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Viele Hundebesitzer wünschen sich nichts mehr, als "einfach entspannt vorbei gehen" zu können, wenn ihnen ein anderer Hund begegnet. Dieses Buch bietet positive Trainingswege gegen Leinenaggression und einen ganzheitlichen Blick auf das Problem. Es hilft zu verstehen, wie die Grundbedürfnisse des Hundes, seine Gesundheit und emotionale Balance mit seinem Verhalten zusammenhängen. Ein ganzes Bündel an konkreten Trainingsansätzen bietet für jedes Mensch-Hund-Team die passende Möglichkeit, auf das Ziel der gelassenen Hundebegegnung hinzuarbeiten. Authentische Fallbeispiele aus der Praxis der Autorin machen Mut, auch mit einem schwierigen Hund nicht aufzugeben!
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Seitenzahl: 171
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HUND TRIFFT HUND
ENTSPANNTE HUNDEBEGEGNUNGEN AN DER LEINE
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
Katrien Lismont
HUND TRIFFT HUND
ENTSPANNTE HUNDEBEGEGNUNGEN AN DER LEINE
Haftungsausschluss
Die Autorin, der Verlag und alle weiteren direkt und indirekt an diesem Werk beteiligten Personen haben dieses Buch nach bestem Wissen und Gewissen und mit großer Sorgfalt zusammengestellt. Für eventuelle Schäden, die als Folge von Handlungen und/oder befasster Beschlüsse aufgrund der in diesem Buch gegebenen Informationen und Philosophien entstehen könnten, kann jedoch keine Haftung übernommen werden.
IMPRESSUM
Copyright © 2017 Cadmos Verlag GmbH, Schwarzenbek
Titelgestaltung und Layout: www.ravenstein2.de
Satz: Pinkhouse Design, Wien
Coverfoto: Archiv Lismont/Kathi Thiele
Fotos im Innenteil: Archiv Lismont, Shutterstock.com
Lektorat der Originalausgabe: Maren Müller
Konvertierung: S4Carlisle Publishing Services
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach
vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
eISBN: 978-3-8404-6443-0
INHALT
Einleitung
Gewaltfrei… ist was genau?
Effektives, zielorientiertes und pragmatisches Training
Selbstwirksamkeit fördern
Körpersprache verstehen und berücksichtigen
Die Hierarchie der Verfahren zur Verhaltensänderung
Ganzheitlicher Ansatz: Panorama statt Lupe
Wie geht es meinem Hund?
Gesundheit
Ernährung
Körperliche, seelische und mentale Verfassung
Was kann ich verändern?
Verhalten
Konsequenzen
Antezedenzien
Wie funktioniert positives Training?
Operante Konditionierung
Markertraining
Steter Tropfen …
Generalisierung
Allgemeine Trainingshinweise
Wie kann ich effektiv trainieren?
Aufmerksamkeit und Umorientierung
Wissen rund um die Leinenführigkeit
Hilfreiche Verhaltensweisen für Begegnungssituationen
BAT-Training – Selbstwirksam zu neuen Perspektiven
Tellington TTouch®
Schlusswort
Anhang
Danksagung
Über die Autorin
Literatur
Foto: Archiv Lismont/Kathi Thiele)
EINLEITUNG
(Foto: shutterstock.com/Grigorita Ko)
Es ist peinlich, ärgerlich und kann jeden Hundehalter zur Verzweiflung bringen. Es regt auf, es grenzt aus, es schränkt ein und es ist schlussendlich nicht immer ungefährlich: reaktives Verhalten von Hunden an der Leine. Es kann überall passieren: vor der eigenen Haustür, einige Meter weiter am Nachbarzaun, draußen zwischen den Feldern oder im Stadtpark. Je nachdem, wie groß und wie stark der reagierende Hund ist, verlagert sich die Stimmung Richtung Tiefpunkt. Es mag bessere und schlechtere Tage geben, aber im Großen und Ganzen werden Spaziergänge zum Gräuel. Personen, die einem begegnen, werden nicht selten als rücksichtslos eingestuft und Woche für Woche reduziert sich das „Gassi-Universum“ auf einige sichere Wege und Tageszeiten. Als Hundehalter fühlt man sich verlassen, unverstanden, ohnmächtig und man gerät zunehmend in einen Beziehungskonflikt mit seinem geliebten vierbeinigen Freund: Man fühlt sich hin- und hergerissen zwischen Zuneigung und Abneigung. „Drinnen ist er doch der Bravste“ – zumindest ist das häufig so. Wie er sich draußen verhält, ist aber einfach furchtbar und sieht aggressiv aus, obwohl es – so viel sei hier schon einmal gesagt – meistens keine echte Aggression ist, sondern eine mehr oder weniger starke emotionale Überreaktion, die verschiedenste Gründe haben kann.
