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Martin Wehrle ist erneut dem Irrsinn in deutschen Firmen auf der Spur. In deutschen Betrieben herrschen unverändert haarsträubende Zustände: Die eine Firma verheimlicht ihren Mitarbeitern eine Bombendrohung; die nächste verschickt ihre Kündigungen im selben Umschlag wie die Weihnachtspost. Martin Wehrle hat nach Ich arbeite in einem Irrenhaus Tausende von Rückmeldungen bekommen. Der erste Band hat durch einige Schlüssellöcher gelugt – der zweite Band bringt den wahren Irrsinn ans Licht.
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Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-8437-0335-2
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© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Alle Rechte vorbehalten Illustrationen: Dirk Meissner Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin
Einleitung: Wo der Wahnsinn wütet
Können Sie sich vorstellen, dass ein deutscher Konzern sein Gebäude bei einer Bombendrohung nicht räumen lässt, weil er im Zweifel lieber seine Mitarbeiter in Rauch aufgehen sieht als ein paar Minuten Arbeitszeit? Dass eine Mitarbeiterin im selben Umschlag gleich zwei frohe Botschaften von der Firma erhält, ihre Weihnachtspost und ihre Kündigung? Oder dass ein Chef, eben weil er der Chef ist, seine Flensburger Punkte regelmäßig an seine Mitarbeiter delegiert?
Halten Sie es für möglich, dass ein Konzern seinen Mitarbeitern Kleidung ohne Hosentaschen verordnet, weil er sie als Diebe sieht? Dass ein Mitarbeiter entlassen wird, weil er eine Chinesin heiratet und nun natürlich als potentieller Spion der Großmacht China gilt? Oder dass ein Chef, statt wenigstens einen Killer anzuheuern, diese Rolle gleich selbst übernimmt und mit seinem Auto versucht, eine Betriebsrätin an einem unverdächtigen Ort zu überfahren – dem Firmenparkplatz?
Über 2000 Leser-Zuschriften rauschten nach dem ersten Teil von »Ich arbeite in einem Irrenhaus« in mein Mailfach. Die kuriosesten, lustigsten, aber auch skandalösesten Fälle habe ich für Sie in diesem Buch versammelt. Und ich darf Ihnen versprechen: Dieser Irrsinn sprengt alle Erwartungen.
Wie viele Menschen sich an ihrem Arbeitsplatz wie in einem Irrenhaus fühlen, beweist der Erfolg des ersten Bandes. Mehr als 20 Auflagen ratterten durch die Druckmaschinen. Noch ein knappes Jahr nach Erscheinen stand der Titel in der Spiegel-Bestsellerliste auf Rang 3. Jeder Mitarbeiter, der dieses Buch kaufte, hat mit den Füßen abgestimmt – gegen seine Firma! Doch die Irrenhaus-Direktoren haben das Stampfen nicht gehört, sie produzierten fleißig neuen Irrsinn. Hier ein paar Kostproben:
»Warum sitzen Sie denn noch so freudestrahlend an der Kasse?«, wird eine Schlecker-Mitarbeiterin am 20. Januar 2012 von einem Kunden gefragt. Als ganz Deutschland schon weiß, dass Schlecker in die Insolvenz gehen wird, als jede Radio- und Fernsehstation die Hiobsbotschaft sendet – da haben die Insassen des Irrenhauses noch keine Ahnung davon. Die Presseagenturen wurden vor ihnen informiert.1 Motto: Sind ja nur die Mitarbeiter – die werden es noch früh genug erfahren!
Aber bestand wirklich Grund zur Sorge? War nicht bekannt, dass Anton Schlecker als eingetragener Kaufmann mit seinem Privatvermögen für die Firma haftete? Und war dieses Vermögen nicht noch in der Reichen-Liste 2011 des Forbes-Magazins auf 3,1 Milliarden US-Dollar geschätzt worden, womit Schlecker als einer der 400 reichsten Menschen dieses Planeten galt?2
Doch! Nur machte der Irrenhaus-Direktor Schlecker nun auf arme Kirchenmaus. Seinem Milliardenvermögen war angeblich dasselbe Schicksal widerfahren wie 11 000 Arbeitsplätzen in seiner Firma: über Nacht verschwunden.
Oder: Die Deutsche Telekom verhökerte langjährige Kundenservice-Experten per Outsourcing an die Firma Teldas. Die meisten dieser Mitarbeiter hatten um ihre Arbeitsplätze bei der Telekom gekämpft – doch angeblich brauchte man sie dort nicht mehr. Nun saßen sie auf Schleudersitzen.
2011 flatterte den Abgeschobenen eine Mail ins (neue) Haus, Motto: »Jobs for Friends«. Die Telekom jammerte, wie schwer es sei, qualifiziertes Personal zu finden. Und sie forderte die frisch Entsorgten auf, Freunde und Bekannte für Festanstellungen bei der Telekom zu empfehlen. Das ist so, als würde ein Hauseigentümer seine langjährigen Mieter grundlos vor die Tür setzen, um sie dann zu bitten, ihn bei der beschwerlichen Suche nach einem neuen Mieter tatkräftig zu unterstützen …
Einer der Angemailten schimpfte im Intranet: »Das ist ja wohl der Gipfel an Frechheit und Kaltblütigkeit. (…) Wir stehen im Juli nächsten Jahres auf der Straße, und die Telekom schert sich einen Dreck um ihre verkauften Mitarbeiter. Und jetzt wagen Sie es, davon zu sprechen, dass es schwer ist, qualifizierte Mitarbeiter zu finden!«
Zerknirscht antwortete Personalvorstand Martin Seiler, die Aktion »Jobs for Friends« habe »fälschlicherweise« auch die Outsourcing-Partner des Kundenservice der Deutschen Telekom einbezogen. Der Verteiler sei nun »angepasst« und der »Arbeitsfehler behoben« worden.
Als hätte der Irrsinn in diesem Verteiler bestanden – und nicht darin, dass man verdiente Mitarbeiter wie altes Eisen entsorgte, während man neue suchte.
