Hume. Eine Einführung - Frank Brosow - E-Book

Hume. Eine Einführung E-Book

Frank Brosow

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Beschreibung

David Hume (1711–1776) ist einer der bedeutendsten Philosophen – nicht nur des englischen Sprachraums. Laut Schopenhauer ist aus einer Seite von Hume mehr zu lernen als aus allen Schriften von Hegel, Herbart und Schleiermacher zusammen. Frank Brosow führt in Humes Gesamtwerk ein, etwa in dessen Konzept von Kausalität, seine Überlegungen zum Thema "Freiheit und Determinismus", zu den Affekten, zum Sein-Sollen-Problem oder in Humes religionsphilosophische Ansätze. Der Band wurde vollständig überarbeitet und auf den neusten Stand der Forschung gebracht. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Frank Brosow

Hume

Eine Einführung

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Coverabbildung: Porträt von David Hume, Ausschnitt aus einem Ölgemälde von Allan Ramsay, 1754

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961830-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019698-4

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung: Was macht einen philosophischen Klassiker aus?

Die Wissenschaft vom Menschen

Grundbegriffe und Methodik

Die Vernunft und ihre Grenzen

Was ist Kausalität?

Freiheit und Determinismus

Der Mechanismus der Affekte

Das Scheingefecht zwischen Vernunft und Gefühl

Lässt sich über Geschmack streiten?

Sein und Sollen

Das moralische Gefühl

Natürliche und künstliche Tugenden

Recht und Gesellschaft

Die Irrtümer der Religion

Wie man philosophieren soll

Hume heute: Was bleibt?

Kommentierte Auswahlbibliografie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

[7]Einleitung: Was macht einen philosophischen Klassiker aus?

David Hume (1711–1776) gilt vielen Philosophiehistorikern weltweit als der bedeutendste Denker1 des englischen Sprachraums. Immanuel Kant (1724–1804) gibt an, erst Hume habe ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. Arthur Schopenhauer (1788–1860) zufolge ist aus einer Seite der Hume’schen Werke mehr zu lernen als aus allen Schriften Hegels, Herbarts und Schleiermachers zusammen. Hegel (1770–1831) selbst schließt sich diesem Urteil zwar nicht an, sieht in Hume jedoch neben Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) einen der beiden Ausgangspunkte der deutschen Philosophie.

Über Humes herausragende philosophiehistorische Bedeutung besteht also breite Einigkeit. Ungeachtet dessen ist sein Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung nicht sonderlich hoch. So stellt sich die Frage, was es eigentlich bedeutet, jemandem den Status eines philosophischen Klassikers zuzuerkennen.

Ein Außenstehender, der sich zum ersten Mal mit Philosophie beschäftigt, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass Philosophen seit über zweitausend Jahren über dieselben Probleme diskutieren, ohne jemals zu einem Ergebnis im Sinne einer von allen anerkannten Lösung zu gelangen. Es wäre jedoch ein Fehler, aus der Vielzahl der noch heute diskutierten Lösungsansätze auf die generelle Fruchtlosigkeit philosophischer Überlegungen zu schließen. Einer derartigen Denkweise liegt ein grundsätzliches Missverständnis der Ziele und Zwecke philosophischen Denkens zugrunde. Dieses Missverständnis lässt sich vielleicht am besten an einem Beispiel aus dem Alltag veranschaulichen:

Stellen Sie sich vor, Sie fragen in einer fremden Stadt verschiedene Passanten nach dem Weg zum Bahnhof. [8]Wahrscheinlich werden Sie eine Vielzahl verschiedener Antworten erhalten. Aber würden Sie aus dieser Tatsache folgern, dass keiner der Gefragten den Weg zum Bahnhof kennt, dass sich die genaue Position des Bahnhofs nicht zuverlässig ermitteln lässt oder dass die Stadt am Ende vielleicht gar keinen Bahnhof hat? Sicher nicht.