Bei der Suche nach den Ursachen begibt man sich auf einen langen Weg, der meist weit weg von der eigenen Haustür beginnt: die Rasse und der Zuchtzweck, die Ahnen, der Züchter, die ersten acht Wochen, die Vorgeschichte, die Vorbesitzer, die anderen Hunde, die ahnungslosen anderen Spaziergänger …Und es ist durchaus möglich, dass etwas oder sogar einiges davon bei der Entwicklung dieses Verhaltens eine wichtige Rolle spielt oder gespielt hat. Selten kann man die Ursachen für Reaktivität an der Leine auf einen Faktor reduzieren. Sicher lässt sich allerdings sagen, dass an den vergangenen Geschehnissen und Zuständen nichts mehr zu ändern ist. Und ebenso sicher ist es, dass eigenes falsches Vorgehen, unangemessenes Training und möglicherweise tief wirkende Traumata ihre Spuren hinterlassen. Selbstverständlich kann das Wissen um all diese Dinge dazu beitragen, eine Verschlimmerung des Verhaltens zu vermeiden oder sogar unangenehmen Vorfällen vorzubeugen, aber viel wichtiger ist es, den Status quo zu erfassen und von dieser Basis aus nach vorn zu schauen. Jedes Verhalten des Hundes hat eine Funktion. Herauszufinden, welche das ist, ist ein spannendes Abenteuer.
„Verhaltensanalyse bedeutet, ein Individuum zu studieren.“(Susan Friedman, Zitat übersetzt von der Autorin)
Verhalten ist etwas sehr Individuelles und immer etwas komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Kein Hund, kein Team, keine Geschichte ist wie eine andere. Das Thema „Leinenreaktivität“ ist so facettenreich, dass man nie auslernt. Täglich kommen in der Praxis neue Erfahrungen und neue Ursachenkombinationen hinzu. Für mich als Verhaltenstrainerin ist es daher besonders wichtig, immer flexibel und kreativ zu bleiben, mich ständig weiterzubilden, neue Perspektiven kennenzulernen und die alten zu vertiefen. Schema F kann nun mal nicht für jedes individuelle Mensch-Hund-Team passen. Mit diesem Buch möchte ich einige erprobte Ansätze aufzeigen und meine Gedanken dazu mit Ihnen teilen. Sie stellen selbstverständlich nur einen Teil der verfügbaren Möglichkeiten dar, ich halte sie aber für geeignet, Ihnen einen Fächer von ganzheitlich orientierten, ineinandergreifenden Vorgehensweisen zu eröffnen. Ich schöpfe dabei aus dem Repertoire vieler fantastischer Hundetrainerinnen und -trainer, angereichert mit meiner persönlichen Erfahrung aus zahlreichen praktischen Trainingseinheiten.
Wie Sie feststellen werden, gehe ich noch vor den konkreten Trainingstipps und Übungen recht ausführlich auf die Gesundheit und den ausgewogenen Alltag unserer Hunde ein. Ich wünsche mir, dass Sie diesem Kapitel ebenso große Aufmerksamkeit widmen wie den anderen, denn hier geht es darum, die Grundlagen für effektives Training zu schaffen. Werden diese Aspekte nicht berücksichtigt, wird lediglich an Symptomen trainiert, die Ursachen bleiben jedoch bestehen.
Gewaltfrei… ist was genau?