Oder: Die Hypo Real Estate, eine nach Missmanagement verstaatlichte Immobilienbank, schlägt gegenüber ihren Mitarbeitern einen rigiden Sparkurs ein. Doch in der Bilanz nehmen es die Irrenhaus-Direktoren nicht so genau, eine Prüfung enthüllt: Läppische 55,5 Milliarden waren durch eine Doppelbuchung unter den Tisch gefallen – so wie ein Cent unbemerkt in einen Gullyschacht rollt.3 Niemand hatte das Geld vermisst. Und das in einem Land, in dem Firmen ihre Mitarbeiter feuern, weil diese ihr Handy bei der Arbeit aufladen und so ein kratertiefes Loch von 0,00014 Euro in die Firmenkasse reißen.4
Solcher Irrsinn sorgt dafür, dass die typische Handbewegung des Mitarbeiters ein Sich-an-den-Kopf-Fassen ist, dass die Büros und Werkshallen zu Motivationsfriedhöfen verkommen, dass laut einer aktuellen Gallup-Studie fast jeder vierte Mitarbeiter in Deutschland innerlich gekündigt hat – die höchste Quote aller Zeiten.5
Wie schrieb Friedrich Nietzsche: »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« Bei Firmen auch! Dieses Buch lädt Sie ein, durch die Schlüssellöcher der Wahnsinns-Unternehmen zu schauen. Ingenieure, Betriebswirte und Kaufleute, Manager, Ladendetektive und Handwerker, Krankenschwestern, Chefsekretärinnen und Beamte, Informatiker, Redakteure und Kundenberater – alle möglichen Berufsstände haben ausgepackt.
Mancher Irrsinn wird Sie erstaunen – heimliche Sexorgien, mit denen Firmen ihre Mitarbeiter anspornen wollen. Anderer wird Sie zum Lachen bringen – die Beförderung eines verstorbenen Mitarbeiters per Nachruf. Und wieder anderer wird Sie nachdenklich stimmen – die faulen Tricks, mit denen Zeitarbeiter ausgebeutet und kritische Mitarbeiter gemobbt werden.
Ich danke allen Lesern des ersten Bandes, die mir ihre Erlebnisse geschildert und dieses zweite Buch ermöglicht haben. Und ich danke auch allen Firmen, die mutig genug waren, mich als Redner einzuladen. Ich bin mir sicher: Der erste Schritt, den Irrsinn zu bekämpfen, besteht darin, ihn beim Namen zu nennen. Damit eine Krankheit behandelt werden kann, muss sie erst mal diagnostiziert sein.
Den Firmen wünsche ich gute Besserung. Und Ihnen wünsche ich ein im wahrsten Sinne des Wortes irres Lesevergnügen.
Ihr Martin Wehrle
P. S. Schildern Sie mir gerne, welchen Irrsinn Sie in Ihrer Firma erleben. Sie erreichen mich über meine Homepagewww.karriereberater-akademie.de
1. Unternehmen Irrsinn: Geht’s noch, Firma?
Einige Firmen haben ein Dach – andere haben einen Dachschaden. Die häufigste Frage der Mitarbeiter lautet: »Geht’s noch?« In diesem Kapitel erfahren Sie …
warum viele Mitarbeiter-Zeitungen »Prawda« heißen müssten,welches Irrenhaus-Alphabet die Chefetage beim Irren leitet,wie das Mailen mit CC (Chaos-Club) in den Firmen für Skandale sorgtund warum ein Konzern seine Mitarbeiter aus Profitgier fast in die Luft gesprengt hätte.Das Irrenhaus-Ratespiel
Welche Firma hat in den letzten Jahren welchen Irrsinn verbrochen? Dieses Irrenhaus-Ratespiel gibt Ihnen die Gelegenheit, Skandale den richtigen Firmen zuzuordnen. Am Ende des Tests folgt eine Auswahl der Verdächtigen. In diesem Buch werden Ihnen all diese Irrsinns-Erlebnisse begegnen. Bitte prüfen Sie Ihre Lösungen bei der Lektüre.
1. Welche Firma hat die bestellten Callgirls nach jedem Geschlechtsverkehr mit ihren Mitarbeitern wie Vieh abstempeln lassen?
2. Welcher Arbeitgeber hat seine Mitarbeiter per Reisebus in ein brasilianisches Bordell gekarrt?
3. Welches Unternehmen hat seinem Betriebsratsvorsitzenden mit 350 000 Euro die Geliebte finanziert?
4. Welche Firmen haben sich von einem gelernten Autolackierer beraten lassen, wie man anhand der Schädelform die richtigen Bewerber auswählt?
5. Welche Unternehmen haben ihren Bewerbern vor der Einstellung wie Vampire Blut abgezapft?
6. Welcher Arbeitgeber hat Zehntausende von Bewerbungsunterlagen mit Gehaltswünschen ins Internet gestellt?
7. Welche Firma hat private Daten, unter anderem Kontenbewegungen, von 173 000 Mitarbeitern ausspioniert?
8. Welches Unternehmen hat in zwei Jahren 49 000 Anfragen bei einer Kreditauskunft gestellt, um den Schuldenstand seiner Mitarbeiter zu erforschen?
9. Welche Firma hat Protokoll über unerfüllte Kinderwünsche und Psychologenbesuche ihrer Mitarbeiter geführt?
10. Welcher Arbeitgeber schleuste mehr als ein Drittel seiner Arbeitskräfte als preisgünstige Zeitarbeiter bei sich ein?
11. Welche Firma entließ Mitarbeiter, angeblich mangels Geld – worauf ein Maulwurf die unglaublich fetten Gehälter von 17 Führungskräften aufdeckte?
12. Welches Unternehmen hat seinem Vorstandsvorsitzenden 2011 ein Jahresgehalt von 16,6 Millionen gezahlt, was dem Einkommen von 553 Arbeitern entspricht?
13. Welche Firma hat einen Mobbing-Leitfaden verfasst, der unter anderem aufzeigt, wie man »Motzbrüder« zermürbt?
14. Welcher Arbeitgeber hat den Anwalt eines gemobbten Ex-Mitarbeiters so offensichtlich schikaniert, dass ein Gericht dazwischenging?
15. Welches Unternehmen hat seine Mitarbeiter heimlich mit Mini-Kameras überwacht und sogar Toilettengänge protokolliert?