Der offensichtlichste Grund für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wegbeschreibungen ist Ihr jeweiliger Standort. Wenn Sie auf dem Marktplatz nach dem Weg zum Bahnhof fragen, werden Sie andere Antworten erhalten, als wenn Sie dieselbe Frage am Stadtrand stellen. Bei genauerem Hinsehen werden Sie außerdem feststellen, dass viele der Wegbeschreibungen keine unterschiedlichen Wege beschreiben, sondern sich nur unterschiedlicher Begriffe oder Methoden bedienen, um denselben Weg zu beschreiben. Wenn Sie alle falschen oder ungenauen Wegbeschreibungen verworfen haben, die Sie nicht zu Ihrem Ziel, sondern stattdessen in eine Sackgasse oder vielleicht zum Busbahnhof führen, werden noch immer mehrere verschiedene taugliche Wegbeschreibungen übrig bleiben. Welche davon die beste ist, wird sich nicht eindeutig entscheiden lassen, denn der interessanteste Weg wird nur selten mit dem schnellsten, kürzesten oder einfachsten zusammenfallen, und die genauste Art der Wegbeschreibung ist meist nicht gleichzeitig auch die einprägsamste.

Die Pointe dieses Vergleichs ist die folgende: Natürlich müssen Sie nicht alle Wege und ihre unterschiedlichen Beschreibungsmöglichkeiten kennen, um zum Bahnhof zu gelangen. In der Praxis reicht es meist aus, sich einen einzigen möglichen Weg auf eine einzige Art beschreiben zu lassen. Aber solange Sie nur diesen einen Weg zum Bahnhof kennen und nur wenige Arten beherrschen, ihn zu beschreiben, können Sie nicht behaupten, sich in der Stadt tatsächlich auszukennen. Und wenn Sie schließlich nach aufwendigen Untersuchungen die [9]nötige Ortskenntnis erworben haben, so lässt sich dieses Expertenwissen nicht in Form einfacher Antworten an andere weitergeben.

Genau hier liegt die Parallele zum Projekt der Philosophie. Als »Liebe zur Weisheit« geht es ihr darum, die Grenzen sinnvollen Denkens abzustecken und das Gebiet innerhalb dieser Grenzen möglichst vollständig und detailliert zu kartografieren. Dieses abstrakte Ziel lässt sich nur durch das Nachdenken über konkrete philosophische Fragestellungen erreichen. Die Beschäftigung mit Einzelproblemen ist dabei jedoch niemals reiner Selbstzweck, sondern immer auch ein Mittel zum übergeordneten Zweck, das menschliche Denken im Ganzen zu verstehen.

Aus diesem Grunde macht es wenig Sinn, einen Philosophiehistoriker nach der einen (objektiv) richtigen oder zumindest besten Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kausalität, der Freiheit des menschlichen Willens oder der Quelle der moralischen Verbindlichkeit zu fragen. Mit der Forderung nach einer einzigen, einfachen Antwort lässt der Fragende bereits erkennen, dass es ihm nicht um ein tieferes Verständnis des Problems, sondern um triviales Faktenwissen geht. Es verwundert daher nicht, dass viele Philosophen auf derartige Fragen zuweilen höchst unkooperativ reagieren.

Die Philosophie produziert nicht in der Weise Antworten, wie die Automobilbranche Autos produziert. Philosophen sind auch keine Dienstleister, die für andere abstrakte Probleme lösen, so wie ein Uhrmacher eine stehen gebliebene Uhr repariert. Die Philosophie ist ihrem Selbstverständnis nach nicht dazu da, den Menschen das Nachdenken abzunehmen; sie will sie vielmehr zum eigenen Nachdenken anregen und anleiten. Anders als viele andere Wissenschaften, die öffentlich für ihren gesellschaftlichen Nutzen gelobt werden, will sie das Leben der Menschen nicht einfacher, sondern komplexer [10]machen und gerade dadurch auf eine ihr eigentümliche Art bereichern. Ihr großer Feind ist damit nicht etwa die Unwissenheit, sondern die Einfältigkeit, die nach Bernard Williams darin besteht, »zu wenig Gedanken und Gefühle zu haben, um die Welt, wie sie ist, zu begreifen«2.