„Gewaltfrei“ ist ein geflügeltes Wort. Wer im Internet nach einer Hundeschule sucht, wird ihm häufig begegnen. Was genau die einzelnen Anbieter unter gewaltfreiem Umgang verstehen, ist jedoch sehr unterschiedlich. Ich möchte hier betonen, dass es für gewaltfreies Training nicht genügt, auf Schläge und sonstige offensichtliche Grobheiten zu verzichten. Sogenannte „Leinenimpulse“, das Abdrängen mit dem Körper, das Werfen mit Gegenständen oder das Spritzen mit Wasser sind, auch wenn sie den Hund „nur“ erschrecken sollen, ebenfalls keineswegs gewaltfrei und bringen darüber hinaus häufig lediglich kurzzeitige statt nachhaltige Erfolge. Sie führen nicht selten zu einer Gewaltspirale, bei der immer gröber mit dem Hund umgegangen wird. Ein angenehmes und produktives Lernklima lässt sich so hingegen nicht erreichen. Und sind wir mal ehrlich: Haben wir einen Hund in unser Leben geholt, um ihn zu schubsen, zu zwingen, zu drängen, zu drücken, zu ziehen, zu zerren, anzuschreien oder zu bedrohen? Würden Sie so mit Ihrem liebsten Freund umgehen? Sicher nicht!
Positives Training basiert auf gegenseitigem Vertrauen – Gewalt hat hier keinen Platz! (Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
Wenn es um gewaltfreies Training geht, gibt es nicht „nur ein bisschen“ oder eine „Nuance“. Gewaltfreies Training ist auch keine „Geschmackssache“. Und „ganz besondere Umstände“ oder „extrem gefährliche Hunde“ gewähren ebenso wenig einen Freischein für Gewaltanwendung, auch wenn dieses Argument nur zu gern in Diskussionen hervorgebracht wird. Gewaltfreies Training ist eine Entscheidung und beinhaltet immer den Verzicht auf jegliche Form von Handgreiflichkeiten, Zufügung von Schmerzen oder Bedrohung. Die Arbeit mit positiver Verstärkung, wie sie in diesem Buch und vielen anderen lesenswerten Büchern beschrieben wird, findet weltweit täglich bei Wildtieren, wehrhaften Zootieren und Meeressäugern Anwendung. Warum sollte sie dann nicht auch bei unseren Haushunden funktionieren, auch wenn sie in irgendeiner Form entgleistes Verhalten zeigen?
Wenn wir mit erfüllenden Belohnungen arbeiten, findet der Hund auch am Verhaltenstraining Spaß. (Foto: Katrien Lismont)
Effektives, zielorientiertes und pragmatisches Training
Dieses Buch soll ein Leitfaden sein, mit dem man das Thema Reaktivität an der Leine pragmatisch, gründlich und effektiv angehen kann. Dabei steht der ganzheitliche Blick auf den Hund im Vordergrund, wobei Erziehung und Umerziehung mittels Markertraining eine zentrale Rolle spielen. Ich möchte zeigen, wie es gelingt, nach vorn zu schauen, und wie man mit praktischen Maßnahmen die belastenden Begegnungssituationen entschärfen und bewältigen kann.
Ich finde es wichtig zu verstehen, warum etwas schiefläuft. Wenn man bedenkt, dass entgleistes Verhalten in der Regel ein Symptom für einen deregulierten Gesamtzustand ist, dann wird es nachvollziehbar, dass reine Begegnungstrainings, wie auch immer diese ablaufen, lediglich eine Symptombekämpfung darstellen. Führt man solche Trainings durch, obwohl die „Hausaufgaben“ nicht erledigt sind, wird man schnell an seine Grenzen kommen und den Hund ohne viel Erfolg in belastende Situationen hineinschicken. Hat man die eigentlichen Ursachen und die entsprechenden Maßnahmen im Hier und Jetzt nicht gesucht und gefunden, wird nur die Geduld des Hundehalters auf die Probe gestellt und der gebuchte Hundetrainer ist der Einzige, der aus der Sache einen Nutzen zieht. Wenn Training, egal wie, bei wem und mit welchen (tatsächlich gewaltfreien) Mitteln, nicht zu deutlichen und nachhaltigen Fortschritten führt, muss man die Köpfe zusammenstecken und überlegen, warum es nicht fruchtet.