Irrenhäuser zur Auswahl: Deutsche Bahn, Thyssen Krupp, TÜV, Spiegel TV, Hamburg-Mannheimer, Unesco, Caritas-Verein Altenoythe, Volkswagen, Daimler, Deutsche Post, Beiersdorf, Merck, Wüstenrot, Daimler, Lidl, Kraft Food, Volkswagen, Finanzamt, Lidl, Kik
Mehrfach genannte Firmen kommen auch mehrfach als Lösung vor.
Die Acht-Stunden-Diktatur
Wer behauptet, Deutschland sei eine Demokratie, müsste eigentlich hinzufügen: »Höchstens 16 Stunden am Tag.« Den Rest der Zeit verbringen Mitarbeiter in ihren Firmen. Recht bekommt dort nicht, wer die besten Argumente hat, sondern wer im Haus der Hierarchie ein Stockwerk höher wohnt. Unten ist immer, wo die Mitarbeiter sind.
Das Ansehen eines Irrenhaus-Insassen hängt davon ab, wie glaubwürdig er das tägliche Mitarbeiter-Gebet spricht: »Alles Gute kommt von oben!« Wer sich den Luxus leistet, eine abweichende Meinung zu haben, ist in seiner Firma so erwünscht wie Wolf Biermann einst in der DDR.
Ein »Vorgesetzter« heißt so, weil er dem Mitarbeiter vor die Nase gesetzt wird. Schon mehrfach habe ich erlebt, dass Proteste der Belegschaft gegen einen neuen Chef von der Irrenhaus-Direktion eigenwillig gedeutet wurden: »Wenn die Schafe blöken, ist ein Leitwolf im Anmarsch!«, sagte der Vorstand eines Stahlbauers.
Doch wie Zeitungen in Diktaturen, die nichts als Lügen drucken, vorzugsweise »Prawda« (Wahrheit) heißen, so nennen sich Firmen, die mit der Peitsche führen, vorzugsweise »mitarbeiterorientiert und demokratisch«. Mit 360-Grad-Feedbacks, mit Kommunikations-Workshops, mit Pressemeldungen täuschen sie demokratische Bräuche vor, die in Wirklichkeit am Firmentor enden.
Raffinierte Irrenhaus-Direktoren bringen ihre Insassen dazu, selbst Lobpreisungen auf die Firma zu singen. Das Gesangsbuch dafür nennt sich Mitarbeiter-Zeitung. So habe ich verfolgt, wie die Geschäftsleitung eines süddeutschen Zulieferers in Bedrängnis geriet. Bei Sitzungen wurden die Chefs von ihren Mitarbeitern immer wieder für ihren Sparkurs und ihre krude Geschäftsstrategie kritisiert. Der Haussegen hing schief. Mittlerweile waren diese Missklänge auch an die Ohren der Geschäftspartner gedrungen.
Eine Gegenstimme musste her. Die Irrenhaus-Direktion regte eine Mitarbeiter-Zeitung an. Alle 350 Mitarbeiter wurden eingeladen, an der Gründungssitzung teilzunehmen. Die Mitarbeiter schüttelten ihre Köpfe: Sie, deren Meinung immer abgebügelt wurde, sollten jetzt eine eigene Zeitung bekommen? Das konnte doch nur einer der üblichen Tricks ihrer Geschäftsführung sein …
Außerdem war die Sitzung an einem Montag um 10.00 Uhr angesetzt worden – zu dieser Zeit war die unterbesetzte Belegschaft erfahrungsgemäß völlig ausgelastet. Tatsächlich kam nur eine Handvoll Mitarbeiter. Ein Spezialkommando aus Vorgesetzten, Chefsekretärinnen und Pressestellen-Mitarbeitern stand ihnen gegenüber.
Im Eilverfahren – »demokratisch«, wie es hieß – wurde ein Chefredakteur gewählt. Die Wahl fiel – welch Zufall! – auf den Pressesprecher der Firma. Ein zweiter Kandidat, Betriebsrat und Unternehmenskritiker, wurde in der Diskussion von den Vorgesetzten mehrfach angegangen und fiel bei der Wahl durch.
Die erste Redaktionssitzung glich einem Begräbnis der Pressefreiheit. Ein Mitarbeiter schlug vor: »Ich könnte mal beschreiben, wie viel Energie bei uns zwischen den Abteilungen verlorengeht. Da gibt es heftige Beispiele.«
»Eine gute Idee«, sagte der Pressesprecher-Chefredakteur, »aber solche Interna gehören in ein Meeting, nicht in diese Zeitung.«
»Aber die Zeitung ist doch dazu da, solche Dinge anzusprechen!«
»Eigentlich schon. Aber haben Sie mal überlegt, dass auch Kunden und Geschäftspartner unser Blatt in die Hand bekommen könnten? Und wollen Sie wirklich, dass die uns für eine Chaostruppe halten?«
»Aber wir machen doch eine Mitarbeiter-Zeitung – und kein PR-Blättchen!«
»Dennoch müssen wir uns über die Außenwirkung im Klaren sein. Diese Zeitung soll unser Unternehmen spiegeln.«
Auf diese Weise bügelte der Chefredakteur alle Ideen für kritische Artikel ab. Sogar vereinbarte Artikel der Mitarbeiter wurden von ihm mit spitzem Rotstift »redigiert«, was lediglich besser als »zensiert« klang. Ein Azubi hatte in einem Artikel über seinen Alltag geschrieben: »Einige Kollegen halten uns Azubis für Kopiersklaven. Das sind wir aber nicht, wir sollen etwas lernen.« In dem Artikel hieß es dann: »Etliche Kollegen haben erkannt: Wir sind keine Kopiersklaven, wir sollen etwas lernen.«
Ebenfalls in den Fleischwolf der Zensur geriet der Artikel eines Mitarbeiters aus der Produktion. Er hatte in einer lebendigen Reportage über seine Arbeit darauf hingewiesen, dass die Quote der Arbeitsunfälle durch die Einführung eines neuen Schichtsystems gestiegen sei. Ausgerechnet dieser Absatz wurde vom Chefredakteur gestrichen, »nur aus Platzmangel«, wie er später behauptete.