Wenn herausragenden Denkern wie David Hume der Status eines Klassikers der Philosophiegeschichte zugesprochen wird, so bedeutet das, dass diese Personen das Projekt der Philosophie um einen bedeutenden Schritt vorangebracht haben. Ihre besondere Leistung besteht in der Regel nicht darin, ein bestimmtes Problem ein für alle Mal gelöst und damit weitere Diskussionen darüber überflüssig gemacht zu haben. Sie besteht vielmehr darin, eine neue Art und Weise aufgezeigt zu haben, wie man über die grundlegenden Probleme der Menschheit nachdenken kann.

Warum also lohnt sich die Beschäftigung mit David Humes Philosophie? Weil sie Ihr Denken bereichern wird! Und das ist wahrscheinlich das schönste Kompliment, das man einem Philosophen machen kann.

Das übergeordnete Ziel dieser Einführung wird es daher sein, die systematischen Besonderheiten von Humes philosophischer Methode herauszuarbeiten und am Beispiel der wichtigsten Themengebiete aus dem breiten Spektrum der Hume’schen Philosophie zu veranschaulichen.

Zu nahezu jedem zentralen Begriff und zu jedem Argumentationsstrang der Hume’schen Schriften finden sich in der Sekundärliteratur weit verzweigte Diskussionen. Nicht immer herrscht Einigkeit über die systematische Relevanz und die angemessene Auslegung bestimmter Textstellen,3 und vielfach ergeben sich Spannungen zwischen einzelnen Werken,4 die manchmal auf Inkonsistenzen, in anderen Fällen auf eine inhaltliche Weiterentwicklung der Hume’schen Position hindeuten. Zudem hat es zu keinem Zeitpunkt der [11]Rezeptionsgeschichte an Beiträgen gemangelt, die in kritischer Absicht auf die systematischen Probleme des Hume’schen Ansatzes hingewiesen haben. In Deutschland erfolgt diese Kritik nicht selten aus kantischer Perspektive, während im englischen Sprachraum zumeist die isolierte Betrachtung systematisch interessanter Einzelprobleme im Vordergrund steht.

Wenn die vorliegende Einführung all diese Diskussionen allenfalls am Rande erwähnt, so geschieht dies nicht, um die in ihnen angesprochenen Probleme zu bagatellisieren, sondern in der Absicht, eine erste Grundlage für ihr Verständnis und ihre Diskussion zu schaffen. Wer Humes Argumente in ihrer Vielschichtigkeit würdigen und einer systematischen Kritik unterziehen will, sollte sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen, was seinen Ansatz eigentlich ausmacht. Erst vor dem Hintergrund eines solchen Maßstabs, der bis zu einem gewissen Grad stets subjektiv bleiben wird, können die vielfältigen Deutungsansätze und Argumente der Sekundärliteratur ihrerseits auf ihre Angemessenheit hin untersucht werden. Die vorliegende Einführung möchte Ihnen helfen, einen solchen Maßstab zu entwickeln. Gleichzeitig empfiehlt es sich jedoch, sich gegenüber Humes Argumenten und ihrer Darstellung stets eine gewisse (für Hume so typische) Skepsis zu bewahren. Da dieser Text kein Kommentar zu Humes Schriften sein will, sondern sich als eine problemorientierte Einführung in die Hume’sche Art zu denken versteht, werden Humes Argumente nicht in derjenigen Reihenfolge dargestellt, in der er sie in seinen Texten behandelt, sondern in ihrem systematischen Zusammenhang erläutert und durch Beispiele veranschaulicht.

[13]Die Wissenschaft vom Menschen

Um Humes philosophisches Projekt zu verstehen, muss man zunächst nach dem geistigen Klima fragen, das zur Zeit seines Schaffens, also um die Mitte des 18. Jahrhunderts herum, in Europa im Allgemeinen und in seiner Heimat Schottland im Besonderen geherrscht hat. Aus heutiger Sicht sind mindestens drei Begriffe zur Charakterisierung dieses geistesgeschichtlichen Hintergrunds von besonderer Bedeutung: Neuzeit, Empirismus und Aufklärung.