Bei meinen Vorgesprächen, ohne die ich kein Training beginne, wird jeder Stein umgedreht. Es ist die Basis für die wichtigsten Einsichten und die dringlichsten Maßnahmen. Ebenso bildet es die Entscheidungsgrundlage für die ersten Trainingsschritte. Sind die „Hausaufgaben“ dann erledigt und ist die richtige Trainingsmethode gefunden, hängt ihre Effizienz vom Weitblick des Trainers und der Beharrlichkeit beim Training ab. Gelungene Wiederholungen, angemessene Trainingsvoraussetzungen, passende Verstärker und ein einfühlsamer Umgang bilden die Grundlage. Wenn das Trainingshandwerk richtig verstanden wurde, wird kein unerwünschtes Verhalten belohnt, sondern nur erwünschtes Verhalten geübt und verstärkt. Damit dürfte man nicht auf der Stelle stehen bleiben. Zum guten Handwerk gehören ein geschultes Auge für Verhalten und Konsequenzen, ein präzises Timing, die richtigen Verstärker, Kreativität sowie das Vermeiden und im Notfall das Unterbrechen von unerwünschtem Verhalten.
Selbstwirksamkeit fördern
Durch meine Arbeit mit Tellington TTouch® und meine Erfahrungen mit dem BAT-Training (Behaviour Adjustment Training, dazu später mehr) ist mir besonders bewusst geworden, wie oft und wie viel Hunde im Alltag etwas „müssen“, bevor sie es überhaupt kennen und können. Und wie oft sie sich mehr schlecht als recht durchmogeln, bis irgendwann das Fass „überraschend“ zum Überlaufen gebracht wird.
Das Ziel von positivem Training ist, dem Hund den Freiraum zu geben, durch sein eigenes Verhalten seine Situation und sein Wohlbefinden zu beeinflussen. Dennoch stelle ich oftmals fest, wie sehr man – auch mit dem Training über positive Verstärkung – dem Hund viele Möglichkeiten zu selbstständigen Entscheidungen vorenthalten kann, indem man die Schritt-für-Schritt-Ansagen nicht aus dem alltäglichen Umgang ausschleicht. Eine Liste mit mehr als 150 Signalen, die der Hund verstehen soll und umsetzen kann, führt leider nicht zum selbstständigen Handeln und Entscheiden beim Hund, sondern macht ihn für jeden Schritt abhängig von uns, von unserer stetigen Hilfestellung und von unserem penibel ausgeklügelten Signalsystem. Meine Absicht im Training ist, dem Hund einige wichtige Verhaltensweisen beizubringen, die sehr tief verankert werden, sodass er einfach und flott darauf zurückgreifen kann – selbst in angespannten Situationen. Außerdem sollte das Training darauf ausgerichtet sein, den Hund darin zu bestärken, selbstwirksam erwünschtes Verhalten zu zeigen. Das alles kommt auch dem Hundehalter zugute: Er kann damit aufhören, als Navigationsgerät zu dienen, und muss sich nur eine Kurzliste merken.
Zeit und Raum sind wesentliche Faktoren für das Lernen und Umlernen, für das Lindern und Verändern von fest verankerten Emotionen und Verknüpfungen. Mit dem, was er gelernt hat, und mit Zeit und Raum ist der Hund oftmals erstaunlich gut in der Lage, kompetent und zuverlässig mit schwierigen Situationen umzugehen. Durch die BAT-Trainings kann man diese Selbstwirksamkeit noch einmal erweitern, indem der Hund die nötige Zeit und den nötigen Raum erhält, selbst eine friedliche Strategie für Begegnungen zu entwickeln.
Körpersprache verstehen und berücksichtigen
Damit dem Hund Selbstwirksamkeit eingeräumt werden kann, ist es oberste Priorität, dass sein Mensch lernt, ihn zu verstehen. Hunde „sprechen“ andauernd, nur nicht wie wir. Teils kaum sichtbare, subtile Veränderungen in der Mimik, Haltung, Körperspannung und -ausrichtung sowie feine Gewichtsverlagerungen können uns eine Menge mitteilen. Wenn man sich zusätzlich darin schult, das Umfeld aus der Perspektive des Hundes wahrzunehmen, wird uns seine Situation kristallklar. Darüber hinaus bewegen wir Menschen uns gegenüber dem Hund oft unachtsam. Unsere Körperausrichtung, unsere Haltung und die Position, wo wir gerade stehen, können einen enormen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie der Hund mit den aktuellen Gegebenheiten umgeht. Wenn man erlebt, wie scharf Hunde ihr Umfeld beobachten, und sich genau ansieht, wie sie darauf reagieren, wird man vieles besser verstehen.