Und natürlich sorgte der Irrenhaus-Chefredakteur auch dafür, dass die Titelgeschichte im Sinne der Geschäftsleitung ausfiel: »Unsere Firma wird 75 – eine Erfolgsstory!« In diesem Beitrag bildete er alle Geschäftsführer seit Gründung der Firma ab – ein Horror-Kabinett, sogar ein Typ mit Hitler-Bärtchen aus den 1930er Jahren war dabei. Doch in dem Jubelartikel wurde kein einziger Mitarbeiter erwähnt. In der nächsten Redaktionssitzung forderte ihn ein Betriebsrat auf, nun zum Ausgleich das Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« von Brecht zu drucken, in dem es heißt:
»Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon, wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, die Maurer? (…)«
Der Chefredakteur lehnte das kritische Gedicht mit Verweis auf die angeblich teuren Druckrechte ab. Das Mitarbeiter-Blatt war nur ein Feigenblatt, das die Unzufriedenheit der Belegschaft verdecken sollte. Jedem Geschäftspartner oder Kunden, der nicht schnell in Deckung ging, wurde ein Exemplar in die Hand gedrückt. Die Mitarbeiter, eigentlich Zeugen der Anklage, wurden als Zeugen der Verteidigung missbraucht.
Nach der dritten Ausgabe waren alle halbwegs kritischen Köpfe aus der Redaktion abgesprungen. Der Pressesprecher hatte nun freie Bahn für seine Propaganda. Die Resonanz der Leser wurde immer am ersten Mittwoch im Quartal sichtbar, wenn das Blatt in der Firma verteilt wurde: Die Papierkörbe waren schon mittags überfüllt; die Putzfrauen jammerten immer.
Alle Blendemanöver der Firmen funktionieren nach außen, gegenüber Kunden, Zeitungsredakteuren, Aktionären. Aber der Scheinwerfer eines Autos kann nur andere Autos blenden, niemals die eigenen Insassen. Die Mitarbeiter sind Beifahrer – sie durchschauen den Schwindel.
§ 1 Irrenhaus-Ordnung: Der Inhalt einer Mitarbeiterzeitung hat mit der Meinung der Mitarbeiter so viel zu tun wie der Inhalt einer Hühnersuppe mit den Interessen der Hühner.
Irrenhaus-Sprechstunde 1
Wer erlebt aus nächster Nähe, welche Blüten der Irrsinn in den Firmen treibt? Wer ist live dabei, wenn Chefs aus der Haut und Unternehmen an die Wand fahren? Die Mitarbeiter! Dieses Buch gibt ihnen eine Stimme: Zweimal pro Kapitel, in der »Irrenhaus-Sprechstunde«, erzählen sie ihre ganz persönlichen Wahnsinns-Erlebnisse mit Firmen. Diese Geschichten bieten interessante Einblicke ins Innerste des Irrsinns, Stoff zum Lachen, Kopfschütteln und Aufregen. Zusammen ergeben diese Berichte ein scharfes Unsitten-Gemälde der deutschen Firmenlandschaft.
Betr.: Wie mich meine Firma fast in die Luft gesprengt hätte
Eines Tages saß ich mit meinem Mann am Frühstückstisch. Ich war gerade dabei, mir ein Brot zu schmieren, da blickte er aus seiner Zeitung auf. »Sag mal, Schatz, warum hast du mir davon nichts erzählt?«
»Davon?«, fragte ich.
»Na von dem Theater, das gestern bei euch los gewesen sein muss.«
»Theater?«
Er sah streng über den Rand seiner Brille: »Jetzt erzähl mir aber nicht, dass ihr davon nichts mitbekommen habt! Du willst mich schonen, stimmt’s?«
Ich war neugierig und schnappte mir die Zeitung. Was ich dort im Lokalteil las, ließ mir das Blut gefrieren: Am Vortag hatte es – wie hier in einer Meldung stand – »eine Bombendrohung« gegen die Niederlassung unseres großen Telekommunikationskonzerns gegeben. Diese habe sich »als Scherz herausgestellt«. Denn um 13.30 Uhr sei, entgegen der Ankündigung, keine Bombe explodiert.
Um 13.30 hatte ich an meinem Schreibtisch gesessen. Wie meine Kollegen auch. Kein einziges Stockwerk war geräumt, kein einziger Abteilungsleiter informiert worden. Offenbar hatte man sich darauf verlassen, dass die Bombendrohung ein Scherz war.
Was hätte der Konzern zu verlieren gehabt, wenn man das Gebäude geräumt hätte? Ein paar tausend Arbeitsstunden! Undwas hat er riskiert, indem er nicht räumte? Ein paar tausend Menschenleben!
Die Firma hatte Russisches Roulette mit meinem Leben gespielt, offenbar aus Profitsucht. Auch wenn die Bombe nicht hochging: Mein Glaube an die Menschlichkeit meiner Firma wurde endgültig gesprengt.
Lisa Seidel6, Kundenberaterin
Betr.: Wie ich zu einem kastrierten Taschendieb wurde
Bis vor einigen Jahren war es mir freigestellt, welche Kleidung ich als Handwerker im Warenlager meines Konzerns trug. Dann wuchs das Misstrauen: Beim Verlassen der Firma wurden meine Kollegen und ich immer öfter durchsucht. Offenbar verschwanden Waren. Wir wussten auch, wohin: Leitende Mitarbeiter tauchten immer wieder bei uns auf, um sich »Muster« zu holen. Vieles kam nie zurück. Aber die raffgierigen Diebe, das mussten natürlich wir sein!
Und so wurde uns eine einheitliche Dienstkleidung verordnet. Als ich sie sah, verschlug es mir die Sprache: Der helle Stoff erinnerte an Sträflings-Kleidung und war so dünn, dass man, wenn eine Kollegin auf der Leiter stand, Dinge sah, die man vielleicht sehen wollte, aber keinesfalls sehen sollte – zum Beispiel die Farbe ihrer Unterwäsche. Die Kleidung wurde vom Licht durchschienen; das war mehr als peinlich.
Doch ein anderer Mangel erzürnte uns noch mehr: Wir hatten Jacken und Hosen ohne Taschen bekommen. Sind Sie schon mal auf eine Leiter geklettert, um mit Zollstock, Bohrmaschine, Schrauben und Wasserwaage zu arbeiten? Wie im Schlaf steckt man sich Werkzeuge und Zubehör in die Taschen, um die Hände frei zu haben und die Balance zu halten. Das ging mit der neuen Kleidung nicht mehr. Man geriet auf den Leitern ins Schwanken, ließ Dinge fallen und hatte auch am Boden nie das dabei, was man für seine Arbeit brauchte. Ein Kollege, der regelmäßig Tabletten nehmen muss, verschwand immer wieder in den Aufenthaltsraum.