Als Neuzeit bezeichnen wir heute sehr allgemein diejenige Epoche, die das Mittelalter abgelöst hat und je nach Sprachgebrauch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts oder bis in die Gegenwart hinein andauert. Ihr Beginn wird durch verschiedene historische Ereignisse, Entdeckungen und technische Errungenschaften markiert, unter anderem durch den Fall Konstantinopels, die Erfindung des Buchdrucks, die Entdeckung Amerikas, die Durchsetzung des heliozentrischen Weltbildes und die Reformation. Kulturgeschichtlich ist die frühe Neuzeit durch die Renaissance und den Humanismus charakterisiert. Neben die im Mittelalter noch alternativlose christliche Weltsicht tritt die Rückbesinnung auf antike Denkweisen und Wertvorstellungen. Von dieser Grundlage aus kommt es auf vielen Gebieten zur Entwicklung innovativer Theorien, insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften. Als Grundlage genuin philosophischer Theoriebildung tritt die im Mittelalter noch maßgebliche scholastische Methode mit ihren starken Bezügen auf die Autorität der Bibel und der Texte des Aristoteles (384–322 v. Chr.) in den Hintergrund, während neue Prinzipien des Denkens zusehends an Bedeutung gewinnen.

Der Prozess der geistigen und politischen Emanzipation des denkenden Individuums von traditionellen Autoritäten gipfelt [14]im 17. und 18. Jahrhundert in der Bewegung der Aufklärung. Immer mehr Gelehrte beginnen, ihre Schriften nicht länger in der Wissenschaftssprache Latein, sondern in ihrer jeweiligen Volkssprache zu verfassen. Mithilfe des Buchdrucks können ihre Theorien vergleichsweise schnell und weit verbreitet werden.5 In Frankreich entsteht unter der Federführung von Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) die berühmte Enzyklopädie.6 Viele zeitgenössische Autoren nehmen ihre Zeit als »age of improvement« wahr und werden von einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Fortschrittsoptimismus beflügelt. Den traditionellen, auf Offenbarung und kirchliche Autorität gegründeten Religionen wird die Idee einer natürlichen Vernunftreligion gegenübergestellt. Auf politischer Ebene kommt es zu bedeutenden Umbrüchen wie der Glorious Revolution von 1688/89, der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, der Französischen Revolution von 1789 und letztlich zur weltweiten Etablierung der Idee allgemeiner Menschenrechte.

Humes Geburtsstadt Edinburgh entwickelt sich zum Zentrum der schottischen Aufklärung. Das ökonomisch und kulturell lange eher unbedeutende Land bringt innerhalb weniger Jahrzehnte einige der herausragendsten Persönlichkeiten der europäischen Aufklärung hervor.

Im Bereich der Philosophie trägt die Aufklärung inhaltlich unter anderem zur Zurückdrängung religiöser Dogmen und zu einer gewissen Aufwertung eines gemäßigten Skeptizismus bei. Methodisch ist sie gerade in ihrer frühen Phase von dem verstärkten Bemühen um die Klärung von Begriffen geprägt.

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Empirismus und Rationalismus.7 Da diese Begriffe von den damaligen Philosophen noch nicht verwendet werden und sich kaum eine Theorie eindeutig, restlos und zweifelsfrei einer dieser beiden Denkrichtungen [15]zuordnen lässt, sollte man dieses Begriffspaar jedoch nicht als Bezeichnung für zwei klar gegeneinander abgrenzbare Lager verstehen, sondern eher als Bezeichnung für zwei einander gegenüberliegende Pole, denen verschiedene philosophische Theorien dieser Zeit unterschiedlich nahe stehen.

Als empiristisch wird eine Theorie bezeichnet, insofern sie die Erfahrung als den grundlegenden Faktor menschlicher Erkenntnis betrachtet und der Vernunft lediglich die Rolle eines (durchaus wichtigen) Werkzeugs zumisst. Was nicht zunächst in irgendeiner Form erfahren wurde, kann dem Empirismus zufolge kein (sinnvoller) Gegenstand des Denkens sein. Empiristische Theorien setzen bei einzelnen Erfahrungen an, also bei konkreten Wahrnehmungen, Beobachtungen oder Experimenten, aus denen erst in einem zweiten Schritt allgemeine Erkenntnisse und Prinzipien abgeleitet werden. Das Denken der Empiristen schreitet grundsätzlich also vom Einfachen und Konkreten zum Allgemeinen und Abstrakten fort. Man bezeichnet das auch als die induktive Methode. Einige der wichtigsten in erster Linie dem Empirismus zuzurechnenden Denker sind Francis Bacon (1561–1626), Pierre Gassendi (1592–1655), John Locke (1632–1704), George Berkeley (1685–1753) und David Hume.

