr befindlichen Hauses das beschädigte Gesicht einer Frau zu sehen, die in ihm gelebt haben könnte. Sie soll untreu gewesen sein und sich deshalb das Leben genommen haben, oder dass die Brücke bei ihrem überqueren zusammengestürzt sei, was ja nur durch die Schuld des einzigen ehrlichen Menschen Venedigs passieren konnte. Sie sehen, das sind zwei aus einer Menge von vielen Geschichten, nicht eine muss wahr sein.

Normalerweise vermeide ich den kurzen Weg über sie, gestern waren wir in Eile, deshalb die Ausnahme“, Catarina lachte und hüpfte ein bisschen vergnügt von einem Bein auf das andere. „Folge mir“, plötzlich duzte sie ihn, „ich will sie dir zeigen. Die kleine Brücke befindet sich im Sestiere Dorsoduro