Die Geschäftsleitung hatte uns diskreditiert. Wir waren Männer und Frauen ohne Taschen geworden. Ein Kollege spitzte es zu auf die Formel: »Wir sind kastrierte Taschendiebe!« Zudem war unsere Arbeit gefährlicher und komplizierter geworden.
Wenige Monate später kam durch einen Medienbericht heraus: Mehrere Top-Manager unseres Konzerns hatten im großen Stil Aktien verkauft, als sie witterten, dass sich eine Auslieferung verzögern würde.
Diese »Insider-Geschäfte« riefen den Staatsanwalt auf den Plan. Der Aktienkurs brach ein, die Firma verlor Riesensummen.
War das nicht der eigentliche Diebstahl? Diese Herren gingen mit vollen Taschen aus dem Haus. Wie gerne hätte ich ihnen meine Kleidung angeboten!
Jürgen Wolff, Handwerker
Betr.: Warum man als Kranker niemals einen Massagegutschein bekommt
»Wir wollen unseren Mitarbeitern den Rücken stärken«: Mit dieser Parole spielt sich unser Konzern zum Schutzpatron seiner Belegschaft auf. Tatsächlich werden Gutscheine für Massagen und Rückengymnastik vergeben. Aber nur an Mitarbeiter, die im Vorjahr keinen einzigen Fehltag hatten! Als Belohnung. Wer dagegen, wie ich, tagelang mit Rückenschmerzen flachlag, der wird vom Rückentraining ausgeschlossen.
Das ist so, als würde man Rettungsringe nicht den Ertrinkenden im offenen Meer, sondern den Passagieren eines sicheren Luxusdampfers zuwerfen. Natürlich werden die meisten Gutscheine niemals eingelöst: Warum sollte jemand, dessen Wirbelsäule vor Gesundheit strotzt, sich im Rückentraining quälen?
Eine fitte Kollegin, die um mein Rückenleiden weiß, wollte mir ihren Gutschein abtreten. Doch die Personalabteilung wehrte ab: Dass ausgerechnet eine Mitarbeiterin, die mehrere Wochen krank war, diese Belohnung für null Fehltage bekäme – das wäre ja nun wirklich das falsche Signal.
Wer krank ist, auch wenn er nichts dafür kann, wird dafür bestraft – gleich doppelt, denn seine Krankheit hat er ja auch noch am Hals beziehungsweise Rücken. Meine Gegenwehr: Früher habe ich mich mit starken Rückenschmerzen nach zwei, drei Krankheitstagen sofort wieder in die Firma geschleppt. Heute nehme ich mir mehr Zeit und gehe zur Krankengymnastik. Ohne Gutschein – dafür mit Krankenschein.
Nina Böhm, Lohnbuchhalterin
Betr.: Als die Firma ein Auto entführte
Eigentlich ist die Sache klar geregelt: Je höher einer in der Hackordnung steht, desto dichter darf er vor unserem Firmengebäude parken. Die Oberindianer haben ihre dicken Dienstwagen direkt vorm Gebäude stehen, auf reservierten Stellplätzen. Dagegen parkt das Fußvolk auf einem allgemeinen Parkplatz, 700 Meter vom Gebäude entfernt.
»VIP« nennen wir Mitarbeiter die Stellflächen direkt vorm Haus: Verbotener Idioten-Parkplatz. Denn obwohl die Hälfte der »VIP« jeden Tag leer steht, darf kein Mitarbeiter dort sein Auto abstellen. Nicht wenn es hagelt, nicht wenn Blitze zucken, nicht wenn er schwere Waren ins Firmengebäude transportieren muss.
Als unser Chef drei Wochen in Urlaub ging, lag ihm mein Kollege Jens in den Ohren. Er musste in dieser Zeit schwere Kisten mit Mustern aus der Fabrik abholen. Normalerweise hieß das: vorm Firmengebäude anhalten, Muster ausladen und hochtragen – dann das Auto 700 Meter zurück auf den allgemeinen Parkplatz fahren. Und dann wieder 700 Meter zum Gebäude marschieren. Dieser Vorgang konnte sich dreimal pro Tag wiederholen. Warum so viel Zeit zwischen Parkplatz und Gebäude verlieren?
Unser Chef sah das ein: Er trat ihm seinen Parkplatz vorm Gebäude für drei Wochen ab. Stolz platzierte Jens seinen Golf auf dem VIP. Am selben Nachmittag rief ihn eine Kollegin an: »Schau mal aus dem Fenster!« Jens sah gerade noch, wie sein Golf unsanft auf einem Abschleppwagen abgestellt wurde. »Halt!«, rief er und jagte die Treppen runter. Als er unten ankam, fuhr der Abschleppwagen gerade davon. Wir sahen oben vom Fenster, wie er mit den Fäusten fuchtelte.
Erbost steuerte Jens das Büro der Hausverwaltung an: »Seid ihr verrückt, mich abschleppen zu lassen! Mein Chef hat mir den Parkplatz für seinen Urlaub offiziell abgetreten!«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Diese Parkplätze sind personengebunden. Man kann sie nicht abtreten.«
Jens kochte. »Aber der Chef hat es mir sogar in einer Mail bestätigt.«
»Solche Einzelabsprachen spielen keine Rolle. Hier greifen die Dienstvorschriften.«
Jens erfuhr, dass der externe Sicherheitsdienst beauftragt war, täglich die Parkplätze zu prüfen. Falschparker duldete man für zwei Stunden. Danach wurde abgeschleppt, ohne vorher nach dem Besitzer zu fahnden (wie früher üblich). Diese Regelung galt seit dem letzten Sommer, als ein Top-Manager während seines Urlaubs in der Firma hatte vorbeischauen wollen und auf seinen besetzten Parkplatz gestoßen war.
Abends fuhr ich Jens zum Sammelparkplatz des Abschleppunternehmens. Mit 150 Euro musste er sein Auto auslösen. Die Firma erstattet ihm das Geld nicht zurück, trotz seiner Absprache mit dem Chef. Dieser Vorfall hat uns wieder einmal daran erinnert, wofür das »I« von VIP steht!