Als rationalistisch bezeichnet man hingegen Theorien, die die Vernunft als wichtigste Grundlage von Erkenntnis betrachten, indem sie von angeborenen Inhalten oder Prinzipien des Denkens ausgehen, während sie der Erfahrung nur eine der Vernunft untergeordnete Bedeutung zuweisen. Rationalistische Theorien setzen bei Begriffen an, die gerade nicht durch Erfahrung (a posteriori), sondern durch reines Denken (a priori) erkennbar sind. Von diesen allgemeinen Grundbegriffen aus (zum Beispiel »Notwendigkeit«, »Unendlichkeit«, »Substanz«) entwickeln Rationalisten ihre weiteren Gedanken. Ihr Denken bewegt sich vom Allgemeinen zum Besonderen, was auch als [16]deduktive Methode bezeichnet wird. Wichtige, traditionell dem Rationalismus zugerechnete Denker sind René Descartes (1596–1650), Nicolas Malebranche (1638–1715), Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Christian Wolff (1679–1754), Samuel Clarke (1675–1729) und Ralph Cudworth (1617–1688).

Wer diese Hintergründe kennt, hat es leichter, die zentralen Elemente der Hume’schen Philosophie zu verstehen. Hume ist vom Fortschritt der Naturwissenschaften seiner Zeit stark beeindruckt. Sein großes Vorbild ist Isaac Newton (1643–1727), der Entdecker der Gravitationsgesetze. In gewisser Weise will Hume ein Newton der Geisteswissenschaften werden. Wie ist das zu verstehen? Newton war es gelungen, die von Galileo Galilei (1564–1642) aufgestellten Fallgesetze und die von Johannes Kepler (1571–1630) entdeckten Prinzipien der Planetenbewegungen zu einer einheitlichen Theorie der Gravitation zu vereinigen. Irdische und astronomische Phänomene ließen sich nun durch dieselben Gesetzmäßigkeiten beschreiben und erklären – und zwar nicht nur annäherungsweise, sondern mit großer Präzision. Hume hofft, dass ihm ein ähnlicher Durchbruch auch in den Geisteswissenschaften gelingen wird. Er will eine Theorie der menschlichen Natur entwickeln, durch die all die verschiedenen Aspekte menschlichen Erkennens, Handelns, Urteilens und Zusammenlebens erklärbar werden. Dies glaubt er erreichen zu können, indem er alle Aspekte des menschlichen Lebens auf einige wenige, grundlegende Prinzipien der menschlichen Natur zurückführt.

Doch warum interessiert sich Hume nur für die menschliche Natur und nicht etwa für die Natur im Ganzen? Im Zentrum seiner Philosophie steht das menschliche Individuum, weil er verstanden hat, dass unsere Ansichten über die äußere Natur nicht unabhängig von der Beschaffenheit unseres eigenen Erkenntnisapparats sind. Wie wir über die Welt denken, [17]wird von den Prinzipien unserer Natur bestimmt. Bevor wir beanspruchen können, etwas über die Welt zu wissen, müssen wir zuerst verstehen, was es überhaupt bedeutet, etwas zu wissen oder von etwas überzeugt zu sein. Der Tradition von Locke folgend, ordnet Hume das Weltverständnis daher konsequent dem menschlichen Selbstverständnis unter. Seine Wissenschaft vom Menschen schließt die anderen Wissenschaften entweder ein oder bildet zumindest ihre unverzichtbare Voraussetzung. (Vgl. T Intro. 4; SBN xv) Um sinnvolle Fragen über die äußere Welt stellen zu können, müssen wir zunächst uns selbst verstehen und die Grenzen menschlicher Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit ausloten.