Die Hierarchie der Verfahren zur Verhaltensänderung
Ich orientiere mich bei meiner Arbeit gern an der Hierarchie der Verfahren zur Verhaltensänderung von Dr. Susan Friedman. Sie hat mich in meiner Alltagspraxis schon oft ein großes Stück weitergebracht und mir bisher sehr viele Aha-Erlebnisse beschert. Sie liegt auch den folgenden Kapiteln in diesem Buch zugrunde. Einige Elemente habe ich allerdings hinzugefügt, nicht etwa, weil Dr. Friedman sie vergessen hat, sondern weil sie in meinem Trainingsalltag mit Hunden immer wieder auftauchen und ich sie in diesem Buch genauer beschreiben möchte. Es handelt sich um herauskristallisierte Details, die zur Eindeutigkeit meiner Vorgehensweise beitragen. Die drei ersten und wichtigsten Schritte, die in der Grafik auf der folgenden Doppelseite dargestellt sind, bespreche ich in diesem Buch tiefgehend. Schritt vier beinhaltet die differenzielle Verstärkung von alternativem Verhalten. Das bedeutet, wir bringen dem Hund ein neues Verhalten bei, das er anstelle des unerwünschten Verhaltens anbieten kann. Maßnahmen aus diesem Schritt werden im Kapitel über positive Verstärkung einfließen. Allerdings können Sie in der Grafik vor Schritt vier eine Schwelle erkennen, was bedeutet, dass man diese Maßnahmen nur dann ergreifen sollte, wenn die Möglichkeiten der ersten drei Schritte ausgeschöpft sind.
Wie man in der Grafik am Warnzeichen erkennen kann, sollte Schritt fünf nur dann eine Option sein, wenn es gar keine andere Wahl gibt. Gerade bei reaktiven Hunden haben diese Maßnahmen unerwünschte Nebenwirkungen, denn es besteht ein großes Risiko, den Hund zu demotivieren und zu frustrieren, was im ungünstigen Fall aggressives Verhalten verschlimmern oder sogar erst auslösen kann. Außerdem sind die Ergebnisse dieser Maßnahmen oft nicht nachhaltig. Ich werde daher auf diesen Schritt nicht weiter eingehen.
Bei Schritt sechs lassen schon das Stoppschild und die Barriere erkennen, dass hier für alle, die tiergerecht arbeiten wollen, Schluss ist. Positive Strafe wirkt ohne Zweifel, aber sie erhöht den Stress für den Hund, schwächt sein Vertrauen in uns als Bezugsperson und in seine Umwelt und hat außerdem Meideverhalten, Angst, Aggression, Apathie und Frustration zur Folge. Das alles wollen wir nicht in Kauf nehmen.
Die Abbildung zeigt und bewertet alle möglichen Schritte, die zu einer Verhaltensänderung beitragen können. (Archiv Lismont/Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Dr. Susan Friedman, www.behaviorworks.org)
Ganzheitlicher Ansatz: Panorama statt Lupe
Mit den in diesem Buch beschriebenen Schritten soll eine Verbesserung des reaktiven Verhaltens erzielt werden. Garantien gibt es nicht, aber die Möglichkeit, die Reaktivität vollständig zu „therapieren“, besteht sehr wohl, wenn man das Gesamtbild des Hundes ständig im Auge behält und beharrlich trainiert, statt nach kurzer Zeit bereits aufzugeben. Hundetrainer sind keine Zauberer und Hunde keine Roboter mit Ein-Aus-Schalter. Verhaltenstraining beinhaltet immer ein bisschen „Mutmaßen“ und es bedarf zudem viel Geduld. Verhalten, das über eine längere Zeit gewachsen ist, braucht auch seine Zeit, um sich wieder zu verändern.