Dirk Roth, Produktmanager
Das ABC des Wahnsinns
Was muss eine Firma tun, um als Irrenhaus zu gelten? Welches sind die typischen Dummheiten, die Mitarbeiter in den Irrsinn treiben? Dieses Irrenhaus-Alphabet vermittelt Ihnen einen Überblick, von welchen Unternehmen, welchen Macken, welchen Chefs in diesem Buch die Rede sein wird.
Angeberei: Der höchste Lobgesang auf ein Irrenhaus kommt immer aus demselben Mund: vom Irrenhaus selbst. In Stellenausschreibungen nennt es sich »expandierend«, auch wenn nur noch die Schulden wachsen. »Spannende Aufgaben« verspricht es, auch wenn den Bewerber so viel Routine erwartet, dass jedes Schlafmittel daneben wie Red Bull wirkt. Und die versprochene »Innovationsfreude« kann sich nur auf eines beziehen: frei erfundene Entlassungsgründe.
Besserwisserei: Die erste Lerneinheit, die ein Irrenhaus-Neuling durchlaufen muss, ist eine Gehirnwäsche: Sein Kopf wird von Erfahrungen aus anderen Firmen gereinigt, ein Vollwaschgang, bei dem der Irrenhaus-Direktor schäumt. Auf andere Firmen will er nicht verwiesen werden; es darf nur eine geben! Die beiden Lieblingsantworten: »Das machen wir schon immer so« oder »Das funktioniert bei uns nicht«. Und wehe, der neue Insasse hakt nach: »Woher wissen Sie, dass es nicht funktioniert, ohne es je probiert zu haben?« Solche Fragen in der Probezeit wirken sich auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses aus wie eine Kreissäge auf die Länge einer leichtsinnigen Hand.
Chefsache: Wie auf einigen Medikamenten der Warnhinweis steht, sie dürften nicht in die Hände von Kindern gelangen, so beschriften Irrenhäuser wichtige Aufgaben mit dem Warnhinweis »Chefsache«. Die größten Gehälter, die größten Einzelbüros und die größten Dummheiten bleiben den Chefs vorbehalten. In rührender Ahnungslosigkeit, wie Kinder mit einer Spielzeuglok hantieren, setzen sie Entscheidungen aufs Gleis (Chefsache eins). Und wenn dieser Zug dann aus der nächsten Kurve fliegt, brüllen sie ihre Mitarbeiter als Schuldige zusammen (Chefsache zwei). Das nächste halbe Jahr sind sie dann damit beschäftigt, ihre hausgemachte Idiotie als ausgemachte Strategie zu verkaufen (Chefsache drei).
Diplomatensprache: Sagt ein Irrenhaus, wenn es tausend Mitarbeiter rauswerfen will, dass es tausend Mitarbeiter rauswerfen will? Ach was, das heißt dann: »Rationalisierung unserer überalterten Mitarbeiterstruktur« (Börsenkurs steigt!). Sagt ein Irrenhaus, dass es keine Tariflöhne mehr bezahlen, sondern billige Zeitarbeits-Sklaven durch die Hintertür ins Unternehmen peitschen will? Ach was, das heißt dann: »Wir gründen eine hauseigene Personal Service GmbH.« Mitarbeiter werden nicht »entlassen«, sondern »freigesetzt«. Sogar die eigene Pleite kommt noch als »vorübergehendes Liquiditätsproblem« daher. Klartext wird niemals geredet; denn die Wahrheit täte weh!
Einheitsmeinung: Wie ein Trinker immer Durst hat, hat ein Chef immer recht. So besoffen seine Argumente auch klingen mögen! Je hochprozentiger die Dummheit seiner Aussagen, desto lieber schließt er sie mit dem Satz: »Dazu kann es keine zwei Meinungen geben!« Wer dennoch abweichende Meinungen vertritt, etwa zwei mal zwei ergebe in der Gewinnprognose vier (und nicht 40, wie vom Direktor behauptet), der macht sich in Tateinheit mehrerer Delikte schuldig: Majestätsbeleidigung, Befehlsverweigerung, Denkverbots-Überschreitung. Die Köpfe der Irrenhaus-Mitarbeiter sollen wie Rundfunkempfänger in einem totalitären Staat sein: Sie haben alle dasselbe zu empfangen. Wer eigene Gedanken ausstrahlt, schlimmstenfalls vernünftige, wird schnell als Feindsender stillgelegt – durch Entlassung.
Flaschenzug: Irrenhäuser verfügen über einen starken Selbsterhaltungstrieb. Wie der Vampir das Licht meidet, so meiden sie die Vernunft. Aber wie verhindert man, dass ein Vernünftiger in die Irrenhaus-Direktion aufsteigt? Mit dem Flaschenzug. Sobald ein Irrer befördert ist, zieht er andere Irre nach oben, bevorzugt noch größere Dummköpfe als sich selbst. Sie dienen ihm als Kontrastmittel und lassen seine relative Intelligenz aufscheinen wie die Nacht ein Streichholz.
Großraumbüro: Alles, was die Arbeit behindert, steht in Irrenhäusern hoch im Kurs. An erster Stelle: das Großraumbüro. Die Mitarbeiter werden wie eine Tierherde zusammengepfercht. Als Wachhunde dienen direktorentreue Insassen, die sofort anschlagen, wenn jemand rechtzeitig in den Feierabend aufbrechen, ein privates Telefonat führen oder schlecht über die Irrenhaus-Direktion reden will. Ein Großraumbüro ist ein Treibhaus für Ideen, etwa wie man dem Sitznachbarn, der immer ins Telefon brüllt, seine Stimmbänder verknoten könnte. Niemand lenkt hier mehr die Arbeit – alle lenken sich von der Arbeit ab.