Durch diesen Ansatz tritt Hume sowohl inhaltlich als auch methodisch in Opposition zur kirchlichen Dogmatik, die meint, objektive Aussagen über die Beschaffenheit der Welt allein auf die Autorität der Bibel stützen und ohne jeglichen Bezug auf den Menschen als erkennendes Subjekt formulieren zu können. Hier zeigt sich Hume als engagierter Aufklärer. Die Religion seiner Zeit betrachtet er vorwiegend als eine Quelle für Aberglauben und Unvernunft. Dieser für die menschliche Gesellschaft schädlichen Tendenz setzt er seine eigene Philosophie entgegen, die zu wesentlichen Anteilen in einer Anleitung zum korrekten Vernunftgebrauch und zum Fällen angemessener Werturteile besteht. Spätestens seit er – als Folge des publizistischen Misserfolgs seines Traktats über die menschliche Natur – die Stilform des Essays für sich entdeckt hat, wendet sich Hume in seinen Schriften vorwiegend an ein vergleichsweise breites Publikum, dem er seine Theorien in verständlicher und dennoch kunstvoller Sprache näherzubringen versucht. Auf diese Weise hofft er der Ausbreitung des Aberglaubens entgegenwirken zu können, soweit das im Rahmen philosophischer Theoriebildung eben möglich ist. Besonders wichtig ist Hume dieser Kampf gegen den Aberglauben im [18]Bereich der Moral, die seiner Ansicht nach gänzlich vom schädlichen Einfluss falsch verstandener Religion befreit werden muss.

In Humes Ablehnung dogmatischen und spekulativen Denkens liegt ein weiterer Grund für seine Hochschätzung der naturwissenschaftlichen Methodik Newtons. Auch Newtons Theorie beruht nicht auf bloßen Spekulationen, sondern ist durch Erfahrung überprüfbar. In den Naturwissenschaften kann man Experimente durchführen, durch die bestimmte Theorien gestützt, andere hingegen eindeutig widerlegt werden. Als Empirist ist Hume von diesem Verfahren fasziniert. Im Untertitel des Traktats charakterisiert er sein Hauptwerk als den Versuch, die experimentelle Methode in den Bereich der Geisteswissenschaften (moral subjects) einzuführen. Dies darf freilich nicht wörtlich verstanden werden, denn Experimente im engeren Sinne lassen sich in den verschiedenen Disziplinen der Geisteswissenschaften in der Regel nicht durchführen. Darüber ist sich auch Hume im Klaren. Sein Ziel ist die Entwicklung einer empirischen, das heißt sich eng am Maßstab der Erfahrung orientierenden Wissenschaft vom Menschen (verstanden als geistiges Wesen). Der in den Naturwissenschaften übliche Einsatz von Experimenten wird in Humes »science of man« durch die genaue Beobachtung der Menschen im Alltag und einen möglichst unparteiischen Blick in die menschliche Geschichte ersetzt.8

Hier wird deutlich, dass Hume als Theoretiker an mindestens zwei verschiedenen Fronten kämpfen muss. Auf der einen Seite steht er den Dogmatikern und Scholastikern gegenüber, die in den Augen der Aufklärer antiquierten Vorstellungen über die Quellen und Methoden menschlicher Erkenntnis anhängen. Auf der anderen Seite grenzt er sich von den Rationalisten ab, die seiner Ansicht nach der Erfahrung zu wenig Bedeutung beimessen und sich stattdessen durch ihre [19]Berufung auf einen unangemessen starken Vernunftbegriff in haltlosen Spekulationen verlieren. Hume wirft den Rationalisten (und teilweise auch den im Vergleich zu ihm selbst weniger konsequenten Empiristen) vor, ebenso wie ihre scholastischen Vorgänger Begriffe zu verwenden, deren Bedeutung unklar bleibt, da sie bei näherer Betrachtung keinen erkennbaren Bezug zur menschlichen Erfahrung aufweisen.9 Was immer den Anspruch erhebt, eine wissenschaftlich fundierte Tatsachenaussage zu sein, muss sich nach Hume an der Erfahrung messen lassen. Wo uns keine Erfahrungen zur Verfügung stehen, an denen wir eine bestimmte Theorie, ihre begrifflichen Bestandteile und inhaltlichen Ergebnisse überprüfen können, rät Hume dazu, eine skeptische Grundhaltung der Aufstellung spekulativer Hypothesen vorzuziehen. Wer philosophieren will, muss die Grenzen vernünftigen Denkens erkennen und sorgsam darauf achten, sie nicht zu überschreiten. Für Hume bedeutet dies, dass sich nur nach streng empiristischen Prinzipien, also auf der Grundlage der Erfahrung, sinnvoll philosophieren lässt – und dass man, so banal dies auch klingen mag, im Zweifel grundsätzlich Skeptiker10 bleiben sollte.