Es geht mir also darum, Ihnen einen ganzheitlichen Weg aufzuzeigen – angefangen beim Gesundheitszustand des Hundes über das richtige Management und gute Hundehaltung im weitesten Sinne bis hin zu praktischen Trainingstipps im Hinblick auf Hundebegegnungen. Gehen Sie ein Stückchen mit mir mit. Ich möchte Ihnen einen neuen Blickwinkel auf den Umgang mit diesem belastenden Verhalten Ihres Hundes eröffnen.
(Foto: Archiv Lismont/Daphne Mpaltsidis)
WIE GEHT ES MEINEM HUND?
(Foto: Katrien Lismont)
Hier soll es, wie schon angekündigt, erst mal generell um das Befinden unseres Hundes gehen. Wie ist es um seine Gesundheit bestellt? Wird er angemessen ernährt? Wie steht es um sein allgemeines Wohlbefinden? In Bezug auf Letzteres erwähnt Dr. Susan Friedman in ihrer Hierarchie nur die körperliche Verfassung. Ich möchte diesen Bereich gern um die seelischen und mentalen Aspekte des Hundelebens erweitern, da sie meiner Erfahrung nach etwas genauer zu betrachten sind.
Gesundheit
Bei Verhaltensauffälligkeiten hat es oberste Priorität abzuklären, ob der Hund unter gesundheitlichen Einschränkungen leidet. Im Idealfall geschieht das noch vor Beginn des Trainings, aber spätestens wenn beim Training keine Fortschritte zu verzeichnen sind oder sich herausstellt, dass der Hund nicht in der Lage ist zu kooperieren. Hormonelle Störungen, Erkrankungen des Bewegungsapparats oder des Verdauungssystems sowie Allergien und andere Unverträglichkeiten sind nur einige Beispiele für Probleme, die Verhalten beeinflussen können. Das gilt nicht allein für ältere Hunde. Auch wenn der Hund beispielsweise erst ein oder eineinhalb Jahre alt ist und augenscheinlich ungehemmt rennt und spielt, ist es möglich, dass sein Körper ihm Schwierigkeiten bereitet.
Der Besuch bei einem erfahrenen und kompetenten Tierarzt ist also ein erster wichtiger Schritt. Zusätzlich kann ein Termin bei einem gut ausgebildeten und routinierten Physiotherapeuten oder Osteopathen für Hunde aufschlussreich und effektiv sein. Diese Fachleute haben „sehende“ Hände. Sie können selbst viel bewirken und erkennen sehr häufig auch, ob weitere Untersuchungen wie Röntgenbilder erforderlich sind. Eine Komplett- oder Teiluntersuchung durch einen auf Orthopädie spezialisierten Tierarzt kann ebenfalls ein sinnvoller erster Schritt sein. Die Maßnahmen ergänzen sich: Nicht immer zeigt ein Röntgenbild das, was für den Physiotherapeuten ertastbar ist, und umgekehrt. Gute Behandlungen bewirken eine Verbesserung des Zustandes. Ist dies nicht der Fall, sollte man unbedingt eine zweite Meinung einholen.
An dieser Stelle möchte ich davor warnen, das Physische auf einen einzigen Gesundheitsaspekt, zum Beispiel auf eine deregulierte Schilddrüse, zu beschränken. Kausal betrachtet kann diese Störung nämlich die Folge anderer Störungen oder Stressoren sein, die zuerst gefunden und behoben werden müssen. Ebenso sollten Diagnosen und Dosierungen von Medikamenten niemals allein auf Online-Beratung oder telefonischer Beratung basieren. Ein guter Behandler ist am Alltag und an den sonstigen gesundheitlichen Aspekten Ihres Hundes interessiert und möchte ihn auf jeden Fall körperlich und mittels bewährter Diagnosemöglichkeiten untersuchen. Bitte verlassen Sie sich auch niemals auf Laienberatung in Selbsthilfegruppen, die in Internetforen und sozialen Netzwerken reichlich zu finden sind. Das kann für Ihren Hund und seine Gesundheit nachhaltig gefährlich werden.