Husten: Ein absichtsvolles Geräusch, das Mitarbeiter von sich geben, wenn sie am nächsten Tag eine Krankmeldung einreichen und sich einen schönen Tag machen wollen. Aus Direktoren-Sicht leiden Mitarbeiter ohnehin nur an einer Krankheit: dem Schwindelanfall, der einer (gelogenen) Krankmeldung vorangeht. Als Kranker anerkannt wird nur, wer mindestens an einer Beatmungsmaschine hängt oder eine amtliche Sterbeurkunde vorlegen kann. Das Wort »Burnout« wird in Irrenhäusern übersetzt mit: »Feuer ihn raus, er will nicht arbeiten!«
Interna: Als Willkommensgruß schieben Irrenhäuser dem Neuling einen Knebel in den Mund. Ähnlich wie bei der Mafia wird er zu absolutem Schweigen über sein Gehalt und das Geschäftsmodell verpflichtet. Eine »Wettbewerbsklausel« soll ihn bis zur nächsten Eiszeit (die angesichts des Betriebsklimas nicht allzu fern ist!) an die Firma fesseln. Und alles, was er bei der Arbeit sieht, darf er nicht gesehen haben.
Als Interna gelten vor allem: die wahren Geschäftszahlen (die immer zwei Etagen tiefer wohnen als die veröffentlichten), die Ausraster der Führungskräfte (weil sie für Amnesty International interessant wären) und die strategischen Überlegungen des Managements, die sich mit Abstand am leichtesten verschweigen lassen: Es gibt sie nicht!
Ja-Wort: Das Ja-Wort hat in Irrenhäusern eine doppelte Bedeutung. Zum einen will sogar die hässlichste Firma vom Bewerber wie eine hübsche Braut umworben sein. Er hat sich vor ihr im Vorstellungsgespräch auf die Knie zu werfen (»Warum sollen wir gerade Sie einstellen?«), ihr seine Liebe zu erklären (»Was reizt Sie an unserer Firma?«) und jeden Fußtritt, den man ihm per Stressfrage verpasst (»Welche schlechten Eigenschaften würde Ihnen Ihr letzter Chef nachsagen?«), mit einer unverdächtigen Antwort zu kontern.
Ebenso bedeutend ist das Ja-Wort im Alltag, denn es gilt als einzige richtige Antwort auf Fragen des Managements. »Ist der Projekttermin einzuhalten?« – »Ja!« »Sind Sie mit meiner Entscheidung einverstanden?« – »Ja!« Doch Achtung: Sollte der Irrenhaus-Direktor einmal fragen, »Haben Sie eine bessere Idee als ich?«, lautet die einzige lebenserhaltende Antwort: »Nein!«
Kommunikation: Wer reden nicht will, aber schweigen nicht kann, der »kommuniziert«. Am liebsten per E-Mail, damit genug Raum für Missverständnisse bleibt und möglichst viele Unbeteiligte per CC mit ins Unglück gerissen werden können. Das Wort »Mail« kommt von »Müll«, und Irrenhaus-Mails sind oft Giftmüll.
Leiharbeiter: Stamm-Insassen reagieren oft unsportlich, zum Beispiel mit Kündigungsschutzklagen, wenn das Irrenhaus sie aus einer Laune heraus feuert. Dagegen ist der Leiharbeiter wie ein Hütchen beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel: fürs Rauswerfen bestimmt. Zwei Gelegenheiten bieten sich an, um ihn aus dem Spiel zu kegeln: wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hat. Oder wenn er – dieser faule Hund! – sie nicht getan hat (natürlich wurde er nie eingelernt …). Damit ihn dieses Schicksal nicht überrascht, versetzt man ihm schon vorher einmal pro Monat einen Schock – per Gehaltszettel!
Meeting: Was tut ein ratloser Irrenhaus-Insasse, um ein Problem zu lösen? Er trommelt elf weitere Insassen zu einem Meeting zusammen. Damit hat er die Ratlosigkeit verzwölffacht, aber das Problem nicht gelöst. Wer aus dem Meeting geht, hat zwar keine Sorge weniger als zuvor, aber ein Dutzend Feinde mehr. Schätzungsweise die Hälfte aller Mordpläne werden in Meetings geschmiedet. Die andere Hälfte in den fünf Minuten danach.
Nein: Die einzige Vokabel, die ein Irrenhaus-Direktor benötigt, um mit seinen Mitarbeitern zu reden. Sie ist die passende Antwort auf alle Wünsche des Mitarbeiters – ob er mehr Gehalt, eine Beförderung oder einen neuen Bleistift will. Der unerfahrene Direktor wartet ab, was der Mitarbeiter zu sagen hat, und schleudert ihm sein »Nein« dann entgegen. Der erfahrene Direktor dagegen agiert wie ein Westernheld beim Duell: Ehe der Mitarbeiter den Mund aufmachen und einen Wunsch äußern kann, zieht er schon seine Waffe und sagt vorauseilend: »Die Antwort lautet: NEIN!«
Oberboss: Jeder Irrenhaus-Direktor hat noch einen Direktor über sich, einen Oberboss. Der IQ (Irrsinns-Quotient) steigt mit der Höhe der Hierarchie, was aber nicht bedeutet, dass der Fisch vom Kopf her stinkt; die Oberbosse zeichnen sich vor allem durch Kopflosigkeit aus. Erfolgreiche Manager erkennt man daran, dass sie die Strategie des Unternehmens öfter als ihre Socken wechseln. Ihre Mitarbeiter treiben sie auf die Palme und den Aktienkurs auf Teufel komm raus in die Höhe. Leider kommt der Teufel meist viel zu schnell raus und der Kurs saust viel zu schnell runter!
Ihr Hobby ist das Fusionieren. Wenn sie gerade nicht fusionieren – was selten der Fall ist –, begrünen sie verbrannte Fusionserde.
Prozesse: Für alles, was übers Spitzen eines Bleistiftes hinausgeht, schreiben Konzern-Irrenhäuser standardisierte Prozesse vor. Wer einen Prozess durchläuft, kann sich eine Fahrt in der Geisterbahn sparen – so unheimlich ist das. Die Formulare sind länger als die Arbeitstage. Kein Mensch blickt durch. Aber wehe, der Insasse setzt ein Kreuz an der falschen Stelle! Dann steht bald ein Kreuz hinter seinem Namen: Er ist für das Prozesssystem gestorben. Der Meeting-Raum? Verweigert. Die Dienstreise? Abgelehnt. Die Drucker-Patrone? Keine Chance. Bleibt nur: Bleistifte spitzen!