Zusammengefasst: Humes Projekt ist die Klärung der Frage nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur. Sein Ziel ist die Bekämpfung von Vorurteilen, Dogmen und Spekulationen durch die sorgsame Erforschung der Grenzen menschlicher Erkenntnis vor dem Hintergrund eines gemäßigten Skeptizismus. Und seine Methode ist die eines konsequenten Empiristen. Im Zuge dieses Ansatzes fragt Hume immer wieder danach, was wir mit bestimmten, für unser Selbst- und Weltverständnis zentralen Begriffen eigentlich meinen, welche konkreten Vorstellungen wir mit ihnen verbinden und wie diese Vorstellungen entstehen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass viele der traditionell von philosophischen Autoren [20]verwendeten Begriffe keinen erkennbaren Bezug zur Erfahrung aufweisen und somit sinnlos, irreführend und verzichtbar sind. Insbesondere durch diese Kritik fundamentaler philosophischer Begriffe leistet Hume einen bedeutenden Beitrag zum Projekt der Aufklärung.

[21]Grundbegriffe und Methodik

Der Schlüssel zum Verständnis einer philosophischen Theorie liegt in der Klärung ihrer zentralen Begriffe.11 Nach der groben Einbettung der Hume’schen Philosophie in ihren geistesgeschichtlichen Kontext gilt es daher als Nächstes, sich Klarheit über die von Hume verwendete Sprache zu verschaffen. Im Gegensatz zu vielen anderen philosophischen Autoren bedient er sich keiner komplizierten Fachsprache, sondern greift überwiegend auf Begriffe der Alltagssprache zurück. Gerade das macht es jedoch oftmals schwer, zu erkennen, welche der von ihm verwendeten Ausdrücke austauschbar sind und welche er als Termini technici verwendet, also als Fachausdrücke, denen er innerhalb seiner Theorie eine ganz bestimmte, vom Alltagsgebrauch mehr oder weniger stark abweichende Bedeutung zuweist.

Den Ausgangspunkt für Humes gesamte Philosophie bilden die sogenannten Perzeptionen (perceptions).12 Darunter versteht er alle Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Wünsche und sonstigen Bewusstseinsinhalte. Der Begriff des Perzipierens umfasst damit all das, was bei Descartes unter den Begriff des Denkens (cogitare) gefasst wird. Wie Descartes geht auch Hume davon aus, dass wir an der Existenz dieser Bewusstseinsinhalte, mithin an der Tatsache, dass es so etwas wie Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen gibt, nicht sinnvoll zweifeln können. Der Rationalist Descartes meint jedoch, die Unbezweifelbarkeit der Existenz von Bewusstseinsinhalten, zum Beispiel des geistigen Aktes des Zweifelns selbst, versichere uns der Existenz eines Ichs, also einer denkenden Substanz als Träger dieser Bewusstseinsinhalte. Daher der berühmte Satz: Cogito, ergo sum. – Ich denke, also bin ich.13 Diesen Schritt geht Hume nicht mit. Unmittelbar einsehbar ist für ihn nur die Existenz konkreter Perzeptionen, [22]nicht jedoch die Existenz von etwas so Allgemeinem wie einer Substanz.

Die Perzeptionen unterteilt Hume in Eindrücke (impressions) und Vorstellungen bzw. Ideen (ideas). (Vgl. T 1.1.1.1; SBN 1; EHU 2.3; SBN 18.) Unter Eindrücken versteht er Perzeptionen, die unmittelbar und mit großer Lebhaftigkeit erfahren werden. Sie repräsentieren nichts, sondern sind ursprüngliche Entitäten.14 Zu ihnen gehören Gefühle, Wünsche und Sinneswahrnehmungen. Vorstellungen sind hingegen die schwächeren und weniger lebhaften Abbilder von Eindrücken. Von Vorstellungen spricht Hume, wenn wir uns etwa an ein Gefühl erinnern, das nicht mehr gegenwärtig ist, oder uns lediglich vorstellen, einen bestimmten Gegenstand zu sehen.