SCHMERZEN
Wenn es um den Blick auf die Gesundheit des Hundes geht, sind Schmerzen ein wichtiges Thema, auf das ich hier ausführlicher eingehen möchte. Sie sind sehr häufig Verursacher von unerwünschtem Verhalten und gehören zu den größten Saboteuren des Wohlbefindens, der Lebensqualität und der Lebensfreude. Das ist der Grund, warum sie einem Trainingsfortschritt allzu oft im Weg stehen. Das Problem dabei ist, dass unsere Vierbeiner Weltmeister darin sind, Schmerzen vor uns zu verbergen. Erst wenn der Hund humpelt oder Situationen körperlich nicht mehr in gewohnter Weise bewältigen kann, nehmen wir sie wahr. In dem Moment sind die Schmerzen jedoch bereits sehr heftig oder chronisch geworden und schränken den Hund stark ein. Damit Sie in Zukunft leichter erkennen können, ob Ihrem Hund etwas wehtut, habe ich nachfolgend eine Liste mit auffälligen und weniger offensichtlichen Zeichen für Schmerz und Unwohlbefinden zusammengestellt. Sie entstammt meinen Erfahrungen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Der Hund meidet Berührungen und Körpernähe. Will man ihn anfassen, entfernt er sich oder zeigt durch Übersprungsverhalten (etwa Hochspringen, In-die-Leine-Beißen, Wälzen), dass ihn die Situation überfordert.Er friert ein und hält den Atem an, wenn man ihn berührt.Er hält beim Ausführen von Signalen wie dem Bei-Fuß-Laufen, Bei-Fuß-Sitzen oder dem Herankommen eine gewisse Distanz zwischen sich und seiner Bezugsperson.Streichelt man ihn, zeigt er einige oder sogar viele beruhigende Signale (Züngeln, Gähnen, Sich-Schütteln).Er ist beim Begrüßen der Bezugsperson oder von fremden Personen sehr überschwänglich und seine Erregung steigt noch mehr, wenn man ihn dabei berührt.Er friert ein, wenn man ihm Geschirr, Halsband oder Mantel anzieht oder wenn man sich hinunterbeugt, um die Leine einzuhaken oder abzumachen.Er mag es nicht, abgetrocknet zu werden, die Krallen geschnitten zu bekommen oder gebürstet zu werden.Er reagiert hektisch, wenn man ihn trägt oder ihm auf eine Erhöhung hilft.Er knurrt, schnappt in die Luft oder zwickt, wenn man neben ihm auf dem Sofa sitzt oder sich ihm annähert, wenn er gerade irgendwo ruhig liegt.Er kann sich nicht oder nur sehr kurz konzentrieren und lernt langsam.Er läuft Pass, schleift mit den Füßen, hat ein verändertes Gangbild.Er ist sehr unsicher auf glatten, rutschigen Oberflächen oder wenn er Treppen hinunter- oder hochlaufen soll.Er hat aufgehört, körperliche Spiele zu spielen, die er vorher gern gespielt hat. • Er spielt immer nur einige Minuten, dann hört er auf und entfernt sich.Er kann nicht mehr leicht ins oder aus dem Auto steigen oder von einer Erhöhung springen.Sein Fell ist an einigen Stellen struppig, schuppig, farblich verändert oder weist deutliche Wirbel auf.Er steht nicht oder zögernd von seinem Bett auf, wenn man ihn darum bittet.Er setzt oder legt sich unterwegs oft hin oder mag nicht mehr weiterlaufen.Statt sich auf Signal hinzusetzen, legt er sich hin, oder er bleibt nicht lange stehen, sondern legt sich in der Regel schnell hin.Er wirkt irgendwie niedergeschlagen oder in sich gekehrt.Sein Verhalten in neuen Situationen oder bei Begegnungen mit fremden Menschen und Hunden wird zunehmend reaktiv.Seine Geräuschempfindlichkeit hat sich verstärkt.Er reagiert empfindlicher auf Sichtreize, zum Beispiel mit Knurren oder Bellen.Er hat keine Frusttoleranz, ist leicht reizbar und zeigt schnell Übersprungsverhalten oder unerwünschtes Verhalten.Er beschäftigt sich wie besessen mit einem „Hobby“ (zum Beispiel Erde fressen, abgemähte Grasbüschel auflesen, nach Mäusen buddeln) und ist dabei nicht ansprechbar.Er ist „hyperaktiv“ – auch drinnen.Er schläft nicht tief und träumt nicht.