Quartalszahlen: Das Denken eines Irrenhaus-Direktors reicht immer nur bis zu den nächsten Quartalszahlen. Wie ein Affe im Baum von Ast zu Ast, so hangelt er sich von Quartal zu Quartal. Alle Einnahmen werden mit Gewalt nach vorne gezogen, alle Ausgaben nach hinten verschoben. Bis die Äste seiner Lügen, an die er sich klammert, immer brüchiger werden. Genau eine Sekunde, bevor er abstürzen würde, darf er das Unternehmen mit einem goldenen Handschlag verlassen (weil Abstürze schlecht für die Börse sind). Mindestens fünf Buchhalter werden als Bauernopfer entlassen!
Restrukturierung: Wenn eine Dummheit, die begangen wurde, durch eine noch größere Dummheit ersetzt wird, spricht man von einer Restrukturierung. Alles, was den Mitarbeitern bislang als Weisheit gepredigt wurde, gilt jetzt als falsch. Die alten Manager reden neuen Blödsinn, dessen Halbwertszeit gegen null tendiert. Restrukturierungen führen so lange zu weiteren Restrukturierungen, bis Reanimierungen für die Firma nötig werden. Diese überlässt man zur Sicherheit dem Insolvenzverwalter.
Sparen: Mit Märkten, mit Kunden, mit Zukunftschancen verschwendet ein Irrenhaus keine Sekunde. Hauptberuflich betreibt es ein anderes Geschäft: das Sparen. Der Reiseetat schrumpft auf eine Größe, die nicht mal für ein S-Bahn-Ticket reicht (Kundenbesuche ade!). Schreibtischlampen werden als verschwenderischer Luxus enttarnt und in der Asservatenkammer eingelagert. Und Mitarbeiter-Planstellen sterben in einer solchen Geschwindigkeit aus, dass sie von Artenschützern auf die rote Liste gesetzt werden. Erst wenn der letzte Krümel Gehirn weggespart wurde, darf ein Sparvorgang als vollendet gelten.
Tunnelblick: Ein Irrenhaus-Direktor sieht, was er sehen will. Am liebsten: Fehler seiner Mitarbeiter. Wer jahrelang fehlerfreie Arbeit liefert, hört nie ein Lob. Aber sobald der Anschein entsteht, er könne einen Fehler begangen haben, stürzt sich der Irrenhaus-Direktor wie ein hungriger Tiger auf ihn. Ein Fehler liegt immer dann vor, wenn ein Mitarbeiter das Falsche getan hat. Die Frage, wer in aller (Manager-)Welt ihn zu diesem Blödsinn angestiftet hat, wird vorsichthalber nicht geklärt!
Unternehmensberater: Was der Papst für die Kirche ist, ist der Unternehmensberater für einen Irrenhaus-Direktor: die Unfehlbarkeit in Person. Alles, was Mitarbeiter nach 20 Jahren noch nicht wissen, weiß der Junge im Konfirmandenanzug, der sich »Berater« nennt, schon nach einem Tag. Wenn der Konfirmand vorschlüge, die Kunden zum Mond zu schießen, wäre Cape Canaveral schon am nächsten Tag gebucht. Glücklicherweise lassen sie die Mitarbeiter meist billiger fliegen, nämlich: rausfliegen.
Vertrauen: Gegenüber den Insassen nicht vorhanden. Jeder Mitarbeiter wird so lange als potenzieller Dieb, Blaumacher, Spesenbetrüger, Cheflästerer und Betriebsspion gesehen, bis das Gegenteil erwiesen ist. Das Gegenteil ist frühestens dann erwiesen, wenn der Mitarbeiter gefeuert ist. Gerne lässt man Mitarbeiter von Detektiven beschatten, die ihnen »Delikte« nachweisen, die für eine Kündigung reichen. Zum Beispiel könnte nach der Toilettennutzung auffallen, dass weniger Klopapier auf der Rolle ist als zuvor. In diesem Fall ist von einem Diebstahl auszugehen!
Werte: Natürlich gibt es Werte, die in den Irrenhäusern als heilig gelten, da wären: der Wert der Immobilien, der Wert des Fuhrparks und der Wert des Anlagevermögens. Alle Werte stehen in der Bilanz auf der Haben-Seite, Mitarbeiter stehen unter »Soll«. Und die ideellen Werte, der höhere Sinn? Darauf reimt sich: höherer Gewinn!
Zahlengläubigkeit: Was Mitarbeiter sagen, hat nichts zu heißen. Aus ihrer Zwergenperspektive sehen sie alles falsch. Je lauter die Mitarbeiter jammern, desto richtiger war eine Entscheidung. Ebenso glaubt der Irrenhaus-Direktor: Wenn die Kunden laufen, dann laufen sie nicht vor dem neuen Produkt weg (wie von den Mitarbeitern behauptet), sondern rennen der Firma die Tür ein. Das meint er so lange, bis ihm die Zahlen in der Bilanz das Gegenteil beweisen, also frühestens kurz vor der Pleite.
Rote Zahlen sind für ihn wie rote Ampeln: Jetzt drückt er auf die Etatbremse. Diese Bremse ist dort, wo die Mitarbeiter sind. Besser gesagt: waren!
§ 2 Irrenhaus-Ordnung: Bei allem, was die Firma tut, steht die Belegschaft stets im Mittelpunkt. Vor allem bei: Intrigen, Abmahnungen, Entlassungswellen.
Eine Bombe im Bundestag
Wer den Deutschen Bundestag ausschalten will, hat zwei Möglichkeiten: Er zettelt eine Revolution an. Oder er schreibt eine E-Mail. Die Mail ist eine virtuelle Bombe, ein modernes Kampfmittel gegen Arbeitskapazität. Ihre Sprengkraft ist so groß, dass eine Atombombe daneben wie ein Chinaböller erscheint.
In Schlachten wird geschossen, in Firmen wird gemailt. Diese Schüsse peitschen rund um die Uhr. Die Kultur des Vier-Augen-Gespräches torpedieren sie, das logische Denken drängen sie zurück, und lapidare Vorgänge blasen sie zu Welt-Ereignissen auf, wenn eine Mail als Querschläger mehr Empfänger erreicht als nötig. Die typische Irrenhaus-Mail erfüllt zwei Eigenschaften: Sie verfehlt ihr Ziel. Und sie ist überflüssig.