Eindrücke und Vorstellungen lassen sich jeweils weiter in einfache (simple) und zusammengesetzte (complex) unterteilen. Während Sie dieses Buch in Händen halten und diese Zeilen lesen, haben Sie nach Hume den komplexen Eindruck eines Buches, der sich aus verschiedenen haptischen und visuellen (einfachen) Eindrücken zusammensetzt. Wenn Sie das Buch weglegen, die Augen schließen und an das Buch denken, ist es Ihrem Geist als eine zusammengesetzte Vorstellung präsent. Aus dieser können Sie einfache Vorstellungen isolieren, indem Sie beispielsweise gezielt daran denken, wie sich das Buch angefühlt hat.

Humes weitere Unterteilung der Perzeptionen ist einigermaßen komplex, für ein angemessenes Verständnis seiner Philosophie jedoch unverzichtbar. Das folgende Schema mag dabei als grobe Orientierungshilfe dienen:

[23]Gemäß der von Hume gewählten Reihenfolge gehe ich zunächst auf den Bereich der Vorstellungen ein. Ein zentraler Streitpunkt zwischen Rationalisten und Empiristen ist die Frage, ob es angeborene Ideen gibt. Descartes hält das für erwiesen, der Empirist Locke hingegen bestreitet es.15 Hume gibt im Wesentlichen Locke recht, kritisiert jedoch, dass der Begriff der Idee (idea) bei Locke auch diejenigen Perzeptionen einschließt, die Hume selbst als Eindrücke bezeichnet. Bestimmte Eindrücke, zum Beispiel Emotionen oder das Hungergefühl eines Säuglings, können nach Hume durchaus als angeboren bezeichnet werden. Für Vorstellungen gilt genau das jedoch nicht. Nach Hume muss zumindest jeder einfachen Vorstellung ein ihr zeitlich vorangehender, einfacher Eindruck entsprechen.16 Man bezeichnet das auch als Copy-These.17 Ein von Geburt an Blinder kann keine Vorstellung von etwas Rotem haben, weil er noch nie eine Farbwahrnehmung hatte.

Mithilfe unserer Einbildungskraft (imagination) können wir allerdings verschiedene einfache Vorstellungen zu immer komplexeren Vorstellungen kombinieren. Um mir ein goldenes Einhorn vorstellen zu können, muss ich also nicht unbedingt schon einmal eines gesehen haben; es reicht aus, wenn ich schon einmal etwas Goldenes, ein Pferd und ein Horn gesehen habe. Ein mindestens ebenso wichtiges Vermögen ist [24]für Hume das Erinnerungsvermögen (memory), das im Vergleich zur Einbildungskraft deutlich lebhaftere Vorstellungen hervorbringt.18 Auf diese Weise ist es uns möglich, zwischen der Erinnerung an reale Erlebnisse und bloßen Fiktionen zu unterscheiden. So erkennen wir die Vorstellung eines Einhorns nach Hume als Fantasieprodukt, weil wir sie ganz anders (weniger lebhaft) perzipieren als etwa die Vorstellung eines Nashorns (sofern wir schon einmal eines gesehen haben).

Durch diesen Ansatz meint Hume die Entstehung all unserer Vorstellungen erklären zu können. Doch was ist mit allgemeinen Vorstellungen wie denen von Obst, Werkzeug oder Säugetieren? Liegen derartigen Vorstellungen ebenfalls Eindrücke zugrunde? In gewisser Weise ist das so. Hume folgt hier im Wesentlichen der Theorie von George Berkeley.19 Er vertritt die Auffassung, dass uns allgemeine oder abstrakte Vorstellungen (abstract or general ideas) stets in Form von konkreten Vorstellungen präsent sind. (Vgl. T 1.1.7.1–18; SBN